Donnerstag, 5. Oktober 2017

Lebenswert

Was ist schon Leben und was ist es uns wert - Essay zum Literaturnobelpreis für
Kazuo Ishiguro

Kein Autor mag es auf einen Roman reduziert zu werden und so wenig Thomas Mann nur die Buddenbrooks ist, auch wenn er für sie den Literaturnobelpreis bekam und nicht für sein geniales Meisterwerk der Kulturgeschichte, den Zauberberg, so wenig ist Kazuo Ishiguro nur Alles was wir geben mussten, der Roman in dem es um die Nachzucht zur Organspende geht. Auch Was vom Tage übrig blieb, Die Ungetrösteten oder Als wir Waisen waren, sein kongenialer Detektivroman zwischen England und China sind mehr als lesenswert.

Dennoch schreibe ich hier allein über die Ethik, die ganz fein in Alles was wir geben mussten sichtbar wird und die moralischen Fragen, die sich daraus ergeben aus Anlass der Nobelpreisverleihung für Kazuo Ishiguro, weil dieses Buch so wichtig für die Fragen unserer Zeit ist, dass es auch zum Friedensnobelpreis passen würde.

Er hat den Roman gewählt und ein typisch englisches Internat als Ort der Handlung, in dem die Klone als Spender aufwachsen und erzogen werden, die einzig zu dem Zweck geschaffen wurden, ihren Auftraggebern einmal Ersatzteile zu liefern. Solange die Klone dort als gewöhnliche Menschen aufwachsen, wird nur ihr Kunstsinn besonders gefördert - weder ihre Herkunft noch ihre einmal Aufgabe sind Thema unter den Kollegiaten, die mit 16 das Internat verlassen und in Cottages kommen, in denen sie dann auf ihre Einsätze warten, bei denen ihnen Organe entnommen werden. Sie werden in den Cottages schon wie Erwachsene sich selbst überlassen und machen dann entweder eine Ausbildung als Betreuer, die Spender nach ihrer ersten Spende pflegen, bis es nichts mehr zu entnehmen gibt oder sie selbst einen Bescheid über ihre erste Spende bekommen.

Sie leben, um für andere, die sie als Klon von sich selbst haben herstellen lassen, zu sterben, diesen das Leben zu retten und zu verlängern. Sie sind nur Klone und also genetische Kopien eines anderen. Ihr Leben hat einen Zweck, sie sind das Ersatzteillager eines anderen, was sie mit der Zeit immer genauer erfahren.

Dennoch sind sie auch Menschen, erfahren eine menschliche Ausbildung, werden vor allem kulturell geschult und lernen auf ihren Körper zu achten. Es gibt das Gerücht, dass Liebespaare eine Zurückstellung von drei Jahren erhalten können, bevor sie mit dem Spenden beginnen.

Als die Erzählerin, die selbst Betreuerin wurde, mit ihrem Liebsten auf die Suche nach den Bildern geht, die sie im Internat malten und die ausgestellt wurden, damit die beiden Liebenden einen Aufschub erhalten, erfahren sie, dass es keinen Aufschub gibt, das Internat längst pleite ging und die ominöse Madame im Hintergrund diese Ausstellungen nur veranstaltete, um auf das Schicksal der Klone aufmerksam zu machen, den Menschen zu zeigen, dass auch diese eine Seele hätten, eine Würdigung verdienten.

Der Liebste stirbt nach der vierten Spende schließlich und seine Liebste, die bis dahin als Betreuerin arbeitete, bekommt ihren ersten Spendenbescheid. Es wird nicht sterben bei den Klonen genannt sondern es heißt vollenden, sie hätten ihren Weg vollendet und ihre Aufgabe vollbracht.

Es gibt keine Hoffnung und kein Entkommen mehr. Die Gesellschaft hat sich mit den Klonen im Hintergrund eingerichtet, keiner will wissen, was sie sind oder fühlen, sie haben eine Aufgabe und sollen diese erfüllen, nicht menschlicher gemacht werden als unbedingt nötig.

Sind wir noch so weit von dieser literarischen Vision real entfernt?

Natürlich gibt es noch keine Klone, die für uns unsichtbar in Parallelwelten existieren, bis wir sie brauchen. Es wäre in unserem Land und in Europa das menschliche Leben auch so sehr geschützt, dass die Vernichtung eines Individuums zum Zwecke der Heilung eines anderen wohl verboten wäre, meinen wir.

Doch vielleicht, sind wir uns da auch zu sicher. Wer definiert, wann Leben beginnt oder endet?

Stammzellen von Embryonen verwenden wir lange schon für die Forschung. Sie sind wichtig und nötig. Ist künstlich hergestelltes menschliches Leben überhaupt welches und wer darf dies entscheiden?

Abtreibung ist teilweise legal, vor allem, wenn es sich um behindertes Leben handelt, kann bei einer ausreichenden Indikation das werdende Leben, bis zu einen Tag vor der Geburt beseitigt werden und über die Verwendung der dabei gewonnenen Stammzellen wird teilweise noch eifrig gestritten.

Insofern jede Schwangerschaft das Leben der Mutter gefährdet und nicht jede gewollt oder freiwillig zustande kam, schiene es mir rechtlich sehr fragwürdig die Freiheit der Frau zugunsten der Freiheit des werdenden Lebens aufzuheben. Auch fragt sich, ob Männer darüber überhaupt entscheiden dürfen sollten, doch ist dies schon eine ethische Wertung, die geprägt ist von Jahrzehnten der Emanzipationsbewegung, die auf Jahrhunderte der Unterdrückung reagierte und unsere Gesellschaft heute prägt.

Die Frage könnte sich aber ganz nüchtern schon früher stellen, etwa bei der Spirale, die eine Einnistung auch befruchteter Eizellen verhindert oder bei der Pille danach, die ähnlich, nur eben allein chemisch wirkt.

Wir entscheiden in all diesen Fällen über Leben, ob es leben darf oder nicht. Andererseits scheint uns die in Ishiguros Roman entwickelte Vision grausam und fürchterlich, weil sie uns die Menschlichkeit der verwendeten Wesen viel deutlicher vor Augen führt. Es werden fertige Lebewesen für andere benutzt.

Doch ist der Unterschied bei der Art, wie wir mit Tieren umgehen, etwa in Tierversuchen oder auch für den gewöhnlichen Fleischkonsum wirklich so groß, ethisch betrachtet?

Bin weder Veganer, noch habe ich vor auf Fleisch zu verzichten, wenn ich es nicht muss, weil ich es gerne mag. Doch messe ich meine aus Gewohnheit gespeiste Haltung an den Prinzipien des kategorischen Imperativs, scheint sie mir sehr fraglich und keineswegs konsequent, sowohl was die Abtreibung als auch meinen Fleischkonsum betrifft.

Unser amtierender Bundespräsident hat seiner Frau eine Niere gespendet, um ihr Leben zu  retten und weil er es konnte. Diese freiwillige Organspende auch als Zeichen einer großen Liebe drückt für mich etwas sehr positives und soziales aus.

Wenn wir kranke Organe, die uns sterben ließen, wenn wir sie nicht ersetzten durch Organspende, züchten könnten aus unserem eigenen Erbgut, würde ich das sehr befürworten. Ab wann aber, hätten wir es dann mit einem menschlichen Leben zu tun.

Für eine Lunge müssten wir auch ein Herz züchten, da beide nur als Kreislauf gemeinsam transplantiert werden können. Was wäre dieses im Brutkasten gezüchtete Herz mit Lunge noch ohne Hirn?

Könnte es Herzschmerz haben, wie wir so gerne für das Leid der Liebe sagen?

Was wäre mit einem nachgezüchteten Gehirn, das bei vielen Unfällen lebensrettend sein könnte, wäre dies schon ein Wesen an sich, da es ja als lebender Organismus mit allem, was dazugehört gezüchtet werden müsste?

Gibt es eine Grenze zwischen nötiger medizinischer Hilfe, die Leben rettet und dem, was wir überhaupt tun dürfen?

Haben wir diese nicht schon mit dem ersten Klonschaf oder sogar Genmais bereits überschritten?

Wenn wir Krankheiten wie Krebs und AIDS nur mit Eingriffen ins Erbgut heilen können, dürfen wir diese dann unterlassen?

Ist es unmenschlicher Menschen einfach sterben zu lassen, weil wir das eigentlich mögliche aus ethischen Gründen nicht tun wollen oder Ersatzteile aus Lebewesen zu züchten, die uns leben ließen, deren mögliches Bewusstsein uns dabei aber egal ist?

Ishiguros grandioser Roman stellt uns diese Fragen nur indirekt, macht keine moralischen Vorhaltungen, sondern stellt uns eine andere Welt vor, die diese Fragen auf eine Art konsequent zu Ende denkt. Darum müssen wir uns fragen, ob wir in so einer Welt leben wollen und wohin sie uns langfristig führt.

Habe keine einfachen Antworten auf diese Fragen. Denke es gibt auch keine einfachen Antworten, es gibt nur die Pflicht, sich diesen Fragen zu stellen, um zu überlegen, wie wir künftig leben wollen und was uns Leben wert ist.

Die Pflicht der Medizin ist, Leben zu retten, wo und wie sie es kann. Was die einen noch ethisch verbieten, werden andere ausprobieren, die weniger moralische Bedenken haben. Ist dann derjenige, der damit mehr Leben rettet moralischer oder derjenige, der sterben lässt, auch wenn er es anders könnte?

Was ist uns unser Leben überhaupt wert und warum sollten wir nicht alles versuchen, es zu retten, wenn wir es können?

Sobald wir genetisch den Alterungsprozess verhindern oder aufschieben können, werden wir es tun und es wird sich eine ganze Industrie daran hängen. Einerseits zur Pflege unserer lächerlichen Eitelkeit, andererseits auch, um uns frei und glücklich leben zu lassen, Krankheiten wie Demenz oder Alzheimer aufzuhalten.

Das ist eine großartige und schöne Vorstellung und zugleich der Horror für unsere Welt und es wird schwer hier eine für alle gültige allgemeinverbindliche Regelung aufzustellen. Wer sich mit einem großen Altersunterschied liebt etwa, wird heil froh sein, wenn das Leben seines Partners um einige Jahrzehnte verlängert werden könnte. Unsere Sozialkassen dagegen würden infolge einer solchen Entwicklung bald implodieren, die Gesellschaft noch mehr überaltern.

Wir haben nur eine beschränkte Zeit im Leben, genau wie wir nur beschränkten Raum auf der Erde haben. Vielleicht können wir künftig andere Planeten besiedeln und lösen damit zumindest das Platzproblem. Die Frage bliebe, welchen Wert das Leben hätte, wenn es nicht mehr so endlich wäre.

Würde gern auf jeden Arztbesuch verzichten, mit meiner Natur so leben, wie ich es tue, bis sie den Dienst versagt und dann fröhlich gehen, weil eben alles ein Ende hat und es immer am besten ist, aufzuhören, wenn es gerade am schönsten ist. Andererseits würde ich meine junge Frau gern so lange wie nur möglich glücklich machen und wenn dies einige Jahre länger mit medizinischer Hilfe möglich wäre, warum sollte ich das nicht nutzen?

Auf all diese Fragen, habe ich keine Antwort, es sind Prozesse, in mir, die ich auch im Laufe meines Lebens immer anders zu betrachten lerne. Wie ich es im Alter sehe, weiß ich nicht. Werde ich wie fast alle alten Menschen massenweise Medikamente schlucken, um vielleicht ein wenig länger am Leben zu bleiben oder lieber weiterhin ohne jeden Arzt leben, bis ich irgendwann umfalle, wie die Bäume, die der gerade eben Orkan fällte?

Weiß es nicht und kann es nicht wissen. In diesem vielleicht zentralsten Punkt des Lebens, was sein Ende und seinen Verlauf ohne lebendiges Ersatzteillager betrifft, bin ich völlig ahnungslos und muss die Dinge einfach geschehen lassen. Kann mich nur bemühen, was ist, so sehr wie nur möglich, jeden Moment zu genießen, bis es eben endet. Da ich auch sonst nichts anderes kann, bemühe ich mich zumindest konsequent darum, denn was bleibt uns sonst vom Leben, wenn wir es nicht so genossen, wie es uns entspricht?

jens tuengerthal 6.9.2017

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