Eigentlich weiß ich, der Tod geht mich nichts an, wenn er kommt, bin ich nicht mehr da und solange ich da bin, wird er nicht kommen und dennoch kommt er manchmal verdammt nah und ich muss mich fragen, wie ich mich dazu verhalte oder damit fühle.
Heute rief mich meine Mutter an, damit ich nochmal mit meinem Vater spreche, dessen Herz Probleme macht, mehr als 50 m zu gehen, macht ihm bereits Schwierigkeiten, der früher stundenlang durch die Wälder lief, Waschmaschinen alleine trug , alles konnte und die Medizin scheint auch nicht mehr viel weiter zu wissen bisher. Nebenbei erzählte sie mir, dass sie nun gleich ihren Hund einschläfern lassen, den guten Labrador Balu, der nun auch alt geworden ist und nicht mehr aufstehen kann.
Das ist alles in Ordnung, Tiere haben ein beschränktes Leben - mochte den Hund, war viel mit ihm spazieren, den meine Eltern sich anschafften, als mein Vater in Rente ging. Sein Tod bedrückt mich nicht - er hat gute Jahre in der Familie gehabt, allen Seiten gut getan, meine Tochter und die anderen Enkel haben ihn geliebt und nun ist seine Zeit um und ein Hund, der nicht mehr aufstehen kann und inkontinent wird, darf erlöst werden.
Auch die Todesgefahr meines Vaters ist mir seit seinem Infarkt vor einigen Jahren sehr bewusst, da war es schon schwer mit ihm überhaupt noch zu telefonieren, er brauchte, bis er seine Artikulation wieder fand und wieder, wenn auch ein wenig gebremst, der Alte war. Schon vor über dreißig Jahren hat er mir erzählt, dass er vermutlich nicht älter als 65 wird, so verstrahlt wie er sei als Radiologe und tatsächlich hatte er aufgrund seiner Strahlenschäden keine Haare mehr an Armen und Beinen und ich hatte mich damals damit abgefunden, dass mein Vater wohl nicht alt wird - allerdings schien mir damals 65 noch sehr weit entfernt, er war da gerade Ende vierzig oder so.
Nun hat der Tod ihn zumindest eingeholt und sie laufen im Gleichschritt auf einer Ebene, unklar nur, wer zuerst am Ziel ist, aber er wollte nicht über sein Herz reden, an dem vermutlich nicht mehr viel zu ändern ist und das sei eben, wie es sei. Lieber sprach er mit mir über meine Essays, die er wohl gelegentlich liest, wenn meine Mutter ihm die Links schickt, oder sie ihm ausdruckt. Er liest mich also und denkt über meine Worte nach, dachte ich, wie schön - so nah waren wir uns wohl lange nicht und wenn ich ihm damit noch etwas geben kann, ist es viel und bin ich glücklich. Es ging bei dem einen Essay, dass er erwähnte, um den diesjährigen Literaturnobelpreisträger Kazuo Ishiguro, bei dem ich insbesondere über seinen Roman, Alles was wir geben mussten, schrieb, der die lebende Organspende betrifft. Menschen die sterben, damit andere leben können, für die sie Spender sind.
Wie ich mir jetzt vielleicht für diesen klugen, belesenen und vielseitig interessierten Mann einen Spender wünschen würde - aber was sollte er ihm überhaupt spenden?
Sein Herz ist relativ stark, so zartfühlend mein Vater immer gewesen ist, solch ein Vieh von einem Mann war er zugleich. Es sind die Wege zu ihm und von ihm weg, die nicht mehr so frei laufen, wie sie sollen. Weiß nicht, ob das an seiner Ernährung liegt, am Lauf der Zeit, daran, dass wir alle irgendwann sterben müssen, an den vielen Medikamenten, die er seit Jahren gegen seinen Bluthochdruck nehmen soll und die ihn aber auch als Menschen verändert haben, ihn unduldsamer manchmal werden ließen.
Bin kein Arzt wie er und er weiß auch nicht mehr was tun, fügt sich dem, was seine Ärzte sagen und meinen und irgendwann geht es eben nicht mehr, dann will das Herz vielleicht noch und könnte auch noch irgendwie, aber findet keine Wege das Blut zu pumpen, es in der Lunge mit genug Sauerstoff zu versorgen, vielleicht muss er auch nur einige Jahre ganz langsam machen.
Er sagte mir einige medizinische Sachen zu seinem Zustand und mit dem meisten konnte ich noch etwas anfangen, aus meiner Zeit im Krankenhaus, sonst ignoriere ich die Sprache der Ärzte lieber - aber wenn es nicht mehr geht, dann geht es nicht mehr - ob er Weihnachten noch erleben würde, wäre nicht sicher, meinte er ganz gelassen und fröhlich, während ich ihm von meinen Wanderungen durch Berlin und der Ausstellung im Bode erzählte und fröhlich ungerührt tat.
Es wäre das erste Weihnachten ohne ihn in meinem ganzen Leben, denke ich etwas erschüttert - es war die Konstante und ist doch so erwartbar wie natürlich. Wenn es Zeit ist, zu gehen, müssen wir gehen, ohne uns zu grämen und uns an dem freuen, was war, sage ich mir mit Lukrez. Beinahe wäre ich ja auch schon ein paar mal gegangen. 1987 als mich einer tot fuhr, oder 2001 als mich die Straßenbahn knutschte und und und - bei ihm ist es schon lange absehbar, er weiß es, redet offen darüber, wie über das einschläfern ihres Hundes.
Dennoch wird mir ganz flau im Bauch, während ich diese Zeilen schreibe und mir ausmale, wie es wird, einen Nachruf für meinen Vater zu schreiben, der dann plötzlich nicht mehr da wäre, obwohl meine wirklich süßen Eltern noch so viel gerne zusammen machen würden, wenn sie können. Da muss ich kräftig schlucken, damit ich keine feuchten Augen bekomme und mir mit fester Stimme entschlossen sagen, der Tod geht mich nichts an.
Fliehe ich nun davor, dass mich der Tod meines eigenen Vaters oder das langsame Versagen seines Herzens, von dem ich weiß und das ich verstehen kann, doch mehr berührt als ich will - wäre ja auch völlig bescheuert wenn nicht - oder fehlt mir noch die echte epikuräische Gelassenheit, die mich die Dinge nehmen lässt, wie sie sind, um das mögliche zu genießen, statt am unmöglichen zu leiden?
Das Eltern sterben, gehört zum Leben und um so älter wir werden, desto näher kommen uns diese Ereignisse mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit. Kinder sind die Nachgeborenen und überleben darum, wenn nicht was schiefgeht ihre Eltern und das ist auch gut so. Meine Tochter wird mich auch überleben und das freut mich für sie.
Bewundere meinen Vater für seine Fähigkeit zu genießen und zu lieben und ich hoffe er tut das auch jetzt noch jeden Tag, der ihm bleibt - denke ich an meinem Großvater, bei dem wir 20 Jahre immer von meiner Großmutter hörten, es könnte das letzte Weihnachten oder der letzte Geburtstag sein, der leider immer auf den 1, Mai fiel, warum ich nie andere Maifeiern kennenlernte solange mein Großvater lebte, der es immerhin bis 1991 schaffte, was einiges für ein Kind des Kaiserreichs und alten Kadetten war, denke ich, klar, es könnte das letzte mal sein, vielleicht haben wir auch noch zwanzig Jahre, auch wenn es nicht sehr wahrscheinlich ist.
Mein Vater lebt und also schreibe ich keinen Nachruf und auch keinen für den Hund meiner Eltern, der es hinter sich hat und das ist auch gut so, wenn ein Hund nicht mehr laufen kann. Solange mein Vater genießen kann, möge er es tun und wenn ihn ein Glas weniger drei Tage länger leben lässt, aber drei Gläser Wein ihm den letzten Tag schöner machen, dann hoffe ich, er macht es sich weiter so schön wie nur möglich.
Ein guter Freund der Familie hatte vor einigen Jahren einen Schlaganfall und vegetierte nur noch als Pflegefall dahin - ein geistvoller, humorvoller Arzt, der nur noch ein Schatten seiner selbst war. Besuchte ihn, der mit einer alten Freundin der Familie verheiratet war, einige male mit meinem Vater und als ich hörte, er sei gestorben, freute ich mich, dass er endlich erlöst wurde, weil es keine Aussicht auf Besserung gab.
Meine beiden Großmütter die über neunzig wurden, waren immer weniger zurechnungsfähig und vernünftig als sie sich ihrem Ende näherten. Auch der eine Großvater war am Ende zumindest etwas seltsam. All dies ließ mich schon früh daran zweifeln, ob es ein Ziel sein muss, so alt zu werden, bis der Körper nicht mehr funktioniert, auch wenn der Geist seinen Geist schon vorher teilweise aufgab.
Ginge mein Vater jetzt irgendwann, wie er und meine Mutter wohl befürchten, ginge er klaren Geistes und hätte solange er konnte, getan, was er wollte. Das ist gut so und gefällt mir und die Vorstellung des vielleicht doch noch Ausbruchs der Strahlenkrankheit oder des Prostatakrebs, an dem meine beiden Großväter litten, fände ich nicht tröstlicher. Auch der Gedanke an Demenz bei ihm oder andere Alterskrankheiten, die eben so kommen, wenn wir immer länger leben, gefällt mir nicht wirklich.
Es gibt nie einen richtigen Zeitpunkt zum Sterben, außer den, an dem wir halt tot sind. Vielleicht lebt er noch viele Jahre, vielleicht nur noch wenige Tage - gerne würde ich noch lange Gespräche mit ihm über so vieles führen - vielleicht kommen wir Weihnachten oder zwischen den Jahren dazu oder halt nicht, dann ist es auch gut so. Wir haben viel miteinander geredet, unser ganzes Leben lang und das dauert ja bei mir nun auch schon 47 Jahre. Wir haben uns verändert in den letzten Jahren, sind uns in vielem immer ähnlicher geworden - gerade in den Interessen und dem, was uns wichtig und bedenkenswert scheint - fürchte sogar fast wir wählen schon wieder das gleiche.
Das ist, was mir wirklich wichtig ist. Der Tod geht mich nichts an. Er kommt, wenn er da ist und dann bin ich nicht mehr da oder eben der andere und dann ist er weg und das ist dann eben so. Aber das wir uns die letzten Tage noch geistig begegnen, einander lesen und über unsere Gedanken nachdenken, ist mir viel wichtiger und näher, als sich nochmal in den Arm zu nehmen oder ähnlich rührseliges Zeug, das nur dazu dient auch bei mir die Augen feucht werden zu lassen. Sich klaren Verstandes zu verabschieden und sich an dem freuen, was war, finde ich wesentlich tröstlicher als alle anderen Geschichten, die ich in den letzten Jahren las von Walter Jens und anderen.
Freue mich für meinen Vater, was er für ein tolles Leben gelebt hat, wie viel von dem, was er tun wollte, er getan hat, wie glücklich er immer wieder war und wie viele Menschen er glücklich gemacht hat und hoffentlich noch so lange wie eben möglich machen kann. Er hat bis jetzt ein ziemlich erfülltes und tolles Leben, denke ich, ohne einen Nachruf schreiben zu wollen oder nur daran zu denken, der Tod geht mich ja bekanntlich nichts an.
Gelassen war er am Telefon, sehr gelassen, wollte statt über sein Herz lieber über das Essay zu Ishiguro reden, typisch für ihn und gefällt mir so. Mit dieser Erinnerung kann ich gut leben und habe das Gefühl, wir sind uns doch noch näher gekommen, als wir es vorher waren und das ist viel und genug, damit kann ich glücklich sein, egal was kommt.
Jetzt kommt, was eben kommt, entweder jetzt oder in ein, zwei oder zehn Jahren, darauf kommt es nicht an - wir sind uns geistig begegnet auf einem nahen und würdigen Niveau und sind dabei einander zu verstehen und unsere Gedanken wirken ineinander weiter - mehr kann nie sein, denke ich, bin also eigentlich ziemlich zufrieden, könnte es sein, schlucke den Klos im Hals herunter und die Tränen, für die es keinen Grund gibt. Es ist gut so und damit zu leben, was ist, meint vielleicht, dass uns der Tod wirklich nichts angeht, auch wenn der geht, irgendwann, aus dem du zur Hälfte wurdest.
jens tuengerthal 16.11.2017
Thats what we are: we come together, sometimes, we leave us, we die, there is a way and there is the end. Maybe the bird "memory" will be ouer comrade when we go away, the memory of all faces we love.
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