Am Pfingstmontag ein wenig in Hettches Pfaueninsel mit mäßiger Begeisterung gelesen, dafür mit umso größerer Freude einen Text von Joachim Fest in Bürgerlichkeit als Lebensform gefolgt, der unter dem Titel: Die verlorene Kunst - Geschichtsschreibung als Wissenschaft und Literatur, Betrachtungen über Herbert Lüthy als Historiker und Autor anstellt, viel mehr aber noch in die Kunst und Bedeutung des Schreibens von Geschichte eintaucht. Diese Gedanken über die Bedeutung der Sprache bei der Erzählung der Geschichte und der großen Rolle dieser für die Gestaltung der Zukunft wie der Wahrnehmung der Gegenwart, machen es zu einem gerade jetzt, während die Demokratie durch das ungute Wirken zahlreicher Populisten östlich wie westlich Europas, wie teilweise auch mitten in diesem, von Ungarn über Polen bis Britannien und die von Russland aus geführte Propagandaschlacht gegen den Westen, so wichtig einen genauen Blick auf unsere Wahrnehmung zu werfen und worauf es für ein möglichst klares Bild der Geschichte ankommt, ob es dieses gibt.
Was ist Geschichtsschreibung heute und welche Bedeutung kommt ihr in rasenden Medien zu, in denen sich Schlagzeile über Schlagzeile erhebt, eine die andere, des Geschäftes wegen noch übertreffen will?
Wo steht diese langsame und sorgsame Wissenschaft, welche alte Quellen exakt erforschen muss, will sie sichere Aussagen machen, in einer Zeit dar, in der Präsidenten über soziale Netzwerke kommunizieren und diese zensieren wollen, wenn sie nicht mehr ihrer Meinung entsprechen?
Wie erdrückend ist die Beschäftigung mit der Geschichte des 20. Jahrhunderts und seiner Schrecken, fragen sich viele, die sich gerne sonst mit Geschichte beschäftigen- Auch ich selbst wich nach der Schulzeit diesem Thema gerne aus, soweit es nicht für Recherchen des eigenen Schreibens erforderlich war. Der Holocaust und die entsetzlichen Auswirkungen der beiden Weltkriege in dessen ersten auch mein Urgroßvater vor Verdun damals fiel, wie es euphemistisch die Gemetzel umschreibend noch immer heißt, wenn einer erfolgreich im Krieg umgebracht wurde, sind kein Stoff der begeistert und Träume für morgen formt, sondern vielmehr einer, der abschreckt und das Grauen über die Abgründe des menschlichen Wesens lehrt.
Dennoch bleibt eine Faszination auch bei diesem Thema, was die Abgründe unseres Seins offenbart und Fest, der große Hitler Biograph, berichtet, wie sein Vater ihm noch davon abriet, sich mit Hitler zu beschäftigen, um diesem Kerl nicht noch mehr Gewicht zu geben, obwohl er selbst als Angehöriger des demokratischen Reichbanners Schwarz Rot Gold, die in der Weimarer Republik parteiübergreifend die Demokratie verteidigen wollten, zu den Gegnern und Verfolgten des Regimes gehörte. Zwar gab es in dieser Generation eine große Scham über das, was geschehen war aber auch das Bedürfnis, diese zu überwinden, die Jahre der Diktatur hinter sich zu lassen.
So erlebte meine Elterngeneration noch die Auseinandersetzung mit ihren Eltern eher als Widerstand und Protest gegen das große Schweigen, der in der Bewegung von 68 seinen Ausdruck fand, die mehr Verantwortung in der Auseinandersetzung einforderte, auf die mit Schweigen und Empörung über andere Provokationen reagiert wurde, was sich gegenseitig bis in die siebziger Jahre hinein noch potenzierte, ohne eine wirkliche Auseinandersetzung je zu erreichen. Damals wurde das Schweigen groß geschrieben, auch ich erlebte noch in meiner Kindheit Worte der Großeltern, die eher zu erklären und rechtfertigen versuchten, was geschah, dass ja nicht alles schlecht war und nach der großen Wirtschaftskrise und der vielen Gewalt auf den Straßen endlich einer kam, der aufräumte und für Ordnung sorgte, was zunächst den Zuspruch vieler Bürger fand, denen die Gefahren des Populismus und die Folgen des Faschismus nicht klar waren, es als deutsche Folklore abtaten.
Das wieder aufgeräumte und stolze Land, das nach der Niederlage von 1918 in konservativen und rechten Kreisen gern über die Dolchstoßlegende schwadronierte, in dem es in bürgerlichen Kreisen noch normal war, deutschnational zu denken, wie meine Großmutter erzählte, die stolz auf ihren Schülerstreich zur Maifeier war, bei dem sie am Bremer Kippenberg die Fahnen vom aktuellen schwarzrotgold der Weimarer Republik in schwarzweißrot der Kaiserzeit austauschte, was heute eher auf eine undemokratische, staatsfeindliche Gesinnung schließen ließe, die ihr fern lag, so politisch war sie nicht, sie sah sich als gute bürgerliche aus konservativer alter Familie, kaisertreu eben und mit Hindenburgs als Nachbarn in Hannover aufgewachsen und damit wohl eher in der Mitte der Gesellschaft als am rechten radikalen Rand, wohin eine solche Aktion heute führte.
Habe als Kind noch über diese Anekdoten gelacht, die Teil der Familienhistorie waren, die ich heute kritischer sehe, weil sie offenbaren, wie ein Teil der Elite in der neuen Demokratie nicht angekommen war und das Spiel der Auflehnung lieber mitspielte, stolz darauf war. An diesen irgendwie Stolz knüpfte Hitler mit seinen Reden an, die Themen wie Nationalgefühl, Blut und Boden, Ehre und Volksgemeinschaft auf schlichte Art variierten. Fest beschreibt in seiner großen Hitler Biografie von 1973 auf den Spuren von Lüthy, der für ihn geistiger Leitfaden war, weil er den offenen, kritischen Blick auf die Geschichte hatte, sich gegen den Totalitarismus von links wie rechts wendete, wie dieser schlichte Versager, der nur ein glänzender Demagoge war, der in unsicheren Zeiten den Ton traf, um damit viele mitzureißen, die sich begeistern wollten, statt sich als Verlierer und Versager in Armut zu schämen, es schaffte in der Politik Bedeutung zu erlangen, die weder in seiner Persönlichkeit, noch seiner Erscheinung vernünftige Gründe fand. Wer verstehen will, warum so etwas funktioniert, wie schlichte Geister mit simpler Demagogie in Führungspositionen kommen, was so viele Menschen ihnen folgen lässt, sollte genau auf die Geschichte schauen, um dies für die Zukunft zu verhindern.
Wie können wir den Erfolg der Demagogen verhindern, was ist der richtige Weg dazu?
Fest beendet den Text über Lüthy und seine besondere Rolle, der 2006 in der Neuen Zürcher erstmals erschien mit einer Parabel über die Blinden eines indischen Dorfes, die von Buddha zusammengerufen wurden, um einen Elefanten zu beschreiben. Jeder beschrieb das große Tier, dem was er fühlen konnte entsprechend, wer an den Beinen stand, meinte Elefanten seien große Säulen, wer den Rücken befühlte, beschrieb das Tier als einen Hügel, die an den Ohren meinten, Kornschaufeln zu sehen, der am Rüssel war überzeugt das Tier gliche einem Schlauch, hätte eher die Gestalt einer riesigen Schlange.
Jeder hatte von seinem Standpunkt aus völlig recht, begriff aber nicht den Zusammenhang, weil der Blick sich nur auf ein Detail konzentrierte, vergaß, was das Ganze erst ausmacht, genau das aber macht nach Lüthy und Fest den guten Historiker aus, der den Überblick behält und den Zusammenhang erkennt, statt sich nur auf ein Detail zu konzentrieren, was den Blick trüben kann und genau dies zu sagen, hielt Fest für eine der wichtigen Aufgaben der Zukunft. Erst im Zusammenhang wird die Geschichte klar und durchsichtig, die Lehren aus ihr verständlich.
Dieser Punkt ist es, der mich begeistert hat, weil er zeigt, worauf es im Kern der Beschäftigung mit Geschichte ankommt. Natürlich ist es in Studien wichtig, die Detailarbeit mit Quellen zu beherrschen, wie es Lüthy mit seinem großen Essay über Frankreich und warum dort die Uhren anders gingen bewies. Der kluge Schweizer, der eine der ersten modernen Übersetzungen Montaignes schuf, hat genau diesen Punkt beherrscht, den im politischen Kampf um Detailfragen auch unter dem Einfluss verschiedener Lobbyisten, viele gerne detailversessen vergessen.
Geschichte wird erst aus den großen Zusammenhängen verständlich, wenn ich die handelnden Personen einordnen und ihre Taten verstehen kann. Dazu gehören auch die familiären wie sozialen Zusammenhänge, die eine moralische Haltung erklären und in den nötigen Kontext stellen, erst so kann ich Geschichte verstehen., warum der Blick in und auf die Familie der Anfang eines wirklichen Verständnisses für Geschichte ist. Zu den eigenen Wurzeln gehen, liegt uns relativ nahe, aus diesen ergibt sich der Zusammenhang, weil es sich mehr vom aktuellen Horizont und seinen Wertungen löst, soweit das überhaupt möglich ist.
Habe bei meinen Großeltern eine starke Wandlung in ihrer Sicht und der Darstellung ihrer Rolle in der Zeit des sogenannten Dritten Reiches erlebt. Hatten sie ihren Kindern, also meiner Elterngeneration gegenüber, noch geschwiegen, sich gegen alle Vorwürfe gewehrt, waren ausgewichen mit dem Hinweis auf die Notwendigkeit des Neuanfangs, wie ihn auch Adenauer so gern zelebrierte, stellten sie sich mir gegenüber langsam anders dar. Diese Wandlung vollzog sich in mehreren Schritten bei der väterlichen wie der mütterlichen Seite.
Gegenüber mir als Enkel war der Stolz nicht mehr so stark, sie versuchten eher die Situation zu erklären, wie schwer die Zeiten waren, warum sie Anfangs auf einen guten Weg unter Hitler noch hofften, was alles Gutes auch begann. Von der Ruhe auf den Straßen bis zu den plötzlich staatlich beschäftigten vielen Arbeitslosen, dem plötzlichen Stolz auf ihr Vaterland, dass wie etwa bei Olympia 1936 wieder jemand war. Dabei wurde immer auch vor der zugleich Gefahr von den Kommunisten gewarnt, die als mindestens ebenso große, wenn nicht sogar gefährlichere Bedrohung für Freiheit und Wohlstand gesehen wurde.
Fragte ich bei meinem Großvater väterlicherseits nach, der Jura und Volkswirtschaft studiert hatte, ob er an das Programm glaubte, flüchtete er sich zuerst mit seiner Frau zusammen in allgemeine Floskeln, gab aber im Detail zu, schon gemerkt zu haben, dass es so ökonomisch eigentlich nicht funktionieren konnte, aber es wären mit der Rentenmark und nach der großen Krise von 1929 auch unsichere Zeiten gewesen, in denen sich an jede Perspektive geklammert worden wäre, wobei er nie Parteimitglied gewesen wäre und wusste warum,
Der antifaschistische Schutzwall, wie das totalitäre Regime der DDR seine Grenze zum freien Westen nannte, galt als Rechtfertigung doch besser nicht zu streng mit den vielen Mitläufern zu sein, weil die Bedrohung durch die brutalen Russen doch mindestens ebenso groß wäre. Dabei erzählten beide Großmütter von der Angst der Frauen vor den vergewaltigenden russischen Horden, den wilden Kosaken aus dem fernen Asien, die sich wie Tiere benommen hätten, ohne dass es eine von beiden erlebt hätte, aber die Legende war Teil des Wiederaufbaus im Westen nach 1945, diente wohl auch der Rechtfertigung, da wer sich so geopfert hatte, nicht mehr für das vorige Wegsehen oder Mitmachen rechtfertigen musste, die bösen Russen, die sich an den deutschen Frauen rächen wollten für die Taten der Reichswehr im Osten, die aber, nach anfänglicher Erzählung der Großväter noch sauber geblieben wäre, da die Verbrechen wie die Konzentrationslager von der SS begangen wurden, keiner etwas davon wusste. Manche Widersprüche sehen wir erst mit viel Abstand, weil die Neigung alles nett erzählte, nett zu finden, größer ist als das Bedürfnis nach Aufklärung und historischer Wahrheit, zumindest der Vermeidung klarer Lügen, was immer die Wahrheit auch sein soll.
Die Lüge von der sauberen Reichswehr hat Reemtsma mit seiner Wehrmacht Ausstellung, die in den Neunzigern durch Deutschland wanderte widerlegt. Die Reichswehr war nie sauber, es konnte jeder wissen, was geschah, zumindest wer wollte und hin sah.. Zugleich änderte sich seit der Weizsäcker Rede von 1985 die Bewertung der Niederlage als Befreiung auch im konservativ bürgerlichen Lager.
Bei einem der Besuche bei meinen Großeltern in Bremen gastierte die Ausstellung im Rathaus, sie rieten mir vom Besuch ab, da dies doch eher ein linkes verzerrtes Bild wäre, was die Geschichte verfälschen würde, viele unschuldige Soldaten und Offizieren zu Tätern machte, die doch nur, wie es eine Frage der Ehre wäre, ihr Vaterland verteidigen wollten. Vermied damals den Konflikt mit den Großeltern noch, schaute mir die Ausstellung an anderen Orten an, weil es mir auch nicht passte, dass hier ein pauschaler Vorwurf erhoben werden sollte, familiärer Frieden persönlich näher liegt als ein gerechtes Bild der Welt.
Zwar lag mir der Schlußstrich fern, was ich auch von den Großeltern nie hörte, dabei wurde sich eher indirekt ausgedrückt, dass Deutschland ja seine Verpflichtungen aus dem Krieg sehr großzügig nachkomme, womit dies kein Thema sein müsse, aber in der Wirkung war der noch aus der Nachkriegszeit stammende Geist, der vom Wiederaufbau als hungernde oder vergewaltigte Opfer des Krieges geprägt war, auch wenn es der mütterlichen Großmutter als Übersetzerin für die Engländer noch relativ gut ging, stärker als die Schuldgefühle für das, was in deutschem Namen geschah. Dafür wurde gern singulär Hitler verantwortlich gemacht, der gemeine Deutsche hätte ja nichts gewusst.
Lange erzählte meine Großmutter mütterlicherseits etwa die Geschichte, wie die Engländer sie, bevor ihr Dienst für die Truppe begann, in ein Konzentrationslager führten und welcher Schock das für sie gewesen wäre, weil sie ja nichts geahnt hätten von dieser vor den gutgläubigen Deutschen völlig verborgenen Brutalität. Die Großväter hielten sich da eher zurück. Es galt die Formel, sie hätten schon wissen können, wenn sie nachgeforscht hätten, aber das tat ja keiner, weil alle Angst hatten, was ihnen drohte, würden sie für Systemgegner gehalten, weil die Angst vor dem Lager, von denen keiner etwas gewusst haben will, größer war als Neugier und Gerechtigkeitssinn, wie ich heute ergänzen würde.
Mit dieser Art der Betrachtung und ihren Widersprüchen, bin ich groß geworden. Zugleich aber gab es auch andere Geschichten, wie die der Verhaftung meines Urgroßvaters in Bremen, der angeblich seinen jüdischen Bankier auf der Straße gegrüßt hatte, sogar den Hut zog, nicht die Straßenseite gewechselt hatte also für bürgerlich Höflichkeit im Gefängnis landete, aus dem ihn die Arbeiter seiner Fabrik angeblich rausgebrüllt haben, nach anderen Gerüchten ein Wort Görings, der ihn noch als ersten Ingenieur Richthofens in dessen Staffel gekannt habe, was weniger ehrenvoll natürlich klingt.. Diese Geschichte wurde von der mütterlichen Großmutter schon früh mit Stolz erzählt, obwohl die angeblich auch guten Taten der Nazis noch gerechtfertigt wurden, für Verständnis zumindest geworben wurde. Hier wurden eigentlich schon innere Widersprüche deutlich, die ein typisches Produkt der verdrängten Verantwortung sind wie Aleida Assmann so treffend in Der europäische Traum schreibt, dahingestellt ob die Beschäftigung mit Problemen diese eher verstetigt oder aufhebt.
Ganz langsam nach 1985 wandelte sich das Denken der älteren Generation. Sie übernahmen die Verantwortung, für das, was geschehen war zwar nicht sofort aber sie bemühten sich immer mehr den eigenen Abstand zum Regime zu betonen. Sahen das Ende des Krieges mehr als Befreiung denn als Niederlage, wie Weizsäcker es erstmals formuliert hatte. Plötzlich tauchten Geschichten auf, nach der mein Großvater etwa den Tisch mit deutlicher Unwilensbekundung verlassen hätte, nachdem ein Bekannter dort die Taten in der Nacht vom 9. November 1938, der lange Kristallnacht genannten Reichspogromnacht, gelobt hatte, was ein gefährliches und mutiges Verhalten gewesen wäre. Dazu war mein Großvater relativ schweigsam, meinte nur, es wäre eine Frage des Anstands gewesen und dieser Kerl sei ja auch ein unangenehmer Zeitgenosse gewesen. Dies stille hanseatische Heldentum, was nicht viel von sich redete, tat, was moralisch geboten war, ansonsten lieber schwieg, spielte eine Rolle auch in meiner Betrachtung der Geschichte und ihrer eigentlich offenbaren Widersprüche, denen ich nicht nachging, weil ich den Großvater lieber mit Respekt als stillen Helden betrachtete, denn als meist feigen Mitläufer, was wahrscheinlicher wäre, wozu ich aber zu wenig weiß, kompetent urteilen zu können und mit dem Hauch des Halbwissens mich dann lieber auf die Heldenseite lehnte, zumal ich im Studium verschiedene Nachfahren der Helden des Widerstandes kennenlernte, dabei lieber eine Zugehörigkeit fühlte, als zu offenbaren, was wirklich war.
Vielleicht ist das heutige Bedürfnis lieber einen Helden des Widerstandes als Großvater zu haben, auch wenn das wohl keiner wirklich war, zumindest keinen Täter und keinen nur Mitläufer, wichtiger für die Zukunft als die tatsächlichen historischen Ereignisse, weil die Umbesetzung der Werte eine deutliche Sprache spricht, die in eine Gesellschaft führt, in der Widerstand gegen Totalitarismus als Heldentum gesehen wird, Identifikation auch in der folgenden Generation lieber mit den Opfern oder zumindest Gegnern des Regimes gesucht wird, um eine positive familiäre Geschichte zu haben.
Der väterliche Großvater, der zwar nie wieder nach dem Krieg wohl ein inniges Verhältnis zu seinem Bruder aufbaute, der für die Nazi in nicht ganz unwichtiger Position in seiner Heimat Wilhelmshaven gearbeitet hatte, aber kurz vor Kriegsende wieder als Pfarrer Unterschlupf bei seiner Kirche fand, die ihn noch viele Jahre als Jugendleiter beschäftigte, sich aber gerne damit lautstark brüstete, dass er durch seine guten Kontakte nach Berlin seinen Bruder nach dieser Sache in Belgien gerettet hätte, was mein Großvater weit von sich wies, der nach dem 20. Juli als sich sein Name auf den Listen Goerdelers fand, angeklagt wurde allerdings wegen einer angeblichen Unterschlagung, die er nach eigener Aussage nie begangen hätte, sagte, er sei kein Nazi gewesen, aber als Vater von vier Kindern auch nicht in den Widerstand gegangen, obwohl es wohl gute Kontakte über Kameraden aus der Kadettenzeit gab.
Trotz mehrfachem Nachhaken, habe ich dabei nie mehr erfahren können als die letzte Version, dass sein Kadettenfreund Bülow, auf dessen Gut in Güstrow sich die Großeltern einst kennenlernten, seinen Namen als vertrauenswürdigen Beamten weitergegeben habe, der eher auf Seiten des Widerstands stünde, er aber sonst nichts gewusst hätte, was er doch auch der Großmutter nie hätte antun können. Allerdings saß zum Zeitpunkt der Erzählung, etwa ein halbes Jahr vor seinem Tod, die Großmutter mit am Tisch, der er immer geschworen hatte, nichts mit dem Widerstand zu tun zu haben, weil er doch nicht sein Leben riskieren sollte.
Alleine habe ich ihn dazu nicht mehr gesprochen, allerdings scheint mir aus heutiger Sicht und im Wissen darum, wie geheim Widerständler ihre Tätigkeit lange gehalten haben, aus Gesprächen mit Witwen und Opfern der Zeit, die Aussage mindestens fragwürdig, vor allem im Angesicht der Tatsache, dass ihn nach dem Krieg ein ehemaliger belgischer Ressistancekämpfer als Zeuge bei der Aufhebung des Betrugsverfahrens verteidigte, über den ich wiederum von einem uralten Straßburger Freund, der selbst mit der Resistance das Elsass wieder befreit hatte, nach voriger langer Odyssee durch Russland und Afrika, die hier aber kein Thema sein soll, erfuhr, dass er ein führender Kopf des dortigen Widerstands war, wenn er für meinen Großvater aussage, ich davon ausgehen könne, dass er mehr wusste, als er zu Lebzeiten sagte.
Dieser Großvater war zwar als ehemaliger kaiserlicher Kadett ein Konservativer gewesen aber sein Studium im Paris der 20er spricht schon für einen weiteren Blick, gelegentlich äußerte sich auch so, dass die besondere Betonung, dass er ja schon seiner Frau wegen, sich nie dem Widerstand angeschlossen hätte, nicht mehr ganz glaubwürdig im Schatten seines sonstigen Lebens wirkte, doch schien ihm bis zu seinem Tod 1991 wichtiger in Frieden mit seiner Frau zu leben, keine Lüge zu offenbaren, als sich vor dem Enkel als Held darzustellen, was ja nach der Rede von Weizsäcker zur Befreiung wie infolge des langjährigen Wirkens von Marion Gräfin Dönhoff als Publizistin langsam möglich und normal geworden war.
Ob meinem Großvater dabei die preußische Bescheidenheit wichtiger war als der Glanz eines späten Heldentums vor seinem Enkel, der ihn dazu sehr nachhaltig befragte, weil er die Geschichten von seinen alten Straßburger Freunden aus der Zeit des Widerstandes gehört hatte oder schlicht der eheliche Friede, weiß ich nicht zu sagen, alles spräche nicht gegen eine gewisse Altersweisheit, der Frieden mit seiner Frau halten ließ, was ein alles überragender Punkt gewesen sein könnte, denn nicht umsonst fürchtet mancher, der bei einer Lüge erwischt wurde, dass er auch anderer verdächtigt werden könnte und insofern handelte er sehr vorausschauend wohl.
Während die väterliche Großmutter bei der Befragungen zu Leben und Alltag in der NS-Zeit auch wiederholt betonte, dass ja auch manches erstmal besser geworden sei, hielt sich der Großvater, der gerne das Wort sonst immer führte und das letzte noch lieber hatte, erstaunlich zurück, deutete nur einmal an, es war die Zeit der Wehrmachtsausstellung, dass es solche und solche gegeben hätte, blieb also nicht bei der Behauptung der sauberen Wehrmacht, was ein echter Paradigmenwechsel für einen sonst stolzen Lichterfelder Kadetten war, der lange auch der NATO als Diplomat diente.
Auffällig dagegen wandelte sich bei der Bremer Großmutter die Betrachtung der Zeit und der Rolle der Familie in ihr. Zum einen wurde die Geschichte vom großväterlichen Protest in der Nacht des 9. November nach dessen Tod immer neu ausgeschmückt, zum anderen erzählte sie irgendwann, sie sei zur Ehrung ihrer längst verstorbenen Schwiegereltern in Yad Vashem ins Bremer Rathaus eingeladen worden, die angeblich ein jüdisches Ehepaar über den Krieg versteckt hätten. Habe zu den Details dieser schönen Familiengeschichte nicht weiter nachgeforscht, finde es aber sehr spannend, wie sich das Bewusstsein gewandelt hat im Laufe der Zeit.
Von der anfänglichen Abwiegelung, sie hätten ja nichts gewusst, über die dann Verharmlosung und Relativierung, wie die Inszenierung des eigenen Vaters als zumindest etwas Widerständigen, weil er seinen Bankier gegrüßt hatte, zum Heldentum des Gatten und der Schwiegereltern im aktiven Widerstand, nahm meine Großmutter noch mit über neunzig eine vollständige Änderung ihres Selbstverständnisses und ihrer Rolle vor, die zumindest ein indirektes Heldentum schuf, was den Widerstand als gut und richtig darstellte, damit konsequent gedacht die eigene vorherige Verharmlosung als falsch sehen musste.
Ob sie so weit dachte, kann ich nicht beurteilen, das Alter verleiht ja über das Gedächtnis auch manche Gnade der Betrachtung, die sich dem normalen Durchschnitt weniger erschließt, zumindest hat sich in ihrem moralischen Gewissen etwas entwickelt, was im hohen Alter noch die Rolle der Familie unter der Diktatur anders definierte als viele Jahrzehnte davor, wo wirtschaftlicher Erfolg und gesellschaftliche Anerkennung wichtiger waren.
Schwierig an diesen Berichten von Augenzeugen ist immer, dass sie aus ihrem Erleben nur erzählen, mit dem sie irgendwo an dem Elefanten standen, also selten mit Abstand über das Ganze berichten, noch als Beteiligte Zusammenhänge erkennen können. Auch die Motivation zur Darstellung der Ereignisse veränderte sich. So war es meiner bremischen Großmutter im Alter wichtig als politisch korrekt wahrgenommen zu werden, was einerseits eine Wandlung bedeutete, andererseits aber auch ihrem in vielem an ihre Rolle angepassten Verhalten entsprach, die sich zwar gerne etwas widerständig und wild gab, solange es im gesellschaftlich korrekten Rahmen blieb, der von einer Lady erwartet werden durfte.
Nachdem Marion Dönhoff mit ihren Büchern und den Geschichten des Widerstandes wie dem Einsatz für die deutsch-polnische Begegnungsstätte auf dem moltkeschen Gut Kreisau in Schlesien eine völlige Umwertung des Widerstandes geschaffen hatte - die nach dem Krieg noch teilweise als untreue Offiziere behandelt wurden, auf die weniger Verlass wäre, schien es gegen Ende des Lebens meiner Großmutter verlockender, dem Widerstand anzugehören und als Heldin am Rande gesehen zu werden.
Was immer nun historisch in beiden Familien wirklich war, hat sich doch die Darstellung und die Wahrnehmung innerhalb einer Generation beim größten Teil völlig gewandelt. Plötzlich war es ein Wert, als Held wahrgenommen zu werden, der irgendeine Nähe zum Widerstand hatte, die vor den eigenen Kindern, die mit Wut 1968 noch eine endlich Rechtfertigung forderten, völlig geleugnet worden war, denen sie jede Erklärung schuldig blieben, auch weil sie lieber verdrängten, um erfolgreich weiter zu funktionieren, alten Autoritätsidealen folgten, welche die folgende Generation dann gerne vollständig negierte.
Aber auch als Enkel bemerkte ich den Prozess der Veränderung bei der Darstellung der eigenen Rolle und der Betrachtung der eigenen Vergangenheit innerhalb zweier Jahrzehnte. Die erzählte Geschichte änderte sich damit für die Augenzeugen in relativ kurzer Zeit, wie wird sich dies erst in den folgenden Generation verändern, frage ich mich, wie etwa werden meine Enkel mich lesen und wie werden deren Kinder dies wiederum auslegen. Wann schreiben wir Geschichte und wann schreiben wir sie nur auf, liegt im Bericht schon der Wille zur Gestaltung und wohin führt dieser?
Die Geschichtsschreibung entwirft ein Bild ihrer Zeit, sie stützt sich dabei zuerst auf Augenzeugen und dann auf Dokumente und andere Quellen, die eine Aussage entsprechend unserem jeweiligen Horizont ermöglichen. Betrachte ich all die unterschiedlichen Wertungen, die durch eine den Zeitverhältnissen entsprechende aktuell politisch korrekte Sprache erreicht wird, die immer bestimmte Ausdrücke mehr oder weniger bestraft oder lobt, wird die relative Gültigkeit der Geschichtsschreibung deutlich.
Fest betonte noch wie Lüthy als exakter Historiker die Notwendigkeit genauer Quellenstudien, welche für glaubwürdige Ergebnisse unabdingbar sind, doch scheint mir auch nach eingehender und kritischer Betrachtung nur der nächsten familieninternen Quellen und ihrer Wandlung der Betrachtung sehr wichtig zwar die Geschichtsforschung als Bild der Zukunft möglichst exakt zu betreiben, aber zugleich auch sich immer bewusst zu bleiben, wie relativ stets unsere Wahrnehmung ist, um zu merken, was bleibt und was wieder verschwindet.
Der Genderdiskurs etwa, der manch seltsame Verwirrungen im Gebiet der Sprache erzeugte, sorgte für eine Veränderung im Bewusstsein der Wahrnehmung von Rollen. Folgende Generationen werden dadurch die Welt auch sprachlich anders wahrnehmen und ihre Sicht anders abbilden. So sehr ich mich auch als Historiker, der ich auch darum nicht bin, beispielsweise anstrenge, werde ich immer nur ein Bild meiner Sicht abliefern können, die durch vieles geprägt wurde, dessen ich mir seltenst vollständig bewusst bin, male also ein Bild der Zustände zu einer Zeit und liefere nie ein Foto ab. Sogar wo ich Fotografien habe, werden diese immer nur ein reflexiver Spiegel der Wirklichkeit sein, die ich wahrnehme, wie es meinem beschränkten Horizont entspricht.
Schaue ich irgendwelche Bilder früherer Geliebter an, staune ich gelegentlich über mich, was ich an diesen jemals fand oder diese an mir, weil nach dem Abkühlen der hormonellen Prägung die Wahrnehmung logisch eine andere ist.
Ist nun die ehemalige Geliebte zu der Zeit, in der sie mir als schönste der Welt erscheint, weil mein Gefühl es so will, objektiv schöner gewesen oder nur meine Wahrnehmung emotional getrübt?
Die Antwort kenne ich gut - Liebe verblendet und Gefühl macht noch die abstruseste Figur uns zur Schönheit, schaue dann subjektiv geprägt und entsprechend schön scheint mir, was ich liebe. Doch macht Liebe wirklich schön oder nie objektiv, gibt es objektive Schönheit oder ist, exakt betrachtet, jedes ästhetische Urteil immer auch subjektiv, weil der Goldene Schnitt etwa, zwar helfen kann aber die Summe der Einflüsse uns nie vollständig bewusst ist, wir nur einen Teil erfassen können, also auf das Gefühl als Maßstab unseres Urteils angewiesen sind und so könnte ich am Ende feststellen, dass es keine objektive Schönheit gibt, jedes Urteil vom Gefühl bestimmt wird und was diesem gut tut, womit wir uns also wohl fühlen, nicht schlecht für uns sein kann, auch wenn wir der Glaubwürdigkeit unserer geschmacklichen Urteilen gern den Anschein relativer Objektivität geben, dürfte diese eine absolute Illusion sein, finden wir dafür Bestätigung bei anderen, bedeutet dies nur, dass wir gelernt haben uns gut an Moden oder ähnliche moralisch fragwürdige Schwankungen anzupassen.
Wo wir durchschnittlich werden und uns also vom eigenen Empfinden entfernen, wird der Grad der Zustimmung zu unserem ästhetischen Urteil zunehmen, bekommt es den Anschein der Objektivität, warum vermutlich so viele Menschen sich inzwischen kosmetischen Operationen unterziehen ihre relative Durchschnittlichkeit zu erhöhen. Dies ist besonders stark bei denen, die behaupten einen eigenen Stil zu haben, der die Varianten der Mode noch tiefer im Empfinden spiegelt, was entsprechend graduell an Eigenständigkeit verliert, sie sind vermeintlich individuelle Spiegel des Zeitgeistes ohne eigene Standkraft.
Spannend wird es schließlich wo das ästhetische Urteil sich mit dem moralischen mischt, wie wir es etwa noch im vergangenen Jahrhundert mit der Diskussion von Rassemerkmalen und Verbrechervisagen oder ähnlich fragwürdigen Zuordnungen hatten. Diese absurde Diskussion endete für Millionen Menschen tödlich. So urteilen wir heute über solche Versuche moralisch klar und streng, weil sie nur Vorurteile schaffen, nicht dem Einzelnen gerecht werden.
Dennoch wenden wir in der Praxis auch zur Wiedererkennung ständig solche Muster an, damit unser Gehirn funktioniert, auch wenn wir diese aus guten Gründen moralisch verurteilen. Sind wir also noch ehrlich oder eher nie?
Welchen Wert haben moralische Verurteilungen, die dem widersprechen, was unser Gehirn tatsächlich macht, um Menschen wiederzuerkennen?
Das ganze System scheint relativ fragwürdig und wenig geeignet ein zuverlässiges, etwa dem kategorischen Imperativ entsprechendes Urteil zu liefern. Was ist dann ein historisches Urteil je wert, dass auf solch relativen Kriterien fußt, die logisch die Basis unserer Wahrnehmung sind?
So mag ich davon überzeugt sein, den ganzen Elefanten zu sehen, also den historischen Zusammenhang zu erkennen und weiß doch, wäre ich ehrlich und nicht nur ein gieriges kleines Würmchen, dass seine Leistung am Markt verkaufen muss, müsste ich gestehen, es gibt keine objektive Geschichtsschreibung, so wenig wie historische Wahrheiten, kann nur so gut wie möglich Geschichten schreiben, wie es etwa ein Herodot tat, um zumindest den ästhetischen Genuß zu bieten, wenn ich schon die Lüge vermeintlicher Exaktheit vorkaspere, um mich gut zu verkaufen, sollte es doch zumindest schön sein, dann bleibt bei der Lektüre der historischen Märchen zumindest der ästhetische Genuß übrig, was doch am Ende ein Wert wäre.
jens tuengerthal 2.6.20.
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