Mittwoch, 22. November 2017

Bürgerrituale

Bei uns ist Weihnachten wie bei den Buddenbrooks, sagte ich immer gerne, wenn ich meine Familie beschreiben soll, einmal vorab dahingestellt, wer welche Rolle übernimmt zwischen Konvention und Untergang, wie sehr ich dabei über mich lächle und ob die alten Rituale wirklich noch in die neue Zeit passen

Es gab klare Konventionen, die, zumindest so lange meine Großeltern lebten, wir in ihrem Haus zeremoniell feierten, immer gleich abliefen. Dies begann schon mit der Ankunft von hinten, weil der Raum zum sonst Eingang, die sogenannte Halle, als Festsaal geschmückt wurde von den Großeltern, wir Kinder den Baum keinesfalls vorher sehen durften und meine Großmutter mit besonderer Liebe und Zärtlichkeit uns Kindern jedesmal den Baum nach der Bescherung noch en detail vorführte - von der singenden Christbaumkugel mit erzgebirgischer Mechanik bis zu den wenigen Neuerwerbungen vom Weihnachtsmarkt, wie wir sie vom elterlichen Baum kannten.

Wir waren stolz, dass uns die liebe Omi Elfie alles zeigte und wenn unsere Väter dann später nach dem Festessen anfingen, mit der Mechanik des Baums zu spielen, fanden wir das ziemlich kindisch und ungezogen, so gefesselt waren wir Kinder von den würdigen Ritualen, die der Feier bei den Großeltern ihre ganz besondere Würde gaben.

Wir schlichen uns also im Winter von hinten über das großelterliche Schlafzimmer, dass dann auch als Garderobe diente ins Haus. Vor dem Eingang zur Halle hing ein Bettlaken im Rundbogen und keiner von uns Kindern wagte einen Blick - zumindest für mich, war es aller Neugierde zum Trotz unvorstellbar, gegen das geheime Ritual der Großeltern zu verstoßen.

Die Geschenke wie auch das Schaukelpferd, das an Weihnachten aus dem Spielzimmer im Keller in die Halle getragen wurde und dessen Mähne der Großvater als alter Reiter persönlich flocht, wie er auch angeblich Sattel und Trensen genäht hatte für das in meiner Erinnerung schon immer uralt aussehende aber unsterbliche Schaukelpferd namens Pipifax.

Inzwischen ritt auch meine Tochter schon auf Pipifax und bald hoffentlich ihre Kinder wieder und ich denke an die Lederhosensage, das Gedicht des Börries von Münchhausen, der sich leider auch den Nazis so unrühmlich andiente - “Generationen kommen, Generationen gehen, hirschlederne Reithosen bleiben bestehen ...” Wer weiß wie viele Generationen nach mir noch auf diesem alten Schaukelpferd sitzen werden, für das mein Vater jüngst einige neue Kleinigkeiten spendierte, wie es bei Münchhausen die Hirschhornknöpfe waren.

Bis zur Bescherung verzogen wir uns noch mit den Vätern in den Keller, wobei die großen Jungens, also die Generation meiner Eltern immer viel leidenschaftlicher als wir spielte, sei es nun Tischfußball, Tischtennis oder mit der berühmten Billerbahn, über die stets mein Lehrer-Onkel als erfahrener Modelleisenbahner die theoretische Oberaufsicht führte, auch wenn sie der kleinste Bruder am Ende bei der Aufteilung des Erbes bekam.

Vielleicht gab es auch noch einen Tee vorneweg im großelterlichen Biedermeierzimmer, das mit Möbeln dieser Zeit, einem wunderbaren Prahlhans mit dem schönsten und kostbarsten Geschirr, dem Schreibtisch der Großmutter und einem eben biedermeierlichen Ohrensessel und Portraits, bei denen ich bis heute nicht sicher bin, ob es nicht doch Vorfahren waren, bereits reichlich gut gefüllt war als gute Stube für das Frühstück auch warm in Erinnerung.

Das etwas aufgeregte Spiel mit unseren Vätern, die in ihrem Elternhaus wieder zu Knaben wurden und in ständigem Konkurrenzkampf standen, war für mich immer eine der lustigsten Sachen der Zeit vor der Bescherung. Mit zunehmendem Alter wurde diese Zeit länger, da unsere Mütter die Großmutter beim Kochen des festlichen Essens immer mehr unterstützten - wie mein Großvater früher die Rehkeule aufschnitt, machte das später mein Vater als Herrendienst in der Küche.

Nicht weil die Väter nicht kochen konnten, zumindest teilweise konnten sie das auch, sondern eher als harmonische Verabredung bereiteten die Schwiegertöchter mit der Schwiegermutter das Festessen vor, während die kleinen und größeren Knaben und Mädchen im Keller spielten und der Großvater letzte Hand an den Baum legte, die Geschenke davor und darum drapierte.

Wenn die Rehkeule soweit war und auch sonst alles seinen ruhigen Gang ging, gab die Omie dem Grotepater genannten Großvater bescheid, ging zum Vorhang und rief hindurch: “Vaddern, wir wären dann soweit.” Dann steckte er die  Bienenwachskerzen an - was anderes kommt auch meinem Vater bis heute nicht an den Baum und genau diese Kerzen verbreiteten den wunderbar weihnachtlichen Duft, der immer auch etwas schlossig war.

Dann schlug er zweimal den Gong und in den nun letzten Minuten vor der Bescherung erreichte die Spannung den Höhepunkt. Die Mütter riefen aufgeregt in den Keller, damit die Söhne und Gatten endlich kämen und diese rannten alle aufgeregt wie kleine Kinder die schmale Treppe hinauf,  um nicht zu spät zu kommen, was immer wieder zu mindestens kleinen Auffahrunfällen führte, manchmal auch echt ins Fallen überging, bis einer, meist der Lehreronkel oder sein älterer Zwilling, der Afrikaner, streng ermahnte, nun sei aber schluß mit lustig, es sei schließlich Weihnachten, dabei war gerade er immer einer der aufgedrehtesten und die Onkel spielten uns Kindern vor, sie seien mindestens noch aufgeregter als wir, was die Geschenke betreffe, lachten laut und viel, wie Jugendliche die Zuhause noch Grenzen austesten müssen, vor allem die eigenen.

Natürlich sind Geschenke für die meisten Erwachsenen keine große Aufregung mehr - wir bekommen, was wir uns wünschen - auch die Söhne meiner Großeltern mutierten nicht zu Kindern, auch wenn sie sich immer noch auch gegenseitig gelegentlich gern selbstgebastelte Fotokalender oder ähnliche Dinge schenken und dann gemeinsam mit strahlenden Augen betrachten und sich erzählten wie es wo war - doch viel wichtiger als die Sachen, war das Ritual, das sie dabei zelebrierten voller Leidenschaft und bei dem sie eben in ihre alten Rollen zurück schlüpften, spielen konnten voll ausgelassener Albernheit, auch wenn sie noch nichts getrunken hatten und sich so im Ritual eben in Kinder verwandelten, was wir, ihre Kinder manchmal ein wenig übertrieben albern fanden aber doch auch irgendwie süß.

Sobald sich dann endlich mit immer irgendwelcher Verzögerung die ganze Familie samt aufgeregter Kinderschar vor dem Durchgang in der Schlange versammelt hat, die großen Jungens schubsten und kniffen sich dabei immer noch und ich weiß bis heute nicht, ob sie so albern waren, weil sie tatsächlich so aufgeregt wie wir Kinder waren, obwohl es doch eigentlich jedes Jahr das gleiche Theater war, sie es schon viel länger kannten oder sie aus pädagogischen Gründen übertrieben, um unsere Aufregung zu erhöhen, einfach ihren Spaß hatten, aber manchmal ist es auch gut, bestimmte Dinge offen zu lassen - nun mit bald 80 sind die großen Jungens etwas ruhiger geworden.

Auch nachdem der Großvater natürlich im dunklen Anzug schließlich den Vorhang öffnete und uns in die Halle ließ, durfte sich noch keiner auf die Geschenke stürzen, sondern dann wurde erstmal gefühlt stundenlang gesungen, jeder durfte sich ein Lied wünschen, zumindest fast jeder. Hier waren die großen Jungens, also meine Onkel wieder mit viel Albernheit und Leidenschaft dabei - mal dichteten sie Texte um, dann machten sie Faxen, bis Grotepater oder Omie Elfie, die nie Elfriede genannt werden wollte, sie zur Ordnung riefen.

Vor dem brennenden Baum stehen, aber mit noch gehörigem Abstand, die Geschenke teils in Wäschekörben schon erahnend war dieser lange Gesang eher eine Kinderfolter als das große Glück meiner Kindheit auch wenn ich heute selbst, sogar ohne jede eigene Musikalität für ein möglichst ausgiebiges Singen bin, es herrlich finde, sogar wenn es so bescheuert christliche Texte sind wie bei den meisten Weihnachtsliedern.

Wie bei den Buddenbrooks sind auch große Teile zumindest der männlichen Mitglieder meiner Familie nicht mit großer Musikalität gesegnet, doch während bei Mann noch dezent nur gebrummt wurde, um die Form zu wahren, wird bei uns zum Leid des musikalischeren Teils vermutlich, kann da nur vermuten, da ich nicht zu den Musikussen gehöre, voller Leidenschaft und Liebe laut gesungen, mehr oder weniger tonal je nach natürlicher Begabung.

Diese von hoher Selbstdisziplin auch der Kinder getragene Verzögerung wurde durch noch zwei rituelle Einlagen der bürgerlichen Familie bei uns verlängert, von denen ich heute erst verstanden habe, dass sie Weihnachten so schön machten, weil sie verzögerten, die Spannung und Aufregung davor  möglichst lang erhalten blieb.

Wie bei den Buddenbrooks wurde dann aus der alten Familienbibel die Weihnachtsgeschichte vorgelesen, allerdings nicht von der Konsulin oder Großmutter, sondern von der ältesten Kusine, die in ein Engelskostüm gesteckt wurde, wenn ich mich richtig erinnere - the show must go on.

Kann dadurch die klassische biblische Weihnachtsgeschichte zu Teilen bis heute auswendig, meine ich zumindest:

“Und es begab sich aber zu der Zeit, da Quirinius Landpfleger in Syrien war, dass ein Gebot ausging vom Kaiser Augustus, dass alle Welt sich schätzen ließe. Und so ginge auch Josef aus Galiläa mit seinem Weib Maria und die war schwanger gen Bethlehem, denn er war vom Stamme David”.”

So oder so ähnlich würde ich es jetzt blind zitieren, kenne es seit Kindertagen, die doch nun auch mehr als 40 Jahre nun her sind. Rituale prägen sich ein, egal was wir darüber denken oder davon halten. Vielleicht sind die Rituale überhaupt nur der Rahmen der bürgerlichen Existenz, von der ohne nichts übrig bleibt

Es wurde in den letzten Jahren viel auch über den Untergang der bürgerlichen Gesellschaft diskutiert, wie zugleich das Bionade-Biedermeier als neue Sehnsucht der eigentlich bürgerlichen Existenzen, die nach ihrem irgendwas mit Medien Studium in Berlin landeten, sich fortpflanzten und darum einen neuen Rahmen für ihre Familien suchten. Die Sehnsucht scheint erkannt, inhaltlich scheint wenig geklärt bis heute.

Wie wollen wir leben außer anders, was hält uns zusammen, wenn nicht die Rituale aus unserer Kindheit?

Auf die Weihnachtsgeschichte folgte das alte Lied Stille Nacht, bei dem sich dann vor dem finalen Erreichen der fröhlichen Weihnacht alle an den Händen fassten und so auswendig sangen, also textsicher sein mussten. Dann ging das große Umarmen und Knutschen los, während die Großmutter zum Baum ging, um die Geschenke unter Aufruf der Namen zu verteilen. Mit den Geschenken glücklich legte sich die Aufregung ein wenig, wenn auch das Zeigen und Bestaunen der Geschenke noch wichtig war, häufig  und fast rituell begannen dann die Onkel zuerst mit dem neuen tollen Spielzeug zu spielen oder Ratschläge zu seiner Verwendung zu geben, wenn die Erwachsenen nicht schon mit dem ersten Sekt oder Cognac beschäftigt waren. Mancher erinnerte dabei an Christian Buddenbrook, wie er am Weihnachtsabend Hannos neuses Puppentheater bewundert und dann für einen Moment voller Leidenschaft im Schauspiel versinkt, selbst spielt, bevor er sich in den Club verabschiedet.

Das  Familien Weihnachtsfest ging dann noch weiter im formellen Rhythmus der Gewohnheit. Auf das Auspacken der Geschenke folgte irgendwann das Festessen im Festsaal Keller, das auch ganz strengen Ritualen mit natürlich möglichst immer gleicher Speisenfolge als Siegel der Tradition und Beständigkeit.

Die ganze Familie mit den traditionellen Gästen, also ganz alten Freunden der Familie noch aus Kindertagen der Eltern oder den Geschwistern des Großvaters, dabei vor allem die älteste schwerhörige Großtante, die immer angebrüllt werden musste, damit sie etwas verstand, aber noch mit über neunzig mit ihrem Mercedes Coupé angebraust kam, wanderte in den Keller und nahm ihre Plätze so ein, wie es der Großvater als pater familias sich wünschte.

Alle bestaunten dann die wunderbare Tafel, die mit dem schönen Meißen eingedeckt war, jeder Teller mit Goldrand handgemalt mit einer anderen Blumen. An den Wänden hingen Kerzenleuchter, die den schloßigen Eindruck der riesigen Tafel noch verstärkten, auch wenn sie teilweise schon elektrisch betrieben wurden, was aber die Luft erträglicher hielt, denn in dem zwar großen aber doch mit der riesigen Tafel randvollen Raum  mit der niedrigen Decke, wurde es beim tafeln schnell sehr warm und alle waren vom Alkohol erhitzt genug. Um die Teller lag in der Reihenfolge der Gänge das Besteck - das gute Familiensilber mit  den Initialen der Großmutter, das noch vor Weihnachten von den beiden poliert worden war. Dazu mehrere Gläser für die verschiedenen Weine und ein Wasserglas, für die Kinder, manchmal auch nur das Kinderglas, wenn feste Plätze für uns vorgesehen waren, wie etwa, wenn es zu viele waren der Kindertisch in der Ecke, an dem wir uns dann ungestört fast wohler fühlten.

Doch kaum saßen alle und waren die ersten dampfend duftenden Platten auf der Tafel verteilt, hieß es wieder aufstehen, um vor dem Essen zu beten. Betrachte dabei andächtig die Meißen Teller mit dem Goldrand, die tatsächlich meist um die ganze Tafel herum reichten, jedoch weniger des Randes als der fein gemalten Blumen darauf wegen, muss aber zugeben, dass sich mir die wahre Schönheit dieses Porzellans erst langsam im Alter erschließt und ich sie lange eher nur bunt fand. Auch diese Teller sind bis heute, inzwischen haben meine Eltern das Erbe der Großeltern angetreten und irgendwann fällt das Erbe dann auf mich oder eines meiner Geschwister, wie die hirschledernen Reithosen Münchhausens, ein Kultgegenstand der Familie geworden.

‘Segne Vater diese Speise, uns zur Kraft und dir zum Preise’, betete dann der Großvater  vor. Doch täuschte sich, wer dachte, er könne sich nun endlich auf die noch warmen Speisen stürzen - zuvor gaben wir uns alle noch die Hände - was bei weit über 20 Personen eine große Runde und ein mühsames sich finden werden konnte - und sagten dann alle gemeinsam:

“Gesegnete Mahlzeit und guten Appetit”

Dann bekamen zuerst die Großeltern ihre Teller gefüllt und wenn er dann schließlich das Glas erhob und sprach, “Laßt es euch schmecken und fangt einfach an, es wird ja nur kalt, zum Wohl!”, durfte auch das übrige Volk sich nehmen und mit dem Essen beginnen, das aber immer wieder durch einzelne Toasts in jedem Gang unterbrochen wurde.

Erst der große Toast auf die ‘Motter’, die dies wunderbare Essen gezaubert hätte und die sich dann bedankt und auf all ihre Helferinnen und den ‘Vadder’ trank, ohne den dies alles doch nicht möglich gewesen wäre. Dann dankte einer der Söhne mit schönen bewegenden Worten, besonders der jüngste hatte dabei ein rührendes Talent allen, einschließlich sich selbst feuchte Augen zu bescheren, so dass manche Rede kein normales Ende mehr fand und sich alle danach lachend und heulend in den Armen lagen. Während der späteren Gänge dankten auch die Gäste, meist dem Alter nach, etwa die Schwiegereltern der Söhne, so ihnen das Reden lag, dann die Freunde.

Während der mehr oder weniger kurzen Reden wurde andächtig und voller Gefühl gelauscht, nach und zwischen den Reden reichlich getrunken. Die Gesellschaft wurde immer zwanglos fröhlicher und in manchen Fällen, wenn es besonders warm wurde, lockerte der Großvater schon seine Krawatte, bis die Großmutter dann irgendwann in den lockeren Teil überleitete und den Herren gestattete ihre Jacketts auszuziehen.

Bevor wir uns wieder in die anderen Räume verteilten, oft nach einer kleinen Verdauungspause, die mit Tischtennis  oder Tischfußball gefüllt wurde, falls es der der Grotepater gut gelaunt gestattete, was mit  zunehmendem Alter häufiger vorkam, wurde noch der Nachtisch rituell verteilt.

Der Großvater verteilte die Portionen mehr oder weniger gerecht auf die Teller unter vielen lauten und lachenden Kommentaren der Anwesenden - das ist aber ungerecht, waren die häufigsten oder was für eine große Portion.  Dann schloss er die Augen, während die Großmutter auf den einen oder Teller zeigte und fragte, “wer soll das haben?”, worauf der Großvater immer einen Namen nannte. Früher dachte ich auch die Nennung der Namen müsste einem bestimmten rituellen Ablauf folgen, auch wenn es Zufall suggerieren sollte, heute denke ich eher, er folgte seiner Intuition, die nur im Rahmen der sozialen Formen beschränkt wurde, Gäste meist vor Familie, die ‘Motter’ gerne am Anfang schon, wir nicht mehr hungrigen aber auf den so inszenierten Nachtisch ganz scharfen Kinder danach und dann alle der Reihe nach, wie es meinem Großvater gerade einfiel.

Vielleicht hatte er auch für dieses letzte Ritual der Tafel ein geheimes System, das er sich lange vorher notierte oder beim Decken der Tafel plante, ich weiß es nicht und habe ihn nie gefragt, weil es immer wie willkürlich zufällig inszeniert schien. Doch neigen der Kult und die Rituale der Familien zur Legendenbildung, wie die Geschichte um das Wappen der Familie, das mein Großvater über sehr skurrile Wege bei einem Antiquitätenhändler in Brüssel wohl wieder, wenn nicht doch neu entdeckte, mit dessen tatkräftiger Unterstützung - mein Großvater war immer ein guter Kunde für Antiquitäten, die auch preislich über seinen tatsächlichen Verhältnissen lagen, war sich aber immer sicher großartige Gelegenheiten genutzt zu haben, etwa bei seinem Turner, den er so günstig erstand, den aber außer ihm und seiner Frau wohl keiner für einen solchen hielt.

In ganz besonderen Fällen gab es noch das ominöse Ritual der großen Verehrung zelebriert, bei dem alle Gäste an der Großmutter vorbei flanierte, sie wie eine Königin begrüßten und ihr zuprosteten und sie auf rituelle Weise küssten. Denke es ist schöner, den genauen Ablauf als Geheimnis der Familie zu wahren, weil es meinem schlechten Gedächtnis entgegenkommmt.

Die Großeltern wussten Feste und Überraschungen wunderbar rituell zu inszenieren und ihr Leben hatte für uns Enkel eine genaue Ordnung, der sie stetig folgten. Ein Höhepunkt der Erinnerung ist auch eines der Feste, dass im Weinkeller des bereits schlafenden Großvaters feucht fröhlich endete, während wir uns auf Boden und wenige Hocker in dem kleinen Raum zwängten, den der frankophile Grotepater sehr liebevoll für sich ausgestattet hatte.

So haben viele alte Familien ihr ureigenen Traditionen und Rituale. Das Hände geben vor dem Essen habe ich immer weitergeführt und finde es wichtig und schön, um sich nicht nur die Nahrung zuzuführen, sondern das gemeinsame Mahl zu würdigen. In diesem Sinne finde ich sogar als Atheist das Tischgebet schön und betrachte es als familiäres Ritual, spreche es mit, weil es um eine schöne Tradition geht, die für mich, der ich so aufwuchs, einen Wert an sich darstellt, dennoch konnte ich mich nie von mir aus zum Gebet entschließen, es lag mir einfach zu fern, etwas über mir anzunehmen.

Es ist viel gefragt und geschrieben worden, was die Bürgerlichkeit heute ausmacht - Thomas Mann fing mit seinem Requiem auf die Epoche 1900 mit seiner feinen Ironie damit an, Joachim Fest fragte nach Bürgerlichkeit als Lebensform, von Schwanitz bis Reich-Ranicki bemühten sie sich wieder um den bürgerlichen Bildungskanon und den Umgang mit ihm in bildungsfernen Zeiten medialer Unterhaltung. Doch kommt es darauf wirklich an?

Bin in einer Familie voller Besserwisser groß und logisch selbst einer geworden, was es in der Schule und im Studium nicht immer einfacher machte, heute nicht das sicherste Mittel ist, Sympathien zu gewinnen, nicht für emotionale Intelligenz spricht -  zum Glück habe ich eine Frau, die das schätzt, liebt und würdigt, was mir die  Fortsetzung der Bildungstradition zumindest leichter macht, wenn es denn gewünscht ist und sinnvoll wäre.

Habe eine Jahreskarte in den Staatlichen Museen in Berlin und besuche sie bei jeder Gelegenheit  wie auch das Städel, wenn ich mal in Frankfurt bin, sammle Bücher und lebe mit ihnen, versuche schreibend die Welt zu verstehen und meine Sicht auf sie zu erklären - aber kommt es darauf für die bürgerliche Tradition an oder ist die hoch getragene Nase und der Bildungskanon heute eher Ballast, um noch einen familiären Konsens zu finden, der die Tradition fortsetzt?

Als Einzelgänger, kümmere ich mich selten um andere und interessiere mich für sehr wenig, was die meisten Menschen tun, hatte nie einen Fernseher, würde nie freiwillig in ein Fußballstadion gehen, obwohl ich Fußball spannend finde, besuche die Museen lieber, wenn sie relativ leerer sind, um meine Ruhe zu haben. Damit bin ich wohl eher ungeeignet eine soziale Tradition fortzusetzen und habe auch lieber meine Ruhe, statt mich um alle zu kümmern, rufe selten wen an, bin genug mit meinen Gedanken und Worten beschäftigt. So gesehen bin ich vermutlich asozial und das Hochhalten der bürgerlichen Bildung als Kanon wäre bloß eine Beschäftigung mit meinen ureigensten Interessen, täte aber nichts für den Fortbestand der Gemeinschaft Familie.

Indem ich aber die Rituale einhalte, pflege ich die Familie und gebe jedem die Möglichkeit seiner Art entsprechend an dieser Gemeinschaft teilzunehmen. So werden sie zur Brücke miteinander, etwas das verbindet, ohne darüber hinaus zu fesseln oder Erwartungen zu stellen. Es ist ein Zelebrieren der Gemeinschaft in einer überkommenen Form, also eigentlich etwas ziemlich konservatives, was uns aber die Möglichkeit gibt, beieinander zu bleiben und immer eine Verbindung aus der gemeinsamen Geschichte zu haben.

Denke die Traditionen und Rituale der bürgerlichen Gesellschaft - vom Essen bis zum Feiern der Feste, können eine Brücke sein, mit der eine alte Lebensform in neuer Zeit weiter existiert. Sie ist flexibler als die Bildung, die den einen interessiert und den anderen weniger, zu der einer den Zugang findet, andere nicht. Betrachte ich etwa meinen Schwager, der mit bürgerlicher Bildung und Tradition vermutlich nicht so viel am Hut hat wie ich, aber seine Kinder ganz bewusst so erzieht, dass sie sich auch gut in die familiären Traditionen einpassen, denke ich, er tut damit auf seine Art mehr für die bürgerliche Gesellschaft als die Apologeten des Bildungskanons und ich kann ihn würdigen und so lieben, wie er ist auch weil er damit Teil unserer familiären Tradition wurde.

Es war für den Besserwisser nicht einfach sein traditionelles Gebiet zu räumen, sah ich es doch immer als Basis der bürgerlichen Gesellschaft, doch ich habe inzwischen gelernt, dass die sozialen Handlungen im Miteinander gerade bei der Einhaltung der gewohnten Rituale viel wichtiger ist, um miteinander auch in Zukunft glücklich zu sein. So sehe ich den früher von mir hochgehaltenen bürgerlichen Bildungskonsens nicht mehr als existentiell an, sondern bloß noch als mein ganz privates für viele skurriles Hobby. Gemeinschaft auch im bürgerlichen Sinne, der immer ein liberaler und freier auch war, bilden Menschen - ihr Miteinander entscheidet mehr als ihre Idee von Bildung.

jens tuengerthal 21.11.2017

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