Kann das Sterben erotisch sein?
Im Herbst stirbt die Natur, die Blätter fallen ab, um im nächsten Frühjahr erst zu neuer Blüte zu kommen. Vorher lässt der Winter noch die erstarrte Natur ordentlich erfrieren und räumt so von den Bäumen, was der Herbst bis zur Wintersonnenwende nicht beseitigte. So geht der ewige Zyklus, der älter ist als das Menschengeschlecht und doch ein wunderbarer Spiegel unserer Natur.
Ob die Jugend der Frühling ist, in dem die zarten Knospen treiben, wie junge Brüste bei den Mädchen oder erste Erektionen beim Knaben und der größte Teil des Lebens dann ein ermatteter Sommer ist, in dem wir uns bei Hitze mühsam plagen und verbrauchen, voller Vorfreude auf den Herbst des Lebens, in dem wir alles nachholen wollen, was wir nie taten, bis wir im Winter des Alters vergehen, fragt sich wohl mancher und überlegt dann, warum wir uns nur lange Sommer je wünschten und nicht lieber einen ewigen Herbst leben, weshalb die meisten Menschen die Lust am Herbst verpassen in unvernünftiger Sehnsucht nach den Extremen.
Bin ein Kind des Herbstes, Ende September geboren, verbrachte ich im Bremer Herbst meinen erste Zeit, in grau feuchter Umgebung mit wenig Licht draußen, was mir vermutlich in den ersten Monaten meines Lebens, nicht viel ausmachte, da wir gehegt und gepflegt, sowie warm eingepackt werden, damit wir gedeihen, erst mühsam sehen lernen und das Grobe vom Feinen in ersten Blicken noch nicht unterscheiden könnenm suchen wir zunächst nach Konturen des Lebens.
Vielleicht haben im Winter geborene Kinder mehr von ihrem ersten Herbst, während ich Frühjahr und Sommer vermutlich als erste Erfahrung bewusst erlebte. Würde lügen, behauptete ich, mich daran zu erinnern und die Märchen vom Unterbewusstsein interessieren mich nicht auf der Suche nach dem Glück und der Freiheit. Weiß also nicht, ob es auf den Zeitpunkt der Geburt für meine Herbstliebe ankommt - so ist meine Liebste im späten Sommer geboren, den sie eher gar nicht mag, weil er ihr zu warm ist und sie liebt wie ich den Herbst über alles.
Ob es das bunte Laub ist oder die Wohligkeit bei Tee und Buch zuhause, wüsste ich nicht sicher, für mich zu unterscheiden oder gar die im Nebel verhangenen Landschaften, die weich gezeichnet werden. Aber ich liebe den Herbst, freue mich auf ihn wie auf meine Liebste und finde ihn die sinnlich schönste Zeit im Jahr, wenn es wieder Spekulatius zum Tee gibt, die Äpfel und Trauben reifen und damit die Früchte, die ich am höchsten schätze.
Die tropische Pampelmuse, die wir nur importieren, lasse ich mal außen vor, sie kommt aus Gegenden ohne oder mit weniger ausgeprägten Jahreszeiten als wir sie hier kennen, spielt darum keine Rolle für diese sinnliche Beziehung.
Die Kleider des Herbstes, die uns nicht ganz entblößen und die schönen Farben außen wie an uns, mich mal ausgenommen, der meistens ohnehin schwarz trägt, machen diese Zeit für mich zur ansehnlichsten, wenn ich als Flaneur durch die Straßen streife und die Menschen betrachte.
Die Franzosen sprechen vom kleinen Tod, la petite mort, und meinen den Höhepunkt der Lust damit, weil dieses Wort das füreinander und miteinander sterben dabei so trefflich beschreibt. Es ist dieses letzte Aufbäumen der Lust in größter Spannung, bis wir uns dann völlig gelöst ineinander ergießen.
So ist der Herbst in seinen bunten Farben und starken Schwankungen beim Sterben der Natur für mich der Höhepunkt des Jahres, der kleine Tod, in den sich die ganze Schönheit der Natur ergießt. Wer je den gemeinsamen Höhepunkt genießen durfte, sich ineinander ganz ergoß im gleichen Moment und sich danach gelöst befriedigt im Arm lag, wird das Bild des kleinen Todes vor sich sehen und wissen, was ich meine.
Dieser monatelange Orgasmus der Natur, bis zu ihrer postkoitalen Erschlaffung im Winter, der die Geburt wieder folgt, ist mir darum der erotischste Teil des Jahres und nichts ist schöner als ihn gemeinsam voller Hingabe zu genießen, nie kann die Sehnsucht schmerzvoll größer werden als in einsamen Herbstnächten.
Darum weiß ich, das spüre ich gerade genau, während ich die Liebste auf der grünen Insel so sehr vermisse, mich nicht in kühler werdenden Herbstnächten an sie kuscheln kann. So leide ich im Herbst am Vermissen mehr als das ganze Jahr und bin doch zugleich glücklicher als je, weil die Größe der Liebe so prächtig, eben herbstlich spürbar wird. Da reifen die Trauben unseres künftigen Wein der Liebe, färben sich die Gedanken in der Trauer mit allem Gefühl noch bunter, weil der Herbst alles intensiver macht und einfach wunderbar schön alles macht.
Der Herbst ist ein Sterben, da trauern manche und Rilke dichtete noch, wer nun kein Heim hat, findet keines mehr. Daran leiden manche, bekommen mit dem Nebel ihre Depression, der sie sich lustvoll hingeben, weil ja alles zu Ende geht. Der Epikuräer aber, den der Tod nichts angeht, weil er dann nicht mehr ist und dem was nicht ist, nichts macht, genießt das prächtige Sterben, in dem sich das Leben noch einmal in schönsten Farben zeigt, die Konturen weich zeichnet, wie in manch schwülstigen Erotikfimen der 70er und frühen 80er. Diese erotische Stimmung des Herbst zu genießen, sich ihr lustvoll auch in der Natur hinzugeben, ist alles, was sein kann, wenn wir einen Höhepunkt jenseits der arbeitsreichen Sommer suchen.
Die Lust im Herbst zu leben, heißt das Leben zu lieben in seiner Natur, worum ich mich gerne jedes Jahr wieder bemühe und wie glücklich bin ich, diese Liebe mit meiner Liebsten so zu teilen wie die unendliche Lust, die uns fliegen lässt miteinander als wäre immer Herbst im kleinen Sterben miteinander, das die Natur uns monatelang vorspielt.
jens tuengerthal 4.11.2017
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