August-September 2000
Wie ich in Berlin ankam
Es war im noch wunderbaren Monat August, an dessen letztem Tag ich in Berlin ankam. Die Sonne verschwand langsam im Westen, aus dem ich kam und es sollte noch dauern, bis ich den schönsten Weg in die Stadt kennenlernte. Ein echter Berliner, der nur beruflich südlich wohnte, hatte mir geraten quasi hintenrum, über den Wedding zu fahren, Staus zu vermeiden und die Einfahrt war so hässlich wie in jede andere beliebige Großstadt auf dieser Welt. Wer einmal mit dem Auto um Paris auf den Stadtautobahnen fuhr, weiß, wie hässlich Städte sein können, von denen alle Welt schwärmt. Das kannte ich schon und so wunderte mich auch der Weg in die wieder deutsche Hauptstadt über das ehemalige Arbeiterviertel nicht weiter.
Hatte meinen Wagen mit allem voll beladen, was mir in der neuen Heimat unentbehrlich schien, zum Glück war der Kofferraum meines damals großen Audi so riesig, dass ich leicht mehr mitnahm als je nötig. Neben riesigen Koffern voller Kleidung, die ich kaum brauchte, hatte ich natürlich Bücher, Musik und viele Kleinigkeiten mitgenommen, dass möblierte Appartement möglichst schön auszustatten. Wie wenige Stunden ich dort tatsächlich verbringen sollte, ahnte ich ja noch nicht.
Als ich mit meinem Schlachtschiff von der berühmten Bernauer Straße aus in die Wolliner einbog, die von der Zionskirche in Mitte bis in den Wedding läuft und so die alte Mauer überquert, was heute nur noch merkt, wer es weiß, erwarte mich schon meine liebe Freundin A., eine Theologin und gebürtige Pfälzerin, die ich schon aus Heidelberg so nah wie nur möglich kannte und die so wunderbar Cellos spielte. Die dunkelblaue Karosse im Format einer staatstragenden Limousine hatte einen eigenen Parkplatz hinter der Schranke und später sollte ich sehnsüchtig an diesen Luxus zurückdenken, denn Parkplätze waren längst ein seltenes und begehrtes Gut in Berlin. Zumindest da, wo ich später lebte und arbeitete - im Wedding dagegen, wo in der Dämmerung die Herren in Jogginghosen ihre Kampfhunde spazieren führten, die nur teils von sehr südländischem Aussehen waren, die Herren nicht die Hunde, gab es noch keinen Mangel davon.
Endlich ausgeladen und die bloß durchschnittliche Wohnung gefüllt - auch die Goethe Büste stand im Regal, es gibt Dinge, die sind auch und gerade in der Fremde unverzichtbar, schlug A. vor in ihren Kiez zu gehen, der doch viel netter wäre als der Wedding. Später fiel mir auf, dass genau diesen Satz nahezu jeder Berliner über seinen Kiez sagt und sogar meine Geliebten aus Marzahn verteidigten die besonderen Schönheiten ihrer Plattenbausiedlung im Grünen mit großer Vehemenz. Der Freund, der aus einer alten Eisenbahnerfamilie stammte, die seit Generationen im Wedding lebte, hatte schon gemeint, die Ecke wäre wohl nichts für mich, etwas zu rauh für einen Dichter und eben richtig Großstadt.
Er lernte dort mit Blick auf die Mauer laufen, später fand ich einen Freund, der um die selbe Zeit auf der anderen Seite der Mauer stehen lernte und doch, obwohl sie nur wenige hundert Meter voneinander groß wurden, aus einer völlig anderen Welt stammte. Seine Eltern waren Kulturmenschen, die Mutter machte Kinderbücher, der Vater Filme für das östliche Sandmännchen. Er wurde in den Intellektuellenkreisen um die Oderbergerstraße in Prenzlauer Berg groß und lebte also auch sozial in einem ganz anderen Umfeld als der Freund, den ich aus meiner Mainzer Loge kannte und der sich eher als Arbeiterkind mit rotem Hintergrund verstand, stolz die alten Sagen vom roten Wedding erzählte. Viel später bemerkte ich dann doch auch wieder Ähnlichkeiten zwischen den beiden, die sich nie kennenlernten, in verschiedenen Ländern groß wurden, sich höchstens über die Mauer verbotenerweise winken konnten.
So folgte ich dem Rat von A. gerne, wir ließen den Wagen stehen und schlenderten gemütlich den Berg hinunter gen Mitte bis zum Café Honigmond, dass sie in bester Absicht für uns ausgesucht hatte. Es lag um die Ecke von ihrem Wohnheim, sie kannte es gut und es ist ein schönes romantisches Café mit dazugehörigem Hotel. Eine wunderbare Café Atmosphäre in schönem Ambiente erwartete mich und ich genoss den ersten Abend in der Großstadt, die hier ganz dörflich wirkte in den kleinen verkehrsberuhigten Straßen der Spandauer Vorstadt, wie das Viertel noch hieß als Bettina von Arnim mit viel sozialem Engagement darüber schrieb. Leider musste ich Idiot ihre weitergehenden Hoffnungen auf die Fortsetzung unserer zauberhaften Liaison noch aus Heidelberger Zeiten später enttäuschen. War gerade frisch verliebt und liiert mit I., einer Germanistin, die über die Reiseliteratur des 19. Jahrhunderts promovierte und die mir noch als der Traum von einer Frau erschien, auch wenn ich nur eine halb keusche Nacht und einen wirklich keuschen Nachmittag mit ihr verbracht hatte, war ich mir mal wieder sicher, die Frau fürs Leben gefunden zu haben, obwohl diese betonte, eine Münsterländer Katholikin zu sein und ich damals noch keine Ahnung hatte, was das bedeuten würde, auch und gerade in der Horizontalen.
Thomas Mann nannte die Horizontale im Zauberberg über seinen Protagonisten Hans Castorp die einzig aufrechte Lebenslage und meinte damit noch die Liegekur, was immer dabei einigen Nachbarn vielleicht vom schlechten Russentisch sonst aufrecht stand, ist die Harmonie in der Horizontalen, auch wenn sie mal aufrecht genossen werden kann, wichtiger als viele Ideale der Liebe, die nichts taugen, wenn in der Horizontalen irgendwann nichts mehr aufrecht steht als die Frustration und hätte ich dies damals gewusst, wäre schon der erste Abend so viel schöner geworden, als ich zu träumen wagte, doch sollte es noch viele Jahre und Erfahrungen brauchen, dies wirklich zu verstehen.
Die erste Nacht in Berlin verbrachte ich also allein, statt mit der wunderbaren, gebildeten, leidenschaftlichen, zwar kleinen aber an den richtigen Stellen um so üppigeren Theologin aus der heimatlichen Pfalz, weil ich noch an die große Liebe, Treue und ähnlichen Blödsinn glaubte und nicht ahnte, was mir tatsächlich bevorstand. Bevor ich Schlafen ging in der schmalen Bettecke in meinem möblierten Zimmer im hässlichen 70er Jahre Betonbau, rauchte ich noch eine auf dem Balkon und schaute in Richtung des benachbarten Parks, dem berühmten Mauerpark, der mit jetzt in mitternächtlicher Ruhe als ein Ort des Friedens erschien, ohne eine Ahnung zu haben, was dort tatsächlich los war.
Der Schein trog, der Mauerpark und sein Randgebiet, waren kein Ort des Friedens - morgens um 5.30h, wenn vermutlich die letzten Musiker und Kiffer aus dem benachbarten Park gerade von den Wiesen feucht aber selig bedröhnt abzogen, wurden direkt vor meinem Balkon, so schien es mir zumindest, Kohlelaster beladen. Fiel aus dem Bett, schloss die Fenster, aber war nun wach, es half nichts, es war Montag der 1. September, mein erster Arbeitstag stand bevor - hatte zwar noch viel Zeit, bis ich um 10h in der Firma sein sollte, aber so konnte ich mir in Ruhe einen Tee bereiten, noch etwas schreiben oder lesen, mich auf den ersten Arbeitstag einstellen, überlegen, was aus meiner Vielzahl von Jackets und Hemden ich diesmal tragen wollte.
Fuhr mit meinem Wagen diesmal zur Arbeit und parkte direkt gegenüber auf dem früher wohl Grünsteifen in der Mitte der Schönhauser Allee, wo sie sich auf den Weg den Berg hinauf macht. Hatte mir den eigentlich ganz einfachen Weg genau auf der Karte angesehen, mich dennoch eine halbe Stunde vorher aufgemacht, was ich später in einer Viertelstunde zu Fuß lief und so hatte ich Zeit genug und kam überpünktlich.
Die etwas seltsame, blassblonde Personalerin begrüßte mich falsch freundlich und ziemlich formal, zeigte mir mein Büro und dann kam auch schon mein Freund, der mir diese Stelle organisiert hatte von seinem Gespräch mit dem Vorstand und wies mich in meine neue Arbeit ein. Als Redakteur war ich verantwortlich für alle lokalen und kulturen Sendungen, die der Sender auf die entsprechenden Empfangsgeräte in ganz Deutschland sendete. Textfunk via Radiowelle, der auch Nachrichten und noch wichtiger für die meisten, Sport und Börsenneuigkeiten verbreitete.
Es war die Zeit vor den ersten Smartphones. Es gab noch kein iPhone und die früher von der Post vertriebenen Nachrichtensender schienen noch eine gute Zukunft zu haben - vor allem durften sie auch im Flugzeug oder OP benutzt werden, wo Mobiltelefone der Strahlung wegen lange als verboten galten, während der Radiowellenempfang des Textfunks überall funktionierte. Ob der Glaube an die Strahlung immer schon schädlicher war als diese selbst je, wäre vermutlich eine spannende Frage für manche, die auch über den Nutzen der Homöopathie gerne diskutieren - beschäftige mich ungern mit allem, was schadet, der zumindest mentale Schaden der vergeudeten Zeit so deutlich spürbar ist, dass ich in dieser Zeit schon immer lieber ein gutes Buch las. Vielleicht wäre es wichtig, den Aberglauben gesetzlich zu regeln und zu begrenzen, statt ihn über gesetzliche Kassen zu finanzieren, vielleicht ist auch relativ egal, was wirklich ist, solange sich Menschen damit wohl fühlen, wird alles gut sein, was dazu beiträgt.
Diese Geräte mit den nur Radiowellen scheinen von heute betrachtet wie eine anachronistische Anekdote aus der Frühzeit des Mobilfunks und wurden es auch bald, doch noch schien es mir als meine Zukunft und ein Arbeitsplatz mit großer Perspektive. Erhielt einen Stapel Visistenkarten als Redakteur, ein neues Mobiltelefon mit dem ich nun beliebig telefonieren konnte, wie ich es eben für nötig hielt. All die Statussymbole impotenter werdender Männlichkeit füllten mein aufgeregtes Herz mit Stolz und vor der Tür stand mein riesiger Audi, dem keiner ansah, dass ich ihn erst vor einigen Monaten für 100,-DM aus einem Konkursverkauf erworben hatte und bei dem auch nur Kenner wussten, dass sich unter der langen Motorhaube des riesigen Wagens nur kümmerliche 75PS verbargen.
Die zu erstellenden Nachrichten über lokale kulturelle Ereignisse in der ganzen Republik, die höchstens 95 Zeichen haben durften, also SMS-Länge, waren eher mechanisch denn intellektuell anspruchsvoll. Bestellte noch in Papierform alle wichtigen Magazine aus dem ganzen Land, statt sich über das noch etwas in den Anfängen steckende Internet schneller zu informieren und stellte Praktikanten und Praktikantinnen ein. Verbrachte täglich 12-14h in meiner Redaktion, es war eben die Aufbauphase und es machte ja auch Spaß, das Kind zum Laufen zu bringen, Verantwortung zu haben wie ein Profi.
Wie einer schrieb ich, denn irgendwie konnte ich diesen 95 Zeichen Textfunk auch nicht ganz ernst nehmen, bremste er meine von FAZ-Feuilleton und Zeit Lektüre geprägten Ansprüche auf ein sehr beschränktes Maß zurück. Was ich dort tat, war eher Fließbandarbeit ohne jeden intellektuellen Anspruch, dennoch war ich Redakteur, also ein Journalist in der Hauptstadt, der zu seinem Posten als Redakteur eher kam wie die Jungfrau zum Kind. Wenn es dort noch um höheren Einfluss eines Gottes ging, der angeblich schwängerte, war es hier der Freund, der mit dem Eigentümer und geschäftsführenden Vorstand darüber sprach und ihm mich empfahl und mich dann zum Vorstellungsgespräch bat.
Die Tage verflogen im steten öden Arbeitsrhythmus, nebenbei suchte ich mir noch eine Wohnung und nahm gleich die zweite oder dritte besichtigte, ein schöner 2-Zimmer, oder wie es hier im Osten hieß, 2-Raum, Altbau im Winskiez, was mir damals noch nichts sagte und wovon ich erst etwas kennenlernte, nachdem ich schon fast nicht mehr dort wohnte.
Die Tätigkeit eines Redakteurs in der Hauptstadt hört sich sehr spannend an - real war es jedoch eine öde Fließbandarbeit mit geringer Abwechslung, die weder alleine noch mit zwei Praktikanten, die relativ frisch von der Schule kamen, in normaler Arbeitszeit zu bewältigen war. So wuchs die Redaktion weiter und mein Freund, der weiter gelegentlich als Berater tätig war, riet mir, mich mehr auf administrative Aufgaben zu konzentrieren. Ein schöner Ratschlag und gerne hätte ich mehr als Redakteur an der strategischen Planung des Internetauftritts der Firma mitgewirkt, an der ich immerhin durch den Einfluss des Freundes beteiligt wurde.
Von Berlin sah ich nichts, als den täglichen Weg ins Büro, vom Wedding an der Zionskirche vorbei über den Teutoburger Platz bis zur Schönhauser Allee. Manchmal ging ich noch mit den Kollegen vom Vertrieb in eine der Kneipen umme Ecke, wie sie sagten - aber meist war noch zu viel zu tun. Beschäftigte mich mit der Kultur im ganzen Land, theoretisch auch der in Berlin, erlebte aber real nichts davon und war nur damit beschäftigt die Nachrichten in das passende Format zu pressen und sie mit der simplen Maske zu senden. Insoweit wir auswählten, welche kulturellen Nachrichten wir sendeten, gab es noch eine gewisse redaktionelle Freiheit, aber es war nur ein eigentlich unwichtiger Zusatz, wirklich interessant fanden die Nutzer anderes.
Gefangen in dieser Mühle aus ständiger Produktion, schlief mein Geist ein und ich versuchte nur die Sache an sich im Schema zu optimieren, statt dieses zu hinterfragen und über die Sache hinaus zu denken - wie es besser werden könnte, was die Abläufe optimieren würde. Trug die Scheuklappen des Fließbanarbeiters, der nur unter körperlicher Anstrengung, die eben nötige Arbeit erledigte. Zumindest war ich so viele Stunden täglich im Büro, dass es auch die Vorstände immer wieder mit Wohlwollen bemerkten und ich suchte ja nichts sonst in Berlin, wo ich ja eigentlich nie hinwollte, der ich mein Herz hatte noch in Heidelberg verloren hatte an jene katholische I. aus dem Münsterland, nach der ich schmachtete und mit der ich in kurzen Momenten des Glücks manchmal telefonieren durfte.
So raste die Zeit durch den Monat, indem ich ständig mit täglich neuem Druck Dinge produzierte, die eher keiner brauchte, die aber eben gut bezahlt wurden. Rückmeldungen gab es nahezu gar nicht - die Medien waren noch nicht interaktiv, Facebook, Twitter und Google lagen noch in der Zukunft. Auswahl lokaler Nachrichten, deren Umsetzung auf Sendeformat von 95 Zeichen und dies täglich neu beschäftigte mich so sehr, dass ich mich heute noch frage, wie ich das monatelang aushielt, ohne völlig durchzudrehen. Eine Hilfe war, dass ich zu Anfang als leitender Redakteur die Arbeit aufteilen konnte und damit wenigstens den Produktionsprozess mit den Praktikanten gleichberechtigt organisierte.
Doch ich dachte nicht über die Zukunft nach, außer wenn ich zu strategischen Gesprächen mit dem Vorstand gebeten wurde oder mit einem Vertriebler mal zu Kunden etwa bis nach München fuhr. Dann durfte ich wieder Pläne entwickeln, strategisch planen und Ideen umsetzen, statt nur stupide am Fließband zu arbeiten und blühte dabei richtig auf. Leider nahm mir niemand in dieser Zeit meine Arbeit in der Redaktion ab und wenn ich das Glück hatte, einige Stunden solch sinnvolle strategische Arbeit für die Zukunft der Firma leisten zu dürfen, blieb ich danach mindestens so viele Stunden länger in der Redaktion, um nachzuholen, was in der Zwischenzeit nicht geleistet wurde.
Nicht gelernt hatte ich vor meiner ersten realen Führungsaufgabe, die ich kurz vor 30 übernahm, wie ich Arbeit sinnvoll delegiere. Was es heißt, sich als Chef durchzusetzen und den Mitarbeitern, mit denen ich noch dazu einen Redaktionsraum teilte, klare Anweisungen zu geben, was zu erledigen war, wie ich motivierte und lobte bei gleichzeitiger Kritik. DAs berühmte divide et impera kannte ich nur theoretisch, bedachte ich in der Mühle nie. Zuvor hatte ich zwar als Geschäftsfüher mal einen Internet-Start-up für Hochbegabte als Geschäftsführer mit ins Leben gerufen - doch war ich dabei nur der primus inter pares, der mit 5 Freunden ein großes Projekt plante, was dann genauso großartig wieder versandete, wie wir es geplant hatten. Immerhin hatte mir einer meiner damaligen Gesellschafterkollegen diesen großartigen Job verschafft, mit dem ich mich besser fühlte, als ich real je war.
So qualifizierte mich eigentlich nichts für diese Tätigkeit als das gute Wort, das mein Freund für mich eingelegt hatte und ich machte alles falsch, was ich nur falsch machen konnte, würde ich mit Abstand sagen. War zwar in allem ehrlich bemüht und engagiert, wollte es so gut machen, wie ich nur konnte und verlor mich dabei aber völlig in der stupiden Tätigkeit der Nachrichtenproduktion, die ohne jeden intellektuellen oder redaktionellen Anspruch war. Mit meinen Praktikanten war ich, der ich noch relativ frisch von der Uni kam, um ein möglichst kameradschaftliches Verhältnis bemüht und besonders die eine Praktikantin mochte ich und sie erklärte sich sogar bereit, mir in unserer Freizeit, die es praktisch nicht gab, weil wir jeden Tag neue Nachrichten senden mussten, beim Renovieren meiner neuen Wohnung zu helfen.
Kaufte Farbe, Rollen und lieh mir alles weitere irgendwo zusammen und machte mich eines Sonntags mit der frisch von der Schule kommenden Abiturientin aus Hamburg an die Arbeit. Wir schafften, was wir wollten, verstanden uns gut, ich fühlte mich eher als Kumpel denn als Chef und lud sie danach noch statt in ein Café zu mir in das möblierte Zimmer im Wedding ein, weil sie sagte, sie wolle nicht gerne ins Café oder Essen gehen, was ich zunächst vorgeschlagen hatte. Das war mir sehr recht, konnte ich mich doch kurz umziehen und sie vielleicht danach davon überzeugen, doch noch Essen zu gehen, zumindest einen Tee mit ihr trinken und sah ihre Hilfe als rein freundschaftlich an.
Als sie meine Gedichtbände und den Goethe stehen sah, geriet sie ins Schwärmen, sie offenbarte mir ihre große Liebe zur Dichtung und Literatur und ich gestand ihr, nichts ahnend meine ebensolche - dies mit meiner Praktikantin allein in meiner Wohnung und mir kam nicht mal die Idee, dies könnte gegen mich ausgelegt werden, da ich ja meine große Liebe in jener katholischen Germanistin aus dem Münsterland, die noch in Heidelberg weilte, gefunden zu haben meinte, ohne jegliche Absicht war, überhaupt nichts dachte. Las ihr sogar noch meine Liebeslyrik und einige erotische Texte vor, schwärmte ihr von meiner Liebe vor und sie sprach von ihrem Freund, der Pfadfinder war und alles schien mir gut so.
Wollte sie nun nach Hause fahren oder mit ihr Essen gehen, sie einladen, was sie sich ja verdient hatte, aber sie fragte nur, ob ich ihr nicht noch einige Gedichte vorlesen könnte und hatte ganz große feuchte Augen und ich ahnte nichts. Sagte es zu, aber nur, wenn ich erst mal eine Rauchen dürfte und wollte allein auf dem Balkon verschwinden - ein Moment Abstand hätte mir wohl ganz gut getan, vielleicht hätte sich dann mein Verstand wieder eingeschaltet, der sehr von diesem jungen blonden Mädchen mit den blonden langen Haaren bis zum Po besetzt war, die so für meine Gedichte schwärmte. Nicht als Mann, sie war ja viel zu jung und ich hatte ja mein Herz, wenn auch noch unbefriedigt, in Heidelberg verloren aber doch der Natur nach, gegen die wir uns manchmal kaum wehren können als Männer von schlichtem Wesen. Außerdem war ich ja ihr Chef, irgendwie war das tabu, dachte ich noch, während ich mir eine auf dem Balkon mit Blick auf dem Mauerpark ansteckte.
Der Blick ging real nur auf die Birken im Hof und glücklicherweise, sah ich sie nicht mehr kahl, denn dann wäre er nur auf den dahinter liegenden ab 5.30h lärmenden Kohlehandel und Schrottplatz gegangen und von Romantik war ohnehin wenig in diesem hässlichen Neubau am Rande des Wedding, dachte ich noch, als meine Mitarbeiterin auf dem Balkon kam, mich fragte, ob sie einen Zug haben dürfte, zu tief für meinen Geschmack an meiner Zigarette zog, um sich dann in einem plötzlichen Anfall von Schwindel in meine Arme fallen zu lassen.
Fing sie auf, wie ich es als Rettungssanitäter gelernt hatte, hielt sie mit einer Hand unter ihrer festen jungen Brust und fühlte nach ihrem Puls. Alles ok, dachte ich, als sie die Augen wieder aufschlug und nur, “mein Retter”, flüsterte. Fragte sie dann, ob sie sich hinlegen wollte, sie nickte, ich führte sie zu meinem Bett, zog ihr die Schuhe aus, legte ihre Beine hoch, sie öffnete den Gürtel und den obersten Knopf ihrer Jeans, fühlte noch mal den Puls, als sie etwas unverständliches flüsterte. Besorgt, ob es ihr wirklich so schlecht ginge, beugte ich mich zu ihr herunter, um sie besser zu verstehen und in diesem Moment umschlang sie meinen Hals und küsste mich.
Einen kurzen Moment packte mich die Leidenschaft, die Hände wanderten mehr schon in Gedanken und aus Gewohnheit über den mädchenhaften Körper mit leichtem Babyspeck, dann siegte das Gewissen als Chef und der Gedanke an die katholische I. in Heidelberg, mit der ich noch nicht wirklich geschlafen hatte und der ich dennoch die Treue halten wollte, wie sie es von mir als ihrem künftigen Mann erwarten konnte. Riss mich aus ihren Armen, sagte, dass ginge gar nicht, schließlich sei ich ihr Chef, statt mir zu überlegen, dass dies schon alles kaum ging, dass meine gerade volljährige Praktikantin mit geöffneter Hose, weil ihr ja etwas übel war, auf meinem Bett lag, aber entsprechend meiner reinen Absichten, lag mir jeder Gedanke an die eigentlich Unmöglichkeit dieser Situation, die mich später erpressbar machen könnte, völlig fern.
Sie erholte sich dann erstaunlich schnell, während ich ihr versicherte schon ihrem Freund einem Pfadfinder gegenüber würde ich nie etwas mit ihr anfangen, auch wenn sie nicht meine Mitarbeiterin wäre und ich nicht mein Herz in Heidelberg verloren hätte. All das interessierte sie plötzlich nicht mehr. sie wollte auch nicht mehr nach Hause gefahren werden, sie fände sich schon zurecht, nach einigem höflichen Widerstreben, gab ich schließlich nach, ließ sie gehen und dachte nur sehnsüchtig an meine I., ohne zu überlegen wie brenzlig diese Situation im kritischen Fall werden könnte.
Es war nichts passiert, wir hatten uns vielleicht eine halbe Minute geküsst und dann hatte ich mich wieder aus ihrem Griff befreit, auch wenn ihre Hand schon in meinen Schritt wanderte und meine Finger sich nicht weit von ihrer schon offenen Hose waren, dort die entsprechende Reaktion auslösten und ich heute noch staune, wie ich damals überhaupt noch zu einem klaren Gedanken fähig war. Vermutlich war es die sehnsüchtige Liebe zu jener I, mit der ich nur einmal für mich völlig unbefriedigenden Sex hatte, die ich aber für das, was sie studiert hatte und ihre Rolle im Leben als quasi Waisenkind, ihre Mutter war früh an Krebs gestorben, um so mehr liebte, geradezu vergötterte, die mir als die ideale Frau erschien, die Brücke in die Heimat war, in der ich auch nie wirklich Zuhause war und die ich so überraschend für die Stelle in Berlin verlassen hatte, die ich an diesem Abend zu verspielen begonnen hatte, was ich allerdings noch nicht ahnte.
Das Glück dieser Welt lag für mich immer in den Armen der geliebten Frauen, natürlich nur der einen, die es dann wirklich war. Was sonst, sollte lohnen, fragt ich mich nicht wirklich, ich lebte immer für die Liebe und wusste, dass die Erfüllung am Ende die Ehe mit der einen wäre, bei der alles stimmte. Warum ich auf die in vieler Hinsicht nur hypothetisch tolle I. alles setzte und mein Leben für sie gegeben hätte, der ich mit meinem Job Sicherheit und langfristig eine Familie bieten wollte, weiß ich nicht. Es schien mir gut und normal so - der Liebe folgen, für sie alles tun und dann zusammen glücklich sein, etwas anderes, war nicht denkbar und es sollte noch über 17 Jahre dauern, bis ich begriff, dass Frauen mir kein Glück bringen sondern es nur, wenn überhaupt zeitweise in sehr guten Momenten teilen können und ich für mein Glück ganz allein verantwortlich bin, ein bis jetzt noch schwer zu formulierender Satz. Lieber sage ich mit Goethe, zu lieben welch ein Glück, geliebt zu werden, ich verdient es nicht und lebte, immer wenn es dramatisch wurde in der Liebe innerlich sehr die Rolle des Werther. Lange mit dem Unterschied zu Goethe, dass dieser darüber schrieb und ich mich so fühlte und es tun wollte, dafür habe ich in meinem Leben vermutlich deutlich mehr Frauen geliebt und bedichtet als Goethe und so gleicht sich manches wieder aus. Coll war ich jedenfalls nicht, was die Liebe anging, ob ich es je werde oder bin, weiß ich nicht und theoretische Mutmaßungen zu Liebe und Leidenschaft sind müßig.
Familie, geteilte geistige Welten und schöner Sex, so stellte ich mir mein Leben vor und so dachte ich es mir auch mit I, die mir inzwischen angekündigt hatte, mich anlässlich meines 30. Geburtstages in Berlin besuchen zu wollen. Der Monat September verflog bis zu diesem am 29. gelegenen Ereignis in der Tretmühle des Nachrichtenfließbandes dann wie im Flug. Kein Gedanke an die Ereignisse in meiner Wohnung mehr und auf Rat meines Freundes, der immer wieder als Berater der Firma zu Besuch war, gab ich der Redaktion klare Anweisungen, überprüfte deren Arbeit und kontrollierte auch die Qualität der Leistung meiner inzwischen vier Praktikanten, gab Rückmeldung, durch Zettel mit kurzen Briefen, die kritisierten, was nicht so gut lief, ohne dabei gleich an eine Kündigung, an eine Abmahnung oder sonstige rechtliche Folgen zu denken.
Im übrigen fieberte ich nur noch den Tagen mit I entgegen, die für meinen Geschmack viel zu selten mit mir telefonieren wollte, aber nun fand ich mich damit ab und freute mich voller Seligkeit auf ihren Besuch, der am 28. September, dem Tag vor meinem Geburtstag beginnen sollte.
Plante den Tag mit einem klassischen Konzert im Schloss Pankow und einem feinen Essen, reservierte Karten und alles übrige, besorgte einen riesigen Strauß Rosen, um sie am Abend vor meinem Geburtstag mit meiner Staatskarosse am Bahnhof Zoo abzuholen. Den kannte ich schon, dort hatte ich eine befreundete Opernsängerin aus der französischen Schweiz, die wunderbare rothaarige N., der ich Narr aber auch nur von meiner großen Liebe zu der katholischen Germanistin I. vorschwärmte, statt sie anzubeten, wie sie es ohne Frage viel mehr verdient hätte, doch übersah ich sie verliebt, wie ich schon zuvor A, trotz klarem Wunsch ihrerseits einen Korb gab, weil ich ein an die große Liebe glaubte. Der Besuch von I. und die Katastrophen des folgenden Tages gehören zwar noch zum September, sind aber ein Kapitel für sich mit allen Folgen. Von Berlin erlebte ich in diesen ersten 28 Tagen nahezu nichts, als Kulturredakteur erlebte ich ein Konzert obiger wunderbarer Diva, die von einer ebenfalls zauberhaften Freundin am Klavier begleitet wurde, sonst nichts.
jens tuengerthal 22.2.2017
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