Samstag, 30. April 2016

Kulturgeschichten 0207

Hauserkasperei

Braucht es ein Verbrechen am Seelenleben als Tatbestand?

Wird die Psyche im deutschen Recht genug geschützt?

Verbietet sich ein psychologischer Tatbestand mangels Bestimmtheit?

Am 30. April 1812 wurde angeblich der rätselhafte Findling Kaspar Hauser geboren, der erstmals am 26. Mai 1828 in Nürnberg auftauchte. Er schien damals ein wenig redender und geistig wohl zurückgebliebener Jugendlicher zu sein. Seine späteren Aussagen, er sei, solange er denken könne, bei Wasser und Brot in einem engen und dunklen Raum gefangen gehalten worden, erregten großes Aufsehen.

Nehmen wir Hausers Behauptungen wörtlich, ist seine Existenz oder seine Geschichte mit den Erkenntnissen der modernen Medizin nicht zu vereinbaren. Ob das mehr Grund gibt an der Medizin oder an Hausers Aussagen zu zweifeln, sei dahingestellt. Wie immer, wenn etwas unerklärlich ist, erfinden wir uns Geschichten dazu und so wurden auch um den plötzlich aufgetauchten Jungen eine ganzes Meer an Sagen gewoben. Viele meinten, er sei ein badischer Erbprinz, was inzwischen genetisch klar widerlegt ist. Auch sonstige hochadelige Verwandtschaft ließ sich nicht nachweisen. Schon der zeitgenössische Bericht der Großmutter des badischen Prinzen, der direkt nach der Geburt von ihr geschrieben wurde, hätte jeden vom Unsinn dieser Hypothese überzeigen können, aber nicht immer leitet die Vernunft die Ermittlungen.

Er wurde ein Jahr nach seinem Auftauchen mit einer ungefährlichen Schnittwunde im Keller des Hauses, in dem er lebte, aufgefunden. Vier Jahre später kam er mit einer Schnittwunde zurück, an der er verstarb. Dazu erzählte er jeweils erstaunliche Geschichten, die alle Gerüchten über ihn noch verstärkten. Nach heutigen kriminalwissenschaftlichen Untersuchungen fügte sich Hauser jedoch Selbstverletzungen zu und manches spricht dafür, dass dies mit dem nachlassenden öffentlichen Interesse an seiner Person zu tun hatte.

Interessant ist sein gewählter Geburtstag, der zufällig auch der Tag meiner Reanimation vor mittlerweile 29 Jahren war und der mit der Walpurgisnacht oder dem Fest der heiligen Walburga zusammenfällt. Walburga wurde um 710 im südenglischen Wessex geboren und starb 779 oder 780 in Heidenheim. Sie gilt als Tochter des westsächsischen Königs im angelsächsischen Reich Richard von Wessex und ist damit eine Nichte des heiligen Bonifatius und hat es selbst zur kanonischen Heiligen gebracht. Die Überfahrt über den Ärmelkanal als sie ihren Brüdern zur Mission nach Süddeutschland folgte, wozu sie ihr Onkel Bonifatius aufgefordert hatte, verlief wohl sehr stürmisch und das Boot geriet in Seenot. Angeblich hat Walburga die ganze Zeit im Dreck gekniet und für ihre Rettung gebetet, was sie zur Schutzheiligen der Seeleute machte, auch wenn das nautisch betrachtet, ein eher geringer Verdienst wohl ist. Später soll sie als Äbtissin zweier Klöster, als die sie faktisch eine der mächtigsten Frauen der damaligen Christenheit war, zwei Wunder bewirkt haben - zum einen ein Kind mit Ähren vor dem Verhungern gerettet haben, zum anderen einen tollwütigen Hund beruhigt haben, warum sie eine multiple  Zuständigkeit in Wunderdingen und der Heilung nun auch noch hat.

Das ist zwar auch Hokuspokus nur, aber offiziell abgesegneter und dieser gilt nicht als Hexerei, warum auch immer ab dem 15. Jahrhundert in Schriften über den Hexensabbat oder auch im Hexenhammer die Nacht vor dem 1. Mai, also die Walpurgisnacht, als traditioneller Treffpunkt der Hexen gewählt wurde. Danach träfen sich die Hexen in dieser Nacht auf dem Brocken im Harz, um durch das Feuer zu springen und zu tanzen. Sehr ausführlich beschrieb diese Orgien Goethe in seinem Faust I und II, bei denen vor allem das orgienhafte Element der dinonysischen Lust betont wurde. Nach Walburga hieß die Nacht, weil im Mittelalter noch der Tag ihrer Heiligsprechung, der 1. Mai, als traditioneller Gedenktag galt.

Diesen sagenumwobenen Tag vor dem Gedenktag der Heiligen auch der Tollwütigen und sonstigen Kranken wählte der aus dem Nichts aufgetauchte Knabe als seinen Geburtstag. Dahingestellt, ob dies Zufall war oder Spiel mit einer Inszenierung, spricht heute mehr für eine langfristige Inszenierung in der Hauser erstaunlich gut funktionierte, ohne dass wir wüssten, was tatsächlich mit ihm geschah, nur bestimmte seiner Behauptungen leicht als unwahr widerlegen können.

Was wahr ist oder wirklich war, interessiert mich weniger als die Wahrnehmung der Person Hauser, ihre Beschreibungen der Wirklichkeit und die sich daraus ergebende Diskussion auch in der sich damals sich gerade begründenden Wissenschaft des Strafrechts.

Hauser lebte nach dem ersten Anschlag auf seine Person in Ansbach betreut und unter Vormundschaft des dortigen Richters und späteren Autors des bayerischen Strafgesetzbuches, Paul Anselm von Feuerbach, dem Vater des Malers und des Philosophen und wichtigen Vordenkers des deutschen Strafrechts bis heute, das in einigen Regelungen noch auf das vorbildliche bayerische Strafgesetzbuch zurückgeht. Er schrieb ein Buch über Kaspar Hauser, das so psychologisch feinfühlig und exakt beobachtet, sich an den Erinnerungen des jungen Mannes orientiert, dass es jedem Menschen als Lektüre zur Selbsterkenntnis zu raten ist. Wie Feuerbach beschreibt, wie Hauser sehen lernte, ließ mich bei erster Lektüre vor zwanzig Jahren mich genau an meine Kindheit erinnern und nachempfinden, wie fern mir die Maßstäbe noch waren, die sich in Zeit und Raum im Laufe des Alters und der Gewohnheit wieder völlig verschieben. Dieses Buch ist schon eine so feine psychologische Studie, aus einer Zeit, als von Psychologie noch keine Rede war, aber für feine Geister das Zeitalter der Empfindsamkeit längst begonnen hatte. Es ist undogmatisch und wie ein Richter eben möglichst neutral berichtend.

Der andere Punkt der an diesem seltsamen Fall weiter von Interesse ist, war die im damaligen Strafrecht beginnende Diskussion über das Verbrechen am Seelenleben über das mein Strafrechtsprofessor eine wunderbare Monographie einst schrieb, die ich noch vorab lesen durfte, was dem Zauber ein wenig nahm, der mich aber nicht mehr losließ.

Die Diskussion verebbte irgendwann wieder, als der Fall Hauser aus der öffentlichen Diskussion verschwand. Auch das Aufkommen einer psychologischen Wissenschaft hat diese Diskussion nicht wirklich wieder entfacht, vielmehr wurde es nun auf die psychologische Begutachtung des Täters verlagert, mit der es nichts zu tun hat, die Frage der Tat in den bloß subjektiven Tatbestand verlagert, die Zurchnungfähigkeit des Täters berücksichtigt und nicht das Opfer schützt.

Dabei ging es um die Opfer auch psychischer Gewalt und wie mit diesen umzugehen ist. Kaspar Hauser, der sich vermutlich selbst zum Opfer fiel, war nach seinen Berichten ein Opfer auch psychischer Gewalt durch Vernachlässigung. Es gibt solche Fälle bis heute und sie werden auf das räumliche Einsperren, die Nötigung und ähnliches reduziert, dabei ist Tat eigentlich viel mehr, was mit denen passiert, denen so etwas angetan wird.

Bei einer Vergewaltigung wird nur die körperliche Tat angeklagt, nicht was es in der Psyche der Betroffenen angerichtet hat, deren Leben dadurch oftmals zerstört wurde, die Jahre brauchen, um zu einer gesunden Sexualität zurückzufinden, wenn sie diese jemals wieder haben können. Manche nennen Vergewaltigung darum seelischen Mord.

Ob es angemessen oder falsch wäre, die Psyche als weiches Element in den Tatbeständen zu berücksichtigen, ihre Beeinträchtigung immer eine Körperverletzung darstellt oder gerade nicht, scheint bis heute eine wichtige Frage auch und gerade im Umgang mit traumatisierten Opfern, deren Leiden dadurch gewürdigt und anerkannt würde.

Im Strafrecht geht es um die Bestrafung des Täters, logisch richtet sich dies nach diesem und dessen Grundrechten. Ob es um der Gerechtigkeit willen auch um die Rolle des Opfers gehen sollte, ist strittig. Halte persönlich sehr wenig von Rache und der Verankerung des Rachegedankens im Strafrecht, auch wenn er Sühne genannt wird, bleibt er dogmatisch unsinnig und nicht logisch zu begründen.

Strafrecht heißt, der Staat maßt sich an autoritär über Bürger zu entscheiden und deren Leben zu bestimmen. Wie kommt er dazu und welche Legitimation braucht es dafür Grundrechte einzuzschränken, in dem ich Leute einsperre oder zu sonst einer Strafe verdonnere?

Wer diesen Bereich noch zusätzlich um weiche psychische Tatbestände erweitert, hebelt den nulla poena Grundsatz damit möglicherweise aus. Nach diesem Grundsatz darf es keine Strafe geben, wenn die Tat nicht vor ihrer Begehung ausdrücklich, also im Strafgesetz, mit Strafe bedroht war. An solche Gesetze sind aufgrund ihrer einschränkenden Wirkung auf Grundrechte strenge Anforderungen zu stellen auch hinsichtlich ihrer Bestimmtheit. Wie der individuell unterschiedliche psychische Schaden sich auswirkt, kann nicht normativ festgelegt werden. Ein Verbrechen am Seelenleben oder sagen wir lieber der Psyche, um nicht länger diesen zutiefst religiösen Begriff der Seele im Strafrecht zu missbrauchen, wo er mangels Objektivität nichts verloren hat, ist tatbestandlich schwer oder gar nicht zu fassen. Damit scheidet nach dem nulla poena Grundsatz, der Verfassungsrang hat aus meiner Sicht eine Bestrafung für immer aus, keine weitere Diskussion erforderlich.

Ob dies den Opfern psychischer Gewalt gerecht wird und wie diese besser zu schützen wären, ist eine wichtige Diskussion, die von der Gesellschaft geführt werden muss. Sanktionen des Strafrechts gegen den Wortlaut des Grundgesetzes und damit Einschränkung von Grundrechten ohne legitime Grundlage, sind keine Antwort darauf.  Anzuerkennen, dass es nicht auf jede Frage eine adäquate juristische Antwort gibt oder doch eine klare, die aber die Zuständigkeit logisch begrenzt, ist auch ein Stück Freiheit.

Strafrecht dient nicht dem Schutz der Opfer sondern der Regelung von Sanktionen gegen Täter. Danach allein hat sich ihre Legitimität zu bemessen. Opfer brauchen psychologische Hilfe, Anerkennung ihrer psychischen Verletzung als solche und entsprechende Hilfe, die nicht diskriminiert, sie haben keinen Anspruch auf staatliche Rache am Täter, die dafür das Grundgesetz und die Prinzipien des Strafrechts aushebelt.

So wurde auch nach dem Fall Kaspar Hauser, der immer noch ungewiss in manchem aber wenig geheimnisvoll nur noch ist, kein Tatbestand des Verbrechens am Seelenleben oder psychischer Schäden geschaffen, es sei denn diese haben eine klar physische Auswirkung, da das Strafrecht enge Grenzen braucht, Opfer einen Anspruch auf Schutz und Hilfe haben aber keinen auf Bestrafung oder Rache und eigentlich ist das auch gut so. Gerade im Recht ist weniger mehr, was sich auch unsere Regierung für Tatbesände wie die Majestätsbeleidigung nach § 130 StGB merken könnte und so ist das Prinzip, das diesem restriktiven Denken zugrunde liegt gerade wieder hochaktuell im Fall Erdogan gegen Böhmermann, in dem die Staatsanwaltschaft noch prüft, ob das Verfahren eröffnet wird.
jens tuengerthal 30.4.2016

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