Montag, 2. Oktober 2017

Wahlheimat

Wo bin ich Zuhause und worauf kommt es dafür an als Schlüssel zur Mitte

Lebe in Berlin, mitten in Prenzlauerberg einem irgendwie relativ linksgrün geprägten Szeneviertel und das nunmehr den längsten Teil meines Lebens. Der Flair des Viertels wandelte sich von ehemals linksalternativ zu bürgerlich-grün und wie ich immer mehr graue Haare bei mir sehe, werden sie auch auf den Straßen des Viertels normaler und während sich einige auch nur schlesische Ureinwohner des Kollwitzkiezes noch medienwirksam über die Schwäbisierung des hiesigen Vokabulars aufregten, zeigt sich auch an solchem Lokalpatriotismus die Verbürgerlichung des ehemals alternativen Lebens. Wo wird solche Intoleranz gegenüber Zugereisten zur nationalen Bewegung, wann dominiert die Angst in der Dekonstruktion?

Es sind hier tatsächlich mehr Kinderwagen zu sehen, als in irgendeinem anderen Viertel und vor allem mehr stolze Menschen, die sich bewusst für diese Rolle und diesen Weg entschieden haben. Sie leben damit in einer Gegend die sehr stadtnah ist, wunderbare Altbauten bietet und zugleich, im Gegensatz zum benachbarten Wedding ethnisch relativ rein blieb, warum sich von dort aus leicht Toleranz und Multikulti predigen lässt.

In den Schulen oder Turnhallen gab es eine zeitlang einige Flüchtlinge zu bestaunen, nun sind sie in Container und andere Behausungen an den Rändern umgesiedelt worden. Mein Berg gab sich solidarisch und auch ich stand am Anfang begeistert als Helfer an der Essensausgabe für Geflüchtete, wie die Asylanten in immer neuen Sprachsaltos auf der Suchen nach der gerade maßgebenden politischen Korrektheit genannt wurden, weil Asylant ein Schimpfwort der Rechten geworden war und keiner hier in den Verdacht geraten wollte, mit diesen Leuten zu sympathisieren.

Wir achten auf unsere Sprache, kleiden uns auf eine bestimmte Art modisch, die uns deutlich sichtbar von den Bewohnern Pankows oder gar Brandenburgs unterscheidet. Dafür kaufen wir lächelnd schrumpelige Äpfel beim Bio-Markt, dem wir ohnehin unseren monatlichen Obolus ableisten, um eine Vergünstigung für Dinge zu bekommen, die wir beim Discounter noch günstiger und meist besser aber mit weniger sozialem Prestige bekämen. Es ist eine relativ geschlossene, nur vorgeblich tolerante, faktisch aber in ihrem Konsens sehr enge Welt, die vor allem über alle, die nicht ihre Dogmen teilt mit bitterer Härte urteilt.

Der überschaubare Bereich bis zum S-Bahn-Ring ist relativ homogen besiedelt. Hier gibt es nur wenige Ausreißer noch, wie es auch kaum noch Alteinwohner gibt, zu denen Wolfgang Thierse, der sich über zu viel schwäbisch an seinem Platz einst erregte, sich wohl zählte, auch wenn der Katholik ein erst länger nach dem Krieg über den Umweg Thüringen zugereister Schlesier eigentlich ist. Manche derer, die vor der Wende hier lebten treffen sich noch in der Blues Kneipe namens Die Speiche bei mir am Platz, natürlich eine Raucherbar, geführt vom Betreiber des ehemaligen Café Gabaty, das am Rand der gleichnamigen ebenfalls längst ehemaligen Pankower Tabakfabrik stand, bis Linke Verbindungen es anderen zu schob, dahingestellt, wer dazu mit wem und so weiter. Sie ist ein Sammelpunkt für ehemalige Bewohner geworden. Hier trifft sich ein Publikum jenseits der 50 vermutlich schon, mitte 40 zumindest sicher, die zu Wendezeiten noch jung waren und der alten Zeiten gedenken, in irgendwie “weeßte noch”-Manier eine Art verlorene Heimat Gefühl zelebrieren.

Keiner der Besucher käme wohl auf die Idee, jene Rock-und Blueskneipe einen Vertriebenenverband zu nennen und doch hat sie verdammt viel davon auch in der Brauchtumspflege, findet sich hier eine geschlossene Gesellschaft. Wie jene geschlossene Gesellschaft gebildeter Akademikerkinder, die sich hier nach der Wende immer mehr ansiedelten und den ehemals alternativen Kiez immer mehr sanierten, bis Glänzelberg, wie es auf manchen unserer Mülleimer nun steht, besser passte als Prenzlberg.

An meinem Platz gibt es immer noch einige Platzbewohner über die sich manch neue Mutti mit Designerkinderwagen noch aufregt und gelegentlich mal Streit sucht, bis sie von den anderen Muttis zurechtgewiesen oder sichtbar ignoriert wird. Die letzten Penner oder Alkis gehören hier zur Folklore, wer angekommen ist, wird gegrüßt und die Neubewohner geben sich gern tolerant, um sich gut und Grün fühlen zu können, auch wenn das Leben derer am Platz mit ihrem nichts zu tun hat.

Einer der Bio-Läden um den Platz nennt sich Ost-Kost, ist Teil des heimatlichen Kiezes und vermittelt dieses Wohlfühlgefühl, biologisch und politisch korrekt, wenn auch ein wenig teurer als beim Discounter einzukaufen und dient auch mehr der Gewissenvermittlung für Zugereiste als tatsächlich OSTalgie zu betreiben. Der alte Osten wird ein wenig hochgehalten, auch wenn keiner in dieser spießig engen und piefigen Welt würde leben wollen.

So sind manche der leicht alternativen, immer schickeren Kieze, die sich über die bösen Kapitalisten und Makler nach vorne und offiziell aufregen, während sie nach hinten die Hand aufhalten, wenn es um ihre Wohnung und ihre Kohle geht, so verlogen wie alle Welt, nur dass sie sich hier gern die schöne Maske leicht alternativer Toleranz gibt.. Es ist ein etwas nobles Biotop, was immer bürgerlicher wird, auch wenn es sich gern noch ein wenig alternativ gibt. Dies ist meine Wahlheimat, ich habe sie mir ausgesucht und fühle mich wohl hier, auch wenn diese Kieze in ihrer pseudo alternativen Manie eher peinlich sind, sich etwas vorspielen mit ihrer vermeintlichen Toleranz, die ganz schnell endet, wenn tatsächlich für eine zeitlang Sinti oder Roma Familien aus Flüchtlingskreisen in ihren schicken Hinterhöfen angesiedelt werden.

Zuerst erkundigen sich alle noch ganz freundlich bei den Neulingen. Dann wundern sie sich über manch ungewohntes, schließlich wird hinter vorgehaltener Hand getuschelt, Bestätigung gesucht, was sich in bekannten Mustern steigert - “ist bei dir auch was verschwunden?”, “klauen die vielleicht?”, “hab die gehört, geht gar nicht hier” - dann wird festgestellt, die passen ja gar nicht hierher und dann verschwinden sie irgendwann wieder ganz dezent.

Den einen verschwand ein Fahrrad, den anderen ein Kinderwagen oder Spielzeug und es begann Misstrauen und als sie wieder weg waren, erzählten wir uns die Geschichten unserer Sorge - wussten alle was wirklich war, ohne eine Ahnung zu haben, weil die ja einfach nicht hierher passten, stellten erleichtert fest, dass sie ja nun weg waren. Wohin die “Zigeuner” kamen, was natürlich politisch korrekt in meinem guten Hinterhof niemand sagte, wusste keiner, hauptsache sie waren weg - 1933 - 1945 hätten wir uns da noch Gedanken machen müssen, aber heute doch nicht mehr, denk ich mir und gleichzeitig über Homogenität in Siedlungen nach und wie wichtig sie ist.

Der vordere Prenzlauerberg ist eine sehr homogene Siedlung in seiner ganzen Verlogenheit, kaum noch Alteinwohner, viele Zugereiste, zu einem ganz großen Teil Akademiker, die sich gern ein wenig alternativ tolerant oder künstlerisch geben. Geld wird beim Staat oder im Netz verdient, wenn überhaupt. Wir leben hier relativ ungestört, unsere Kinder gehen mit Kindern aus nahezu gleichen Umständen in die Schule und wir paaren uns gern im gleichen Bereich, warum es immer wieder auch welche gibt, die mehr als einen Liebhaber miteinander teilten, wie ich es selbst einst schon erleben durfte. Es sind alle Bedingungen einer geschlossenen Gesellschaft gegeben, die sich an der Illusion ihrer weltbürgerlichen Toleranz aufgeilt, die Intoleranz der Spießer vom AfD ablehnt, sich dazu inzüchtig fortpflanzt und durch die ab und an gern begrüßten “Anstandsneger” nicht bemerkt wie rassisch rein und geschlossen sie lebt und sein will.

Lebe gern hier und fühle mich wohl auch in den Cafés mit ihrem homogenen Publikum und den immer um die gleichen Themen kreisenden Fragen, es ist wohl so etwas wie meine Heimat, auch wenn es eine mit wie immer beschränkten Horizont ist. Bezeichnend mein Blick in den Hinterhof, der an einer nahen Wand endet, die als ich hier einzog noch von wildem Wein grün wuchernd bewachsen  war, heute aber schlicht grau-gelb und kahl ist mit wenig Licht von Oktober bis März und einem inzwischen abschließbaren Guantanamo-Käfig für unsere vielen Mülltonnen ist. Das schöne Grün musste entfernt werden, weil es den Putz zu beschädigen drohte.

Zelebriere mein Gefühl von bürgerlichen Leben mit Tee und Büchern, weil mir nichts so wertvoll erscheint und habe dennoch eine irgendwie dumpfe Ahnung, dass all dies furchtbar verlogen einfach ist und ich Teil einer begrenzt haltbaren Inszenierung bin, die sich im Untergang feiert, als sei sie für die Ewigkeit.

Das ist meine Wahlheimat mitten im Bionade-Biedermaier, der noch beschränkter wirkt, wo er sich gern großzügig, weltoffen und tolerant geriert, auch wenn es eigentlich nur um Schöner Wohnen mit globaler Deko geht. Wir erregen uns kollektiv über die dumpfen Ossis in mittlerweile Pankow, die AfD wählen - wie kann man nur - einige wählen hier nun schick als Künstler die Linke, ohne zu bedenken, dass es sich dabei um die SED-Nachfolge-Organisation handelt und nennen Sahra Wagenknecht lieber eine linke Intellektuelle als eine olle Stalinistin mit Stallgeruch im Kadersozialismus. Hier wird mittlerweile der Kandidat jener ominösen Linken mit Mehrheit gewählt, der sich mit seiner Ray-Ban-Brille abbilden lässt, um ein Lebensgefühl auszudrücken, zwischen Bio-Mate, Designer-Thermoskanne und Hartz IV.

Als frei denkender Mensch, fühle ich mich in diesen ganzen Konventionen spießiger Selbstbetrachtung irgendwie eingesperrt. Fraglich nur, was besser wäre oder eine echte Alternative. Das überaltete und irgendwie scheintote Charlottenburg? Der null innovative Westen, der nur noch seine Erinnerung kultiviert? Das noch gläubiger, alternative Kreuzberg oder Friedrichshain in dem ich neben den Multi-Kulti-Jüngern auch noch echte Araber, Muslime und ihre Kinder in den Schulen teilweise in der Mehrheit haben mit entsprechend durchgreifenden Lernerfolgen für meine Kinder?

Vermutlich wäre nur das wirklich vornehme Dahlem oder eine noble Villa im Grunewald, wo nur wohnt, wer es sich leisten kann und Geschmack hat, eine taugliche Alternative, wäre es nicht so langweilig dort, denn mit viel Geld, lässt es sich ebenso leicht tolerant und weltoffen sein, wie mit naiven Lügen hier.

Wir wissen, warum wir hier in dieser geschlossenen Welt leben, in der wir die Ossis weitgehend erfolgreich verdrängten, über diese heute Bewohner des Speckgürtels oder Brandenburgs gern lästern, auch wenn wir natürlich tolerant sind und alle unseren einen guten Ossi als Freund haben oder unter Männer früher auch die Qualitäten der lockeren Ossi-Frauen im Bett lobten, von denen sich manche eine Scheibe abschneiden könnte, wie wir zwinkernd dann bemerkten, was ein ebenso rituelles wie inhaltsleeres Gerede ist, für das ich keine sachliche Bestätigung geben könnte, im Gegenteil, löge ich nicht die üblichen Spiele hier mit, wenn es geboten ist.

Habe ich nun eine Schwäbin zur Frau gewählt, die in kein Schema passt, weil ich aus dieser schlicht uniformen Welt ausbrechen will, in der wir schön hochdeutsch reden, immer politisch korrekt sind und Sex nur so haben, dass es die Kinder nicht stört?

Natürlich nicht, sondern weil ich sie liebe und sie die Beste ist, der ich je begegnen konnte, ein Glück für jeden denkenden Mann in jeder Hinsicht. Aber das ich mir eine solche Frage stellen muss, zeigt die Enge der Welt in der ach so toleranten Großstadt Berlin im ehemals Preußen, wo nach dem alten Fritz noch jeder nach seiner Fasson selig werden sollte.

Lebe in einem Bereich, den sich manche NPD oder AfD Funktionäre für ihre Dörfer in Mecklenburg oder der Mark wünschen - eine national befreite Zone, die sogar so reinrassig und geschlossen ist, dass sie sich, ohne sachliche Probleme befürchten zu müssen, das Gegenteil auf die Fahne schreiben und für geträumten Multikulti, den es faktisch hier nicht gibt, Grün wählen.

Die DDR war auch so eine geschlossene Welt, die international für den Sozialismus auf der ganzen Welt und die internationale Solidarität eintrat, intern aber die wenigen Nordkoreaner und Afrikaner oder Kubaner eher in geschlossene Siedlungen steckte, um ihrer homogenen Bevölkerung nur nichts ungewohntes zuzumuten. Natürlich gab es hier wie dort die “Anstandsneger”, wie manche sie sogar nannten in völliger Verkennung politischer Korrektheit, aber was interessieren die nur Symbole im realen Leben.

Gestern lief ich mit meinem Schatz gen Weißensee und wir wagten mal einen Blick in die dort Kneipen, sahen Gesichter mit denen wir nicht über die Wahl diskutieren oder die Prinzipien bürgerlicher Toleranz erörtern wollten. Das ist sicher nicht typisch Weißensee, war vermutlich reiner Zufall und doch wunderte es mich kein bisschen. Die Musik klang nach Böhse Onkelz oder schlimmer und mehr in mir, möchte nicht mit solchen Menschen in einer Stadt leben, als sich in Toleranz zu üben.

Nahe meiner Wahlheimat und sogar heute unter einem Dach des künstlich vereinten Bezirk Pankow, der diesen Namen dank eines Schildbürgerstreichs der von daher schwäbischen Pankower trägt, prallen Welten aufeinander. Ossis, die sich benachteiligt fühlen, Wessis, die alles besser wissen und noch dazu politisch korrekt, die Welt zu einer Toleranz erziehen wollen, die sie selbst nicht kennen, weil sie in einer abgeschlossenen Welt leben. Keiner versteht den anderen aber jeder weiß genau, was besser wäre.

Es ist wirklich nett hier. Gibt sogar manchmal gute Gespräche mit gebildeten Menschen, wenn auch der größte Teil, seinem realen Niveau entsprechend, die Mode des Tiefstapelns gerne mitmacht, weil es schicker und einfacher ist, sich als akademischer Proll zu geben, denn die eigene Kultur in der separierten Welt konsequent zu leben, weil hier doch keiner so richtig konservativ sein möchte.

Die Gegend ist mehrheitlich irgendwie Grün, nur hinter der vorgehaltenen Hand ist sie auch mal ehrlich aber nicht vor sich selbst und darum lebt es sich so nett hier, weil sich alle über ihre wahren Absichten freundlich belügen, sich gern besser spielen, als sie sind und sich nicht mal in der anonymen Wahlkabine trauen dem Aufstand ihres Inneren gegen die Dummheiten politischer Korrektheit nachzugeben.

Das Eis auf dem wir uns hier noch etwas vorlügen ist dünn und es gibt gute Gründe, zu fragen, wie lange es halten wird und ob nur der Wohlstand noch die Schminke über der anderen Seite der Bürgerlichkeit ist, die gern intolerant ihre Welt abschirmt. Bedenke ich, wie intolerant sich hier gern gegenüber nicht alternativen Positionen gegeben wird, frage ich mich, wie bald die Stimmung kippt und was dann passiert. Ist die Toleranz echt oder gedeiht sie nur im geschützten Biotop meiner Wahlheimat?

jens tuengerthal 2.10.2017

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