Donnerstag, 12. Januar 2017

Gretasophie 008

008 Familie

Ist Familie noch ein aktuelles Thema oder hat sich das erledigt?

Das Wort bezeichnet heute eine durch Liebe, Partnerschaft, Adoption oder Abstammung begründete Lebensgemeinschaft. In unserem Kulturraum besteht sie meistens aus Eltern und Kindern sowie weiteren im Haushalt lebenden Personen, ob diese nun Verwandte oder andere Lebenspartner und Freunde sind. Die lateinischen Begriffe famulus oder famula heißen Diener oder Sklave. Das Wort familia war im lateinischen vielschichtiger und meinte auch ein Herrschaftsverhältnis etwa des pater familias. Der biologische Erzeuger der Kinder hieß bei den Römern genitor, nicht pater, was nur auf eine Machtposition in den sozialen Strukturen hinwies. Auch bei den Germanen stand das Wort Vater für viele weitere Dinge außer der reinen Zeugungskraft, etwa Schöpfungskraft und übernatürliche Kräfte.

Unklar ist, ob dies daran lag, dass, wie Tacitus uns berichtete, seine Glaubwürdigkeit einmal dahingestellt, die germanischen Männer im Rhythmus der Felderwirtschaft den Hof und die Frau wechselten, um eine gerechte Verteilung zu gewährleisten, die Frau aber als Herrin des Hofes dort blieb, das Schlüsselrecht hatte und darum die Frage der genetischen Vaterschaft wohl weniger wichtig genommen wurde.

Bei den Römern hatte der pater familias volles Verfügungsrecht über die gesamte Hausgemeinschaft, die aus Frauen, Kindern, Sklaven, Freigelassenen und Vieh bestand. Dort hatte er Herrschaftsrechte, was immer das praktisch bedeutete. Seine Stellung hatte er nicht, weil sich sein Samen mit dem Ei der Frau zu Kindern vereinigt hatte, sondern schlicht als Hausherr, sie war also an den Besitz gebunden und nicht an die gerade soziale Stellung aufgrund des vorigen Sex.

Insofern die Herrschaft des pater familias auch Sachen und andere Wesen wie Sklaven und Freigelassene umfasste, ist sie völlig anders zu verstehen als unser eher genetischer Begriff der Vaterschaft, der am Zeugungsakt anknüpft und unabhängig von den jeweiligen sozialen Verhältnissen auch ist.

Auch im christlichen Mittelalter war mit Familie noch kein Begriff der Alltagssprache sondern meinte den Haushalt eines Herrschers und alle die dazu gehörten. Solch ein Haushalt konnte tausende Personen umfassen, je nach Bedeutung des Herrschers. Diese vielen untergeordneten Hausgemeinschaften wurden unter dem Begriff Haus mit dem dazugehörigen Namen zusammengefasst.

Erst ab dem Ende des 17. Jahrhunderts, also nach dem Dreißigjährigen Krieg, kam der Begriff allmählich aus dem französischen in die deutsche Alltagssprache und wurde zunächst auch identisch mit Haus gebraucht. Langsam wurde dann auch die Kernfamilie als Einheit so genannt und auch die weitere Verwandtschaft von dem Wort miterfasst. Der Begriff kam parallel mit dem Aufstieg des Bürgertums auf und dessen Idealbild von der Familie als Kernfamilie mit klaren Abstammungsbeziehungen.

Doch im deutschen blieb der Begriff Haus sehr wichtig und hat sich in zahlreichen Begriffen noch erhalten, wie den Hausaufgaben, der Hausarbeit, der Hausfrau und dem Hausrecht.  Adelige Familien benutzen ihn auch noch gern, um bestimmte Zweige einer großen Familie zu  bezeichnen und sich bezüglich des Erbes auf ihr Hausrecht zu berufen, das stärker ist als das gesetzliche Erbrecht in einigen Fällen, wie sich etwa in der Familie Preußen zeigte, wo die nicht standesgemäße erste Heirat die älteren Brüder vom Familienerben ausgeschlossen hatten und dies so an den jüngsten Sohn übertrug, wie von Gerichten bestätigt wurde, was den Familienzusammenhalt dort nicht wirklich verbesserte.

Die Familie bündelt in sich verschiedene soziale Funktionen, die heute teilweise der Staat übernimmt und deren Notwendigkeit auch strittig ist. Zunächst ist da die Reproduktionsfunktion, in dem die Familie als Basis zur Weitergabe des biologischen Erbes durch die Kinder besteht. Dies entfällt bei Adoption, die aber eine gleichberechtigte Familie rechtlich entstehen lässt und wo der Rechtsakt der Adoption Zeugung, Schwangerschaft und Geburt ersetzt.

Daneben gibt es die soziale Funktion, die bei der Sozialisation hilft und durch ein dichtes soziales Netzwerk dabei unterstützt, den eigenen Platz zu finden in der Gemeinschaft, in dem von Kindesbeinen an bestimmte Arten des Benehmens und des Umgangs im familiären Kreis gelernt werden. Auch die wirtschaftliche Funktion vieler Familien ist wichtig, sie bringt Schutz für Säuglinge und Alte, pflegt, kleidet und versorgt sie.

Die ehemals wichtige politische Funktion ist heute, bis auf den Hochadel weitgehend erloschen und auch dort hat sie nur noch eine repräsentative Funktion, die aber zur Lebensaufgabe werden kann. In nicht staatlichen Gemeinschaften, bei denen Sippen oder Clans herrschen, kann diese Funktion, die dafür sorgt, die eigenen Kinder entsprechend ihrem Erbe sozial zu platzieren, große Bedeutung haben. Hier gibt es noch kleine Überbleibsel etwa in den ausgesuchten Tanzkursen bestimmter Familien und Kreise, die unter sich bleiben möchten. Auch bestimmte Elite-Schulen können solche Funktionen teilweise wahrnehmen, wie die ihnen entsprechend folgenden Elite-Hochschulen, an denen sich eine teils eingeschworene Gemeinschaft weniger Familien immer wieder trifft.

Bestimmte religiöse Funktionen der Familien haben sich bis heute erhalten, wie etwa das Tischgebet, das stets vom ältesten oder jüngsten Sohn zu sprechen war, rituelle Begrüßungen oder der weihnachtliche Gesang um den Baum vor dem großen Festessen. Früher bestimmte der Vater der Familie noch welche Kinder lebensfähig waren und welche ausgesetzt wurden, worüber heute höchstens Ämter und Ärzte entscheiden und wo die Aussetzung eine Straftat wurde. Auch die Aussaat auf dem Feld als früher väterliches Privileg ist heute in einer arbeitsteiligen Gesellschaft ein Job, den die Bäuerin so übernehmen kann wie der Sohn oder die Tochter.

Die besondere rechtliche Funktion der Familie besteht noch teilweise fort. Sie steht darum unter dem besonderen Schutz des Grundgesetzes und ihre Verhältnisse sind in zahlreichen Regelungen bestimmt, die dem Schutz der Gemeinschaft dienen sollen. Die Freizeit- und Erholungsfunktion der Familie spielt heute eine größere Rolle, auch wenn sie von vielen überschätzt wird. Ob Familie eher entspannt oder stresst, ist vermutlich Geschmackssache, jedoch kann sie ein Genuss sein, der das Leben schöner macht.

Eine besondere Rolle spielt die Familie auch bei der Stiftung einer sozialen Identität, die viel zum Selbstbild beiträgt und die Basis für dauerhafte soziale Beziehungen sein kann. Manche sind in ihrer Familie zuhause und fühlen sich dort wohler als mit allen Freunden, andere ziehen die Freunde vor und nehmen die Familie nur hin. Diese engen sozialen Beziehungen, die meist schon in der Kindheit angelegt werden, können durch Familienbesuche und Feste bis ins hohe Alter fortgesetzt und zelebriert werden.

Ob Ur- oder Frühmenschliche Gemeinschaften die Familie kannten, ist nicht klar Einige halten sie für familienlos in der Organisation. Doch werden auch bei manchen indigenen Gesellschaften, die noch unberührt lebten, ähnliche Strukturen entdeckt, die keine Kernfamilie kennen aber darum nicht unbedingt familienlos sind. Teilweise versuchen moderne Gesellschaften Äquivalente der Familie zu entwickeln, die diese auch sozial in vielen Bereichen ersetzen können. Dazu gehören zum einen etwa die Kibbuz seit der Gründung des Staates Israel oder Hausgemeinschaften in denen generationenübergreifendes Leben praktiziert wird, als bestünde eine familiäre Beziehung.

Viele Kinder in der modernen Großstadt vermissen die alte Großfamilie und den schnellen Weg zu den Großeltern, andererseits wünschen sich manche Kinder, die in solchen Gemeinschaften aufwuchsen, die Freiheit der Stadtkinder. Die Gesellschaft scheint dabei momentan in einem Übergangsprozess in dem viele Modelle nebeneinander bestehen und noch nicht klar ist, welches überleben und sich durchsetzen wird. Es gibt teilweise noch die alten Großfamilien in bürgerlichen oder adeligen Kreisen, die viel Wert auf ihre Formen legen, um als Gemeinschaft erhalten zu bleiben. Daneben gibt es die migrantischen Großfamilien, die aus einer teilweise völlig anderen Tradition kommen und bei denen die Mitglieder häufig einen harten Spagat zwischen Alltag und Familie praktizieren. Welchen Weg sie langfristig einschlagen werden ist noch unklar, auch welchen Vorbildern sie nacheifern sollen.  Die meisten Deutschen leben heute eher in Kleinfamilien, von denen auch ungefähr die Hälfte aus gescheiterten Beziehungen neu zusammengesetzt wird oder ganz für sich bleibt. Die durchschnittliche Kinderzahl liegt noch bei etwa 1,8, was deutlich macht, wohin die Tendenz der Familie geht, warum die Frage nach neuen Modellen für die Zukunft, für den Zusammenhalt der Gemeinschaft wichtig sein wird.

Vielen, denen der soziale Hintergrund der Familie fehlt, die dadurch immer neu ihre Position in der Gemeinschaft suchen müssen, fällt der Start ins Leben dadurch schwerer. Auch psychische Probleme können die Folge solche mangelhafter familiärer Bindung sein.

Wie kann die Großfamilie in der heutigen Großstadt ersetzt werden?

Sollten wir sie überhaupt ersetzen wollen oder lieber wieder nach mehr Familie streben, statt ein Alias groß zu machen?

Bin in der Großfamilie aufgewachsen wie in der heilen Kernfamilie, hatte also doppelt Glück und keine Angst war bei mir als Kind größer, als dass sich meine Eltern scheiden lassen könnten, auch wenn ich nicht weiß warum ich mich davor fürchtete und der normale Streit der Eltern, mir häufig gehörig auf die Nerven ging.

Die Großfamilie waren die drei Brüder meines Vaters und deren Kindern, die teils in meinem Alter und teils etwas älter waren. Uns verbinden viele wunderbare Erinnerungen und es müssen nur bestimmte Begriffe fallen, wie der Name des Schaukelpferdes Pipifax oder Petterweil, wo das Haus der Großeltern stand und die Augen der mittlerweile auf die 50 zugehenden Enkelgeneration leuchten heute noch.

War es der strenge pater familias, mein Großvater mit dem Spitznamen Grotepater, der die Gemeinschaft zusammenhielt oder seine liebende Frau, die Omi Elfie, die ihr Nähzimmer mit Kinderbildern tapezierte und immer Zeit für ihre Enkel fand oder war es die Bereitschaft der Elterngenerartion zu den eigenen Eltern zu fahren, sich dort zu treffen, zu regelmäßigen Festen und mehr, die unsere Gemeinschaft bis heute lebendig hielt?

Es ist wohl von allem etwas, wie Familie überhaupt nie etwas einzelnes sondern die Summe der Dinge ist, mit denen wir groß wurden. Das Haus meiner Großeltern haben die Brüder als Erben längst verkauft, die Einrichtung unter sich aufgeteilt und eines Tages werde ich vielleicht das kirschhölzerne Arbeitszimmer meines Großvaters erben, wie mein Vater es schon übernahm. Derjenige von uns, der die Familienfeste weiter führt, wird das Meißen erben, das mein Vater mit dieser Auflage übernahm und so verbinden sich Traditionen auch mit Pflichten, die weitergetragen werden und rituellen Abläufen, die jedes Jahr auf die gleiche Art praktiziert werden.

Zu Familie gehört sich auf eine Partnerschaft einlassen und mit einem Partner zusammenleben zu wollen, zumindest irgendwie. Frage mich das manches mal selbst, da ich gerne inzwischen für mich lebe, auch wenn es Momente gibt, wo ich daran leide. Es ist eine stete Gratwanderung, aber denke ich daran, wie glücklich ich in Kinderzeiten in der Familie war und wie selig meine Tochter bei den Großeltern ist, denke ich, es ist gut so und auch ich sollte das weitertragen. Andererseits, können Familien auch enden, wie wir ja aus den Buddenbrooks wissen und das hat zwar eine gewisse Tragik, wem fällt dann das Erbe zu, wenn die  Generation keine eigenen Kinder mehr hat, fragt sich mancher, aber so ist eben das Leben manchmal. Generationen kommen, Generationen gehen und nicht immer bleibt etwas bestehen.

Ist das Weitergeben von Tradition schon ein Wert an sich, oder wird da nur Kult um etwas gemacht, was keinen eigenen Wert hat, nichts als Gewohnheit ist?

Weiß es noch nicht so genau, will auch in den kommenden Essais danach forschen, was der richtige Weg und das richtige Verhältnis zur Familie ist. Als eigentlich fast autistischer Einzelgänger, der zwar in der Familie aus Gewohnheit großmäulig sein kann, weil  es nötig ist, um zu Wort zu kommen, frage ich mich schon, was sie mir ist außer Erinnerung und wie nah sie meinem Wesen noch ist, der ich in und mit Büchern lebe, gerne in Cafés schreibe und die Reisen zu den Festen eher als Stress empfinde, weil ich reisen immer eher unangenehm fand und lieber vermeide, wenn möglich, um in meiner Bücherhöhle zu leben oder mich wie Montaigne in meinen Turm zurückzuziehen, um die Welt zu betrachten. Dort bin ich völlig glücklich und brauche nichts sonst in der Welt als meine Bücher und meine Worte.

Dennoch liebe ich die Familie, so oft wir uns auch noch mal übereinander ärgern oder die Brauen rümpfen. Sie sind Teil meiner Geschichte und diese möchte ich meiner Tochter weitergeben. War der erste, der einen Enkel bekam, als zumindest meine beiden Großmütter noch lebten und meine Tochter noch kennenlernen konnten, was mich stolz und glücklich machte, auch wenn das kein Verdienst meinerseits war sondern ein bloßer Zufall im Zusammenspiel mit deren Genen.

Es ist manchmal ein schwieriges Verhältnis zu und mit der Familie und doch ist sie eine wichtige Konstante, die mir auch Stabilität gab auf dem Weg zum erwachsen werden. Wusste ich doch woher ich kam, gab es etwas, auf das ich stolz sein konnte ohne eigenes Verdienst, was schon vor mir war und weitegegeben wird.

Erbe ist ein Teil dessen, was Familie bedeutet. Eine schnelllebige Zeit, die mehr Mobilität braucht, passst nicht zu  altem Erbe, das weitergegeben wird, als hätten wir noch Güter, die wir damit füllen können. Ist das je mehr als eine nur Last, wie aller Besitz?

Sollte ich etwa einmal,  was hoffentlich noch lange Zeit hat, das Erbe meines Vaters in der familiären Kunstsammlung antreten, oder kann ich was schon vom Ururgroßvater mindestens stammt und in den Stücken bis ins 14. Jahrhundert zurückreicht einfach verkaufen, um frei zu bleiben?

Gehört Kunst nichts ins Museum, was soll sie in privaten Händen, denke ich einerseits und andererseits, weiß ich um die Schönheit solch einer sozialen Verpflichtung, die von Generation zu Generation weitergegeben wird und so sehen wir wieder den Konflikt in dem die heutige Art zu Leben zum alten Erbe steht und auch dabei suchen wir neue Formen, die Tradition und Gegenwart vernünftig verbinden.

Familie ist nicht immer einfach, aber sie ist einfach da und wir werden in sie hineingeboren, wenn wir das Glück haben, manchmal aber müssen wir uns auch erst eine Familie aufbauen, die dann in den folgenden Generationen Tradition entwickelt. Eine Familie verlangt einen bürgerlichen Beruf am besten und ein regelmäßiges Einkommen, Sicherheit und Verantwortung, alles Dinge, die nur bedingt in mein Leben und zu meiner Kunst passen und wir sehen auch darum, wie treffend Thomas Mann vom Niedergang einer Familie schrieb, die er noch ein letztes mal als pater familias in voller Größe zelebrierte auch fern von der Heimat, die eine Familie auch braucht. Aber was ist heute noch Heimat, werde ich im folgenden Essais mich fragen und die Suche nach Orten oder Wesen beginnen.

Weiß nicht, ob es dazu etwas allgemeines und verbindliches zu sagen gibt, oder jeder es ganz natürlich für sich erlebt und auf die eigene Art. Kenne nur, was ich kennenlernte und später fiel mir auf, wie nah es dem kam, was ich in den Buddenbrooks las. Immer in der Hoffnung lieber Thomas als Christian zu sein und doch den Künstler mehr spürend als den Kaufmann je, fragte ich mich, ob ich damit logisch der Untergang der Familie bin oder sie schreibend neu gebären muss, ihr über nur zufällige Generationenfolgen hinaus heute Ewigkeit im Netz geben, dem flüchtigen virtuellen Raum als Heimat meiner Worte auf der Suche nach einem Platz in der Familie der Geschichten.
jens tuengerthal 12.1.2017

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