Mittwoch, 22. Februar 2017

Berlinleben 000

Tagebuch eines Zugereisten

Ich bin kein Berliner, wollte ich anfangen, tut aber auch so, als sei ich mehr als ich bin und nominell bin ich es ja auch und warum real nie kommt erst später, also hat es am Anfang nichts zu suchen, find ich, wäre Vortäuschung falscher Tatsachen, sogar wenn es irgendwie stimmt. Damit fangen wir gar nicht erst an. Berlinleben hört sich toll an, dacht ich, zumindest nicht ganz schlecht und dabei erzählt es doch nur von meinem Leben in dem großen Dorf, den Begegnungen, den Orten, den Erlebnissen und ist so das Tagebuch eines Zugereisten, dass die Grenzen der Zeit überwindet, mehr wertet als objektiv berichtet, eigene Bilder vom Leben in der Stadt malt, wie sie dem Neuling erschien, der nun hier so lange lebt, wie nirgendwo in seinem ganzen Leben zuvor.

Wie ein Tagebuch beginnt die Geschichte im Jahr 2000 als ich zum 1. September in Berlin zu arbeiten anfing, also im letzten Viertel des Jahres. Überraschend und zunächst ungeplant, ohne den Wunsch je in die Großstadt zu ziehen, eher leidenschaftslos diesbezüglich, nur die Chance nutzend, die sich mit dort bot, kam ich damals an. Zugleich erzählt es die Geschichte der Stadt nebenbei, wenn es sich gerade ergibt, weil ich irgendwo war oder mich mit etwas beschäftigte, wozu es passte. Es ist natürlich auch eine Geschichte meiner Lieben hier, der Lust an der Stadt, den Menschen, manchmal den Frauen und immer den Museen, als ich sie irgendwann für mich entdeckte.

Berlin ist viele Dörfer. Was eigentlich mal Berlin war, ist ein kleiner Teil des heutigen Bezirks Mitte und außerdem ist es noch zwei Großstädte mit völlig unterschiedlichen Vorstädten. West und Ost sind noch tief in den Menschen und häufig voller Misstrauen unterschiedlich, viele bleiben lieber in ihren Kiezen, statt die ganze Stadt zu nutzen mit ihrem bunten und vielfältigen Angebot, dass Besucher wie Bewohner auf den ersten Blick erschlägt. Berlin ist manchmal rasend schnell, wie Kneipen wechseln, neue Clubs und Läden entstehen, gebaut wird und du nach Wochen schon die gleichen Orte kaum wiedererkennst. Aber im Gegensatz zu vielen anderen Städten, von den wenigen, die ich sehen durfte und den paar in denen ich lebte, ist Berlin die langsamste und geruhsamste Stadt, die ich je sah, wo bis 17h gefrühstückt wird, Frühaufsteher und Spätheimkehrer sich häufig eher begegnen auf ein Schwätzchen als sonst und sich so Tag und Nacht häufiger verkehren.

Aber um Berlin geht es nur am Rande, es ist eben zufällig der Ort, an dem ich lebe und das meiste erlebe, mein Lebensmittelpunkt halt und nur von mir und meiner Sicht erzähle ich hier, auch wenn sich diese immer wieder mit der Geschichte, der Politik und der Kultur der Stadt vermischt, wie ich sie erlebe, wird dies doch ein Tagebuch aus meiner Sicht, ohne Anspruch auf Objektivität oder was du in Berlin gesehen und erlebt haben musst, wovon ich wenig halte, weil ich noch nie gerne tat, was ich musste oder sollte und lieber meine eigenen Pfade gehe, wenn ich mich denn überhaupt weit über den engen Kreis meiner Kieze hinaus bewegen muss, was ich, zumindest in soweit nach über 16 Jahren gut assimiliert, ungern tue.

Es gibt vieles in diesen vielen Dörfern, was ich noch nie sah und dann staune ich doch wieder, was ich alles schon erlebte, wo ich überall liebte, lebte oder gerade noch überlebte. Besonders, weil ich mich ja lieber weniger real bewege und dafür hauptsächlich geistig rege, zwischen Buchseiten oder sonst. Habe in dieser Stadt größtes Glück erlebt, als ich Vater wurde oder immer wieder mal dachte, ich hätte die große Liebe meines Lebens gefunden und dessen Gegenteil, was mich am Leben zweifeln und fast verzweifeln ließ in der plötzlich Einsamkeit der Großstadt, in der du ganz allein sein kannst, einsamer als in jedem verlassenen Dorf obwohl ständig unter Menschen oder gerade weil, bis du entdeckst, es könnte vielen so gehen und dich fragst, was wohl hinter der Stirn der vorüber eilenden Berlinerin dort oder des mit Bierflasche und Anzug da sitzenden Berliners vorgeht, ob sie solche sind und was einen dazu macht.

Kennedy sagte, er sei ein Berliner, um im großen Akt politischer Solidarität im Kalten Krieg damit verstehen zu geben, er stünde als amerikanischer Präsident für die Freiheit Berlins - zumindest des Westteils, soweit er zuständig war, denn der Osten blieb bis 1989 so unfrei wie der Rest der DDR nur eben doch freier und anders. Ob der heutige amerikanische Präsident, der ja zuerst an Amerika denkt, ähnliches sagen könnte, liegt außerhalb meines Vorstellungsvermögens. Kenne inzwischen einige echte Berliner, die das mit Überzeugung von sich sagen und teilweise seit Generationen hier leben, habe mehr als eine echte Berlinerin geliebt, aus beiden Teilen der Stadt und so kann ich heute zumindest sicher sagen, ich bin kein Berliner, ich lebe halt hier und weiß gar nicht, was ich bin.

In Bremen im irgendwie mütterlich hanseatisch bürgerlichen Kontext geboren, in Frankfurt aufgewachsen, in der Kurpfalz das Abitur gemacht und studiert, bin ich halt irgendwann, genau ab 1. September 2000 hier gelandet und nicht mehr weggekommen und vielleicht ist das auch gut so, denke ich mit den Worten des ehemaligen Bürgermeisters Klaus Wowereit, von dem auch noch später manchmal die Rede sein wird, aber nur so am Rande, wenn wir uns eben mal sahen, ansonsten ist der Ortsvorsteher der vielen Dörfer, denen, die hier leben, meist nur aus Funk und Fernsehen bekannt und spielt im Leben, um das er mir ja geht, eher keine Rolle. Wie die Kanzlerin, die zwar auch hier lebt und arbeitet und doch wenig mit dem Leben in den Dörfern zu tun hat.

Werde plaudern über das, was ich erlebte und nur, wenn es sich dabei zufällig ergibt ein wenig mehr über den Kontext der Dinge erzählen. Erzählen von denen, die ich traf, wie ich sie sah und so ist auch von den Promis, wie Klaus Wowereit einer war, nur dann die Rede, wenn ich über sie stolperte und es sich aus dem Kontext ergibt. Werde von den Gesprächen mit den Huren so erzählen wie von denen mit dem Regierenden, von den Künstlern und den Lieben, wie es sich eben ergab, wie es ein Harry Kessler oder die Brüder Goncourt in ihren Tagebüchern oder ihrem Journal taten, mit dem Unterschied, dass ich viel unbedeutender bin, keine wichtige Rolle spiele und nur meine einfache, beschränkte Sicht der Dinge wiedergebe.

Was dies also alles nicht ist, kein Reiseführer, kein Geschichtsbuch, kein objektives Bild einer Stadt, kein allgemeingültiges Urteil, kann sich jeder nun denken. Es ist eher das Gegenteil und nur manchmal vielleicht trotzdem von allem ein bisschen. Rücksicht wird keine genommen in diesem großen Dorf, der Berliner sagt am liebsten direkt und gern auch derb, was er denkt - ich bin ja kein Berliner und versuche trotzdem mal einfach nur so zu schreiben, wie es mir gerade einfällt, relativ ungekünstelt - ganz wäre geflunkert, ich bin eben kein Berliner.

Berlin ist viele Dörfer und für mich auch viele Lieben, weil es so vielfältig schön ist in seiner ungeputzten Klarheit und ich so vielfältig in dieser Stadt liebte. Die Stadt ist eigentlich nur die Bühne auf der mein Leben zufällig spielt, über das ich hier nun erzählen will. Dabei benutze ich die Idee des Tagebuchs und löse mich zugleich davon indem ich zwischen den Zeiten springe, jetzt über das schreibe, was war, als wäre es gerade erst passiert, wenn es mir so vorkommt, was bei manchen Lieben seltsam genug vorkommt, dann wieder in tiefster Vergangenheit, als entstamme es einer anderen Zeit, wenn ich dem Moment nun ganz fern bin.

Lasse nichts weg, außer, was ich vergaß und was damit für mich nicht mehr existiert. Außer meinem Bewusstsein und meiner Erinnerung habe ich nichts zum Schreiben, das Unterbewusstsein halte ich für Hokuspokus, der mich hier nicht interessiert. Dieser Punkt wäre nun eine sicher spannende Diskussion wert, weil für die meisten Menschen ja nach der Diktatur der Psychoanalyse, der größten Sekte im postreligiösen Zeitalter, dieses erfundene Unterbewusstsein existiert, als sei es Teil unserer Natur und nicht nur ein geistiges Konstrukt, unsere Unfreiheit und Abhängigkeit zu begründen, vielleicht komme ich zum Thema noch im Laufe meiner Erinnerungen oder in Zukunft, weil es gerade passend erscheint, etwa bei der Geliebten, die seit 15 Jahren versucht, ihre frühkindliche Vergewaltigung beim Analytiker aufzuarbeiten und nun nur wusste, warum es ihr immer so schlecht ging und sonst nichts, aber hier geht es nicht darum, es soll der verehrten Leserin nur verdeutlichen, dahingestellt, ob sich der Leser über meine möglichen Motive überhaupt Gedanken macht, dass ich nur schreibe, was mir einfällt.

So halte ich es auch im übrigen, ich erzähle von den Dingen da, wo es gerade passt und mir in den Sinn kommt. Dies wird immer wieder zu manchem abwegig erscheinenden geistigen Ausflügen führen, wo doch Leser vielleicht gerade mehr von irgendwelchen sexuellen Eskapaden aus der Stadt, die nie schläft, lesen wollten. Wer sich damit abfinden kann, möge sich daran vergnügen, die übrigen mögen diese Exkursionen überspringen. Dies ist kein Roman, so wie ich keine Romanfigur bin. Natürlich hängt mein Leben und meine Tage irgendwie zusammen, aber nicht notwendig chronologisch und wer nicht versteht, wer die Frau in der Geschichte gerade ist, möge eben einige Tage zurückblättern, dann ergibt sich manches oder sie wird schon im nächsten Moment wieder egal sein.

So veröffentliche ich hier mein Berlintagebuch mit allem, was war und mir dazu einfällt, nur tue ich es immer erst dann, wenn es mir einfällt, wie mir bevor ich den Entschluss zu diesem Projekt fasste, gerade der Tag meiner Ankunft in der großen Stadt einfiel und die Frau die mich hier erwartete, aber damit beginnt schon die erste Geschichte und die Einleitung vorab findet ihr angemessenes Ende. Statt einer gewöhnlichen Chronologie eines Tagebuches, dass einer Abfolge von Daten folgt, die wir auf unser Leben legen, als sei jeder Tag gleich lang oder gleich bedeutend, habe ich mich entschlossen einer Chronologie der Frauen und manchmal der Bücher zu folgen, mich also an dem zu orientieren, was mich zu jeder Zeit mehr prägte als zufällige Zahlen der gregorianischen Zählung.
jens tuengerthal 22.2.2017

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