Samstag, 13. Juni 2020

Weltpuffliteratouren

“Ja ja mein Sohn und nun denke wieviele es heimlich für Geld thun, wieviele du einfach ansprechen und mitnehmen kannst, wieviele es aus bloßer Liebe und Geilheit thun, dann haste ne Ahnung von Berlin, wie es weint und lacht. Rede mal mit Ausländern. Für die ist Berlin der Weltpuff, na Deutschland überhaupt. Paris nischt mehr dagegen, ganz abgekommen,”
(aus Rudolf Borchardt, Weltpuff Berlin, S. 725)

Ein Titel,der schon aufmerksam macht, weil Sex immer geht und tatsächlich geht es auch immer wieder darum in Rudolf Borchardts Weltpuff Berlin, in dem ich nach längerer Pause heute mal wieder mit der ihm entsprechenden Leichtigkeit lachend las. Als drittes, nachdem ich zuerst wieder mit Adam Smith in Paris war und über die Entwicklung seiner ökonomischen Theorien reichlich theoretisch las, was für Ökonomen vermutlich viel interessanter als für Literaten ist, wie danach noch ein Kapitel von Joseph und seinen Brüdern über den erfolgreichen Betrug bei dem Jakob, also Josephs Vater, seinen Bruder Esau hinterging, der sich bei der Geburt schon unfein vordrängte und der kräftigere von beiden wurde, aber eben auch der weniger feine und bei der Mutter weniger beliebte, die das ganze inzenierte und Jakob zur zwischenzeitlichen Reise ins Zweistromland rät zur babylonischen Verwandtschaft, um dem jähen Zorn des Bruders zu entgehen, der sich, wie sie richtig vermutete, schon wieder beruhigen würde, wenn die ins Auge gefasste Hochzeit Esaus käme.

Es wurde natürlich wieder gevögelt im Weltpuff Berlin, das wird es ständig, auf jede nur denkbare Art und mit teilweise sportlichem Ehrgeiz des Ich-Erzählers, eines vierundzwanzigjährigen jungen Mannes aus guter bürgerlicher Berliner Familie, der vom Vater nach einem Skandal im Studium in Göttingen nach Hause beordert wurde und dort mit einer kleinen Kammer, die sonst als Telefonzimmer im Entré nur dient, als Quartier vorlieb nehmen muss, was ihn nicht hindert, nahezu jede Gelegenheit im Haus oder zu Studienzwecken unterwegs zum Vögeln zu nutzen und doch unterscheidet sich Borchardts Weltpuff, dessen Veröffentlichung der Sohn des Dichters nach dessen Wiederentdeckung 2012 im Marbacher Literaturarchiv noch verhindern wollte, sehr stark von sonstiger pornographischer Literatur auch der mit Anspruch eines Henry Miller, weil er ganz nebenbei ein feines Gesellschaftsbild seiner Zeit, ihrer Sitten und der eigentlichen Gefühle des Protagonisten liefert. Es geht viel um Sex und es lässt bewundern, wie viele Gelegenheiten der Erzähler mit seiner scheinbar unerschöpflichen Potenz zu nutzen weiß, auch wenn er sehr wohl fein unterscheidet, wo er seinen Samen fallen lässt und wo er es sich lieber spart, nur dem Wunsch der Damen nach Sex folgt, zu dem er scheinbar auch körperlich sehr gut ausgestattet eine besondere Begabung besitzt.

Das tausendseitige Manuskript war erst spät im Nachlass entdeckt worden, stammt wohl aus dem Jahr 1937 und weist einige so auch veröffentlichte Unvollständigkeiten auf, zeigt seine Brüche und ist doch ein großartige Bild des Berlins der Kaiserzeit. Ob es, wie Helmuth Kiesel vermutetete, als reaktionärer Schlag gegen den Feminismus zu sehen ist, mit dem der lange gute Freund und Bewunderer von Hugo von Hofmannsthal, sich gegen die leichten und käuflichen Frauen wendet, scheint eher fraglich, zu viel Sachkenntnis und stille Bewunderung für das Wunder Frau und das Glück ihrer Lust ist, aller fast nüchternen Sachlichlichkeit zum Trotz spürbar - da schreibt einer, der die Freude an der Lust kennt und weiß, was gemeinsame Freude daran heißt, der Frauen nicht einfach gebraucht, wie es zur Zeit der Handlung des Romans wie seiner Entstehung, fast vierzig Jahre vor der sexuellen Revolution, noch üblich war, sondern ein Genießer, der sich ein wenig über die Austauschbarkeit der Lust amüsiert aber ohne sich über die Frauen zu erheben, sondern auch dem Dienstmädchen im Elternhaus in ihrem Bereich Bewunderung entgegenbringt.

Vor allem aber ist Weltpuff, neben all dem austauschbaren und mal mehr mal weniger aufregenden Sex, der erledigt wird, eine ganz feine Liebesgeschichte,  die es mit Tucholskys Rheinsberg oder Gripsholm aufnehmen kann. Am deutlichsten wird dies in den Szenen mit seiner wohl großen Liebe, die ein wenig älter leider keine passende Partie für den noch Studenten sein kann, weil beide in den Umständen leben, in denen sie eben leben. Die Beschreibung dieser Sehnsucht und auch wie diese beiden Liebenden ihre Lust leben, die auch voller Leidenschaft en Detail natürlich geschildert wird, aber doch ganz anders als jene ist, die er irgendwo bei jeder passenden oder unpassenden Gelegenheit mit älteren oder jüngeren Damen oder Mädchen findet.

Borchardt, der in seiner Lyrik sehr sphärisch teilweise war und eine ungeheure klassische Bildung zeigte, ein eigene Welt entwarf, war, in Italien lange lebend, ein früher Bewunderer Mussolinis, dem er eine Ausgabe seines Werks über Dante bei einem Zusammentreffen 1933 verehrte. Der zeitweise Anhänger des Faschismus, der sehr mit George sympathisierte, wie übrigens Stauffenberg auch, der früh NSDAP-Mitglied war und den Kurs der Faschisten auch zuerst bewunderte, bevor er sich dem Widerstand anschloss, sein Leben riskierte und verlor für das gute Deutschland, wie seine letzten Worte lauteten, was auch an die Hermetik eines George erinnert, schrieb sein pornographischstes Werk bereits unter der Herrschaft der Nazis als Sohn einer jüdischen Familie. Rudolf Borchardt und seine Frau wurden im August 1944 von der SS in Italien verhaftet und nach Innsbruck transportiert, versteckten sich nach ihrer Freilassung noch in Tirol, wo er am 10. Januar 1945 verstarb.

Frauenfeindlich ist der Weltpuff Berlin nie, soweit ich ihn bisher las, auch wenn mancher Sex fast maschinell erledigt wird, um den Damen die gewünschte Befriedigung zu schenken, werden diese doch im Rahmen des möglichen und der Verhältnisse ihrer Zeit als selbständige Wesen beschrieben, die sich ihre Befriedigung suchen und der er, mit Freude an der Sache und einem gewissen natürlichen Talent dabei, gerne dient. Es gibt Damen, die er bewundert und verehrt, eine, die er wirklich liebt und viele mit denen er eben vögelt, weil es sich anbietet und beide Seiten ihren Spaß daran haben und das ist anders als ein Henry Miller, der im Opus Pistorum den Sex mit einem geilen Kind oder einer Hure danach, die er angewidert vom pädophilen Vater nach der Orgie mit dem Kind auf einem Bretterstapel hinter einen Bauzaun fickt, dass sie noch Wochen brauchen wird, bis sie sich alle Splitter aus ihrem Hintern gepult haben wird. Ob das hohe Kunst oder Pornographie bei Miller eher ist, mögen andere entscheiden und wie viel Verachtung dort aus manchen Zeilen tropft, wenn es mit Detailfreude an die Schilderung von Orgien auch der SM-Szene geht, auch die pädophile Erotik einer Lolita des genialen Nabokov, die nicht ohne Grund das Kultbuch der Pädo-Szene schon lange ist, scheint mir auch wenn weit weniger explizit pornographischer und gefährlicher als der Weltpuff, in dem der Sex häufig sportlich bis an die Grenzen des eben möglichen betrieben wird.

Es handeln dort Menschen, die ihrer Natur folgen und sich dabei an keine Schranken gebunden sehen aber immer mit Respekt und Achtung füreinander und das auch, wenn der Protagonist klare Klassenunterschiede auch beim Sex macht und eigentlich ohnehin nur die eine will, die er nicht haben kann, weil er als Student noch zu jung ist, sie eine andere Partie machen muss, auch wenn es so perfekt zu passen scheint, wie bei ihrem verliebt erotischen Ausflug im Cabrio nach Rheinsberg, eine kleine Hommage an Tucholsky aber auch ein natürliches Ausflugsziel für Berliner Paare, denn wo ließe sich romantischer lustwandeln als im Schloss und Garten von Kronprinz Friedrich, das er später seinem Bruder Heinrich vermachte, auch wenn dieser sich eher geistig als erotisch auslebte, was an einer frühen sächsischen Verführung und ihren pathologischen Folgen gelegen haben könnte, was hier aber kein Thema sein sollte.

Die natürliche Lust, die gemeinsam gesucht wird, bei jeder passenden oder auch mal unpassenden Gelegenheit ist bisher immer ein gemeinsamer sinnlicher Akt gewesen, der beide zur Befriedigung führt, zumindest die Damen meist glücklich erschöpft oder sogar bebend zurücklässt, was mir eher emanzipiert als antifeministisch scheint, auch wenn manches vielleicht aus heutiger Sicht so beurteilt werden könnte, sollte dieses Romanfragment aus seiner Zeit heraus gelesen werden und die darin zu findende Freiheit als solche erkannt werden.

Gemeinsame Glückssuche und das Streben nach Befriedigung als etwas Schönes und Natürliches, zeugt eher von einem freien Denken, wie es schon viele Jahre davor am Mont Verita praktiziert wurde, auch wenn unklar ist, wer da wen mit welchen esoterischen Beschwörungen mehr benutzte. Dergleichen gibt es im Weltpuff nicht. Der Sex ergibt sich und wird genossen, auch wenn es mal grenzwertige Szenen gibt, die keiner mehr so heute schriebe, ist das Bild der lustvollen selbständigen Frau, die sich ihre Befriedigung bei Gelegenheit sucht, ohne darum viel mehr zu erwarten, aufgeklärter und freiheitlicher als es viele Menschen bis heute sind und doch schon vor über 83 Jahren geschrieben worden.

Wie oft ist es bis heute umgekehrt noch, dass sich Männer in Frauen befriedigen, ohne sich weiter um deren Lust zu kümmern, weil sie keine Ahnung oder kein Interesse haben und wie oft habe ich, wenn ich mich darum wie natürlich auch bemühte von Damen gehört, es ginge ihnen nicht um Befriedigung beim Sex sondern um Nähe, was meist bedeutet, sie können eben keine dabei finden, weil sie nie einen Partner hatten, der sich um ihre Lust bemühte. Wie wenig Menschen wissen immer noch nichts über den nervus pudendus und seinen Verlauf, an dem die weibliche Lust primär hängt, wie verbreitet ist das falsche Gerücht vom ominösen G-Punkt, den es nie gab, um dessentwillen sich viele unvollständig oder schlecht fühlten, wofür es real keinen Grund gibt, weil die Natur eben ist, wie sie ist und der Nerv verläuft, wie er verläuft und damit eben nur einem kleinen Teil der Frauen die vaginale Befriedigung je ermöglicht. Doch wie wenig Menschen wissen bis heute von diesem genialen Nerv, der länger ist als das männliche Glied und stärker anschwellen kann, wenn er richtig gereizt wird - auch Rudolf Borchardt kann noch nichts von diesen erst in den letzten Jahren veröffentlichten Forschungen gewusst haben, doch er schreibt den Frauen eine selbstbewusste eigene Sexualität zu, die nach ihrem Glück und ihrer Befriedigung strebt, die den besonders geeigneten Schwanz des Protagonisten, vermutlich war er leicht gekrümmt, wie es neurologisch am wirkungsvollsten wohl ist, wovon Borchardt natürlich nichts wusste, zu schätzen und für sich zu nutzen wussten.

Der Weltpuff klingt vom Titel her reißerisch und obiges Zitat scheint dies zu bestätigen - auch heute kann jeder im Sex finden, was ihm gefällt in dieser Stadt und die Foren für jede Neigung sind zahlreich, aber viel mehr noch als eine Beschreibung des Sex in the city ist es eine Roman auch über die Liebe und die gesellschaftlichen Formen und Unterschiede, die in den unterschiedlichen Gesprächen sehr fein beobachtet, beschrieben werden. Es ist ein Gesellschaftsbild der Zeit, die auch nicht so viel anders war als unsere sexuell, weil die Menschen eben sind, wie sie sind und sich daran nichts geändert hat aber sie ist dabei erstaunlich emanzipiert und feinsinnig aufmerksam mit einem natürlichen Blick auf den Genuss in den Beschreibungen. Eine lohnenswerte Leseerfahrung, die weniger pornographisch als natürlich erotisch ist, auch wenn sich manche Apostel noch empörten, ist Borchardts Protagonist ein sexueller Feinschmecker und auch wenn er manchmal wie ein willkürlicher Vielfraß nach der Summe betrachtet scheinen könnte, ist er auf den zweiten aufmerksamen Blick viel differenzierter und ein wunderbares Porträt der Gesellschaft im ausgehenden Kaiserreich.

jens tuengerthal 13.6.20

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen