Freitag, 10. Februar 2017

KMG 007

Gewissensmärchen

Es war einmal eine sehr alte Frau, die in dem Königreich, in dem sie lebte, als Gewissen der Nation behandelt wurde. Sie hatte die schlimmen Kriege überlebt und noch Verfolgte in dieser Zeit bei sich versteckt, das wenige, was ihr blieb, mit diesen geteilt und wo immer sie konnte, sich für Freiheit und Gerechtigkeit eingesetzt.

Manchmal hatte sie sich dafür auch mit dem König und seinen Beamten gestritten, weil sie nicht hinnehmen wollte, wenn diese Entscheidungen durchsetzten, die gegen ihr Bild von Freiheit und Menschenrechten verstießen. So hatte sie in ihrem langen Leben gegen fast alle Gruppen und Parteien irgendwann einmal gekämpft und sich den Unwillen vieler zugezogen. Dennoch war sie auch alleine mit wechselnden Verbündeten in ihren Überzeugungen immer standhaft geblieben.

Als die Forscher im Reich irgendwann entdeckten, dass von ihnen genetisch verändertes Getreide keinen Dünger und keine Pflanzenschutzmittel mehr brauchte, war die Begeisterung bei allen groß. Sie hatten endlich ein Mittel gegen den Hunger und das viele Gift gefunden, das  auch ein großer Exportschlager werden könnte. Auch die Ökologen, die sonst immer gegen die Gentechnik waren, fanden die Neuzüchtung eine große Bereicherung, weil sie ja die Umwelt schonte. Nur die alte Frau mit ganz wenigen Verbündeten protestierte noch gegen die Aussaat der veränderten Sorte.

Die alte Dame, die schon bestimmt hundert Jahre war, so genau wusste es keiner, sie war jedenfalls nie nicht da gewesen, soweit sich einer erinnern konnte, tauchte schon in den ganz frühen Berichten der Jahrhundertwende auf, als sie gegen den Krieg war, in den doch alle mit wehenden Fahnen und voller Begeisterung zogen. Schon der Großvater  des jetzigen Königs hatte sich mit ihr gestritten. Nun war sie auf das Feld gezogen, auf dem der neue Weizen aus dem Labor ausgesät werden sollte und wollte durch einen Sitzstreik verhindern, dass dort gearbeitet würde.

“Nur über meine Leiche”, hatte sie gesagt und sich auf dem Feld eingerichtet. Sie hatte das so geschickt angestellt, dass die Polizei, wenn sie versuchen würde, sie wegzutragen, ihr Leben gefährdete, was keiner wagen konnte. Auch ihr Platz war so klug ausgewählt, dass an keiner Stelle mit der Arbeit begonnen werden konnte, ohne zu riskieren die Alte zu töten. Die Anlage, an der sie nun hing, war so gebaut, dass wer das Feld betrat, ihren Tod verursachen könnte. Sie ließ das über das Netz verbreiten.

Sie hatten zunächst versucht, mit ihr zu verhandeln, aber die alte Dame blieb in ihrem Zelt, zu dem die Kabel führten und ließ sich nicht davon überzeugen, dass doch diesmal alle Parteien und Gruppen dafür wären, diese große Chance zu nutzen. Sie folge ihrem Gewissen und könne in Verantwortung für die folgenden Generationen dies nie zulassen.

Die Beamten hatten ihr gesagt, auch die ganz große Mehrheit des Volkes sei dafür und sie stelle sich damit gegen die Demokratie und deren Freiheit zu entscheiden, was gut für sie sei, auch wenn es natürlich ein königlicher Beschluss wäre, sei dieser doch klar von einer Mehrheit getragen, die sie nun mit ihrer Meinung vor den Kopf stoße. Doch die Alte blieb unnachgiebig und da jeder Tag Verzögerung viel Geld kostete, die Zeit der Aussaat bald vorbei wäre, musste nun gehandelt werden.

Der König war verärgert, weil er ihren Protest nach der langen Vorarbeit und der Beteiligung auch der Umweltgruppen, die es gut hießen, nicht verstehen konnte.

“Lasst das Feld räumen”, wies er seinen Innenminister an, “ es gibt dazu ein Gerichtsurteil, dem muss auch diese Dame folgen.”
“Würden wir ja, aber wenn wir es tun, töten wir sie damit vermutlich.”
“Das kann doch nicht sein.”
“Doch, sie hat ein fast unsichtbares Netz auslegen lassen und jeder, der sich ihr nähert, läuft Gefahr, einen der Drähte zu berühren und damit einen Stromschlag auszulösen, der sie tötet.”
“Habt ihr an einen Hubschrauber gedacht.”
“Natürlich, aber das Risiko, dass seine Rotoren den Kontakt auslösen durch die starke Luftbewegung ist zu hoch.”
“Können wir ihr nicht einfach den Strom abstellen?”
“Es gibt keine Stromleitung. Sie scheint autark zu sein. Der Geheimdienst beobachtet es genau, aber es hat noch keiner eine Lösung gefunden.”
“Wenn alle meine Ingenieure nicht weiter wissen, muss ich nicht lange grübeln - ist mit ihr zu reden?”
“Sie kann schreiben und Nachrichten empfangen und vielleicht auch telefonieren - wir konnten sie noch nicht richtig orten und wissen nicht, wie sie es macht.”
“Eine über hundertjährige Alte trickst den modernsten Geheimdienst aus. Unglaublich - sagt ihr, ich möchte mit ihr reden, wie es schon mein Vater und mein Großvater taten. Ziehe den Befehl zur Räumung zurück. Wir dürfen da nichts riskieren, sie ist das Gewissen der Nation, es würde uns und dem Experiment ewig anhängen und ich will ihr ja auch nicht schaden.”
“Wir werden ihr diese Nachricht zukommen lassen.”
“Sagen sie ihr, wenn sie bereit ist, zu mir zu kommen, garantiere ich ihre Freiheit und lasse sie, wenn wir uns nicht einigen, wieder zurück. Damit sie es glaubt, kann dies auch als Dekret veröffentlicht werden.”
“Wir werden es umgehend so machen, schicke ihnen den Entwurf zur Unterzeichnung und dann geht er an sie und alle Medien.”

Auf das öffentliche Versprechen hin, erklärte sich die Dame zum Gespräch mit dem König bereit. Sie verließ ihr Zelt inmitten des Feldes, das von Polizei, Neugierigen und Kameras umstellt war und ging ganz langsam, ihrem hohen Alter geschuldet zum Rand des Ackers, wo ein königlicher Beamter mit einem Rollstuhl auf sie wartete, der sie zum Wagen ihrer Majestät rollte und in den königlichen Palast fuhr.

Der Innenminister hatte nochmal gefragt, ob sie die Zeit ihrer Abwesenheit nicht nutzen sollten zumindest die Anlage zu erforschen, um ihren späteren Tod zu verhindern, es sei  dann ja nur eine kleine Lüge zur Rettung eines Menschenlebens. Doch der König verbat all diese Ideen, wenn er ihr sein Wort gab, dann hielt er es auch, so gerne er das Problem einfach gelöst hätte, was den Staat und die Forschung so viel Geld kostete. Die Menschen müssen dem königlichen Ehrenwort vertrauen können.

“Entweder ich überzeuge sie im Gespräch oder wir müssen weiter verhandeln”, wies er den Minister an, bevor die alte Dame erschien.

“Ehrwürdige königliche Hoheit”, begann die Alte und verbeugte sich so tief, dass der König Sorge hatte, sie würde nie wieder nach oben finden.
“Bitte, sparen wir uns alle Formalitäten, mein Vater brachte mir bei, ältere Menschen zu ehren und so wäre es wenn an mir, mich vor ihnen als Gewissen der Nation zu verbeugen.”
“Ja, ja, ihr Vater, erinnere mich noch an ihn als jungen Mann.”
“Sie kannten ja angeblich noch Großvater auf dem Thron.”
“Und dessen Vater, ja, ja, habe mich mit allen gestritten, wenn nötig.”
“Sie haben immer die Freiheit und ihre Überzeugung verteidigt, darum werden sie ja auch heute so verehrt. Doch diesmal scheint es sehr einsam, um sie geworden zu sein.”
“Bin nicht allein, aber wir sind sehr wenige, ist wohl so, was nichts an unserer Überzeugung mindert, im Gegenteil”, sagte die alte Dame fest und kämpferisch.

“Kann es richtig sein, wenn eine der Mehrheit ihren Willen aufzwingt?”
“Unbedingt, wenn die Mehrheit blind ist und das Risiko nicht sieht. Vor dem ersten großen Krieg hat mich ihr Urgroßvater auch ins Gefängnis werfen wollen und die meisten verspotteten mich.”
“Hat es aber nicht getan, so respektiere ich sie auch, warum aber können sie keine andere Sicht akzeptieren?”
“Es war keine Gnade oder Toleranz bei ihrem Urgroßvater sondern eher Herablassung, er machte sich über mich lustig, meinte so eine Politische nähme keiner ernst. Lachte mit der Mehrheit über mich und so machte er mich zum Gespött - arme Irre musste er nicht einsperren. Er gab sich lieber mitleidig.”
“Andere Zeiten - ich habe ihnen mein Wort gegeben, darauf können sie sich verlassen…”
“Ich weiß, sonst wäre ich nicht hier, auch wenn es ein leichtes wäre, mich stolpern zu lassen oder einen Unfall zu haben.”
“Bringen sie mich nicht auf Ideen…”, lachte der König, um die zu angespannte Atmosphäre, etwas zu lockern und auch die ernste Dame musste grinsen.

“Wer sein Gewissen zu Fall bringt, fällt meist mit”, war sie gleich wieder ganz ernst.
“Eben darum wissen sie ja auch, dass ich mein Wort halte und sie mit dem größten Respekt behandle, auch wenn es mir gar nicht gefällt, eine Dame in diesen noch sehr kühlen Nächten allein auf ein Feld zu schicken.”
“Machen sie  sich keine Sorgen, allein bin ich ja nun wirklich nicht und von Einsamkeit kann ich eher nur träumen, so viele junge Männer hatte ich lange nicht mehr um mich”, lachte nun die Alte, eher über sich und die Situation an dem belagerten Feld.
“So hat jede Situation auch ihre Vorteile”, lachte der König mit, froh, dass es nun nicht mehr so verkrampft war.

“Kommende Generationen werden mir noch dankbar sein”, wechselte sie wieder zum ernsten Tonfall der Überzeugungstäterin.
“Der jungen Männer wegen?”, witzelte der König weiter, weil sie so moralisch begann und er es lieber nüchtern klären wollte.
“Auch das, denn wer weiß, worauf sich dieses Zeug alles auswirken wird.”
“Nach allem was wir wissen und jahrelangen Tests im Labor, wirkt es sich auf nichts aus.”
“Wir wissen viel zu wenig, um das beurteilen zu können.”
“Nun, wir kennen den genetischen Code und so wie ich es verstanden habe, bin ja kein Biologe…”
“Nein, hauptberuflich König soweit ich weiß”, machte sie sich etwas lustig über ihn, aber dem König gefiel dieser lockere Ton viel besser als die moralische Anklage.
“Ja, meist.”
“Nicht immer?”
“Es gibt so einiges, was ich ganz privat erledige”, lachte der König sie an.
“Sparen wir uns weitere Details…”

Die Atmosphäre schien ihm gut, war sie noch als moralische Kämpferin zu einem großen Auftritt gekommen, riss sie nun schon Witze und zeigte ihren wachen Geist, der auch mit über hundert nichts an Schärfe eingebüßt hatte.

“Wovor fürchten sie sich, dass sie sich so gegen die Wissenschaft wehren? Es wird doch kein Aberglaube sein?”
“Ach was, Glaube liegt mir nicht so, auch der an die Wissenschaft nicht.”
“Sie meinen, das Getreide könnte lebensgefährliche, hochdramatische Wirkung haben?”, übertrieb er ein wenig, um den Humor nicht zu verlieren.
“Ja, im schlimmsten Fall das und mehr.”
“Was kann ein Weizenfeld der Menschheit antun?”
“Sie kennen den Zauberlehrling?”
“Meinen sie das Gedicht von Goethe? Hat der alte Meister sich doch einmal fortbegeben und nun sollen seine Geister auch nach meinem Willen leben … Und dann verließen sie ihn.”
“Genau das.”
“Wollen sie sagen, wir täten etwas, wovon wir nichts verstehen, nach Jahren der Forschung?”
“Wir wissen nicht, wie sich genetisch veränderte Pflanzen im Kontakt mit der Umwelt verhalten.”
“Aber es ist doch die gleiche Pflanze wie zuvor. Sie ist nur gegen Schädlinge resistent, wächst besser und ist damit fruchtbarer.”
“Darum ist es nicht die gleiche, wir wissen nicht, wie sich die veränderten Pflanzen in der Natur verhalten - wir kennen sie nur ein wenig unter Laborbedingungen.”
“Aber das ist doch bei jedem Medikament so.”
“Die gehen nicht an den genetischen Code sondern an die Symptome von Krankheiten.”

Der König wurde nachdenklich, es stimmte, wir griffen in etwas ein, dass wir bisher nur teilweise kannten. Aber wenn die Gentechnik gefährlich war, warum entdeckten wir dann keinerlei Risiko - was sollte in der Natur anders sein als im Labor, fragte er sich - lag daran nicht ein Zweifel an aller Wissenschaft?

“Wer nicht forscht und probiert, gewinnt keine neuen Erkenntnisse. Den Kampf gegen den Krebs werden wir nur im Wege der Gentechnik gewinnen können.”
“Oder endgültig verlieren, weil unsere Züchtungen so wuchern, dass wir uns nicht mehr zu helfen wissen.”
“Als die Eisenbahn eingeführt wurde, sollten auch Schwangere nie damit fahren und es wurde von vielen Ärzten vor den Gefahren des rasenden Verkehrs gewarnt und ich glaube, sie fuhren damals mit 15km/h.”
“So unrecht hatten sie ja nicht in allem. Aber ich bin nicht fortschrittsfeindlich, ich sehe nur hier ein Risiko, dass wir nicht mehr beherrschen können - wären die Leute in der Bahn gestorben, verrückt geworden oder hätten ihre Kinder verloren, dann hätten wir das Unternehmen wieder gestoppt und alles wäre gut. Ist das genetisch veränderte Erbgut einmal in der Natur, wissen wir nicht, was geschieht.”
“Es geht um ein Feld und danach wissen wir mehr.”
“Ein Feld ist oben und unten belebt, es kommen Bienen und Käfer, Mäuse, Maulwürfe und vieles mehr, was die Natur im Zusammenspiel belebt. Sie würden alle kontaminiert.”
“Ist das nicht ein etwas starkes Wort?”
“Kontamination heißt es, wenn unerwünschte Stoffanteile in die Natur eindringen,  egal was sie bewirken.”
“Unerwünscht ist es ja derzeit nur für sie.”
“Unnatürlich ist es für alle, die Folgen kann keiner absehen und wir mutmaßen nur, was alles passieren kann.”
“Wir wissen schon ziemlich viel und alles, was passieren könnte, wurde vorher getestet ohne Folgen, sonst hätte es ja nie eine Genehmigung gegeben. Die Forscher und Befürworter wie ich leben doch auch in diesem Land und müssen mit den Folgen leben - glauben sie, ich möchte mein Land vergiften?”
“Glaube nicht, dass sie es wollen, aber sie tun es dennoch, weil sie die Folgen nicht absehen können und riskieren zu früh zu viel.”
“Würden sie die Gentechnik generell verbieten?”
“Nur ihren Einsatz in der Natur bevor wir uns über alle Folgen im klaren sind.”
“Die Forschung sagt und es scheint mir glaubwürdig, dass sie alle Gefahren getestet hat und es kein erkennbares Risiko mehr gibt.”
“Das Wort ‘erkennbar’ scheint mir der Schlüssel zum Zauberlehrling, der tat auch alles so, wie er es erkannte und konnte.”

Gab es etwas, was sie nicht erkennen konnten, fragte sich der König und wie hoch war das Risiko dabei - war sie nur überängstlich oder alle anderen leichtsinnig. Es konnte so oder so betrachtet werden und es gab für beide Seiten Argumente. Die Heilung von Krankheiten, die Verhinderung von Hungersnöten, bei gleichzeitiger Schonung der Natur, alles sprach für diese Technik, doch blieb ein kleines dunkles Moment, wo sie nicht wussten, warum sie es ausprobieren mussten und dann natürlich nicht wussten, ob es infolge zur Katastrophe durch Mutanten kam, die weltweite Hungersnöte erst auslösten. Doch hatten sie alles getan, um dies zu verhindern und wenn der Mensch etwas wusste und erkannte, würde er forschen und wenn sie es nicht taten, täten es andere und würden daran verdienen. Die Diskussion zur Sache führte hier wohl erstmal nicht weiter, er hielt das Risiko, dass es bei allem neuen gab, nach Rücksprache mit Experten aus aller Welt für vertretbar, sie aus ihrem Gefühl heraus nicht. Wer durfte für eine Gesellschaft bestimmen, welchen Weg sie ging und warum meinte eine, wenn auch sehr verdiente, Dame, dies allein bestimmen zu dürfen?

“Warum meinen sie das Risiko besser einschätzen zu können als alle Experten?”
“Meine ich gar nicht, bin keine Biologin, so wenig wie sie, sondern Juristin.”
“Aber sie stellen ihren Willen über den der Mehrheit, die es so  will.”
“Kennen sie das als König nicht auch?”
“Berate mich immer mit Experten, um mir eine Meinung zu bilden und lasse auch das Volk  befragen.”
“Aber wenn sie von etwas überzeugt sind, würden sie es auch tun, wenn das Volk dagegen ist, weil es das Risiko nicht sieht?”
“Manchmal muss ich das, aber ich vermeide es nach Möglichkeit. Es ist mir wichtig, alle Meinungen zu hören und einen Konsens zu finden.”
“Könnten sie etwa alle Ausländer töten, wenn die ganz große Mehrheit dies wünschte?”
“Die Todesstrafe ist abgeschafft.  Daran werde ich nichts ändern und zum Glück ist solch eine Mehrheit nicht in Sicht.”
“Das meinte ich nicht, könnten sie etwas gegen ihr Gewissen tun, auch wenn die ganz große Mehrheit es so sieht? Anderes Beispiel -  die ganz große Mehrheit will dieses Projekt auf dem Feld und ist von der störrischen Alten genervt, bestenfalls noch amüsiert. Ließen sie mich in ein Heim bringen und unter Medikamente setzen, weil  ein Psychiater attestierte, ich hätte eine Psychose, weil ich mein Leben für einen Acker riskierte?”
“Sie haben doch mein Ehrenwort.”
“Was bindet sie daran?”
“Mein Gewissen und seit ich es veröffentlicht habe auch die öffentliche Meinung.”
“Und mich zwingt mein Gewissen dazu, alles mir mögliche zu tun, diesen Ackerbau zu verhindern, dessen Folgen wir nicht absehen können.”
“Ihre Meinung gegen die Mehrheit im Staat - auch wenn wir eine Monarchie sind, demokratisch ist das nicht und ich dachte ihnen wäre die Freiheit so wichtig.”
“Die Freiheit wie wir leben ist mir wichtig aber erst nach der zu leben und wenn das gefährdet ist, setze ich Prioritäten und stelle meine Verantwortung über die gerade Meinung der Mehrheit. Habe ich schon immer so gemacht. Vor dem ersten großen Krieg, als mich alle verspotteten oder sogar bespuckten und als Vaterlandsverräterin öffentlich nieder machten. Im nächsten großen Krieg als ich Freunde versteckte, obwohl sie als Feinde und Schädlinge galten in der Diktatur. Gegen die Aufrüstung durch ihren Vater, gegen die Atomkraft, für den Schutz des ungeborenen Lebens …”
“Stimmt, spätestens da hatten sie ihre früheren Verbündeten auch unter den Frauen gegen sich, weil sie streng logisch argumentierten.”
“Diese ‘mein Bauch gehört mir’ Kampagne gehört mir, hat mich sehr aufgeregt, weil sie völlig blind für die biologische Realität war. Entweder ich erlaube jede Euthanasie oder ich behandle Abtreibung wie Mord”, erhob die alte Dame die Stimme und der König erinnerte sich, wie es noch unter der Regierung seines Vaters darüber zum großen Streit kam - er hatte sich auf die Seiten der Frauen gestellt und diese hatten ihn dafür geliebt. War eine freie schöne Zeit damals und sein Vater beriet sich mit den alten Herren und den Pfaffen, die es verhindern wollten, aus Glaubensgründen, aber darum ging es ihr glaubte er damals nicht.

“”Ja, ich erinner mich, da habe ich mich auf die Seite der Frauen und deren Freiheit gestellt, was meinen Vater schließlich dazu brachte, einen Kompromiß zu beschließen, mit dem alle bis jetzt ganz gut leben konnten. Sollten wir nicht auch jetzt einen solchen suchen?”
“Darf es beim Lebensrecht Kompromisse geben - können wir eine halbe Todesstrafe einführen - nach dem Motto, wir hängen aber nur für drei Monate?”
“Aber das ist doch ein unsinniger Vergleich, wer tot ist, ist tot und bleibt es immer.”
“So argumentierte ich damals auch aus Gewissensgründen. Ein abgetriebenes Kind ist tot und wird nicht wieder lebendig, darüber dürfen wir nicht verfügen, es wäre eine Todesstrafe nach dem willkürlichen Urteil der Mütter oder später des Staates mit Beratung und Schein.”
“Der Papst argumentierte wie sie.”
“Hab mit dem nichts zu tun
“Darum haben sich damals auch alle so darüber gewundert, dass sie einer Meinung waren.”
“Waren wir nie, der Papst und Rom lehnen Abtreibung ab, weil sie die Schöpfung schützen wollen an die ich nicht glaube. Behandle nur ungeborenes Leben wie jedes andere auch, weil es Leben ist und die Unterscheidung willkürlich ist.”

Sie kreisten immer mehr um den moralischen Aspekt und er hoffte sie hier für seine Sache zu gewinnen, unabhängig von der je Meinung oder Sorge, weil es doch um die Rettung von Leben ging, was doch über allem stehen sollte.

“Hielten sie dann auch den Selbstmord für strafbar?”
“Im Gegenteil, der Freitod ist Ausdruck unserer Freiheit im Sein. Bin keine gläubige Lebensschützerin, bin auch nicht gegen Sterbehilfe, wenn die Betroffenen frei entscheiden konnten.”
“Sie passen in kein Schema und suchen sich überall Gegner…”
“Suche keine Gegner, nie, ich folge nur konsequent meinem Gewissen. Wollen sie etwa den Suizid bestrafen lassen?”
“Liegt mir fern, wie die Bestrafung der Abtreibung. Als kantianischer Epikuräer, wenn es so was gibt, ist mir die Freiheit dazu wichtig. Solange Kind und Mutter eine Einheit bilden, soll diejenige ihre Freiheit verteidigen dürfen, die zuerst da war, entspricht auch meiner Sicht auf die Natur und das Recht. Nach uns kommt nichts, denke ich und dahin zu gehen, steht uns frei, ist kein Grund zur Trauer sondern zu gelassener Normalität. So ist eben die Natur, warum sollte ich mich darüber aufregen, Leben ist endlich.”

Sie dachte über seine Wort nach und er sah förmlich das Feuerwerk ihrer Gedanken, sich in seinen Augen spiegeln. Sein Argument mit der primären Freiheit dessen, der zuerst da war, gefiel ihr, musste sie zugeben, so fern ihr sonst die Erlaubnis zum Mord immer lag.

“Aber darf die Freiheit der Frau einen Mord genehmigen? Nur damit eine Seite sein kann, wie sie will, darf die andere nicht mehr sein?”
“Konsequent betrachtet, ist ihnen da schwer zu widersprechen. Wann das Sein anfängt eines zu sein und ab wann wir nicht mehr eingreifen dürfen, macht es schwierig. Nur wohin führt solche Konsequenz letztlich?”
“Zu einem Lebensschutz von der Zeugung bis zum Tod. Mord wird mit lebenslänglichem Gefängnis bestraft. Abtreibung ist grausam und damit sicher ein Mord noch dazu gegen jemand, der arglos und damit wehrlos.”
“Was bedeuten würde die betroffenen Frauen müssten sich alleine helfen, es gäbe wieder Engelmacherinnen und viele Todesfälle auch der Mütter - kann das gewollt sein?”
“Aber darf bloßer Pragmatismus über den Lebenswert entscheiden?”
“Nein, sicher nicht, aber jede Entscheidung muss auch pragmatisch funktionieren, sonst hat sie keine Wirkung. An der Konsequenz werden am meisten die Frauen leiden.”
“Am Pragmatismus die ungeborenen Kinder.”

Er wollte nicht zu lange bei dem Thema verweilen, auch wenn es zur Gewissensfrage passte und der Diskurs spannend war. Eigentlich ging es ihm um das Gewissen.

“Haben sie Kinder?”
“Tut das in dieser Frage etwas zur Sache?”
“Es kann das eigene Urteil beeinflussen.”
“Betrachte ich ihre Sicht damals, sollten sie als Mann dazu ohnehin besser schweigen, oder nicht?”
“Doch, genau das will ich auch lieber und es den Frauen überlassen, die sich genug dabei mit ihrem Gewissen quälen, wenn sie es tun.”
“Manche mehr, manche weniger.”
“Ist wohl eine Gewissensfrage und darum so schwer regelbar.”
“Das Gewissen scheint ihnen wichtig zu sein, so oft wie sie es betonen.”

Endlich, nun konnte er zum Thema kommen, was ihn mehr interessierte als die alte Abtreibungsdebatte, die er den Frauen lieber für sich überlassen hätte. Musste sich aus seiner Sicht der Staat nicht einmischen, war für die Betroffenen schwer genug, aber ganz so durfte er das auch nicht öffentlich sagen, weil er ahnte, was dann die Kirche täte, die andererseits doch auch seine Herrschaft als von Gottes Gnaden segnete.

Auf was sonst kommt es bei moralischen Entscheidungen an?”, schaute er sie herausfordernd an.
“Es ist wohl die Grundlage.”
“Aber was ist es und wo sitzt es?”
“Fragen sie einen Neurologen - würde sagen, es ist ein Teil des Bewusstseins, bestimmt, wie wir urteilen sollen. Drängt uns aus mal ethischen, dann moralischen oder meist vermutlich bloß intuitiven Gründen zu einem bestimmten Verhalten.”
“Was motiviert ihr Gewissen, sich gegen die Gentechnik zu stellen?”
“Tue ich nicht.”
“Dann gegen deren Anbau im Freien…”
“Schwer zu sagen, es ist eine Mischung aus einer Verantwortungsethik im Bewusstsein des unbekannten Risikos, folgt dem Gefühl, es sei unmoralisch, etwas anzufangen, dessen Folgen ich nicht absehen kann und einer tiefen Intuition, die mir sagt, lasst die Finger davon, ihr habt keine Ahnung und es ist viel zu gefährlich.”
“Wenn die Intuition sich gegen die Mehrheit und die vernünftig belegte Meinung der Wissenschaft richtet, die auf die Rettung von Millionen Menschen aus ist, darf sie dann ein Maßstab sein - Gefühl gegen die Vernunft eines humanistischen Ziels? Was ist nach dem Gewissen mehr wert?”
“Das hab ich befürchtet, dass sie genau das irgendwann fragen werden. Die Wissenschaft hat Beweise für das, was sie tut und will, soweit es ihr möglich ist und ich habe nur vernünftige Zweifel am Wissen und sonst ein ungutes Gefühl.”

Der König lächelte, er würde nun abwarten, musste sie kommen lassen, damit sie alleine auf das dünne Eis ginge und er ihr die rettende Hand entgegenstrecken konnte, wenn es nötig war. Einen Moment herrschte Schweigen und er genoss dies, weil er wusste, wie die Spannung in ihr stieg, wenn er dazu nichts sagte, sich nicht auf ihre offene Flanke stürzte, sondern ihr die Freiheit ließ, selbst weiter aus der Deckung zu kommen.

“Wollen sie gar nichts dazu sagen?”, fragte sie sichtlich nervös von der Stille, in der sie sich scheinbar zum Abschuß frei für ihn geboten hatte und er nichts tat, als zu lächeln und er sagte nichts sondern schüttelte nur den Kopf und lächelte.
“Es ist eine Intuition, stimmt schon, ein tiefes Gefühl, aber es gibt doch gute Gründe an der Wissenschaft zu zweifeln. Was hat sie nicht schon alles angerichtet. Denken sie an die Atomkraft -”, sie pausierte und hoffte seinen dialektischen Instinkt zu wecken, aber er schwieg und lächelte, würde weiter lächeln, sie ahnte es, bis sie sich beim alleinigen reden und der Beantwortung seiner Frage in solche Widersprüche verwickelte, dass sie seine Hand zur Rettung annehmen musste. Der Gedanke gefiel ihr überhaupt nicht und sie wollte kämpfen, für ihre Intuition und mit all ihrer Vernunft und ihren Worten für die gute Sache.

“Wenn die Intuition eine Gefahr sieht, die viel größer ist als jede Chance, darf sie dann schweigen, nur weil die Mehrheit den Mördern zujubelt und die Gefahr nicht erkennt?”, versuchte sie es, sah ihn an, lächelte und er lächelte weiter und schwieg. Einen Moment schwiegen sie sich beide an und die alte Dame dachte kurz, na wollen wir doch mal sehen, ob ich mit meinen über hundert Jahren da nicht mehr Geduld aufbringe.

Sie schwiegen einen Moment beide, dann fiel ihr ein, dass sie seine Frage nicht beantwortet hatte und es also vielleicht unhöflich war ihrerseits zu schweigen und sie wusste schon, wo sie gerade war, wem sie gegenüberstand und was geboten war. Er war ja auch ein guter König, nur dass mit der Gentechnik, da war er halt zu modern und wissenschaftsgläubig.

“Weiß nicht, was mehr wert ist, da ich die Mehrheit gegen mich gerade habe, wird sicher nach herrschender Ethik die Wissenschaft und die breite Meinung mehr wert sein als meine Intuition. Aber die Rettung von Millionen ist doch auch nur spekulativ”, sie sah ihn an und er lächelte weiter, hörte aufmerksam zu. Was wäre, wenn er irgendwann, danke sagte und sie gehen durfte, zurück auf diesen kalten zugigen Acker, um ihrer Intuition zu folgen, die Menschheit zu retten, die überhaupt nicht gerettet werden wollte. Wenn sie nun weiter schwiegen, würde nichts passieren und sie konnte ihn auch nicht überzeugen.

“Aber könnten wir nicht noch warten, bis die Forschung weiter ist, alle Risiken kennt und ausschließen kann, dass etwas passiert?”, sie lächelte ihn hoffnungsvoll an und er lächelte noch freundlicher zurück, vielleicht nickte er ein wenige, aber er sagte nichts, ließ sie weiter zappeln.

“Es ist natürlich nur ein Gefühl”, schmälerte sie schon ihren eigenen Anpruch, als wollte sie den verlorenen Posten nicht länger verteidigen, “doch hat mich dies in den letzten 100 Jahren nie getäuscht und ich traue meinem Gewissen. Was sonst sollte ich denn tun, wenn ich die Gefahr erkenne und uns als Zauberlehrlinge auf den Weg in den Abgrund sehe?”, unterbrach sie hoffnungsvoll, schaute zu ihm auf, der nur in einer Nuance vielleicht die Schultern zuckte, kein Wort sagte und sie weiter anlächelte.

“Natürlich darf nicht eine verrückte Alte der Mehrheit ihren Willen aufzwingen, aber ich habe doch auch meine Erfahrungen, bin ja nicht nur verrückt, sondern folge einer tiefen Überzeugung. Will mich doch nicht hier nur so stark machen, ich möchte warnen und überzeugen, weil ich eine Gefahr sehe.”

Bei diesen Worten legte der König seinen Kopf ein wenig schräg, sonst nichts, sah sie aber weiter schweigend und lächelnd an.

“Sie meinen, ich täusche mich? Sehe etwas, was nur ich sehe, als wäre ich eine Seherin und ein bisschen verrückt eben - habe da schon vernünftig nachgedacht, gut, es ist nicht wissenschaftlich, aber sehr kritisch doch. Woher wollen sie das wissen mit der Rettung von Millionen? - nichts - naja, wissen sie auch nicht, so spekulativ wie mein Ansatz letztlich.”

Sie schaut ihn triumphierend an und er schweigt und lächelt weiter, zog nur in einer Andeutung die Brauen hoch, was sie nicht gleich zu interpretieren wusste, sie dann aber unruhig machte, weil es mehr an Bewegung war als die ganze Zeit - ob er meinte, dass sie es übertrieb, wollte der König sie auf einen Fauxpas dezent aufmerksam machen - da merkte sie es langsam. Sie ging von der Spekulation aus, die ihr ein ungutes Gefühl gab, dass sie später irgendwie wissenschaftlich begründen konnte. Er ging von wissenschaftlichen Annahmen aus, die vernünftig begründet waren - die Zahlen beruhten zwar auf Schätzungen und waren also auch Spekulation wie alle Statistik aber doch zumindest wissenschaftlich korrekt und nicht nur ein Gefühl und sie merkte, wie dünn das Eis war, auf dem sie stand, wie sie sich aus ihrer uralten Intuition nur gegen alle Vernunft, Ökonomie und Menschlichkeit wehrte und plötzlich bekam sie Angst, einzubrechen.

“Ja, ich geb es zu, ihre Sicht ist wissenschaftlich fundiert, meine nicht. Für ihre Sicht sprechen viele Daten, für meine nur ein Gefühl und keine große Kenntnis in der Sache - hab mich schon damit beschäftigt. Es ist natürlich auch die Angst. Was ist, wenn was passiert und es schief geht?”, sie schaute, ob etwas von ihm kam, aber er schwieg weiter und lächelte.

“Was soll ich noch sagen, sie haben demokratisch recht - die Mehrheit ist auf ihrer Seite und sie haben auch sonst die vernünftigeren Argumente, ich geb es ja zu, trotzdem”, es bäumte sich in ihr wieder ein wenig auf, noch wollte sie seine Hand nicht, “es ist ja nicht abwegig, was ich da fühle - es könnte doch passieren, oder ist das ausgeschlossen?”

Er würde ihr am liebsten zu Hilfe eilen, ihr den Arm geben und sie retten - aber wenn sie frei sein wollte, musste er sie lassen, bis sie ihn rief und dann nähme er sie in allen Ehren auf und sie würden gemeinsam überlegen, wie sie diese Angelegenheit nach bestem Wissen und Gewissen zu Ende bringen könnten.

“Ja, ich weiß, nicht wahrscheinlicher als ihre Rettung von Millionen, alle Vernunft spricht für sie, die Mehrheit auch und ich habe nur mein komisches Gefühl, dass mich noch nie getäuscht hat. Vielleicht sollte ich diesmal nicht kämpfen sondern lieber beobachten - nur wie komme ich da noch raus?”

War es schon so weit, fragte sich der König, lächelte sie an, zog die Augenbrauen weit hoch, hätte ihr gern die Hand gereicht und wusste doch, es war nun seine Rolle, einfach zu warten.

“Haben sie eine Idee? Bitte, helfen sie mir, ich merke, ich habe mich da vielleicht verrannt in ein Gefühl, kann ja täuschen, wie wir es von der Liebe kennen. Wie komme ich da wieder raus?”

“Schön, dass sie heute zu mir gekommen sind und ich wollte mit ihnen doch gerne die Feierlichkeiten für ihren großen Verdienstorden und die Erhebung in den erblichen Adel besprechen. Dachte an das königliche Sommerfest und vielleicht können wir bei dieser Gelegenheit auch ihr letztes Engagement für die Freiheit und aus tiefer Überzeugung besonders würdigen - dass wir nun wieder alle an einem Strang ziehen, ist doch wunderbar. Das Gewissen der Nation und der König in einem Boot scheint mir besser als alles zuvor und der Rest wird dagegen unwichtig.”

Sie nahm seine Hand, lächelte ihn an und wusste, er hatte sie gerettet. Sie würden nicht darüber reden. Es gäbe eine Pressekonferenz zu ihrer Erhebung und der Verleihung und wenn dabei ein Reporter dumm fragte, würde es lächelnd übergangen, es schien alles wunderbar.

“Eines müssen sie mir noch verraten, wie funktionierte diese Anlage auf dem Feld - unser Geheimdienst hat alles überwacht und es nicht verstanden - was steckte dahinter?”
“Es war nur ein Märchen, aber alle haben es geglaubt.”
“Dem Gewissen der Nation wird so geglaubt wie des Königs Ehrenwort. Wie gut, dass ich am Ende nur noch meinem Gefühl gefolgt bin und sie nicht Jan Hus waren.”

Und der König und die alte Dame, die nun Dame des Königreichs wurde, sprachen noch oft miteinander und wenn sie nicht gestorben sind, dann reden sie noch heute.
jens tuengerthal 9.2.2017

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