Freitag, 4. September 2020

Naturkultur

Wie sehr bedingen sich Natur und Kultur?

Reproduktionsmedizin und Genetik wenden alte Kulturtechniken an, um Natur zu verändern. Wir schaffen damit Natur in ihrer eigenen Form und nutzen dazu Sprache und Zahlen, die unsere Wissenschaft hervorgebracht hat. Damit könnten die Grenzen von Natur und Kultur verschwimmen, der Zusammenhang von beidem deutlich werden.

Früher galt die klare Abgrenzung zwischen Natur und Kultur, geistiger Welt und natürlich gewachsener. Infolge der Industrialisierung haben sich immer mehr Menschen von der künstlichen Welt abgewandt und wollten zurück zur Natur, die sie als rein und gut betrachteten.

Diesen Virus hat schon Rousseau in die Welt gesetzt, der aber als einst gläubiger Mensch, der sich nie von seinen Wurzeln im Aberglauben geistig löste, die biblische Erzählung vom Paradies aufgriff und sich für ein Zurück zur Natur aussprach. Dem folgten leider nicht nur die französischen Revolutionäre und rechtfertigten damit teilweise auch ihren für viele kopflos endenden Terror sondern bis heute Millionen Menschen, die bedenkenlos die Natur idealisieren, ohne zu merken wie unmenschlich ihr Traum vom Paradies eigentlich ist, den Kant in seiner Schrift zum ewigen Frieden so wunderbar widerlegt.

Erst die Kultur machte den Menschen menschlich, brachte eine Zivilisation hervor, die zwar auch viele ökologische Nachteile mit sich bringt, aber darum nicht in ihrer Wirkung für eine unmenschliche Natur negiert werden sollte, weil so nie ein Fortschritt in der Kultur geistig erreicht werden kann. Doch ist dieses Denken tief verwurzelt in vielen Menschen, die in der Zivilisation leben und sich bei kurzen Ausflügen an der Natur als bloße Beobachter erfreuen, ohne je in ihr leben zu wollen oder zu können, deren natürliche Kriterien der Auslese für sich zu akzeptieren. Wie unkultiviert und unzivilisiert wäre es, die Gefahren des Corona-Virus zu ignorieren und den Tod hunderttausender alter und kranker Menschen zu riskieren, was bis auf wenige Covidioten auch die Mehrheit eingesehen hat, dennoch werden viele eine Impfung ignorieren wollen, die Schutz bringen könnte, weil sie meinen, die künstliche Erzeugung körpereigener Antikörper, welche die Natur imitiert, sei unnatürlich und da hilft auch keine Vernunft, weil der Glaube stärker als die Wissenschaft ist, was aber eben auch Teil unserer geistigen Kultur ist, so schädlich sie hier wirkt.

Doch der alte Gegensatz zwischen Geisteswissenschaft und Naturwissenschaft, die von sich meinte, sich nur mit de, was ist, zu beschäftigen, könnte mit künstlicher Befruchtung, Klonen und Schöpfung von Leben durch andere gentechnische Methoden erledigt sein, wenn die Naturwissenschaft begriffe, dass nur die Nutzung alter Kulturtechniken sie dazu befähigt, zu beschreiben und zu erkennen, was Leben ausmacht und entstehen lässt, der Einfluss wechselseitig ist.

Der große Plan von der Weltformel, die am besten und denklogisch gleich das ganze Universum erfasst, aber, seltsam genug, trotz immer höherer Komplexität, nie die Liebe beschreiben konnte, dürfte an dieser überholten Trennung immer gescheitert sein, weil Mathematiker in schlichten Formeln dachten und Philosophen, Theologen und sonstige Geisteswissenschaftler, die Welt in Worten beschrieben. Beide überzeugt, alles zu erfassen, sahen im Wust der Komplexität nicht mehr, was ihnen dabei entscheidend immer fehlte, der Zusammenhang, der Sein erst ausmacht und alles erfasst.

Die Formel genügt so wenig, wie Verse allein je zum Beweis taugten, auch wenn sie so klug waren, wie Lukrez de rerum, Über die Dinge der Natur, was sogar Physiker wie Einstein noch als gültige und geniale Beschreibung der Welt ansahen, auch wenn es da schon 2000 Jahre alt war, weil er in Zusammenhängen dachte, wie schon Epikur vor ihm und es menschlich tat.

Leugne für gewöhnlich die Existenz einer Seele, als religiöses Subjekt, das nur aus dem Glauben stammt und keine materielle Grundlage hat, viele Menschen dazu verführt, diesem eine eigene unsterbliche Existenz zuzuschreiben. Als Begriff für die unfassbare Komplexität, die unser Sein bestimmt , könnte es aber tauglich sein. Weil unsere Entscheidungen nicht allein vom neuronalen Netzwerk in unserem Hirn getroffen werden, sondern daran auch die Hormone teilnehmen und alle anderen Botenstoffe und Teile aus denen unser Wesen besteht und wir noch dazu inzwischen feststellen, dass Natur auch in sich lebt, also auch der genetische Code jeder Zelle noch durch äußere Einflüsse verändert werden kann, von dem wir noch sehr wenig wissen, auch wenn diese Seele natürlich sterblich wäre wie alle Natur vergänglich ist.

Bisher wurde zwischen Modifikation und Mutation unterschieden, um innere und äußere Einflüsse voneinander abzugrenzen. Doch vermutlich ist dieses eigentlich schlicht dialektische Modell zu eng und greift zu kurz. Auch Mutationen durch äußere Einflüsse sind denkbar und nachweisbar, in der Gentechnik das täglich Brot. Wie stark Erziehung, Prägung, Leidenschaft sich auch auf die Struktur der Zellen auswirken, ob und wie sie das Genom beeinflussen, wissen wir noch nicht. Manche uns unerklärlich scheinende Techniken indischer Yogi würden damit im Zusammenhang verständlicher, ohne damit das ganze sogleich begreifen zu können.

Auch der Begriff von Familie hat sich durch die neuen Techniken verändert. Wenn ich mir, gedacht er wäre bald möglich, einen Klon meiner selbst als Ersatzteillager schaffen würde, das so mein Überleben sichern könnte, verginge ich mich im Falle der Nutzung wohl strafbar an meinem nächsten Verwandten. Bin ich mit den schon bald aus eigenen Zellen züchtbaren Organen nicht auch verwandt, frage ich mich und überlege, wie und ob solche möglicherweise lebensrettenden Eingriffe begrenzt werden dürfen und müssen. Wie ist die Verwandtschaft mit einer künstlich befruchteten Eizelle, die im Reagenzglas heranwächst oder mit den Kindern homosexueller Paare, die sich bisher das eine oder andere noch leihen müssen, überlege ich und wie könnten beide Elternteile eines schwulen Paares mit ihrem gemeinsamen Kind verwandt sein, was juristisch schon für verheiratete Paare angenommen wird aber nach der Natur eine Konstruktion ist, weil wir es gewohnt sind Verwandtschaft so zu definieren, was aber nicht zwingend ist.

Unser Begriff von Verwandtschaft ist von einem patrilinearen Denken von Nähe des eigenen Blutes bestimmt. Dies bestimmt auch unser Strafrecht, was eigentlich willkürliche Entscheidungen über zulässige und unzulässige Liebe damit trifft. Wer etwa seine Schwester oder einen Abkömmling liebt, darf diesen nicht zum Partner wählen, ohne eine Straftat zu begehen, egal wie echt und aufrecht das Gefühl beider Seiten ist, weil unser Verständnis von Recht und Unrecht noch durch kirchliche Normen geprägt ist, die stärker sind als alle Vernunft und so zu Strafverfahren führen, die absurde Ergebnisse haben können, in denen sich der Staat heute noch anmaßen muss über die Zulässigkeit einer Liebe und ihren Vollzug zu entscheiden.

Die noch angeführte Behauptung, dies diene der Vermeidung von Erbkrankheiten und dafür als berühmte Beispiele, das Habsburger Kinn oder die Bluterkrankheit in den Häusern Romanow oder Valois anführt, könnte völlig falsch liegen. Es mag Gründe geben, warum eine Neukombination des genetischen Codes günstig und besser ist. Bisher wissen wir davon zu wenig das bestehende Strafrecht bestehen zu lassen, Einschränkungen von Freiheit und sogar Würde, sofern es die Liebe verböte, für etwas ungefähres zuzulassen. Genug wissen wir aber längst, mögliche Krankheiten zu erkennen und zu vermeiden. Ein Grund für Strafe als die moralische Anmaßung ist nicht erkennbar.

Aber all dies resultiert eben auch aus dem alten Verhältnis von Natur und Kultur, das als Gegensatzpaar gesehen wird und was infolge vieles aus dem Zusammenhang reißt. Sich anhand der Methoden der Gentechnik, die notwendig alte Kulturtechniken nutzt, klarzumachen, dass beides in einem unauflösbaren Zusammenhang steht und wir das Ganze nur als solches verstehen können, eines das andere beeinflusst und alles in Zusammenhang miteinander steht, könnte helfen, die Komplexität zu begreifen und gerade deshalb mit ihr achtsam und vorsichtig umzugehen.

Es ist großartig, wenn Gentechnik uns helfen kann, Krankheiten zu heilen, Leben zu retten, das Überleben von Millionen Menschen etwa in Dürregebieten zu sichern und anderes mehr. Dagegen ist nichts zu sagen, doch sich bei allem bewusst zu sein, dass wir nur kleine Zauberlehrlinge sind, die nur einen winzigen Teil der Formeln und Zusammenhänge kennen und so auch nicht alle Folgen ihres Handelns absehen können, dürfte helfen, mit unserem Wissen achtsam und vorsichtig umzugehen.

Ein zurück zur Natur als reine Lehre und eine generelle Verbannung aller Gentechnik scheint mir so unsinnig wie ihre bedenkenlose Nutzung, solange wir so wenig über die Folgen unseres Handelns wissen. Es gibt da keine klare und einfache Antwort. Der Prozess der Erkenntnis wird weitergehen. Wir müssen aus Fehlern lernen ,aber können zumindest versuchen, die Folgen so wenig gravierend wie möglich zu halten, nichts zu tun, was wir nicht mehr beherrschen können, was sicher in den nächsten Jahrzehnten eine ständige Gratwanderung wird, von der wir noch nicht wissen können, wohin sie führt.

Es genügt nicht die einfache Kenntnis der Natur nach aktuellem Wissensstand, um eine gute Lösung zu finden, sondern es wird immer wieder neue Kompromisse brauchen, die sich an den aktuellen Bedingungen orientieren, die Gesellschaft auf dem Weg mitzunehmen. Es ist Zeichen einer guten, gewachsenen politischen Kultur, solche Prozesse zu durchlaufen und gemeinsam Lösungen zu suchen. Wir brauchen keine starken Führer sondern kluge Verhandler, die Lösungen und Kompromisse suchen, den komplexen Bedürfnissen der Welt gerecht zu werden. Hier müssen Kultur und Natur zusammenspielen, eine taugliche Lösung zu finden, die es nicht mit einer Sicht und einfach gibt, sondern die das Produkt eines langen diskursiven Weges sein wird und das ist vermutlich die Formel, die unsere Welt gerade dringender braucht als alles andere. Suchen wir Wege und Kompromisse auf dem Weg zu zeitweise gültiger Erkenntnis. Die Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners, es gibt höchstens gerade noch nicht widerlegbares Wissen, lernen wir damit umzugehen und vereinen Kultur und Natur so konstruktiv, eine ist Teil des anderen und umgekehrt.

jens tuengerthal 4.9.20

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