Ist alles Natur oder nichts ohne Kultur?
Betrachte ich die Familie und ihre Geschichte, wird mir das Doppelte im einheitlichen deutlich. Familie ist etwas natürliches, ihr entstammen wir durch Zeugung und sie ist die Umgebung des Aufwachsens. Es läge also nahe, anzunehmen, Familie läge in der Natur und sei eben, wie es über die Liebe gesagt wird, was sie sei, Etwas, das uns innewohnt gegen das wir wenig tun können, weil seine Eigenschaften schon in unserer Natur steckten, seien es die Gene oder andere Orte, die familiäres Erbe uns anzeigen, die wir vielleicht noch entdecken müssen.
So weit schien alles klar und natürlich. Andererseits kenne ich genug Menschen, denen Familie eher fremd ist, die ihre eigene furchtbar finden und lieber fliehen. Keineswegs natürlich finden diese Menschen es, sich nach der Familie zu sehnen und den Kontakt zu genießen. Manche haben gar traumatische Erfahrungen, bis zum Mißbrauch, die ihr Leben prägten - ihnen käme es unnatürlich und krank vor, sich noch nach ihrer Familie zu sehnen, die sie psychisch oder körperlich mißhandelte.
Was Familie für mich ausmacht und als eine schöne Erinnerung wach hält, ist die Kultur des Zusammenlebens, wie ich sie kennenlernte und die geprägt ist von Sitten und Gewohnheiten, die mir vertraut sind und mit denen ich aufwuchs. Es ist dies anerzogenes und geprägtes Verhalten, was mit dem Sozialverhalten meiner Umgebung zusammenhing.
Von anderen hörte ich Geschichten von Konkurrenz, Missbrauch wie Missachtung in der eigenen Familie, dabei einmal dahingestellt, inwieweit das Gefühl nicht genug Beachtung zu bekommen, schon Quelle eines pathologischen Sozialverhaltens war, was immer nur Unzufriedenheit erzeugen kann, also eher einen kranken Zustand ausdrückt, als einen Mangel zu beschreiben. Jedoch tritt dies so häufig in Zeiten von Instagram und der Kunst der unbescheidenen Selbstinszenierung auf, dass sich fragt inwieweit frühere Krankheit durch neue Normalität in der Identität ersetzt wurde, eine solche Unterscheidung noch angemessen wäre.
Ob nun die bemängelten oder beklagten Familienumstände, im Gegensatz zu dem, was ich erlebte, eher der schlechten menschlichen Natur entsprechen oder was meine Familie miteinander meistens lebte, natürlich war oder ist, weiß ich nicht zu sagen. Sicher ist nur, dass viel von dem, was mir wichtig ist in der Familie, auch Produkt unserer familiären Kultur war.
Christina von Braun, die über diesen Doppelcharakter in ihren Blutsbanden für die Familie nachdenkt, bringt dafür das wunderbare Beispiel von Kants Traktat zum ewigen Frieden, wo uns der kluge Königsberger genau dies an einem der viel diskutierten Themen der Aufklärung musterhaft vorführt.
Der ewige Frieden ist nach Kant kein natürlicher Zustand, sondern einer, um den sich bemüht werden muss, der die Einhaltung Vernunft geleiteter Maximen braucht, um zu bestehen, also eine gewachsene Kultur, die sich entwickelt und im gemeinsamen Interesse die egoistischen nationalen Antriebe zurückstellt und daraus eine Völkerrecht entwickelt, was sich dem höheren Ziel der friedlichen, republikanischen Koexistenz unterordnet. Darin zeigt sich ein Mißtrauen gegenüber der kriegerischen menschlichen Natur, die durch Verträge und Vereinbarungen wie geschäftliche Interessen am besten gezähmt werden kann.
Wir können diese Realität derzeit gut in der Welt beobachten. Während sich ein, von den eigenen kolonialen Verbrechen teilweise geläutertes Europa, sich um friedliche, durch Verträge geregelte Koexistenz bemüht, sehen wir von den Irrwegen mancher Regierungen in den Staaten des ehemaligen Ostblocks wie Polen und Ungarn einmal ab, die ihre Identität durch reaktionären nationalen Trotz behaupten wollen und hoffen damit Mehrheiten dauerhaft erringen zu können, dass sie die Prinzipien der Demokratie aushebeln, sich wie immer in der Geschichte ien wenig schwierig zeigen, haben die ehemaligen Supermächte Russland und die USA sich derzeit von vertraglichen Lösungen und den Prinzipien der Vernunft auf internationaler weitgehend verabschiedet. Was zum einen an der Natur der dort gewählten Führer Putin und Trump liegt, zum anderen an einem Wiedererstarken des Glaubens gerade in ländlichen Regionen, der den republikanisch vernünftigen Prinzipien zuwiderläuft, die Kant zum ewigen Frieden als nötig voraussetzt.
Sicher gibt es auch noch die kleinen Diktatoren wie in Nordkorea und auch die Situation in China ist noch fern von den Prinzipien der Aufklärung, wo immer noch die Erben einer totalitären Partei regieren, die andere Länder besetzten und sich nur so lange um Verträge kümmern, wie diese ihnen nutzen und die Prinzipien des Ewigen Friedens in vieler Hinsicht egoistisch nationalistisch ignorieren, doch lassen sich mit diesen zumindest zuverlässig Geschäfte machen, wovon bei einem Trump nicht ausgegangen werden kann, der in seiner Unbildung unberechenbar ist, was über Putin niemand sagen würde, auch wenn er sicher kein lupenreiner Demokrat ist, wie persönlich interessierte Stellen einst äußerten.
Doch soll dieser kleine Ausflug eigentlich nur verdeutlichen, wie aktuell Kants Denken bis in die Gegenwart ist, wie seine Prinzipien, die der alte Feldmarschall Moltke, der große Schweiger, der gewiss auch ein kluger Mann war, berufsbedingt zu widerlegen trachtete, weil alles andere seine Lebensleistung relativ überflüssig gemacht hätte, insofern die Eroberungskriege unter Bismarck, die Moltke militärisch führte, nach Kants Theorie illegale Verbrechen gewesen wären, weil sie als Angriffskriege zumindest teilweise auf die Eroberung von Territorium zielten und die Macht des Nachbarn beschneiden wollte, nicht dem ewigen Frieden dienten, sondern vielmehr einer der Auslöser des grausamen 1. Weltkrieges wohl waren.
Den Helden von Königgrätz als Kriegsverbrecher zu sehen, wäre so einseitig wie das Urteil der Alliierten nach dem 2. Weltkrieg über Preußen, das sie als Hort des Militarismus schlicht auflösten, ohne auf die positive kulturelle Prägung dabei zu achten, die eben in Ostpreußens Königsberg den Vordenker des ewigen Friedens, der Freiheit und der egalitären Republik hervorbrachte, eine Kultur der Toleranz wachsen ließ, die Hugenotten anlockte, einem Moses Mendelssohn, den Aufstieg ermöglichte, eine Kultur der Bescheidenheit prägte, von der viele bis heute lernen könnten, was besonders beim Blick in die USA auffällt, aus der auch ein Widerstand gegen die Diktatur des Österreichers wuchs.
Kant erkannte die Notwendigkeit der Zähmung der menschlichen Natur und ihrer Neigung zu Kampf und Krieg durch die bürgerliche Gesellschaft und ihre Gesetze. Ob das Recht dabei der absolute Faktor ist, als den viele ihn heute sehen und wie mancher Kant liest, würde ich an dieser Stelle bezweifeln. Wer den kategorischen Imperativ als höchsten und unwiderlegbar wichtigsten moralischen Grundsatz entwickelte, wird nicht Gesetze über das Gewissen legen wollen, an dem alles zu messen ist und gibt damit allem Recht eine relative Gültigkeit vor dem eigenen Gewissen, auch wenn die Notwendigkeit der Befolgung sich aus dem Kontext erschließen kann, ist Kant kein rechtsgläubiger Positivist, sondern immer noch ein pragmatischer Philosoph der Freiheit, der es den Menschen ermöglichte, sich völlig von der transzendenten Bindung der Moral in irgendeinem Aberglauben zu befreien.
Genau hier zeigt sich wieder die Doppelnatur guten Handelns, das sich aus einer Kultur entwickelt, die das kriegerische, triebhafte Sein der unkultivierten Naturwesen überwindet, sich damit klar in Gegensatz zu einem Gläubigen wie Rousseau stellt, der von paradiesischen Naturzuständen träumt und damit auch philosophisch ein Opfer des alten Aberglaubens an den Mythos von Adam und Eva wurde, statt Freiheit zu erkennen zum Vorbeter des Terreur wurde.. Andererseits auch im moralischen Maßstab des kategorischen Imperativ an das Gewissen als natürliche Eigenschaft appelliert, was es zu kultivieren gilt. Über all dem noch das Prinzip der Aufklärung als Befreiung aus selbstverschuldeter Unmündigkeit, weil der Mensch sich durch aktive geistige Handlung befreien kann, um gut und glücklich zu leben.
Der unkultivierte Mensch möge zur Kultur finden, um sich zu befreien, womit die Freiheit kein paradiesischer Naturzustand mehr ist, sondern Produkt einer Kultivierung, die Einsatz und Engagement erfordert. Ob wir die Fähigkeit haben, befreit zu leben und damit die Normen an unserem Gewissen zu messen, moralisch gut zu handeln, liegt an uns und unserer Natur. Es zeigt damit Kant den gleichen Ansatz, den auch der Gilgamesch Epos bei der Initiation zeigt. Dort wird Herikat rasiert, also kultiviert, um wie ein Mensch auszusehen, was auch immer spätere griechische Philosophen darüber denken mochten, könnte eine Frage der Mode sein, die so unerheblich ist, wie vieles dabei und lernt im Anschluss Liebe und Lust bei einer Hure kennen, was den Prozess der sexuellen und emotionalen Kultivierung meint. Der Mensch muss an sich arbeiten, um sich zu befreien. Es ist dies ein ständiger Prozess mit offenem Ausgang, der immer neue Anforderungen an uns stellt.
Der Mensch kann, wenn er nach den Prinzipien des KI lebt und seinem Gewissen folgt, auf alle Normen und Gesetze verzichten. Wenn wir so handeln, dass unser Handeln zugleich Gesetz für jedermann sein kann, können wir von allen staatlichen Normen befreit und aufgeklärt leben. Ob dies der unserer kultivierten Natur am ehesten entsprechende Zustand ist, wäre die eine Frage, wie wir dorthin gelangen können die andere.
Für die Familie gilt ein gleiches. Sie ist ein Stück unserer Kultur, lebt von ihren Sitten und Gebräuchen und ist ihrem Wesen nach, als Bündnis der Verwandten, auch Teil unserer Natur. Wie unglücklich Menschen ohne Familie sind und was sie sich anstatt einbilden, wäre ein anderes Thema über das ich ohne eigene Erfahrung des Mangels vermutlich nicht urteilen kann. Was ich davon bisher im Leben bei anderen beobachten konnte, war nicht eben vielversprechend und widerlegt die These von der Bedeutung nicht wirklich.
Zwischen Natur und Kultur balancieren wir durch das Leben. Kann nur so kultiviert werden, wie es meiner Natur entspricht. Wer darüber hinaus etwas erreichen will, muss an sich arbeiten und seine Grenzen überwinden. Menschen sind nicht sondern werden immer weiter, sind keine Geschöpfe eines erdachten Schöpfers sondern Kinder der Natur, über die sie nur geistig hinaus wachsen können, wo wir es wagen, diese Verantwortung wahrzunehmen. Dazu gehört wohl auch Mut, darum bleibt der Wahlspruch der Aufklärung bis in die Gegenwart: sapere aude! Habe Mut! (dich deines Verstandes zu bedienen, woraus der Rest logisch folgt).
jens tuengerthal 2.9.20
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen