Freitag, 30. Dezember 2016

Gretasophie 005b

005b Sagenhafte Wirklichkeit

Gab es Noah und den Helden Siegfried, König Artus und seine Tafelrunde auf der Suche nach dem Heiligen Gral, was an den Geschichten um die sagenhaften Templer ist wahr, regieren uns gewählte Politiker oder verschworene Bänker?

Im Dämmer der Erinnerung auch der Völker brütet manches vor sich hin, dessen sie sich kaum noch erinnern und taucht auf einmal wieder auf, ohne zu wissen woher, packt es dann manche und sie folgen ihren, wie sie meinen, tiefsten Überzeugungen in den realistisch betrachtet Wahnsinn. Dann töten sie aus Rache für Kriege, die im Mittelalter stattfanden, befehden und vergewaltigen sich, umeinander das Leben möglichst schrecklich zu machen, die anderen zu vertreiben - so erlebt in Schlesien, Pommern und Ostpreußen nach dem letzten Weltkrieg, wie im früheren Jugoslawien nach Auflösung der Blöcke, wie in Syrien gerade noch oder im wilden Kurdistan immer wieder und die Liste fände wohl kein Ende, ginge es darum.

Bis zu dem großen Krieg, der auch große Teile der noch mittelalterlichen Städte im Land zerstörte, war eine zentrale Erinnerung noch der 30jährige Krieg, wie der Simplicissimus und manch anderer von ihm berichteten. Diese dunklen Jahrzehnte zwischen 1618 und 1648, die in den Niederlanden sogar neunzig Jahre dauerten und allem Sterben zum Trotz das Goldene Zeitalter genannt werden, sind eine der Geburtsstunden des heutigen Europas, wie die Schützengräben vor Verdun und Maastricht oder der Atlantikwall zu Symbolen seiner Notwendigkeit wurden.

Die Deutschen hatten aus ihrer Geschichte gelernt und verhielten sich bis zur Wende vorbildhaft bescheiden und zurückhaltend in Europa. Erledigten ihre ökonomischen Pflichten ordnungsgemäß, wollten in Frieden mit ihren Nachbarn leben und nicht über und nicht unter andern Völkern sein, wie der östliche Brecht für die Kinderhymne dichtete, die dann doch nicht Nationalhymne wurde, weil wir schon eine hatten, deren übriggebliebene Dritte Strophe nun weiter gilt, denn mehr wurde vom Deutschlandlied schon seit dem Krieg nicht mehr gesungen, um nicht den Eindruck zu erwecken, wir wollten noch Deutschland über alles sein oder die deutschen Grenzen lägen noch zwischen Maaß und Memel oder wir beanspruchten gar die Etsch noch.

Zumindest im Westen war dies herrschende Meinung. Der Osten aber ist anders. Was viele dort über Geschichte lernten, war ideologisch beeinflusst vom Regime der Partei, die sich als legitime Vertreterin der Arbeiter und Bauern sah und die für einen diktatorischen Unrechtsstaat stand, der Mauern baute, seine Bürger perfide überwachte und eben die Diktatur des Proletariats über den der SED als Weg zum Glück ansah, der sich in der Realität auf den relativ engen Horizont dortiger Parteibosse beschränkte, ohne damit sagen zu können, ob der Westen real von weniger Engstirnigkeit  regiert wurde, war diese doch frei gewählt. Der Osten war Freund des großen Bruders Sowjetunion, lernte russisch und zahlte jahrelang Entschädigung an den Staat, der als Sieger alle noch heilen und produktiven Teile ihrer Industrie demontierte und nach Osten verschleppte, nachdem die Soldaten von Osten her oftmals mit Vergewaltigung und Raub ins Land eingefallen waren.

Der Westen zahlte nichts, sondern bekam über den Marshall-Plan noch Millionen von Dollar vom Sieger USA geschenkt, um deren und die eigene Wirtschaft in Gang zu bringen, beide Systeme eng miteinander zu verschmelzen. Er begann unter Adenauer die Freundschaft mit Frankreich, die auf die zu lange Erbfeindschaft folgte und entfremdete sich nur seiner östlichen Hälfte, die als Opfer der roten Ideologie galt, während der Osten den Westen parteikonform für gekauft und unter der Diktatur des Imperialismus stehend hielt.

Wer hatte Recht, was war die wirkliche Geschichte im geteilten Land und wohin soll sie führen?

Ein schwieriger Prozeß, der ganz real und nah ist und mich zu der zentralen Frage des heutigen Essays führt. Wenn ich wenige hundert Meter von meiner Wohnung gen Südwesten gehe, überquere ich die Mauer, die nur noch als Symbol in den Boden hier eingelassen ist. Fast erscheinen mir diese getrennten Welten, die in den Köpfen so lebendig noch sind, sagenhaft schon und doch können wir uns trotz einer gemeinsamen Sprache oft nicht verständigen.

Wie wirklich ist die Wirklichkeit in der Geschichte?

Gibt es dort je mehr als alte Sagen?

Was unterscheidet die Sage von der wirklichen Geschichte und wo vermischen sie sich?

Der Begriff der Sage wurde durch die Brüder Grimm geprägt. Das Grimmsche Wörterbuch spricht von der „Kunde von Ereignissen der Vergangenheit, welche einer historischen Beglaubigung entbehrt“ und von „naiver Geschichtserzählung und Überlieferung, die bei ihrer Wanderung von Geschlecht zu Geschlecht durch das dichterische Vermögen des Volksgemüthes umgestaltet wurde“. Dabei greifen subjektive Wahrnehmung und objektives Geschehen so ineinander, dass übernatürliche oder zumindest unglaubliche Begebenheiten zum Kern der Sage werden. Dazu gehört wie im Märchen die Vermenschlichung von Pflanzen und Tieren, aber auch übernatürliche Wesen wie Elfen, Zwerge und Riesen zählen dazu und ebenso oft werden Helden geschaffen. Anders als beim zeitlosen Märchen, das immer mit „Es war einmal...“ beginnt, nur allgemeine Ortsangaben wie Wald oder Brunnen und das typische Personal wie Prinzessinnen und Stiefmütter hat, werden in Sagen tatsächliche Ereignisse, phantastisch ausgeschmückt und umgestaltet. Damit steht der Realitätsanspruch der Sage über dem des Märchens, was immer eine solche Relation uns bringen mag.

Die Sagen verarbeiten oft Dinge, die tatsächlich geschahen oder an die eine Gruppe glaubt und verbinden sie mit anderen Glaubensvorstellungen oder auch ethischen Lehren. Zu den ganz alten Sagen in diesem Zusammenhang gehören die Arche Noah und der Turmbau zu Babel, die sogleich moralische Lehren im jüdisch-christlichen Glauben mitbringen. Auch die Griechen haben einen riesigen Schatz an Sagen gehabt, die teilweise von Homer schon aufgeschrieben und später variiert wurden. Gerade bei diesen zeigt sich der enge Zusammenhang von alten Mythen und wahren Geschichten, wie der Fund Trojas durch Schliemann zeigte, der sich auf den wahren Kern der alten Sagen verließ.

Es werden die Mythen von den Heldensagen und den sprachlich meist einfacheren Volkssagen unterschieden. Teilweise mischen sie sich aber auch. So tauchen in der Heldensage um Siegfried auch die alten Götter und ihre Kämpfe auf und entscheiden über den Ausgang, während etwa die Odyssee eine Heldensage am Rande eines Mythos ist. In den Volkssagen tauchen im Verhältnis zu den Göttersagen kleinere Geister auf wie Feen, Nymphen, Baumgeister, Zwerge, Riesen oder Drachen. In ihnen wird häufig der Natur eine Seele gegeben, was immer das sein soll.

Die ätiologischen Sagen erläutern dagegen, warum eine bestimmte Naturerscheinung ihren Namen erhielt. Dies können etwa das Felsenmeer, die Teufelsfelsen oder ein See sein und warum er einen bestimmten Namen trägt, umranken die Sagen diese Geschichte teils mythisch und manchmal mehr im Charakter einer naturnahen Volkssage.

Natursagen erzählen häufig in Kombination mit Lokalsagen von bestimmten Naturgeistern. Zu diesen zählt etwa die Loreley oder andere Geistergeschichten auch in Verbindung mit Burgen und den dort auftretenden natürlichen Besonderheiten.

Viele Geschichtssagen verarbeiten ein historisches Ereignis und versuchen mit ihm umzugehen. Zu diesen zählt etwa der Rattenfänger von Hameln, der mit allen Kindern, die seiner Flöte folgten, aus der Stadt auszog. Andere verwenden nur bestimmte historische Orte oder Namen und setzen sie in einen sagenhaften Kontext, wie beispielsweise Frankenstein oder Dracula.

Die Sage ist nicht einfach abgeschlossen, wie der Name und der Bezug auf uralte Zeiten vorgibt, sondern unterliegt auch modischen Strömungen in der Literatur. So brachte etwa die Romantik die Kunstsage hervor, bei der sich besonders Achim von Armin und Clemens Brentano hervortaten. Manche der damals entstandenen Kunstsagen, wie etwa die Loreley werden heute vielfach für alte Sagen gehalten, was zeigt, was Geschichten für ein Eigenleben führen, wenn sie erstmal erzählt und angenommen wurden.

In den großen Städten bilden sich vielfach urbane Sagen, die als Gerüchte anfänglich und später als Geschichten weitererzählt werden. Sie führen im Zeitalter des Internet ein neues Eigenleben und gerade das Netz kennt mit den Hoax viele Schauermärchen und Gerüchte, die verbreitet werden und teilweise schon Sagencharakter haben oder politisch motiviert benutzt werden.

Die Grenzen von Sage und Wirklichkeit verschwimmen in manchen Bereichen bis zur Unkenntlichkeit und so stimmt an der alten Volksweisheit, dass eine Sage immer einen wahren Kern enthalte, einiges, wenn auch selten in der Auslegung, die sie von denen bekommt, die sie erzählen.

Von manchen historischen Ereignissen, wie der Sintflut oder dem Krieg um Troja, wissen wir nur aus den alten Sagen und manchmal entdecken Archäologen erstaunliche Übereinstimmungen der Sage mit dem tatsächlichen Geschehen, sind diese fast wie Reportagen, die aber auch völlig frei sind, den Boden der Realität, wenn es zur Erzählung gerade passt, wieder zu verlassen.

Die Sage will jedoch einen meist moralischen Zweck noch erreichen und nicht wie der historische Bericht nur die Ereignisse schildern, wie sie eben waren. Doch auch da verschwimmen manchmal die Grenzen. Jeder Autor, auch wenn er gern ein Historiker sein möchte und nur berichten will, was war, prägt den Text, den er erzählt, mit.

Auch ein Lexikon, wie etwa das der Enzyklopädisten transportiert Botschaften und eine Weltsicht, warum auch diese freigeistigen Denker manch revolutionäres in ihren Texten versteckten und die Kirche dafür alles daran setzte, diese Atheisten mundtot zu machen. So landete zum Beispiel Diderot zwischenzeitlich in der Bastille und das ganze Projekt drohte immer wieder zu scheitern, wäre gewiß durch die auch politische Macht der Jesuiten verboten worden, wenn sie nicht einflussreiche Beschützer gehabt hätte, wie etwa den obersten königlichen Zensor, der vor einer Hausdurchsuchung bei Diderot, dessen gesammelte Notizen vor seinen Leuten und den Jesuiten in seinem Büro versteckte, oder der Pompadour, die als Geliebte des Königs, diesen immer wieder zu Gunsten des Projekts beeinflusste und als Freigeist so ein totales Verbot verhinderte.

Die Enzyklopädie, die alles beschreiben wollte, wie es in der Natur ist, stand damals in klarer Konfrontation zur Kirche, die für sich beanspruchte, die Schöpfung auszulegen und zu erklären, wie die Dinge seien. Dieses Geschehen in der Hochzeit der Aufklärung im Paris des 18. Jahrhunderts war hochpolitisch und verbreitete den Geist, der letztlich 1789 dann auch zur Revolution führte, weil die Erklärung der Natur, den Allmachtsanspruch der Kirche zur Interpretation infrage stellte und damit auch den Machtanspruch der Könige, die von Gottes Gnaden kamen.

Sie wollte wissenschaftlich exakt sein und genau beschreiben, was ist. Der am Ende alleinige Redakteur Diderot hatte, aufgrund voriger als atheistisch oder zumindest gotteslästerlich gewerteter Texte, ein Schreibverbot im philosophischen Bereich und hielt sich möglichst exakt daran, um nicht wieder in der Bastille zu verschwinden. Dagegen schrieb sein anfänglicher Redaktionskollege d’Alembert, der einen sicheren Posten als Mathematikprofessor an der Sorbonne hatte, teilweise sehr provokativ, was Diderot wiederum abzumildern versuchte, worüber sie sich schließlich auch entzweiten. Aber auch der gebremste Diderot war für das Frankreich unter Ludwig XV. teilweise noch zu provokativ und wurde am Ende noch von den das Projekt finanzierenden Buchhändler zensiert. Der hoch emotionale Diderot hielt danach das Projekt für verloren, empörte sich sehr über diese Zensur und meinte die Bände seien wertlos geworden. Doch wurden sie dennoch ein großer Erfolg, wenn auch in Frankreich stark durch die jesuitische Zensur behindert, so doch im Rest Europas, vor allem in England auch, wo keine katholische Zensur herrschte und auch im Preußen Friedrichs des Großen.

Dort ging es klar um lexikalisches Wissen nur. Es sollte jedem, der lesen konnte, Zugang zu allem Wissen der Welt gegeben werden. Ein scheinbar politisch und moralisch neutraler Vorgang, könnte es scheinen und doch war es das genaue Gegenteil. Die Sagen kamen hier nur als Artikel vor und auch die Religion wurde von einem Pfaffen beschrieben, jedoch auf eine so provokativ langweilige und detailbesessene Art, dass auch darin wieder eine Provokation der radikalen Aufklärer gesehen werden konnte. Die Encyclopedie war ein zutiefst politisches Werk und ein großer Kampf um Freiheit, damit bewegt sie sich im sagenhaften Vorfeld der Revolution,

So steckt auch in vielen Sagen mehr politische und soziale Geschichte, als es auf den ersten Blick scheint. Wenn es etwa um den Schatz der Nibelungen geht, der nach der Sage im Rhein verschwand und die Gerüchte um die Darlehen für den Bau der Burg der Götter Walhall, wurde, wenn auch getarnt von einem politischen Geschehen berichtet, dass die Zeitgenossen noch besser zwischen den Zeilen lesen konnten, als es im plakativen Internetzeitalter vielen möglich ist. In allen totalitären Regimen, die Worte überwachen, bildet sich eine solche Kultur der Opposition zwischen den Zeilen. So etwas war in der DDR stark ausgeprägt und fehlt heute völlig, wo im Gegenteil es für viele zum Volkssport wurde, etwa die Bundeskanzlerin möglichst wüst zu beschimpfen oder zu verwünschen.

Viele der klassischen Sagen waren so auch politische Texte, die eine Botschaft transportieren sollten, was teilweise auch noch wieder bei Inszenierungen sogar im längst arrivierten Bayreuth bei Wagners Ring sichtbar wird und der in ihm steckenden Kritik des Kapitalismus, die auch Goethes Faust offenbart, der alte Sagen und Mythen aufgreift und vor allem im zweiten Teil auch ein zwar aufklärerisch geprägtes aber vielfach auch fast revolutionäres Programm guten Regierens entwirft, was dem Geist des von Knigge maßgeblich erweiterten Illuminatenordens entsprach. Diese Radikalaufklärer, denen sich Knigge über Umwege über die Freimaurer und die eher am magischen orientierten Rosenkreuzer anschloss, hatten unter seiner Führung auch Goethe und seinen Herzog aufgenommen und ihr Einfluss reichte bis ins habsburgische Kaiserhaus, in dem Maria Theresias Sohn sich auch als radikaler Aufklärer zeigte, so weit ihn die Kirche ließ. Kein Wunder, dass die Kirche alles tat, diesen Orden wieder zu verbieten, der das Licht der Aufklärung politisch umsetzen wolle und dazu Kontakte bis in höchste Ämter hatte.

Der Freiherr von Knigge ist auch so eine Gestalt, die vielfach völlig missverstanden wurde. Er wurde vor allem durch sein Benimmbuch Über den Umgang mit Menschen bekannt, was jedoch real ein Aufklärungsbuch war, dass den Bürgern ermöglichen sollte, sich den höfischen Etitketten entsprechend zu verhalten und das interne Wissen über die dortigen Regeln unter allen Menschen, gleich welcher Abstammung, verbreitete. So will sein Buch weniger Grenzen ziehen und den Menschen korrektes Benehmen beibringen, als diese überschreiten, indem es die Formalien des sonst vom Adel okkupierten Bereiches, der Einfluss bei Hofe gab, anderen öffnete und zugleich für einen aufgeklärten, guten und höflichen Umgang miteinander sorgte.

Wie eine Enzyklopädie eine politische Schrift sein kann, dadurch, dass sie jedem erklärt, wie die Dinge der Natur funktionieren und dafür Standards in der Definition setzt aber auch in dem, was sie nicht sagt, viel sagen kann, sind auch viele Sagen und Märchen voller Anweisungen und Ratschläge für das reale Leben oder transportieren eine politische Botschaft, die zu ihrer Zeit keiner so auszusprechen gewagt hätte, versteckt hinter klar erfundenen und nur sagenhaften Figuren. In Unkenntnis vieler Dinge aus der Zeit der Entstehung der Sagen, gerade auch da aktueller politischer oder sozialer Auseinandersetzungen, fällt es uns heute schwer, dies zu verstehen. Dann bleibt für uns die Sage nur eine tradierte Geschichte mit märchenhafter Handlung.

Aber auch die Versuche, Sagen heute neu zu lesen, ob ihrer politischen oder sozialen Hintergründe, auch in Mythen klar den sozialen Kontext zu erkennen, scheitert an der Begrenztheit unseres Horizontes, der eben auf seine Gegenwart beschränkt ist.

Was weiß ich schon, schrieb Montaigne so weise über seine Essays. Dies auch den Sagen und ihrem historischen Gehalt gegenüber zu erkennen, könnte uns freier im Blick machen ohne die Anmaßung einer letztgültigen Deutung. Viele sehen auch Dinge in einem Text, die dem Autor völlig fern lagen, weil sie ihn eben an sich reflektieren und lesen, immer nur sehen, was auch in ihnen ist. Stecken dann diese sogar dem Autor unsichtbaren Sinne doch zwischen den Zeilen oder nur in der Phantasie des Lesers?

Vielleicht müssen wir weniger die Welten von Wirklichkeit und Phantasie trennen, als Brücken zu bauen lernen zwischen diesen, um uns hier wie dort zurechtzufinden. Sagen, die irgendwann entstanden oder erfunden wurden, veränderten sich durch die Erzählung weiter, bis sie aufgeschrieben wurden und auch dann führen sie noch in den Köpfen der Leser ein Eigenleben, wie es der jeweiligen Phantasie entspricht. Wer wollte nun richten, welche Sicht der Sage wirklicher ist und auf was es dabei ankommt?

Könnte es nicht wichtiger sein, alles immer relativ im Spiegel des Erzählers zu sehen?

Kommt es darauf an, ob es nun eine Sage oder ein alter historischer Text ist wie jene etwa von Herodot?

Dieser griechische Geschichtsschreiber, der von Cicero, der etwa 400 Jahre später lebte, als Vater der Geschichtsschreibung, pater historiae, bezeichnet wurde, schrieb Geschichte, war Völkerkundler und Geograph, wird auch Geschichtenerzähler genannt und schon verschwimmen die Grenzen wieder. Erhalten von ihm sind nur seine neunbändigen Historien, die als erste Universalgeschichte der Menschheit gelten. Sie beschreiben den Aufstieg des Perserreiches bis zu den Perserkriegen im 6. Jahrhundert vor Christus. Vielen gilt er als großer Reisender und Beschreiber der antiken Welt, der angeblich auch mehrfach am Sturz eines Tyrannen in seiner Heimat mitwirkte. Genaues wissen wir nicht und viel beruht auf Hypothesen, die aus seinem Werk und seinen Beschreibungen abgeleitet werden.

Heute wird teilweise vertreten, seine Reisebeschreibungen und seine geografischen Beschreibungen seien nur Produkt seiner Phantasie oder das, was er von anderen hörte. In Wirklichkeit hätte Herodot seine Studierstube nie verlassen, um die Welt zu beschreiben, was seine Reiseberichte noch lesenswerter macht. Denken wir zum Vergleich an Karl Mays  spannende Erzählungen aus dem wilden Kurdistan oder dem Wilden Westen, den er auch als er schrieb, nie bereist hatte, sehen wir, Anwesenheit braucht es nicht, um gut über etwas zu schreiben, im Gegenteil. Liebe historische Reiseberichte und lese sie zu gern, ohne je dorthin reisen oder auf deren Spuren unterwegs sein zu wollen - müssen wir irgendwohin, um uns mit uns wohler zu fühlen?

Wird die Person nun sagenhaft oder seine Berichte, ist seine Chronologie, der Zeit mehr Produkt der Phantasie eines gebildeten Griechen, der heute Türke wäre, da er er aus Kleinasien stammte?

Wenn schon der Großvater der Geschichtsschreibung ein Geschichtenerzähler auch war, fragt sich was überhaupt von der Trennung von Historie, politischem Text und Sage zu halten ist?

Sollten wir nicht, statt zu unterscheiden und die Gebiete streng zu trennen, damit der Turm der Wissenschaft rein bleibt, lieber vereinen, um den Blick und den Horizont zu erweitern?

Es fällt mir als Aufklärer und Feind allen Aberglaubens sehr schwer, die Wissenschaft zu relativieren. Aber, nur weil etwas wahre Aussagen im Sinne der Logik finden kann, heißt das nicht, dies sei die einzige Wirklichkeit und wenn die Welt der Sagen für andere realer ist oder die des Aberglaubens, was immer noch für normal auch gehalten wird, wie anmaßend wäre es dann von der Wissenschaft zu sagen, die Welt ist nur so, wie wir sagen.

Viel spricht nach all den Jahren der Erforschung und Beobachtung dafür, dass die Wissenschaft der exakteste Weg ist die Wirklichkeit zu verstehen. Ihre Sichtweise ist nachvollziehbar und muss beweisbar sein, um anerkannt zu werden. Doch weiß, wer die Forschung von Innen kennt, sehr gut, wie Aussagen und Thesen zustande kommen, was erforscht und was auch aus Gründen übersehen wird. Es ist nur eine relative Sicht der Welt, die unserem momentanen Kenntnisstand am besten entspricht, aber sie ist keinesfalls eine absolute Aussage zur Wahrheit mit ewiger Gültigkeit, sondern nur eine relative bis zum Beweis des Gegenteils, weil wir nicht mehr wissen können.

Denke ich darüber nach, erscheint mir der Satz von Heinz von Foerster, die Wahrheit sei die Erfindung eines Lügners, immer klüger. Nicht weil alles relativ sei, sondern weil ich zumindest zu beschränkt bin, um zu erkennen, was die Wahrheit sein soll. Wenn ich vor Gericht einen Eid leisten müsste, immer nur die Wahrheit und nichts als die Wahrheit zu sagen, müsste ich ihn verweigern. Kenne die Wahrheit nicht, sondern nur meine relative Sicht der Wirklichkeit, die an den Umständen liegt, in denen ich lebe. Mehr kann ich nicht wissen und bedenke ich dabei noch, wie schlecht mein Gedächtnis ist, von wie wenig ich überhaupt Ahnung habe, dann sollte ich besser schweigen, wenn ich nach der Wahrheit gefragt werde, die ich nicht kenne, sondern eher alles für irgendwie sagenhaft im Ursprung halten.

Da fällt natürlich auch der berühmte Satz des weisen Philosophen Sokrates, ich weiß, dass ich nichts weiß, bei dem nun darüber nachgedacht werden könnte, ob dies echte oder falsche Bescheidenheit ist, er tief stapelt oder im Kern das gleiche sagen will wie obiges zur Wahrheit, die wir nicht erkennen können. Ist es ein Paradoxon, wenn ein Philosoph sagt, ich weiß, dass ich nichts weiß, weil dann die Aussage entweder logisch falsch ist, weil er ja entweder nichts weiß oder etwas weiß, nämlich nichts?

Oder passt dies Spiel mit der Eitelkeit auch sonst zu Sokrates, der seine Mitbürger in Athen solange durch seine Fragen nervte und sich dumm fühlen ließ, bis sie ihn im Scherbengericht zu Tode verurteilten?

Ist weise, wer sein Leben, dem Urteil gemäß beendet, auch wenn es Sitte war, sich davon freizukaufen, weil eine solche Handlung kategorisch gesehen nicht moralisch wäre?

Was unterscheidet diesen Satz des Provokateurs Sokrates von dem des Michel de Montaigne, der nur fragt, was weiß ich schon?

Habe da keine sicheren Antworten, wer wäre ich auch, bin schon froh, dass mir so klug klingende Fragen einfielen, dahingestellt, ob sie es sind oder nur Spiel meiner Eitelkeit.

Michel ist bescheiden und ehrlich in seinen Essays. Natürlich spielt er auch mit seiner ungeheuren Bildung und Belesenheit, seiner Kenntnis der Klassiker wie der lokalen Geschichte durch kleine Anekdoten, die er immer wieder einflicht, aber nur als Mittel zum Zweck, nicht um seiner Person wegen. Er fragt, was er wüsste, während Sokrates etwas weiß und dies als Provokation seinen Mitbewohnern vorhält, die nur etwas zu wissen meinen und vorgeben, während er der Weise doch klar sagt, er wisse nichts.

Der alte Grieche trank den Schierlingsbecher und tötete sich so selbst, wie es dem Urteil entsprach, um dem Gesetz zu gehorchen, wie es seiner in dieser Hinsicht unflexiblen Überzeugung entsprach. Dagegen war Montaigne ein Pragmatiker in vieler Hinsicht. Er hatte es werden müssen, weil er in den Hugenottenkriegen und während der Pestepedemie als Bürgermeister von Bordeaux auch ganz praktikable Lösungen manchmal am Rande der Legalität aushandeln musste, um den Frieden zu erhalten, die Stadt von der Belagerung zu befreien oder der Pest Herr zu werden und kapitulierte irgendwann auch vor dem zermürbenden Einerlei der politischen Arbeit und zog sich auf sein Gut zurück, um in seiner Bibliothek im Turm zu schreiben und zu lesen. Nur auf Anfrage seines Freundes, des späteren Königs Henry IV. oder auch von dessen Vorgängern aus dem Hause Valois war er noch beratend tätig, was ihm aber, wie er schrieb besonders der Reisen wegen lästig war.

Montaigne neigte eher Epikur und in manchem den Stoikern zu, vermute ich heute bei der Lektüre seiner Essays, betrachte die Philosophie eklektizistisch und fischte sich heraus, was ihm gefiel. Nicht wie Sokrates oder noch viel schlimmer sein Schüler Platon mit seinen absurden spartanischen Ideen zum Staat oder zur Kindererziehung, wusste er, was richtig ist, sondern dachte darüber nach und ließ an diesen Gedanken teilhaben.

Die teilweise sehr locker geschriebenen Essays, die kein Blatt vor dem Mund nehmen, sind ein Schatz für alle Freunde schöner Literatur und pragmatischer Philosophie und doch keinesfalls nur einfach dahingeschrieben, sondern Produkt genauer Überlegung zu den Dingen der Welt, immer wieder überarbeitet und mit vielen Randnotizen von Michel selbst versehen worden. Er nennt sie eine bloße Betrachtung seiner selbst, die für jeden anderen Leser uninteressant sein müsste und sie wurden das Gegenteil, auch wenn sie die Inquisition irgendwann auch auf den Zensus setzte und sie ihre größten Erfolge zunächst in England feierten, wo die freieren Anglikaner unter Elisabeth und später Jakob viel übrig haben für diese Bescheidenheit eines Menschen, der es sich gern gut gehen ließ und dabei seine Gedanken uns hinterließ.

Es scheint mir die Aussage dessen, der sich nur fragt, was weiß ich schon viel zeitgemäßer als das Wissen des Sokrates, das wiederum eine paradoxe Provokation war. So urteile ich etwa gern über den Aberglauben, den ich für die Ursache der schlimmsten Konflikte der Welt halte und der immer noch und wieder die Freiheit mit absurden Sichten bedroht. Natürlich weiß ich nicht, ob es keinen Gott gibt, was wiederum die Gläubigen umgekehrt behaupten - kann nur sagen, dass er nach dem wenigen, was ich verstehe, nicht nötig, ist, um die Welt, wie sie ist, zu erklären und ich nicht verstehe, warum ich mir einen solchen ausdenken sollte.

Sagte ich aber, ich wisse, in der Natur gibt es keinen Gott, diese sei einfach nur kausal und funktioniere eben nach natürlichen Prinzipien, könnte diese Sicht, als ein Glauben interpretiert werden, so absurd dies dem Atheisten in mir scheint. Glaube ich doch gerade nichts, sondern nehme die Dinge, wie sie sind und da gibt es eben für mich keinen Gott - wüsste ich aber sicher um das Nichts, wie Sokrates es von sich behauptete, maßte ich mir an, mehr zu wissen, als die  Gläubigen, die zu wissen meinen, dass dieses höhere Wesen ist und begäbe mich fast auf die gleiche nur gegenläufige Schiene. Damit wird der Atheismus zwar nicht zur Glaubensform, aber derjenige, der ihn als sicheres Wissen behandelt, was es nie geben kann, denn, was weiß ich schon, erhöbe sich als Gläubiger seiner Überzeugung über die anderen.

Es gibt dazu einen sehr schönen jüdischen Witz von König Salomon, der, als er in den Tempel kam, vom Rabbi gefragt wird, was er denn hier mache, er glaube doch gar nicht an Gott, worauf der weise König, die Schultern hob und sagte, weiß ich, ob ich Recht habe?

All der Aberglaube und die aus ihm abgeleiteten Regeln erscheinen mir absurd. Kriege um des Glaubens wegen zu führen, finde ich völligen Unsinn und halte es da lieber mit Epikur, der nur meinte, wenn es allmächtige Götter geben sollte, warum sollten sie sich für uns interessieren, wieviel Anmaßung stecke im menschlichen Aberglauben der Lenker?

Doch wer wäre ich mit meinem schwachen Gedächtnis und meinem mehrfach kräftig angeschlagenen Kopf zu meinen, ich wisse, wie es sei und die ganze Idee, wie auch immer sie sich an die gerade Verhältnisse anpasse, sei dummes Zeug?

Wie ich die Traditionen meiner Familie respektiere, gerne mit dieser an Weihnachten christliche Lieder vorm Baum singe, kann ich auch jede andere Tradition respektieren, die keinem schadet und auch schädliche will ich nicht darum verurteilen mit Sicherheit verurteilen können.

Montaigne schrieb nahezu nichts über Gott, zitierte manches, was als Blasphemie galt und bezog sich auf Dichter, die zu zitieren dem Glauben widersprechen konnte, gab Anregungen, die an der Wahrheit der Kirche zweifeln ließen, bezeichnete sich jedoch immer als gläubigen Katholiken. So weit ginge ich nicht und bin dennoch, obwohl überzeugter Atheist und sicher, dass es keinen Gott geben kann in meiner Welt, noch traditionell Mitglied der evangelischen Kirche, weil ich dort getauft und konfirmiert wurde und dieser Verein in meiner Familie eine gewisse Tradition hat, es mehr als einen Theologen unter den Vorfahren gab, auch wenn ich vieles dort vernünftigerweise verachte.

So handle ich beim sagenhaften Aberglauben so pragmatisch, wie ich es auch sonst tue. Sollte er mir lästig sein oder mich stören, würde ich es schnell beenden. Doch warum sollte ich mich für klüger als König Salomon halten?

Auch wenn dieser Witz nichts als eine Sage ist, die mehr über jiddischen Humor verrät als über die historische Person des Salomon, könnte sie doch ein Hinweis darauf sein, wie vornehm die Bescheidenheit im Wissen eher ist, als die Anmaßung des Wissens. So schließe ich auch dieses kleine Essay zu meinen Gedanken über die Sagen und ihre historische Bedeutung mit den schon mehrfach zitierten Worten Montaignes für die Frage nach dem Wahrheitsgehalt dieser Erzählform - was weiß ich schon?
jens tuengerthal 30.12.2016

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