Schulliebe
Dort eine Freundin zu finden, wo ich die meiste Zeit verbrachte, lag nahe, auch wenn es mir innerlich irgendwie fern lag, weil ich mich etwas erhaben über diese Realschule dünkte, die ich nur als Produkt meiner Faulheit sah und mich die vom Gymnasium, wenn, mehr interessierten, aber da die weit entfernt in einem anderen Gebäudeteil waren, ich sie nur gelegentlich in der Pause sah, gestaltete sich der Weg von alleine und ich erfreute mich am naheliegenden.
Sie war etwas mehr als ein Jahr jünger als ich, in einer Parallelklasse und ich wollte sie kennenlernen. Sie gefiel mir, aber bisher hatte sich noch keine Gelegenheit ergeben. Doch dann fuhren wir mit ihrer Klasse zusammen ins nächstgelegene Konzentrationslager mit der Schule. Wir waren im Geschichtsunterricht auf den Tag vorbereitet worden und ich wollte den Opfern die gebührende Würde erweisen. Wusste von der Geschichte, kannte Überlebende aus dem Kreis der Familie und fand es ein sehr bedeutendes Ereignis.
Die Fahrt dorthin wurde so lustig, wie es eben Klassenfahrten so sind - einige machten dumme Witze, doch ich wies sie zurecht und unsere kleine, ältere Lehrerin schaute betroffen streng, was meist genügte. Dennoch ließ ich meinen Schwarm nicht aus den Augen, die leider noch zu weit entfernt saß, um etwas anzufangen und sei es nur ein harmloses Gespräch und also unterhielt ich mich mit der gebotenen Ernsthaftigkeit mit einem sehr netten Klassenkameraden, der auch schon eine Ehrenrunde gedreht hatte, also mit zu den Älteren gehörte und aus meiner Sicht die genügende Reife besaß, über vieles und auch am Rande über meinen Schwarm, den er kannte und er wollte uns bekannt machen, aber ich war mir noch nicht ganz sicher, ob ich ihn wirklich als Brücke wollte.
Durch die Berge und schönen Wälder fuhren wir, bis irgendwann der große Parkplatz vorm Zaun des Lagers auftauchte - alles sah sehr ordentlich und gut saniert aus. Eine seltsame Stimmung ging von diesem Ort aus, aber fast hundert Schüler verwandelten die gespenstische Stille schnell in ein quirliges Gemurmel, auch wenn sich alle, schon beeindruckt, um irgendwie angemessenes Verhalten bemühten, keiner wirklich laut und kindisch wurde - die fünfzehn bis sechzehnjährigen waren vorbereitet worden und schienen ernster als sonst.
Noch bevor wir das Gelände betraten, besichtigten wir die vor dem Eingang gelegene Gaskammer. Fotos machten den Schrecken deutlich und es wurde immer ruhiger unter uns. In ruhigem Gänsemarsch betraten die Klassen dann das Lagergelände. Das Lager war errichtet worden, um den dort vorhandenen roten Granit für Speers Bauprojekte in seiner Gigantomanie abzubauen. In schönster Landschaft, 700m hoch gelegen lag dieser Ort des Grauens zauberhaft friedlich und wir besichtigten ihn teilweise sichtbar erschüttert. Besonders die schöne Brünette aus meiner Klasse war immer wieder zu Tränen gerührt und ich hielt mich in ihrer Nähe auf, um sie trösten zu können, auch wenn ich mir keine Chancen mehr ausrechnete, mich die andere gerade vielmehr interessierte, hatten hier Betroffenheit und würdiges Verhalten Vorrang, wollte ich mich möglichst erwachsen und verantwortlich der schrecklichen Geschichte meines Landes stellen.
Nur ganz gelegentlich machten noch welche dumme Witze, über die aber kaum einer lachte und so erledigte sich dies unangemessene Tun von alleine. Ein Ort, an dem der Tod so gegenwärtig war, ein Lager, in dem 22.000 Menschen starben oder umgebracht wurden, war kein Ausflug in die Berge für ein romantisches Stelldichein, die Umschwärmte kennenzulernen. Auch sie, ohnehin eher ein ruhigerer Typ dachte ich, benahm sich immer korrekt, was ich nebenbei beobachtete, womit sie vor meinem Inneren vorab die moralische Prüfung bestand, auch wenn sie ständig mit ihrer Freundin tuschelte und sich unsere Blicke manchmal trafen, unternahm ich nichts, um den Ort nicht mit meinem Liebesbedürfnis zu entweihen.
Seltsamer Gedanke und sehr formal, denke ich heute, was könnte besseres geschehen, als wenn sich am Ort des Todes eine junge Liebe finden konnte, aber damals lag es mir fern und trotz aller Neugier blieb ich diszipliniert, schaute ergriffen alles an und las, was auf den Tafeln geschrieben stand. Gestattete mir zwischendurch nach ihr zu schauen, mit etwas schlechtem Gewissen ob meiner eigentlich unangemessenen Gefühle vor allem auch meiner Sehnsucht an diesem Ort.
Sie war blond, hatte damals kurze Haare und trug eine Brille, eine etwas üppige Figur, war eher nicht so der Modelltyp aber ich fand sie süß und sie reizte mich sehr - überlegte die ganze Zeit, ob sie wohl über mich sprachen, bemerkt hatten, dass ich sie auch hier, völlig unangemessen zugegeben, beobachtete und meine Neugier nicht verstecken konnte. Wie immer taten meine schlechten Augen ein übriges, dass ich keine Frau wirklich unauffällig beobachten konnte, was mir bis heute nicht gelingt, warum ich es aufgegeben habe und lieber direkt und auffällig schaue und warte, was passiert.
Manche sind von soviel Direktheit schockiert, andere finden es amüsant und dann ergibt sich eben was oder nicht und das passt dann meistens schon so, wie mir überhaupt mit der Zeit auffiel, dass es völlig unsinnig ist, sich zu verstellen oder vorsichtig zu nähern, um niemanden zu verschrecken, womit ich zwar immer wieder die eine oder andere bestimmt zauberhafte Frau verschreckt habe, aber, wer mich nicht will, wie es meiner Natur entspricht, verstünde sich auf Dauer ohnehin nicht mit mir und also hat Verstellung oder seltsames Bemühen bei der Suche nacheinander keinen Zweck.
Was für Blicke gilt, gilt noch mehr für Berührungen, fiel mir auf und während ich früher noch schlechten Gewissens, dem politischen Konsens der Korrektheit folgend, jede Berührung vermied, wenn ich nicht ziemlich sicher war, dass sie gewollt ist, berühre ich heute ganz offen und direkt und wenn Frau daraufhin zurückzuckt oder stiller wird, spreche ich es spätestens an oder schon bei der ersten Berührung, dass ich ein haptischer Typ bin, Berührung liebe und dann kann sich Frau offen entscheiden, ob sie das mag und will oder nicht und ich spüre sofort, ob wir miteinander können oder nicht und wir vermeiden jedes sonstige sich umkreisen, bei dem sich beide nur verstellen, um am Ende unglücklich zu bleiben und es hat zum Glück geführt, kann also nicht ganz falsch gewesen sein.
Vielleicht würde mit dieser Handlungsempfehlung der absoluten Offenheit vieles leichter im Verhältnis von Frauen und Männern, die sich in Sehnsucht und Träumen oft näher sind, als sie in rollenimanenten Schemen ahnen, die sie mustergemäß voneinander um so weiter entfernen, desto sicherer sie sich bezüglich des schematischen Verhaltens der anderen sind. Dies ‘sei wie du bist’ war mir als Sechzehnjähriger noch völlig fremd, zwar gab es durchdachte Pläne für das ‘wenn dann’, aber ansonsten war alles theoretisch und von viel Furcht geprägt, die uns zu albernem Verhalten bringt, das selten zielführend ist. Vermutlich finden wir mit all unseren Phantasien und Befürchtungen überhaupt nur zueinander, weil es dem anderen genauso geht, beide Seiten blind auf der Suche nach Liebe dann irgendwann eben doch zufällig übereinander stolpern und uns dann nicht mehr wirklich wehren können.
Dies, dabei auf die Hilfe Dritter, den Zufall oder höhere Mächte angewiesen sein, gefiel mir noch nie, im Gegenteil scheint es mir eine contra dictio der Liebe zu sein, die Freiheit in der Hingabe aneinander bedeutet und sich nur so auch finden kann, wenn sie sein soll. Liebe ist der stärkste Ausdruck des freien Willens und der Unterordnung unter die Hormone unserer Natur zugleich, die manche gern mit Götternamen oder Sterndeutungen versehen, was aber logisch zum Ziel systemimmanent in Widerspruch steht. Wer nicht frei liebt, sondern von Gott ge- oder verführt, liebt genauso wenig wie derjenige oder diejenige, die dabei dem Rat der Sterne folgen oder den Wünschen Dritter gehorchen.
Dennoch lieben Menschen, die glauben, genauso wie Menschen, die dies logisch einzig schlüssige richtig erkennen und wer wäre ich, die eine oder andere Liebe beurteilen zu wollen - warum die Liebe eben ist und kommt, auch wenn ihr Auftreten wie ihr Verbleib völlig unlogisch eigentlich sind. So mag Liebe unlogisch oder unvernünftig sein, es muss nichts an ihrer faktischen Existenz ändern und was ist, ist, sagt die Natur und sich gegen diese zu stellen, wäre noch unvernünftiger als die real gefühlte Liebe beurteilen zu wollen.
Wem das nun schwer verständlich oder verwirrend erscheint, möge sich an die obige Handlungsempfehlung erinnern, es braucht nur Offenheit unserer Natur nach, um nichts falsch zu machen, was es in der Liebe ohnehin nicht gibt, aber vermutlich braucht es sonst Jahre und ewige Versuche, um festzustellen, was passt und gut ist und wovon wir lieber die Finger im wahrsten Sinne des Wortes lassen.
Diese Empfehlung hatte ich damals nicht und so stolperten wir zwei eher peinlich und mit einigen Umwegen zueinander. Als wir das Lager wirklich gerührt oder zumindest mit der formal gebotenen Betroffenheit wieder verließen, schaltete sich doch mein Busnachbar ein, dem ich leichtsinig im Herrengespräch von meinem Begehren erzählt hatte.
Und was tat dieser leichtfertige Kerl?
Er stellte uns einfach einander vor, dass er nicht noch sage, und das ist …, der hat sich in dich verknallt, wollt ihr es nicht mal versuchen, konnte ich wohl ein Glück noch nennen und dafür dankbar sein. Sie war sichtbar peinlich berührt, wie ich es auch war, der darob, ihr zuzwinkernd, die Augen verdrehte. Dennoch, nun kannten wir uns - sie reichte mir die Hand, stellte sich vor und ich war auch zu aufgeregt, um wirklich cool zu sein.
Es dauerte nach diesem Ausflug noch bestimmt drei Monate, gefühlt zumindest, bis wir uns das erste mal besuchten und dann der erste Kuss ungestört von Dritten kam, über die wir vorher ein wenig gelästert hatten, statt dankbar zu sein, dass sie uns einfach zusammenbrachten, um was wir wohl beide, wie wir uns danach eingestanden, seit Monaten kreisten. Die Vorstellung fand im frühen Herbst oder späten Sommer statt, der erste Besuch beieinander dauerte bis Februar, in der ich ihr alle Energie meist vergeblich widmete.
Als es dann begann und wir uns das erste mal fast nackt streichelten - es war bei ihr, die bei ihrer Großmutter wohnte im Souterrain, also an keinem Ort sicheren ungestörten Rückzugs - war es schon fast wieder vorbei, was ich, der ewig darauf gelauert hatte, mit ihr zu schlafen, wieder der erste zu sein, nicht bedauern darf, um den Grund dafür, der mir dann lange sehr wichtig wurde, nicht zu schmälern, was ich aber, als ich es dann viel später doch noch einmal tat, sehr leid tat, denn ich hatte manches schönes womöglich verpasst bei der später Goldschmiedin meiner Verlobungsringe, aber das ist eine andere Geschichte und nach Monaten tatenloser Geduld siegte mit Beginn der eigentlichen Taten dann doch die Ungeduld, die mich weitertrieb ins dann nächste Kapitel
jens tuengerthal 17.12.15
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