009f Naturmoral
Liegt die Moral in unserer Natur oder ist sie uns natürlich eher fremd?
Was Moral ist und woher sie kommt, wurde bereits besprochen, auch wie relativ die Setzung ihrer Werte ist und was das bedeutet. Es ist immer der gerade Konsens einer Gesellschaft, der einer steten Wandlung unterworfen ist. Es ist alles ganz natürlich relativ, gerade wenn es uns ganz fest und sicher scheint, was das Urteil dazu nicht wirklich einfacher macht.
So war es in Deutschland lange moralisch untragbar sich offen rassistisch zu äußern oder eine Bevölkerungsgruppe aus populistischen Gründen zu diskriminieren. Dies hat sich seit dem Auftreten von AfD und Pegida gewandelt und beide Gruppen haben einen neuen Ton salonfähig gemacht, der lange als tabu galt.
Plötzlich melden sich Menschen zu Wort, die ihre bisher Vorbehalte lieber für sich behalten hatten oder nur hinter vorgehaltener Hand äußerten. Sie haben damit ein Stück Freiheit gewonnen und fordern nun Akzeptanz und Toleranz auch gegenüber von der Mehrheit bisher abgelehnten Anschauungen, die plötzlich auch ganz normal sein will.
Kämpfen die Verfechter von mehr Intoleranz also einen Freiheitskampf?
Alles in mir sträubt sich dagegen, diesen Vorurteilen mehr Raum zu geben und ihren Wunsch nach freier Meinungsäußerung als ein Grundrecht zu verteidigen. Aber ist das moralisch richtig oder urteile ich damit nach einer Doppelmoral, die Meinungsfreiheit nur denjenigen zugesteht, die mit der herrschenden Meinung und Moral übereinstimmen?
Dies stellt die Frage, ob es richtig sein kann, dass die Forderung nach mehr Intoleranz und Unfreiheit, die gleichen Freiheitsrechte beanspruchen darf, wie jene, die noch die Freiheit verteidigen. Ist es wirklich gut, sich für mehr Zuwanderung einzusetzen und Menschen aus einem fremden Kulturraum Schutz zu bieten, auch wenn dies die eigene Freiheit oder die Art wie wir leben, infrage stellte, fragen die gern populistisch genannten Rechten.
So sehen sich beide Seiten als Verteidiger eines unterschiedlichen Modells von Freiheit und dessen, wie sie zu schützen ist. Warum wir die einen schlecht und die anderen gut finden, ist die Frage einer moralischen Setzung. Ist es falsch den Kampf um mehr Freiheit nach der eigenen Vorstellung auf die Straße zu verlagern und warum ist der Kampf der Frauen in ihrem Marsch gegen Trump, der schon viele belästigte, nach amerikanischer Lesart, richtig und scheint uns moralisch gut, wie es die meisten Medien, die darüber berichteten, darstellten.
Der neue Präsident etwa hat in seiner Antrittsrede, die so martialisch wie seine Wahlkampfauftritte war, davon gesprochen, den IS vernichten zu wollen, um unsere Freiheit zu verteidigen und diese Fundamentalisten daran zu hindern, weiter Terror auszuüben. Doch verteidigt einer, der zu einem Vernichtungsfeldzug aufbricht, je die Freiheit?
Was ist mit den Muslime, die sich nach langer amerikanischer Politik der imperialen Herrschaft entschlossen haben, den Kampf um Freiheit mit dem IS zu führen, weil sie das bisher erfolgreichste Modell waren?
Ist es gut, wenn Putin hilft, die Lage in Syrien zugunsten des herrschenden Assad zu stabilisieren?
Europa hat, um den Strom der Flüchtlinge auch über das Mittelmeer zu beenden, ein großes Interesse daran, die Situation dort zu befrieden. Die Instabilität im Nahen Osten ist auch ein Produkt amerikanischer Politik wie dem Krieg gegen den Irak. Auch verschiedene Terrorgruppen wurden unterstützt, um einen Umsturz in bestimmten Staaten zu erreichen, die in anderen Ländern vorher noch massiv bekämpft wurden.
Wie konsistent ist diese Moral und wer soll darauf vertrauen?
Geht es in der Weltpolitik überhaupt je um Moral oder immer nur um Macht?
Der Krieg in der Ukraine und die Annektion der Krim sprechen wie alle historische Erfahrung eher dafür, dass es in der Weltpolitik nur um Macht geht und der Stärkere sich eben durchsetzt. Manche Konflikte werden heiß ausgefochten, dann nennen wir es Krieg, andere beschränken sich auf Drohungen und Sanktionen, was hohe Diplomatie bei uns heißt. Bei beiden geht es nur um Macht, wirtschaftliche Interessen und die Moral, die keinen Marktwert hat, spielt nur eine sehr kleine Rolle dabei.
Liegt das Streben nach Macht und Vorherrschaft in unserer Natur?
Es ist für die Urteile der Rechten nicht von Interesse, ob die von ihnen geschürten Ängste auf Tatsachen beruhen oder ob sie ein Mittel haben, diesen abzuhelfen. Wichtig ist, dass viele Menschen das Gefühl bekommen, es drohe ihnen eine Gefahr und allein sie kümmerten sich um sie.
Dieses Kümmern und vermeintliche Verständnis hat auch einen Milliardär stark gemacht, der sich offen ungebildet gab, viel dummes Zeug und Lügen erzählte, um sich als Gegner des Systems zu profilieren, dass ihn erst reich machte. Es ist im postfaktischen Zeitalter dabei völlig egal, dass er als Spekulant und Unternehmer auch Teil dessen war, was viele als Feind sehen. Die erklärte Solidarisierung und zu sagen, was sich sonst keiner traute, genügte, um glaubwürdig zu wirken.
Wem soll überhaupt noch geglaubt werden?
Welche Moral trägt die sogenannten Populisten und warum soll sie schlecht sein?
Populismus ist ein typischer politischer Kampfbegriff, der erstmal keine Werte enthält, sondern sie durch die Zuordnung bestimmter Meinungen darunter erst erhält. Das Wort stammt aus dem lateinischen von dem Wort Populus, was Volk heißt. Populismus kann aber nicht einfach mit völkisch übersetzt werden, da er vom linken wie vom rechten Lager gern verwendet wird, um es dem je anderen zum Vorwurf zu machen. Nach dem Duden ist es eine opportunistische Politik, welche die Gunst der Massen zu gewinnen sucht.
Grundsätzlich muss sich jede Politik um Mehrheiten und also auch die Gunst der Massen oder zumindest einer Mehrheit bemühen. Tut sie es nicht, muss sie mit dem Vorwurf leben, fern vom Volk und seinen Bedürfnissen zu leben, wie er gerade momentan wieder gern erhoben wird. Der Ansatz des Populismus ist also ein demokratischer und nicht von vornherein moralisch schlecht. Die Bewertung dieses Populismus als moralisch gut und jenes als verwerflich, hängt nur von der politischen Meinung ab und dient eher als Vorwurf der Rechtfertigung einer auch unpopulären Politik.
So nutzt gerade die Linke, die es der Rechten am lautesten vorwirft, den Populismus gern für ihre Zwecke, wenn es zu ihrer Moral passt. Beispiel dafür ist die Diskussion um Hartz IV oder immer wieder die provokativen Äußerungen einer Sahra Wagenknecht, die den Konflikt genauso sucht und geschenkt bekommt wie der AfD und seine Repräsentanten und beiden Seiten wird genau das mit dem Schlagwort Populismus von der eher realistischen Mitte immer wieder zum Vorwurf gemacht.
Gäbe es eine Moral in der Natur, die sagt, was gut und richtig ist, könnten wir den einen oder anderen Populismus sicher bewerten oder beide als verwerflich betrachten, da sie nur Mittel zum Zweck sind, ohne eine realistische Politik zu betreiben. Doch woher soll eine solche natürliche politische Moral kommen, die zu einem richtigen Urteil befähigt und einem immer ganz natürlich sagt, welche Position moralisch ist und welche nicht?
Infrage kämen die Menschenrechte oder das Grundgesetz als Ausfluß des Menschenbildes der Aufklärung. Ob dies allerdings mehr unserer Natur entspricht als der Kampf ums Überleben, bei dem der Stärkere einfach gewinnt, wie wir ihn täglich auch an der Börse etwa erleben können, scheint fraglich.
Manche Menschen neigen ihrer Natur nach eher den Menschenrechten zu, andere dem Markt und dessen darwinistischen Prinzipien, die sie unterschiedlich stark moralisch abschwächen. Welches Prinzip moralischer ist, scheint keine Frage, da wir den Wertekonsens der Menschenrechte oder auch des Grundgesetzes für hochmoralisch halten, ob sie darum einer natürlichen Moral entsprechen und was diese wäre, bleibt dabei völlig offen.
Ob der Mensch von Natur aus gut oder böse ist, war lange auch unter den Philosophen sehr strittig. Je nach Überzeugung entstanden unterschiedliche Modelle für die Organisation des Menschen daraus, die dabei auch noch intern ihre Überzeugungen stark wandelten und so verschwamm es immer mehr.
Wer davon überzeugt ist, dass es Herrenrassen gibt und welche, die weniger wert wären, findet es moralisch gut und richtig, dass sich die Herrenrasse durchsetzt und dafür alles tut. Dagegen werden alle, die meinen die Menschen hätten alle die gleichen Rechte, sich dafür einsetzen, dass jeder diese auch leben kann. Diese beiden Sichten sind unvereinbar, weil sie von einem unterschiedlichen Menschenbild ausgehen und dem, was den Menschen dabei gut macht.
Wer sich als natürlich überlegen sieht aufgrund rassischer Kriterien, wird es ganz natürlich gut finden, sich durchzusetzen und unmoralisch dagegen, diese natürliche Überlegenheit nicht zu leben und zu fordern. So taten es die Nationalsozialisten und zumindest solche Forderungen wären in Deutschland heute illegal und ihre Verbreitung kann bestraft werden.
Doch wer sagt, dass die Bewertung eines Menschen als von Natur aus gut oder schlecht von der gerade politischen Überzeugung abhängt?
Es schiene Unsinn und es bräuchte zur Klärung der Frage, was der Mensch von Natur aus ist, eines allgemeineren Maßstabs als die politische Auseinandersetzung. Fraglich scheint aber, wo wir je unpolitisch sind und ob sich die Beurteilung des Menschen als moralisches Wesen im luftleeren Raum vornehmen lässt. Gerade unsere politischen Urteile weisen ja auf unsere Haltung als sittliches Wesen hin. Sind diese aber je unabhängig von der Umgebung oder immer in dieser relativ zu betrachten?
Welche Chance zu einer natürlichen moralischen Beurteilung etwa der Flüchtlingsfrage hat ein Jugendlicher in der sächsischen Schweiz und welche einer in Berlin Prenzlauer Berg, wie sehr spielen die sozialen Verhältnisse dabei eine Rolle und
warum urteilen viele Jugendliche, die etwa in Pankow groß werden, anders über diese Frage als jene, die in Prenzlauer Berg groß werden, was ja ein Teil des Bezirks Pankow nominell ist?
Komme ich in der Sache zu einem anderen moralischen Urteil, wenn meine Tochter von nordafrikanischen Jugendlichen belästigt wurde oder muss ein sittliches Urteil, wenn es auf einer natürlichen Moral beruht, nicht immer gültig sein?
Was sagt mir die natürliche Moral zu dem seit langer Zeit anderen Verständnis der Haltung gegenüber Frauen in bestimmten Regionen der Welt?
Es ist bei bestimmten indigenen Völkern in Brasilien üblich, dass ein Vater dem Gast, seine Frau oder Tochter zur Begrüßung in der Nacht in die Hängematte schickt und wer dies zurückweist, um nach unserer Moralvorstellung den Gastgeber durch Sex mit seiner Frau oder Tochter nicht zu kränken, beleidigt ihn dadurch viel mehr.
Glauben wir Tacitus, der in seinem Buch über die Germanen schrieb, dass die Frauen die Häuser hüteten und die Schlüsselmacht hatten, während die Männer alle paar Jahre den Hof und damit die Frau wechselten, um damit Gerechtigkeit bezüglich Leistungskraft und Bodenqualität herzustellen, ist dies schwer mit unseren heutigen Begriffen von Ehe und Familie zu vereinbaren.
In vielen Gesellschaften im mediterranen Raum, war die Stellung als Hausherr wesentlich wichtiger, denn die genetische Zugehörigkeit der jeweiligen Kinder. Die Befriedigung der Sexualität war im römischen Kulturkreis, bevor er unter den Einfluss der jüdischen Sekte Christentum kam, ein natürliches Vergnügen und unabhängig auch von gerade familiären Strukturen, wobei diese Gesellschaft wohl stärker patriarchal geprägt war. Die Männer durften also immer ihren Spaß haben und die Frauen mussten dabei auf ihre Verantwortung achten.
In den Kommunen, die infolge der Hippie Bewegung auch am Anfang der 70er und Ende der 60er große Mode waren, wurde die Sexualität auch sehr frei gelebt und es galt, wer zweimal mit der gleichen pennt bereits als dem Establishment zugehörig, wie ein berühmtes Schlagwort der Zeit lautete.
Lesen wir die Berichte der Cook Expedition etwa von Forster über die Reisen in die Südsee, erfahren wir, wie frei und offen dort mit Sexualität umgegangen wurde. Zumindest wird es angedeutet und der Rest der Phantasie der Leser überlassen, die zugleich erfahren, dass sehr zur Empörung von Cook die Eingeborenen ein gänzlich anderes Verständnis von Eigentum, Besitz und Respekt hatten, was möglicherweise einer der Gründe war, die später auf Hawaii zur Tötung des großen Reisenden durch erzürnte Eingeborene führte. Dies könnte auch auf religiösen Gründen und Verletzung dortiger Tabus beruhen, was aber nichts an dem immer wieder Mißverständnis in moralischen Fragen auch etwa mit den Eingeborenen in Neuseeland führte unter denen es auch zu Massakern kam.
Galt noch bis ins 19. Jahrhundert in einigen Regionen Europas das ius prima noctis, des jeweiligen regionalen Herrschers als ganz natürlich, wonach der Landesherr das Recht hat die erste Nacht mit einer jungfräulichen Braut zu verbringen, diese also zu deflorieren, was immer daran so toll sein soll, ist mir bis heute ein Rätsel geblieben, tat sich der Bundesgerichtshof doch schwer mit der Verurteilung des Patriarchen einer muslimischen Familie wegen Vergewaltigung, da dieser, als Onkel bekannte, behauptete davon überzeugt gewesen zu sein, sein natürliches Recht wahrzunehmen und also fraglich war, ob der subjektive Tatbestand einer Vergewaltigung vorlag, die es ganz objektiv gab.
Auch bei den aktuelleren Ehrenmordfällen, gehen die Täter meist davon aus, auf Grundlage eines ihrer Kultur entsprechenden Ehrgefühls, ganz rechtmäßig zu handeln, wenn sie die nicht ihrer Moral entsprechend handelnde Tochter oder Schwester töten. Es konnte dort meist dennoch immer verurteilt werden, weil diese lange genug hier lebten, um zu wissen, dass ein solches Verhalten hier nicht toleriert würde. Auch wird dann gerne das allgemeine Rechtsempfinden eines billig und gerecht denkenden aus der Kiste geholt, um zu begründen, es müsste doch offensichtlich jeder merken, dass töten nicht ok ist.
In Indien wurden jahrhundertelang Witwen mit ihren Männern lebendig verbrannt und dies galt als ein sehr ehrenwerter Tod, egal was die Witwe dazu dachte oder wie alt sie war. Jules Verne schildert aus unserer moralischen Sicht dann die Entführung einer solchen Witwe vom Scheiterhaufen durch den Lord, der in 80 Tagen um die Welt reiste. Dieser heiratet sie dann später, als er doch wieder Erwarten pünktlich in London eintrifft und seine Wette gewonnen hat. Im Schatten dieser am Ende glücklichen Liebe scheint uns das moralische Urteil in der Angelegenheit völlig klar und natürlich.
Montaigne berichtet von einigen Fällen in denen Hunde oder andere Tiere oder Diener ihren Herren freiwillig in den Tod folgten, weil sie das ganz natürlich fanden. Dies geschah ohne Zwang und nur aus dem freien Willen der Tiere, falls wir diesen einen solchen zugestehen wollen.
Ganz aktuell sind auch wieder die Fälle von Klitorektomie, in denen jungen Mädchen vor Erreichen der Gechlechtsreife oder teils auch mit Einsetzen der Regel die Klitoris ausgeschabt und die Schamlippen vernäht werden. So werden nach unserer moralischen Sicht diese armen Mädchen verstümmelt, zu lebenslangen Leiden gezwungen und können nie auf natürlichem Wege vaginal Freude am Sex genießen. Für ihre Mutter, die selbst diese Prozedur erlitten, scheint es dagegen ganz natürlich, mit ihren Töchtern dasselbe zu tun, da diese sonst moralisch unrein wären, damit schlechtere Chancen am heimischen Heiratsmarkt hätten und es ihnen einfach normal erscheint, sie es ja schon immer so machten.
Dagegen wehren sich verschiedene Gruppen, um den Opfern zu helfen und die Mütter von dieser grausamen Praxis abzubringen. Beide Seiten beanspruchen dabei eine natürliche Moral und Menschenrechte für sich. Die aus eingeborenen Kulturen stammenden Riten, die sich in Afrika und Teilen Arabiens verbreitet haben seit langer Zeit, sind Teil der heimischen Tradition, die wir aber für eine so starke Verletzung der Persönlichkeitsrechte des Kindes halten, dass wir ihre Zulassung verbieten und die Beteiligten daran bestrafen. Dies hat zur Folge, dass diese Beschneidungen nur unter geheimen noch gefährlicheren Bedingungen stattfinden, was das Leben der Betroffenen mehr gefährdet als eine staatliche Toleranz, die diesen unmenschlichen Akt in Krankenhäusern unter Betäubung vornehmen ließe.
Es scheint uns ganz natürlich richtig, dies zu verbieten, die armen Mädchen vor der Verstümmelung zu beschützen, die nur grausam ist und keinen Mehrwert hat außer dem regionalen Aberglauben und dortigen moralischen Riten zu genügen. Damit halten wir unsere Moral für überlegen, wollen sie weltweit herrschen lassen, erzwingen deren Durchsetzung zumindest hier.
Auf welcher natürlichen Grundlage von Moral, meinen wir so urteilen zu können?
Soweit es um die Beschneidung von Knaben aus religiösen Gründen geht, halten wir diese dagegen für tolerabel, auch wenn sie nicht medizinisch indiziert ist, weil sie aus unserer Sicht auf den Menschen keinen großen Schaden hervorruft, wir religiöse Juden und Muslime hier nicht vor den Kopf stoßen wollen und damit auch verhindern können, dass die Beschneidung dann illegal unter schlechteren hygienischen Bedingungen im Untergrund durchgeführt wird.
Rechtlich betrachtet dürften wir beide Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit eines Kindes aufgrund von Aberglauben nicht unterscheiden, müssten also die Beschneidung genauso bestrafen wie die Kliteroktomie, auch wenn bei letzterer die Folgen für eine spätere sexuelle Erfüllung noch gravierender sind.
Dennoch unterscheiden wir beides Verhalten aus moralischen Gründen und halten das auch teilweise für ganz natürlich, da wir uns aus Respekt vor der grundgesetzlich geschützten Religionsfreiheit nicht in diese Riten mischen dürften, solange es den für uns tolerablen Rahmen nicht überschreitet.
Nicht dabei berücksichtigt wird von den Vertretern dieser Sicht, dass der Schutz der körperlichen Unversehrtheit auch vor religiösen Eingriffen eigentlich höherrangiger ist als die nur Freiheit zum Aberglauben gleich welcher Art. Zumindest soweit sie irreversible Schäden hervorruft. Dies tun wir auch aus unserer moralischen Verantwortung den Juden gegenüber, die im Namen Deutschlands in der Zeit von 1933 bis 1945 staatlich diskriminiert und vernichtet wurden, was aber nichts an der Beachtung der Grundrechte ändern dürfte, auch wenn uns dieser Schaden im Verhältnis zur deutschen Schuld gering scheint.
Der Schutz der körperlichen Integrität der Kinder und die deutsche historische Verantwortung haben aber eigentlich nichts miteinander zu tun und dürften rechtlich nicht vermischt werden. Rechtlich ist eine Beschneidung ohne ärztliche Indikation eine Körperverletzung auch wenn sie durch ärztlichen Eingriff unter Betäubung erfolgt. Kinder davor zu schützen, könnte als moralische Pflicht genauso aus der Erfahrung mit Auschwitz abgeleitet werden und hätte nicht weniger moralische Berechtigung. Was deutlich macht, die herrschende Moral ist nicht unbedingt logisch oder konsistent, im Gegenteil, sie genügt vielfach auch nur Gewohnheiten und die Grenze des erlaubten verschwimmt im Nebel der Sitten und des schlechten Gewissens.
Die Religionsfreiheit besteht auch passiv, das heißt es muss auch geschützt werden, frei von jedem Aberglauben aufzuwachsen. Dies wird bei Millionen Kindern in Deutschland ganz legal verletzt durch die Taufe. Damit werden sie, ohne darüber erwachsen und mündig entschieden zu haben, was eine solche Mitgliedschaft eigentlich erforderte, Teil einer Sekte, deren Aberglauben hier halt zufällig herrschend ist.
Beim moralischen Urteil über die christliche Taufe sind wir relativ milde, weil sie eben auch Teil unserer Tradition ist und wir es so gewohnt sind. Vom Freiheitsbegriff des Grundgesetzes ausgehend und nach einer natürlichen Moral fragend, scheint dies jedoch mehr als fragwürdig. Wie sollen Kinder ein natürliches Verhältnis zu ihrem Glauben oder ihrer Vernunft entwickeln, wenn sie schon von Kindesbeinen in einer solchen Gemeinschaft sind?
Können Kinder, die schon religiös geprägt aufwachsen, je eine natürliche Moral entwickeln?
Ist die Frage nach der natürlichen Moral in einer Gesellschaft wie der unseren nicht moralisch fragwürdig, da Kinder immer mit irgendwelchen Moralvorstellungen aufwachsen und ist es dann nicht besser, sie in einem bewährten Rahmen aufwachsen zu lassen?
Weiß keine klare Antwort auf diese Fragen und denke es braucht vielfacher Kompromisse, damit eine Gesellschaft dauerhaft friedlich funktioniert. Ein Heidenkind hat es im ländlichen Bayern schwerer als in meiner Wohngegend wo eher das Gegenteil normal ist, was zwar an der grundsätzlichen Beurteilung der Sache nichts ändert, aber manchmal geht es gerade mit Kindern auch weniger um Prinzipien, als sich das Leben so leicht und gut wie möglich zu machen. Mehr als genießen, können wir das Leben nicht, dies so sehr wie möglich tun zu wollen, könnte besser sein, als viele moralische Vorstellungen.
Doch steht mir aus meiner freiheitlichen moralischen Sicht darum ein Urteil über andere zu?
Neulich hat mein bester Freund seine Tochter taufen lassen. Zu diesem schönen familiären Ereignis hatte ich auch das Glück, geladen worden zu sein. Konnte es dennoch nicht ganz lassen auch dem Täufling gegenüber meine Sicht der Dinge darzustellen, um der Kleinen auch eine andere Perspektive zu eröffnen, als des von mir kritisch beurteilten Aberglaubens. Dennoch respektiere ich seine alten familiären Traditionen und seine moralische Sicht auf diesen Akt. Achte ihn nicht weniger, weil er etwas tut, was ich ganz grundsätzlich betrachtet, moralisch eigentlich für verwerflich halte, weil es nicht meinem Verständnis von Freiheit entspricht. Gehe also, um eines sozialen Kontaktes wegen, der mit aus Gefühl und Tradition wichtig ist, wir kennen uns bald 25 Jahre, einen Kompromiss ein, der mir moralisch nur halb schmeckt und doch sinnvoller erscheint, als meine Sicht hier zu verfechten. Tue dies, weil ich auch Teil einer Gesellschaft bin und darum Kompromisse eingehe, die Toleranz gegenüber anderen Weltsichten dazu gehört. Geschadet wird dem Kind der Tropfen Wasser und die salbungsvollen Worte danach sicher nicht haben, was es mir auch leichter machte, hier keine zu große Konsequenz von mir zu verlangen. Lasse ihn diesen Text lesen, im übrigen kennt er meine Meinung ja schon und behandle ich ihn so respektvoll, wie er es verdient.
Was würde ich aber tun, lüde mich ein gläubiger jüdischer Freund zum Beschneidungsfest seines Sohnes ein?
Eigentlich müsste ich ihn meiner Überzeugung nach anzeigen, weil er eine Körperverletzung begeht, die unwiderruflich ist. Dennoch werde ich mich auch da vermutlich außer in Worten eher zurückhalten. Doch streiten gerade bei diesem Beispiel mehrere moralische Ansätze in mir und es fällt mir sehr schwer, hier eine klare und nüchterne Entscheidung zu treffen.
Sehe mich in der historischen Verantwortung als Deutscher auch gegenüber dem jüdischen Volk stehend, gerade aufgrund unserer Geschichte und das scheint mir auch natürlich und gut so. Dagegen streitet meine Abneigung gegen jeden Aberglauben, das natürliche Freiheitsbedürfnis, mein Verständnis von Grundrechten und mein Sinn für Gerechtigkeit. Auch davon scheint mir einiges ganz natürlich und es fragt sich, ob eine historische sittliche Verantwortung, die ja nicht persönlich ist, schwerer wiegen kann, als die immer geschützte körperliche Integrität des Kindes.
Leicht machen kann ich es mir hier, wenn ich mir sage, die Beschneidung ist bei uns erlaubt, es liegt also nicht der Tatbestand einer Körperverletzung vor und es ist völlig ok, was er tut. Unsere Gesellschaft toleriert dieses Verhalten auch nach langer Diskussion im Bundestag und ich muss darüber nicht moralisch neu entscheiden, es ist nicht meine Verantwortung, diese Legalität zu beurteilen, was erlaubt ist, muss ich nicht für verboten halten.
Jedoch widerspricht eine solche Haltung jeglicher Moralvorstellung. Danach könnte auch, den Nürnberger Rassegesetzen folgend, die Vernichtung der Juden im Nationalsozialismus gerechtfertigt werden, wie es einige angeklagte Täter später taten, die ja nur Gesetze befolgten. Ihre dennoch Anklage aufgrund der Radbruch’schen Formel halte ich ja aus bereits dargelegten Gründen für nicht mit dem Rechtsstaat vereinbar und daher fragwürdig.
Dies Gebiet ist gerade moralisch und politisch sehr heikel. So könnte schnell der Vorwurf erhoben werden, ich setzte die jüdische rituelle Beschneidung mit dem Holocaust gleich, was mir völlig fern liegt, denn auch dieser Akt ist gesundheitlich relativ harmlos meist, wenn auch irreversibel. Moralisch nach dem kategorischen Imperativ aber sind die Fälle ähnlich zu beurteilen, da in beiden Fällen ein Handeln, das nach meiner moralischen Überzeugung illegal sein müsste, staatlich legitimiert wird, aufgrund anderer moralischer Vorstellungen von Toleranz.
Wollte ich nach dem mir höchsten moralischen Maßstab handeln, also dem kategorischen Imperativ folgen, müsste ich das Handeln des jüdischen oder auch des muslimischen Freundes verurteilen, weil es für mich ein Grundrechtseingriff ist, der dem der Klitorektomie moralisch gleicht. Es gibt konsequent gedacht, keinen Grund dies anders zu behandeln und dies Verhalten länger zu tolerieren.
Doch stelle ich damit meine moralischen Vorstellungen und Prinzipien über die des Freundes, maßte mir also an, es besser zu wissen als er und seine jahrtausende alte Tradition, nur weil dies gerade einer aktuellen gesellschaftlichen Mode der Moral entspricht. Vielleicht darum wäre ich vermutlich de facto lieber bescheiden und sagte, was ich darüber denke, klagte aber nicht an, denn wer wäre ich, mich zum moralischen Richter über andere zu machen, auch wenn es mir ganz offensichtlich scheint.
Diese Bescheidenheit in Erkenntnis der eigenen Grenzen ist rechtlich nicht ganz konsequent und vielleicht auch moralisch fragwürdig im Sinne des kategorischen Imperativs aber sicher die menschlichere und sozialverträglichere Variante angesichts der gerade herrschenden Moral.
So muss sich eine Moral eben auch in der Praxis bewähren und Ausgrenzung und Diskriminierung in der Wirkung vermeiden. Es sollte bedacht werden, welche Folgen ein Verbot hätte, wem es nutzte und wem schadete, auch wenn mir moralisch eigentlich alles klar scheint und so ist die rechtliche Umsetzung einer Moral manchmal viel schwieriger, als sie nur konsequent zu denken.
Was dabei die natürliche Moral ist und was eine spätere Sitte nur ist, bleibt schwer zu entscheiden. Die unter Echnaton in Ägypten eingeführte Sitte der Beschneidung hatte dort gute gesundheitliche Gründe. Die Juden übernahmen sie und Mohamed passte sie auch gut in seine Sekte, die aus den anderen vorigen auch noch ein best off zusammen mixte. Diese Ideen sind tausende von Jahren alt, stehen in einer langen Tradition und sind für viele Menschen wichtiger Teil ihrer ganz natürlich gewachsenen Moral, auch wenn diese religiös eben geprägt noch ist, wie bei den meisten Menschen der Erde noch irgendwie.
Wer bin ich, über jahrtausende alte Traditionen aus dem engen Horizont meiner westlichen Sicht, ein moralisches Urteil zu fällen?
Was würde ich sagen, wenn Muslime oder Buddhisten meine lieb gewordenen Traditionen verurteilten und verbieten wollten?
Es ist eine sehr weiche moralische Entscheidung, die mich Toleranz üben lässt gegenüber der Körperverletzung der gläubigen Muslime und Juden an ihren Kindern. So erlaube ich einem irgendwie Gefühl von Toleranz und Bescheidenheit sogar einen Körperverletzung zu legitimieren, auch weil mir das gerade noch relativ opportun erscheint und die Alternativen mir noch weniger gefallen. Das ist juristisch eigentlich sehr unsauber gedacht. Auch der kategorische Imperativ bekommt da Schluckauf vor Schreck. Aber pragmatisch menschlich erscheint es mir gerade dennoch - und jetzt wird es ganz paradox, weil ich in Fragen der Moral eben auch dem Gefühl einfach folge.
Ob das dann am Ende die natürliche Moral ist, die dem Gefühl folgt, statt der Konsequenz der Vernunft, warum auch immer Gefühl natürlicher sein soll als Vernunft, die genauso Teil unserer Natur ist, weiß ich nicht. Denke es ist mal wieder irgendein Kompromiss, den ich eingehe, um so glücklich wie möglich zu leben und darum geht es ja nur, wie ich immer wieder feststelle, auch wenn damit alle Fragen offen bleiben und wir immer weiter beobachten müssen, was sich gerade als moralisch richtig anfühlt oder uns ganz kategorisch so erscheint, wenn wir dem Imperativ vernünftig folgen wollen.
jens tuengerthal 22.1.2017
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