Die Unterirdischenaufklärung
Es war einmal im Reich der Unterirdischen, während oben unter den Menschen noch dunkles Mittelalter herrschte, dass sich eine Gruppe studierter Männer im Salon ihres Freundes traf, dass erstmals das Wort Aufklärung fiel, um zu beschreiben, was sie wollten.
Sie waren Schriftsteller, Philosophen und Mathematiker und hatten sich vorgenommen, ein Lexikon zu verfassen, damit alle Menschen auf das Wissen zugreifen konnten und dies nicht nur einer kleinen Gruppe wie ein geheimes Ritual vorbehalten bliebe. Damit sollte die Macht der Priester und der Gilden geschwächt werden, damit nicht mehr Aberglaube herrsche sondern Freiheit und Gleichheit irgendwann, was sie aber nur ganz insgeheim auszusprechen wagten, weil es als eine Revolution verstanden werden könnte. Vor allem der Glaube, den sie gern kollektiv Aberglaube nannten, war ihnen ein Dorn im Auge mit seiner Macht über die erfundenen Seelen und damit die Moral, die nicht vernünftig sondern religiös also eigentlich albern begründet wurde, wie sie fanden, dem Menschen unwürdig.
Die Kultur der Unterirdischen war uralt und früher lernten die Kinder noch in den Schulen, dass die Unterirdischen kleine Kinder raubten, um sie bei sich leben zu lassen, wo sie unter der Erde nicht weiter wachsen würden. Dies war ein Gerücht, um die Kinder zu erziehen und immer falsch. Im Gegenteil war die unterirdische Kultur der sonstigen immer um zwei Epohen voraus und an weniger gebildeten Menschen bestand eher kein Bedarf. Während etwa im oberirdischen Reich die Menschen noch ohne Schrift in der Wildnis lebten, gab es unter der Erde schon riesige Bibliotheken. Auch der Beginn der Renaissance, die sich wieder dem antiken Erbe zuwandte geschah unterirdisch als die Menschen sich unter Karl dem Großen dem christlichen Reich erst zuwandten, das sich mit dem Schwert verbreitete.
Die Menschen brauchten für die Entwicklung ihrer Kulturen immer etwas länger und während sich der Islam noch mit dem Schwert bis nach Spanien verbreitete, wurde unter den Unterirdischen schon der Atheismus wieder diskutiert, wie sie ihn in der Antike kannten. Noch bis heute hängen Menschen dem Aberglauben an und glauben, es gäbe ein Sein über ihnen und ihre erfundene Seele sei unsterblich, während unter der Erde schon lange dies Thema als Teil der Natur betrachtet wurde, neben der es nichts gab. Dies geschah dort parallel mit der Einführung der Demokratie, etwa während oberirdisch die Renaissance begann und Könige nur noch dem Parlament unterstehende Repräsentanten waren. Wo es kein Gottesgnadentum mehr brauchte, konnten sie vernünftigerweise auch allen Aberglauben beerdigen, was den zurückgebliebenen Menschen bis heute nicht gelang, aber manche hoffen ja, dass auf die aktuelle postfaktische Epoche, in der die Dummheit herrscht wieder ein Zeitalter der Vernunft auch dort anbricht, gerade wenn es nicht danach aussieht, sollten wir besonders auf das Gegenteil hoffen.
Kulturen von Unterirdischen gab es auf der ganzen Welt und wo den Menschen Berge oder Hügel als heilig galten, lag dies meist daran, dass dort unterhalb eine unterirdische Kultur lebte, die unter den Menschen, um ungestört zu bleiben, diesen Aberglauben durch vermeintliche Wunder verbreitet hatte. Da die Menschen nichts von der unterirdischen Kultur wussten, die Geschichten dazu nur als Sagen galten, fiel es leicht vermeintliche Wunder zu inszenieren, um geschützt zu bleiben. Außerdem gelten die Menschen unter Unterirdischen bis heute als unglaublich naiv und leichtgläubig, was zu widerlegen dem Beobachter neuer heiliger Kriege immer schwerer fällt.
Dieses Spiel mit der Unwissenheit der Menschen und ihrem Wunderglauben hatte unterirdisch schon früh ein kritisches Denken gebracht, dass die Macht der Priester schwächte, die es auch hier natürlich gab. So galt die Herrschaft der gewählten Könige unter der Erde als eine von Gottes Gnaden, was den im Salon versammelten Herren als keine Legitimation erschien, was aber noch keiner laut sagen durfte, wollte er nicht Gefahr laufen von den Geheimdiensten als Revolutionär verhaftet zu werden.
Die Unterirdischen lebten unter den Bergen, die sie ausgewählt hatten in riesigen Bauwerken, die mit jeder neuen Generation noch erweitert wurde. Sie erinnerten an den Turmbau zu Babel, bei dem einige Menschen noch ohne genügendes Wissen immer höher bauen wollten, um den geglaubten Himmel zu erreichen. Die Etagen des Turms, die immer weiter nach oben wanderten repräsentierten die Epochen und es zeigte sich, dass die Menschen alle Baustile nachgeahmt hatten, die unterirdisch längst schon wieder von der nächsten Etage überholt wurden.
Einige Etagen unter dem aktuellen Stil, der noch vom Rokoko geprägt war, erkannten Kenner den Stil der Renaissance, der sich auf den gothischen gesetzt hatte, spitz nach oben strebend, die Kirche dort als Mittelpunkt, was im aktuellen Absolutismus längst das überragend große Schloss geworden war, wie es 500 Jahre später in Versailles nachgebaut wurde. Doch mit dem wirtschaftlichen Aufschwung waren auch viele Bürgerhäuser prächtiger geworden, die in den strahlenförmig auf das Schloss zulaufenden Straßen errichtet wurden.
Die Siedlungen begannen am Fuß des Berges mit der Grabung einer Höhle, die ständig erweitert wurde entsprechend dem Wachstum jeder Kolonie der Unterirdischen. Kamen sie an die Bergspitze stagnierte die Bautätigkeit, dann wanderten die kommenden Generationen aus und gründeten neue am Fuß eines anderen Berges. Aus dieser historischen Zeit, in der es zu Umsiedlungen kam, stammte noch die Sage von der Auswanderung der Unterirdischen, wie sie auch in Mecklenburg verbreitet ist, die aber meist in völlig falschem, eben menschlichen Zusammenhang die Sache betrachtet. Große frühe Siedlungen fanden sich unter dem Mont St. Michel in der Normandie, dem Odilienberg im Elsaß oder dem Heiligenberg bei Heidelberg, die aber ihre Orte verließen als die Menschen dort zu bauen begannen.
Die Unterirdischen mochten es nicht, wenn ihnen auf dem Kopf herumgetrampelt wurde und fanden es, auch aus Gründen der Geheimhaltung dann besser, eine neue Kolonie zu bilden. Einige finden sich auch in den Alpen, doch schätzen die Unterirdischen die dortigen massiven Felsen mit viel Granit nicht so sehr, da sie dann immer auch auf die Hilfe der Zwerge angewiesen waren, die bekanntlich gute Bergleute und die besten Sprengmeister sind. Diese ließen sich ihre Arbeit, wenn sie jemand brauchte und sie nicht nur Gold für sich scheffelten, so gut bezahlen, dass dies die Baukosten in ernorme Höhen trieb bei den Erweiterungen, die jede Generation vornehmen durfte.
Auch darum lagen die meisten Siedlungen unter mittleren Bergen oder Hügeln, die erdreich waren und ohne Hilfe der Zwerge abgetragen werden konnten. Zwar hatten die Unterirdischen die Kosten ihrer Bauten als die bekannt besten Architekten sich immer wieder von den geizigen Zwergen wiedergeholt, die sobald sie über eine Etage hinaus ihre Höhlen bauen wollten, die Unterstützung der Statiker aus dem Reich der Unterirdischen brauchten, doch waren sie lieber autark und auch die Nahrungsproduktion fiel im hügeligen Flachland immer leichter.
Überhaupt war unter den Unterirdischen in den letzten Jahren des irdischen 17. Jahrhundert, eine neue Bewegung in Gang gekommen, die sich für eine ökologische Bauweise und mehr Naturnähe aussprach. Darum entstanden immer mehr eher kleine Siedlungen unter abgelegenen Hügeln, die weniger in die Höhe strebten. Auch die Geburtenrate war mit zunehmender Zivilisation zurückgegangen, trotz abnehmender Kindersterblichkeit aufgrund besserer Hygiene und guter medizinischer Versorgung, so dass manchmal schon eine Etage für vier Generationen reichte und wo Eltern nur noch ein Kind hatten, sich die folgenden Familien ein Haus teilten und keinen neuen Baubedarf hatten.
So begann bei den Unterirdischen, was die Menschheit erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts in den ökonomisch erfolgreichen, wohlhabenden Ländern des Westens kennenlernte, eine Schrumpfung der Bevölkerung und es zogen manche der Anhänger dieser Naturbewegung, die der Hippiebewegung der Menschheit in den 70ern und der Romantik in manchem glich, auch wieder in tiefere Regionen, wenn es dort zu Leerstand kam, weil es keine Erben mehr gab. Sie waren sozusagen Hausbesetzer. Zunächst waren die einfachen Bauten der Frühzeit als Lagerräume nur genutzt wurden, weil die meisten lieber in den je modischen Neubauten lebten und aufgrund der Statik im unteren Bereich vielfach auch Verstärkungen nötig waren. Doch heute galt es als schick in diesen teilweise riesigen ehemaligen Lagerräumen ohne Zwischenwände zu leben.
Auch die Philosophenrunde hatte sich in einer solchen ehemaligen Lagerhalle getroffen, in der ihr Gastgeber diesmal zum Salon lud. Dies hatte den Vorteil, dass sie ihre Runde leicht erweitern konnten, weil es Platz genug gab, wichtiger aber war ihnen, es war weit genug vom einige Etagen höher gelegenen Schloss entfernt und die königlichen Beamten kamen nicht so leicht vorbei, da sie in der Nähe des Palastes wohnten, sie wurden also nicht gleich bemerkt. Die Siedlung der Naturfreunde am Grund des Hügels war sechs Etagen unter der aktuellen Ebene auf der die prächtigen Repräsentationsbauten gelegen und so war es auch den meisten Spionen und Polizisten zu mühsam, zum Zwecke der Überwachung hinabzusteigen. Hier fühlten sie sich daher relativ frei, auch weil die hier lebten eine eingeschworene Gemeinschaft waren und jeder Fremde schnell auffiel.
Natürlich hatte der wohlhabende Gastgeber, der von einem Onkel, der ihn adoptiert hatte, seinen Titel erbte auch einen Bau auf der repräsentativen Etage, aber zu ihrem Salon reisten sie lieber ein wenig, um sicher und ungestört planen zu können. Dies geschah aber zu der Zeit während oberirdisch, wie sie es nannten, gerade der Staufer Friedrich II. die Welt in Staunen versetzte mit seiner Offenheit, seiner Kunstfertigkeit, keiner etwas von Amerika wusste und noch Kreuzzüge ins vermeintlich Heilige Land zogen, von denen auch selbiger Friedrich obwohl mit dem Papst zerstritten, noch den erfolgreichsten führte, bei dem er durch Verhandlungen mit den Mauren sein Ziel erreichte. Diese kannte er gut, weil sie auch auf der Insel Sizilien lebten, dem Erbteil seiner normannischen Mutter und er lernte manches von ihnen, was das mittelalterliche Europa staunen ließ und auch unter Unterirdischen hieß es, was das größte Lob wohl war, für einen nur Menschen nicht schlecht.
Diesmal saßen sie in vertrauter Runde um die Tafel und berieten über die geplante Enzyklopädie, als einer von ihnen sagte, es ginge um Aufklärung und aus dieser folge alles weitere, was sie nicht erwähnen bräuchten, um weder die Kirche noch den König zu provozieren.
“Unser Lexikon wird unpolitisch sein, um nicht angreifbar zu sein, dafür wird es viel besser und weiter wirken als jede politische Schrift”, sprach der Gastgeber, der ein wenig dem Mann glich, der über 500 Jahre später als Baron d’Holbach unter den Menschen bekannt wurde.
“Nichts ist unpolitisch, jeder Handlung wirkt sich auf die Gemeinschaft aus, die Absicht ist hehr lieber Freund aber völlig unmöglich, sollen wir zu allen kritischen Themen schweigen?”, entgegnete ihm der unter Unterirdischen bekannte Schriftsteller und Philosoph, der ein Provokateur war, aber auch darum nun ständig am Fuß des Berges lebte, um nicht von den Jesuiten angeschwärzt und vor Gericht gestellt zu werden. Verlegt wurde er nur noch ungestört und verdiente gut daran, weil eine Mätresse des Königs ihre schützende Hand über ihn hielt.
“Ja und nein. Wir sollten ihnen keine Möglichkeit zum Angriff bieten, damit wir das Projekt nicht gefährden. Alle kritischen und provokativen Fragen werden wir in Nebengebieten abhandeln, etwa bei der Beschreibung des Lebens der Ameisen ein Bild der idealen Demokratie entwerfen - die manchmal absurden Verweise werden zum geheimen Schlüssel für Kenner, der ihnen das Herz der Freiheit offenbart”, entgegnete ihm der Gastgeber.
“Wer die Fackel der Wahrheit trägt, darf sich nie verstecken, dann kommt alle hierher, wir planen und verlegen das Projekt von hier aus, dann droht keine Gefahr”, entgegnete der Schriftsteller, der lieber den Konflikt als einen machbaren Kompromiss suchte.
“Du hast von hier unten leicht reden, wir müssen mit der Kontrolle leben und wenn wir wollen, dass sich unsere Schrift dort verbreitet, wo sie am nötigsten ist, müssen wir Kompromisse schließen”, stimmte der Redakteur seinem Freund dem Gastgeber zu. Er, der in der Rolle des Denise Diderots später zu sehen war, hatte Frau und Kinder, er musste von seiner Arbeit leben, als abgebrochener Theologe, der sich für die Schriftstellerei und Philosophie entschieden hatte, lebte er immer am Rande des Abgrunds.
“Kann meinem Freund nur zustimmen, wer aufklären will, sollte nicht lügen oder zensieren - wenn einer meine Worte hier zensiert, steige ich sofort aus diesem unmöglichen Projekt aus”, meldete sich der Mathematiker zu Wort, der Mitglied der königlichen Akademie und hochbegabt war. Er hatte von seiner hohen Abstammung und seiner Position her den größten Einfluss von ihnen bei Hof. Wissenschaftlich war er einer der Größten seiner Zeit, darum leistete er sich auch in seinen mathematischen oder naturwissenschaftlichen Artikeln immer wieder Seitenhiebe, die sich keiner sonst erlauben konnte. Unter den Menschen viel später spielte der nominelle Mitredakteur der Enzyklopädie d’Alembert seine Rolle nach. Dieser stieg dann auch tatsächlich aus dem Projekt irgendwann aus, weil es seinen Ruhm nicht mehr zu mehren schien und er sich nicht beschränken wollte.
“Keiner soll lügen. Die Enzyklopädie ist der Wahrheit verpflichtet. Nur müssen wir dazu nicht bewusst die geltenden Gesetze brechen, sondern sollten sie lieber, um das Projekt und uns nicht zu gefährden, genau einhalten und zwischen den Zeilen umgehen - Opposition kann zwischen den Zeilen und in der Schlagzeile geübt werden, die Schlagzeile fällt ins Auge und wird vergessen, was zwischen den Zeilen steht, gärt langsam und wirkt länger”, versuchte der Gastgeber die Freunde zusammenzuhalten.
“Du hast doch nur Angst eingesperrt zu werden, lebtet ihr auch hier, am Grund des Berges, könntet ihr wie ich schreiben, wie ihr wollt”, ließ der große Dichter nicht davon ab, seinen Freund den Redakteur erneut zu provozieren.
“Dann zirkulierte unser Lexikon am Grund des Berges, es würde keinen interessieren und kein Buchhändler oder Verleger würde es oben vertreiben wollen, wo es am nötigsten ist”, wandte auch kaufmännisch vernünftig der reiche Gastgeber ein.
“Du hast auch noch nie im Kerker gesessen, ich war drei Monate ohne ein Urteil oder die Aussicht je wieder frei zu kommen dort eingesperrt, solange ich Redakteur bin, werden wir vorsichtig sein. Es wird weiter wirken, wenn wir keinen Streit suchen sondern aufklären.”
“Meine liebe Freundin die Marquise wird uns auch dann unterstützen und dann zirkuliert das Buch eben erst als verbotener Druck, was die Nachfrage nur erhöhen wird”, wollte der reiche Dichter seine Freunde überzeugen, das Lexikon doch politisch zu schreiben und in der Kommune am Grund verlegen zu lassen, woran er noch besser verdienen würde als jetzt, wo er nur Autor einiger Artikel war, die er auch viel zu unbedeutend fand und die sie doch bewusst ihm gegeben hatten, damit seine Neigung zur Provokation nicht zu gefährlich wurde und sie sich nicht lange über nötige Streichungen streiten mussten. Im Reich der Unterirdischen herrschte zu dieser Zeit noch Zensur und die Aufklärung wurde erst langsam zu einer großen Bewegung, die ihren Namen noch suchte.
“Aufklärung ist ein gutes Stichwort, haben wir es schon definiert, ist der Beitrag schon vergeben, sonst würde ich gerne darüber schreiben”, stieg einer der Philosophen in die Diskussion ein. Er galt als einer der größten unter ihnen lebenden Philosophen und schaffte es in seinen Schriften immer wieder den Staat und die Herrschaft vollkommen infrage zu stellen, ohne es direkt zu tun. Offiziell war er eher ein Moralphilosoph und schrieb lange Abhandlungen über kategorisches Denken und die Freiheit des Entschlusses zum moralischen Handeln. Seine Rolle übernahm viel später unter den Menschen der Königsberger Immanuel Kant.
“Das wäre uns eine große Ehre, wenn du diesen Begriff definieren könntest”, begrüßte der Redakteur den Vorschlag des Philosophen und war dankbar, dass er ein wenig vor dem gefährlichen Thema ablenkte, das schon so oft im Streit geendet hatte, “schwebt dir schon was vor?”
“Habe nur ein wenig nachgedacht, was unsere Treffen und unsere Arbeit im Kern ausmachen und auch wenn wir es selten so direkt sagen, geht es doch immer um die Freiheit des Individuums. Es ist noch nicht ausformuliert, nur so ein erster Gedanke, der vielleicht beiden Seiten dieser ewigen Auseinandersetzung genügen könnte”, dabei lächelte er den Dichter und den Redakteur so gewinnend an, dass es schien, als hätte es nie Streit geben können. Dabei hatte es schon einige male heftigste Konflikte gegeben - so war einmal der Dichter aufgesprungen, wollte nicht mehr mitarbeiten, wenn er nicht endlich politische Themen bekäme, woraufhin der Redakteur nur ganz kühl geantwortet hatte, wenn du für mich ins Gefängnis gehst, gerne. Der Dichter war dann beleidigt weggegangen und es dauerte Wochen bis der Gastgeber die Runde mit vielen langen Briefen wieder zusammenbrachte.
“Wir sind gespannt”, versuchte der Gastgeber schnell das gefährliche Thema wieder zu verlassen, auch wenn er zu seiner Freude bemerken musste, dass der sonst sehr schnelle Dichter nachdenklich und in sich gekehrt schwieg.
“Ich dachte es mir in etwa so, ist jetzt noch nicht druckreif, aber es zeigt die Richtung: Aufklärung ist die Befreiung des Menschen aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündig ist, wer sich seines Verstandes nicht ohne Hilfe anderer bedienen kann. Selbstverschuldet ist diese, wenn sie nicht aus dem Mangel des Verstandes resultiert sondern aus der Unfähigkeit ihn zu benutzen, es am Mut zu denken mangelt, Der Wahlspruch der Aufklärung könnte also lauten, habe Mut, dich deines Verstandes zu bedienen”, trug der Philosoph seinen längst im Kopf druckreifen Gedanken rasend schnell vor und seine Freunde hatten Mühe ihm zu folgen.
“Genial, es ist revolutionär und klingt doch völlig harmlos, dafür wirst du in die Geschichte eingehen, das drucken wir genau so - der Mut des einzelnen, hilft ihm seine Unfreiheit zu erkennen, aus der er sich dringend befreien will, wir sagen nichts und geben die Anleitung zu allem”, fand als erstes der Redakteur die Sprache wieder. Auch er war von rasend schnellem Verstand und begriff sofort welch Zündpulver in dieser Definition lag, die alles bisherige infrage stellte, weil sie auf den Einzelnen und seine Befreiung abstellte. Nun hatten es auch die anderen verstanden und klopften begeistert auf den Tisch.
“Naja, nun übertreibt mal nicht, klingt sehr wissenschaftlich und versteht doch kaum einer da draußen, ist halt diese Professorensprache, die kein Mensch mit Leidenschaft liest und die jeden Dichter schmerzt”, nörgelte der Dichter, dem es nicht gefiel, wenn die Formulierungen eines anderen gelobt wurden und seine dagegen immer wieder korrigiert wurden.
“Ach spiel nicht den eitlen Dichter, es ist ganz klar und deutlich, passt zum Ton des Lexikon, bleibt völlig unverfänglich und legt doch das Feuer an die Zündschnur der Revolution, die uns zur Freiheit führt”, wies ihn, allerdings freundlich lächelnd, sein Freund der Gastgeber zurecht, der versuchte die Waage zu halten und Streit zu vermeiden.
“Deine revolutionären Gedanken wurden ja auch nur unter Pseudonym veröffentlicht, das unterscheidet uns eben, ich stehe zu dem, was ich denke und lebe es”, schoss der Dichter sehr scharf zurück.
“Du lebst im Exil in der relativen Freiheit und bist reich, du hast gut reden. Bin Bibliothekar bei einem Schwager unseres Königs in der Zwischenetage geworden, weil ich frei schreiben wollte und doch muss ich mit jedem Wort vorsichtig sein”, fiel nun ein anderer Dichter, der auch zu den Autoren der Enzyklopädie gehören sollte ein. Seine Theaterstücke waren bekannt, gerade sein Stück über die Glaubensfreiheit, dass er in die Zeit der Kreuzzüge verlegt hatte, wie sie die Menschen oberirdisch gerade erlebten, hatte viele aufgerüttelt. Dort ließ er einen alten eine Parabel erzählen lassen, die besagte, dass alle Religionen gleich seien, es nicht darauf ankäme, welche die Wahre wäre, sondern wie sie gelebt würde, sich also nicht am Dogma und der Lehre die Wahrheit offenbare, welcher Gott der rechte sei, sondern dies sich eben am guten Umgang im Alltag zeige. Unter den Menschen übernahm später der Dichter Lessing mit seinem Stück Nathan der Weise diese Rolle und kaum einer weiß, dass die Unterirdischen schon 500 Jahre früher über diese Weisheit debattierten und daraus bald schlossen, dass Glaube unfrei mache und darum zu überwinden sei.
“Solange ihr kuscht, haben die Intoleranz und der Aberglaube noch Macht, wenn ihr euch befreit, werden wir frei sein. Habe Mut soll der Wahlspruch der Aufklärung sein, damit bin ich einverstanden, dann zeigt mir doch, ob ihr Mut habt oder kuscht vor der Kirche und den Zensoren”, rief der andere Dichter wieder zum Aufstand, wo es ihn doch so nach Aufmerksamkeit sehnte, eitel wie er war.
“Mein lieber Freund und Kollege, wir sind beide Dichter und wissen, wie schnell die Gunst des Publikums schwankt, manches Stück von uns, dass wir für unser bestes hielte, ein Reinfall wurde. Der Erfolg eines Stückes geht nicht immer parallel zu seinem geistigen Anspruch, oft im Gegenteil. Wer Erfolg haben will, schreibt auch mal, was das Publikum gerade hören will. Wir haben uns entschieden unsere Enzyklopädie offiziell zu verlegen und keine geheime verbotene Schrift daraus zu machen. Darum haben wir einen Pfaffen mit den Glaubensfragen beauftragt und er ist unser Freund, auch wenn das keiner ahnt, er schreibt so langweilig und kompliziert, dabei fast mathematisch korrekt, dass kein Mensch je einen seiner Artikel zu Ende lesen wird…”, redete der andere Dichter auf seinen Kollegen ein, bis er unterbrochen wurde.
“Einspruch, ich muss sie alle lesen, ansonsten hast du Recht, es ist grauenvoll und ich kämpfe immer gegen den Schlaf”, unterbrach ihn der Redakteur, der auch ein begabter Dichter war nur nach seinen Erfahrungen in der Haft sehr vorsichtig geworden war.
Das Lachen war groß und die Spannung war verschwunden, hier zeigte sich der wache, rasend schnelle Geist des Redakteurs, der unter anderen Bedingungen ein großer Dichter und Philosoph wohl geworden wäre, doch kam er nicht aus so begüterten Verhältnissen und musste auch an das Überleben seiner Familie denken, die nur dank seiner reichen Freunde die Zeit in der Haft überstanden hatte.
“Unterstütze euch ja, weil ich die Idee mittrage, aber ich leide schrecklich daran, wieviel wir lügen müssen. Diesen Unsinn von Gott und seiner Gnade in einem Lexikon, das der Vernunft dient - alles Aberglaube und sollte auch so genannt werden”, gab sich der philosophische Dichter, der unter den Menschen viel später Voltaire hieß, versöhnlich nicht ohne noch mal seine Meinung laut kund zu tun, ein wenig zu provozieren.
“Würde ich dich diese Artikel schreiben lassen und schriebst du sie so, wie du es hier sagst, was zu befürchten ich guten Grund habe, können wir beide unser Todesurteil unterschreiben”, versuchte der Redakteur dem Dichter klar zu machen, wie gefährlich solche Worte einige Etagen höher noch waren.
“Leben wir noch im finsteren Mittelalter?”, empörte sich der Dichter so übertrieben, dass seine Freunde merkten, dass er nur noch scherzte.
“Ein genialer Kontrast mein lieber Freund, dazu haben wir unsere großen Dichter, es mit einem Wort auf den Punkt zu bringen. Die Aufklärung bringt Licht in die Finsternis - dazu können wir uns ganz offiziell auf das Evangelium des Johannes berufen und keiner kann uns angreifen für unsere Ideen, die unser Freund der Philosoph in seiner so wunderbar korrekten Art auf den Punkt brachte”, lobte der Gastgeber den Dichter ein wenig übertrieben, denn dieser hatte ja nur den Kontrapunkt gegeben, auf den er seine Philosophie kongenial setzte, aber seine Spezialität war es eben auch, Menschen zu verbinden, statt nur zu polarisieren, darum kamen sie alle zu ihm, sogar der Philosoph, der sehr ungern reiste, ein sehr geordnetes Leben als Beamter der königlichen Universität sonst führte.
“Wir sind uns doch alle einig über die Albernheit allen Aberglaubens, egal wie sich die Kirche nun nennt, ich wäre ihr schärfster Kritiker, wollte ich nicht etwas noch in diesem Turm in Bewegung setzen und das kann ich nur, wenn ich in der Gesellschaft wirke und sie nicht nur von außen mit Zündpulver beschicke, damit die Kirche wieder all meine Schrifte verbrennen kann und wir vor ein Gericht der Inquisition gestellt werden”, versuchte auch der Redakteur zu befrieden, doch lag schon wieder viel gefährliche persönliche Kritik am Dichter in diesen Worten, der ihm durch seinen Leichtsinn schon manche Hausdurchsuchung beschert hatte und wäre der Chef der Geheimpolizei nicht auch ein Freund dieser Runde, der immer wieder mal zu Gast kam, das Projekt wäre längst beerdigt und die Kirche hätte die aufkeimende Vernunft wieder einmal ausgebremst, wie es ihr, dank der Reformation, dem freien Geist der Renaissance zum Trotz noch gelungen war.
“Schön, wenn wir zumindest im wesentlichen einer Meinung sind”, gab sich endlich auch der Dichter versöhnlich, “auch wenn wir über den Weg dahin unterschiedlicher Meinung sind - ihr alle immer hier leben solltet, wie ich es tue - doch ich füge mich der Mehrheit und werde brav die mir zugewiesene ungefährlich langweilige Arbeit tun”, gab sich der Dichter versöhnlich und konnte doch nicht ohne Spitze schließen.
“Die Kunst ist es in den Randgebieten für alle, die Mut haben sich ihres Verstandes zu bedienen, wie es mein lieber Freund so treffend sagte, das revolutionäre Wissen zu verstecken. Wir legen keine sichtbaren Bomben an den Staat, wir nehmen die Aufklärung als einen Akt der Befreiung, den jeder für sich gehen muss - ich kann es nicht besser wissen als mein Nachbar, der noch gläubig ist, was weiß ich schon? Kann ich als Gläubiger noch Teil dieser illustren Runde sein oder bin ich es nur, weil meine Religion schon lange so diskriminiert wird wie euer Atheismus? Es gibt eine alte Geschichte vom weisen König Salomon, die dazu passt. Als er in den Tempel kam, wunderte sich der Rebbe und ging zum König und fragte ihn, was machste hier, ich denk du glaubst gar nicht an Gott? Nu, erwiderte der weise König da, weiß ich ob ich Recht hab?”, sprach zum ersten mal der Freund des Dichters, der Bibliothekar geworden war, der in seiner Gemeinschaft und überhaupt zu den ganz großen Aufklärern gehörte aber von vielen nicht wahrgenommen wurde, weil er einer gern unterdrückten Minderheit angehörte, auch wenn er einer der größten Köpfe ihrer Zunft war. Er wurde unter den Menschen als Moses Mendelsohn bekannt und war ein vergleichbar kritischer Geist unter den Unterirdischen. Alle lachten über seinen hintergründigen und klugen Humor und die Runde war wieder versöhnt. Sie würden nun noch eines der feinen großen Essen ihres Gastgebers genießen, mit viel gutem Wein und nebenbei noch über die nächsten Artikel diskutieren und ein wenig von ihren Geliebten schwärmen, bis auf den Gastgeber, der schon die wunderbarste aller Frauen zur Gattin hatte, die auch gelegentlich die Runde bereicherte.
Nur der große Philosoph mit der klugen logischen Definition wirkte noch etwas nachdenklich und selbstkritisch. Er hielt den Kopf in die Hand gestützt, hielt sich seinem gekrümmten Rücken entsprechend schief und wirkte etwas unglücklich.
“Was hast du mein Freund, ist dir nicht gut?”, bemerkte es der an den 500 Jahre später lebenden Baron d’Holbach erinnernde Gastgeber zuerst.
“Vielleicht war ich etwas zu vorschnell, hätte ich daran gedacht, dass unser lieber Freund hier ist”, bei diesen Worten nickte er seinem Philosophenkollegen zu, “hätte ich diese Definition nie an mich gezogen und lieber geschwiegen, ist er doch mit viel mehr Humor und wohl verständlicherer Sprache gesegnet”.
“Macht euch keine Sorgen, es gibt noch genug zu tun auf dem Weg zur Aufklärung und wir wollen noch manchen Band füllen, keiner nimmt wem etwas weg, alle kommen mit ihrer Sicht zu Wort und ich bin dankbar für jeden Beitrag und wenn du”, hierbei nickte der Redakteur dem anderen Philosophen zu, “über deinen Glauben schreibst und es so gut machst, wie dich unser Freund der Dichter in seinem Stück als weisen Alten in Parabeln sprechen ließ, wird dies Lexikon nicht nur eine Revolution sondern auch ein Kunstwerk”.
So panten die Freunde ihr Lexikon, dass eine Revolution werden sollte, ohne dass es einer von denen merken durfte, die es in frage stellte, um die Aufklärung als Weg zum Licht auch unterirdisch mit der Aufforderung zu beginnen, alle mögen den Mut haben, selbst zu denken und wenn sie nicht gestorben sind, planen sie immer noch den Umsturz von Innen, den das Lexikon im Geist der Unterirdischen wie 500 Jahre später auch der Menschen nur fünfzig Jahre danach schon auslöste, weil die Freiheit keine Grenze kennt.
jens tuengerthal 11.2.2017
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