Freitag, 24. November 2017

Erzählzeit

Die Zeit in der wir erzählen bestimmt auch die Wahrnehmung dessen, was erzählt wird. Wenn ein Thomas Mann von der tiefsten Vergangenheit spricht, in der die Geschichte des Zauberberg erzählt werden müsste, dann betrifft dies die mit dem Ersten Weltkrieg untergegangene Welt, die dort beschrieben wird und in dem sich Hansens Spur schließlich verliert. Mann hatte seine Frau Katja 1912 nach Davos ins Sanatorium begleitet und dort jene Welt kennengelernt, die im Zauberberg Literatur wurde.

Schon 1913 fing er an zu schreiben, doch dann kam der Krieg und er schrieb erst den Felix Krull, Herr und Hund sowie die Betrachtungen eines Unpolitischen über die er sich mit seinem Bruder Heinrich entzweite für einige Jahre, bis er dann auf der Flucht vor den Nationalsozialisten in den Vereinigten Staaten selbst politisch schrieb, was wie ein Widerruf der Betrachtungen klingen könnte, den er so nie tat, im Gegenteil ließ er ihn in den sechzigern noch einmal mit Vorwort seiner Tochter Erika neu auflegen. Doch erst 1923 vollendete er seine europäische Kulturgeschichte, die im Guckkasten der abgeschlossenen Welt des Sanatoriums Schatzalp spielt.

Inzwischen war der große Krieg zu Ende, Millionen Menschen in ihm umgekommen und die Welt, in der Mann aufwuchs, untergegangen, somit spielte der Roman real in der tiefsten Vergangenheit, auch wenn diese noch keine zehn Jahre vorher mit dem Ausbruch des Krieges untergegangen war und mit seinem Ende und der Ausrufung der Republik endgültig Geschichte war, obwohl sie sich auf eine Geschichte berief, die mit Karl dem Großen vor über tausend Jahren begann, mehr an Zeit für das Kontinuum als den Wechsel sprach, der doch unwiderruflich und nicht mehr aufzuhalten schien. Dies alles war nur noch tiefste Geschichte, untergegangen im Giftgas- und Geschütznebel auf den Hügeln um Verdun und doch ist die dort beschriebene Kultur lebendiger als manches, was heute so geschrieben wird.

Der Konflikt zwischen Settembrini und Naphta, dem Philosophen und Aufklärer mit dem Jesuiten beschreibt eine Auseinandersetzung, die im 18. Jahrhundert mit der Aufklärung und ihren großen Geistern von Diderot bis Kant begann. Nicht umsonst schreibt auch der italienische Freimaurer in Davos an einer Enzyklopädie und spielt damit auf das große Erbe der Aufklärung an, hält den Geist seines Bruders Garibaldi in humanistisch revolutionärer Tradition wach gegen den scharfen Geist seines Gegners Naphta, der noch für die dunkle Welt des Aberglaubens steht.

Doch ist diese Geschichte zwischen dem Humanisten und dem Mystiker noch viel älter, begann schon mit der Renaissance als der wiederentdeckte gottlose Lukrez, die Menschen neu denken lehrte, kurz nach dem Konstanzer Konzil, auf dem der Papst noch den böhmischen Reformator Jan Hus verbrennen ließ und so steht der Diener des Papstes, der mal Jude war, der zugleich für einen neuen extremen Ton im Diskurs steht, der mit den Faschisten und den Kommunisten aukam, also für Mann 1923, dem Jahr des Putsch von München, der Hitler nur zeitweilig nach Landsberg in den Knast brachte, ist ganz gegenwärtig und kündigt mit seinem extremen Ende zugleich die Zukunft der Faschisten in Europa an, die ihre Länder in den Selbstmord führten, ist auch als humanistische Aufklärung geradezu hellseherisch.

Erzählt in der tiefsten Vergangenheit, beschreibt sie die Gegenwart, während sie von einer Zeit berichtet, die untergegangen ist, schafft sie eine Vision in die Zukunft und zeigt so am Ende wie relativ Zeit immer ist, die alles zugleich und für jeden anderes umfassen kann. Die richtige Erzählform der Geschichte ist sicher die vollendete Vergangenheit. Nicht alles bleibt im Perfekt, manches stand im Imperfekt, um die Zukunft drohend zu beschreiben und die so fein geschriebenen Dialoge sind mir völlig gegenwärtig. Manche Ebenen verschwimmen auch an ihren Rändern, warum sich der Erzähler ehrlich fragt, ob es beim Erzählen der Geschichte ihrer noch bedarf, sondern wir besser gleichsam im Sinne einer völligen Relativität sie alle aufheben.

Wenn ich mir also die tiefste Vergangenheit bis in die so präsente erlebte Gegenwart vom Großvater erzählen lasse, den ich noch lange erlebte und darüber nun in einer anderen Zeit erzähle, um etwa meiner Tochter, die eigene Geschichte gegenwärtig zu machen, bemerke ich plötzlich, wie ich mich rasend schnell im Karussell der Zeiten drehe, gestern morgen ist und die fernste Zukunft längst vergangen scheint. Lässt sich noch sagen, was wir wann sind, was tatsächlich Geschichte ist und wo wir als Teil von dieser schon wieder jenseits der verlorenen Zeit sind, quasi die Quanten-Relativitätstheorie sprachlich uns gegenwärtig wird?

Was bin ich dann noch wirklich und wenn ja wo?

So werde ich im Dialog, der gegenwärtige Gespräche ausdrückt, von der tiefsten Vergangenheit erzählen lassen, sie damit uns vergegenwärtigen, um daraus für die Zukunft zu lernen. Wen das verwirrt, der möge sich nicht wundern, es ging mir lange ähnlich, bis die Suche nach der verlorenen Zeit in der gegenwärtigen Liebe ihr Ende ohne ein solches fand. Erst mit fortschreitender Zeit, verlor der riesen Berg der Geschichte seine Größe, verschwamm die Zeit zwischen den Erlebnissen, die mir ganz präsent sind, weil es eben die Geschichte auch meiner Familie ist. Eine Kulturgeschichte meiner Familie sollte ich schreiben. In dieser werde ich von der tiefsten Vergangenheit erzählen wie von der fernsten Zukunft in der wir vielleicht wissen, was wirklich ist und war und mir solange das Leben erzählend so schön machen, wie es mir gefällt, denn was ist schon real und wo sind wir je zwischen den Zeiten al in der Familie dieser Brücke zwischen den Generationen, die über die Zeit hinaus weist, in der wir jung und alt zugleich werden.

jens tuengerthal  24.11.2017

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