Wer gehört zur Familie?
Ist die Zugehörigkeit zur Familie ans Blut gebunden, das verwandt ist, oder ist die angenommene Familie genauso wichtig, vielleicht sogar näher, fragte ich mich bei der Lektüre von Christina von Brauns Blutbande immer wieder.
Die Römer lebten die Tradition der angenommenen Kinder, die zu Erben wurden, über Generationen. Diese konnten auch ehemalige Sklaven sein, die später Teil der Familie wurden. Das Blut, also die eigene Brut und Verwandtschaft, spielte für das politische und ökonomische Erbe eine geringere Rolle. Konnte aber musste nicht und wenn sich unter den Verwandten kein passender Erbe fand, wurde eben einer auch namentlich angenommen und gehörte dann als gewählter Erbe zur Familie, trug die Tradition des Namens weiter.
In meiner Familie spielte die Blutsverwandtschaft eine große Rolle und an Weihnachten waren früher nur Verwandte und wenige ganz enge Freunde anwesend, weil Weihnachten eben das Fest der Familie war, wie der Großvater betonte. Jedoch gehörten die angeheirateten Mütter der nächsten Generation genauso dazu, wie meine Großmutter väterlicherseits, die auch erst seit der Ehe den gleichen Namen trug. Familie wuchs durch Zeugung und dazu mussten neue Mitglieder von außen in den Clan integriert werden und dessen Riten erlernen, sich an die Gewohnheiten anpassen und jede färbte es auf ihre Art. Diese wurden uns vorgelebt als gäbe es sie schon immer und dürften nie enden.
Bei den großen Festen anwesenden Freunde wurden besonders geehrt, aber nie als Teil der Familie gesehen, was sie erbbiologisch ja auch nicht waren, während die Mütter der folgenden Generation ihr Erbgut auch an diese weitergegeben hatten. Die Linien waren klar patrilinear und wurden mit dem Namen weitergegeben. Gelegentlich durfte aber auch die Schwiegerverwandtschaft noch teilnehmen.
Häufig anwesend war in meiner Kindheit auch eine enge Freundin der Familie, die mit meinem Vater und seinen Brüdern aufwuchs und deren Tochter, die lange eine der engsten Freundinnen meiner Kindheit war. Ihre Mutter hat wohl zumindest mit zweien der Brüder meines Vaters wie ihm selbst in Jugendzeiten einen Flirt gehabt, was im Ton zwischen den Beteiligten teilweisen noch hörbar war. Sie gehörte einfach dazu und war irgendwie Teil der Familie und auch ihr zweiter Ehemann wurde als geehrtes Mitglied der Familie aufgenommen. Damit lösten sich die Grenzen schon zu Lebzeiten meines Großvaters etwas auf. Aber es waren seltene Ausnahmen.
Später, als meine Eltern die Tradition übernahmen, wurden die beiden zu Lebzeiten des zweiten Mannes noch weiter voll integriert. Nach dessen Tod hat sich das, eher erledigt. Ob das daran lag, dass die Ehefrauen der Brüder kein so großes Interesse an der Jugendfreundin ihrer Männer hatten, unterliegt der Spekulation, zeigt aber zumindest, dass die Zugehörigkeit relativiert werden kann, sofern sie nicht mehr in den akzeptierten Konsens passt und Macht wie Regie der Frauen auch in der scheinbar patrilinearen traditionsbewussten Familie größer sind, als es den Anschein hat.
Später gehörten lange Zeit auch die Kinder von afrikanischen Freunden meiner Eltern zum Clan und wurden bei Festen integriert, was auch auf das Betreiben meiner Mutter wohl zurückging, die schon lange offen für eine Erweiterung des Kreises war, sich zumindest so äußerte, auch wenn sie als Gastgeberin gerne über die beschränkten räumlichen Möglichkeiten klagte, waren über 20 Personen an der langen Tafel die Regel.
Wie gerne jemand dort gesehen wurde, lag auch an dem Grad der Anpassung an die familiären Regeln und Rituale, die noch immer in nahezu gleicher Weise zelebriert werden - vom gemeinsamen Singen über das Gebet vor Tisch, bis zum Händegeben vor dem Beginn des Essens und nach dem Gebet.
Christina von Braun beschreibt für die jüdische Gemeinschaft eine interessante Veränderung der Traditionen, so werden in Israel für die Definition des Judentums noch großer Wert auf die Matrilinearität und die alten Regeln gelegt, während in den USA und Deutschland sich liberalere Traditionen herausbildeten, die auch etwa den Söhnen jüdischer Väter, die keine jüdischen Mütter hatten, gestatteten Mitglieder der Gemeinde zu werden und an rituellen Festen teilzunehmen. Dies teilweise auch dadurch begründet, dass es zu zahlreichen überkonfessionellen Ehen kam, bei denen nur der Vater jüdisch war und viele Einwanderer aus der ehemaligen UDSSR nicht mehr in der jüdischen Tradition aufwuchsen aber selbst etwa in Deutschland bereits den größeren Teil der Gemeinden bilden. Es zeigt sich also auch im traditionsbewussten Judentum, dass als Reaktion auf die Erstarkung des Christentums erst unter rabbinischer Führung, die matrilineare Tradition entwickelte, ein Aufweichen dieser. Dies aber stärker in der Diaspora als bei den Juden in Israel, wo es einen starken und lauten orthodoxen Einfluss gibt, der es für Kinder jüdischer Väter schwer macht, zur Gemeinschaft zu gehören, wenn sie keine jüdische Mutter haben.
In meiner eher protestantisch geprägten Familie gehören alle Nachfahren, zur Familie, ob sie den Namen tragen oder nicht, Vater oder Mutter zum Stamm gehören, wird nicht unterschieden, alle nun Enkel sollen sich als Teil der großen Familie fühlen. Früher bildeten Taufe und Konfirmation den Ritus der Initiation in die Familie. Wüsste nicht, dass ein Kind der folgenden Generation getauft wurde. So findet die Familie durch Teilnahme an den gemeinsamen Festen, die meist Ostern oder Weihnachten stattfinden, als Gemeinschaft zusammen und nimmt ihre neuen Mitglieder auf, die in die alten Traditionen hineinwachsen. Das Neuland der neuen Medien ermöglicht weitere Kommunikation über die rituellen Feste hinaus und entsprechende Gruppen schaffen eine eigene Zugehörigkeit, können das Gefühl der Gemeinschaft stärken.
Eine andere Gemeinschaft, die über die Familie hinaus verband, war die Turnverbindung in der von mütterlicher wie väterlicher Seite einige seit Generationen Mitglied waren. Dort lernten sich etwa meine Eltern auf einem der jährlichen Stiftungsfeste kennen, die ich auch aus meiner Kindheit in guter Erinnerung habe, wenn ich auch nie als erwachsener Teilnehmer der dort Bälle war und mir also diese Möglichkeit der Partnerfindung fehlte, die aber durch vielfältige andere Wege ersetzt wurde. Ein Vetter der mütterlichen Linie fand wieder seine Partnerin dort. Die Großeltern der mütterlichen Linie fanden sich in ihrer Reitquadrille, die sich im Bremer Bürgerpark traf, während sich die Großeltern väterlicherseits bei einem Fest auf dem Gut eines Kadettenkameraden meines Großvaters in Güstrow fand. So fanden sich meine Großeltern beiderseits wie meine Eltern in einer durch Zugehörigkeit geprägten Gemeinschaft, was sie in der Familie weiterführten.
Die Mutter meiner Tochter lernte ich beim Griechen um die Ecke am Kollwitzplatz kennen, was keinerlei besondere Gemeinschaft bedeutet. Die allermeisten meiner Partnerinnen fand ich inzwischen auf virtuellem Wege irgendwo. Ob die dortigen Gemeinschaften eine Zugehörigkeit begründen, scheint mir eher zweifelhaft. Fraglich, ob diese teils zufällige, teils gezielte Findung den gleichen Wert hat wie die Zugehörigkeit zu einer geteilten älteren Gemeinschaft. Früher traf ich sie über Schule, Studium, in Cafés oder öffentlichen Verkehrsmitteln. Zumindest Schule und Studium brachte die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft mit sich, doch hatte ich nur selten Partnerinnen aus meiner Schule oder Klasse, woran immer das lag.
Kannte aus meiner Zeit in der SPD schon Fälle, dass sich im politischen Bereich Paare fanden, was aber andererseits auch etwas verpönt war und als gefährlich galt, weil es die Gefahr in sich trug privates und politisches zu vermischen, im Falle des Scheiterns zu schaden. Fand und suchte dort niemanden, dahingestellt, ob das eher am Angebot oder der Nachfrage lag, war aber auch nie zu diesem Zweck dort gewesen und habe diese letzte Vereinsmitgliedschaft ohne weitere emotionale oder sexuele Bindung beendet. Spätere sexuelle und emotionale Kontakte mit Genossinnen, standen in keinem Zusammenhang mit deren Mitgliedschaft oder meinem Austritt.
Trotz der verstärkten Partnersuche im virtuellen Raum war es mir bei den Versuchen der Partnerschaft, die dort begannen, immer wichtig auch die gewohnten familiären Rituale zu integrieren. Vom Händereichen vor dem Essen, das Gebet ersetzte ich als Atheist durch einen Handkuss, der mir näher lag als irgendwelche höheren Wesen, bis zur Vorstellung bei den Familienfesten und damit Aufnahme in die traditionelle Gemeinschaft, was der Bindung noch mehr Tiefe und Seriosität geben sollte. Teilweise praktizieren meine Cousinen und Cousins es ähnlich. Sich bei den Festen mit Partner zu zeigen, gab den Beziehungsversuchen einen eheähnlichen Charakter und sollten die Zugehörigkeit der Partner zur Gemeinschaft begründen wie den eigenen Erfolg dabei verstärken. Wer mit Partner kam setzte die Tradition der familiären Gemeinschaft fort und konnte sich anerkannt fühlen. Dahingestellt, ob das je die Haltbarkeit erhöhte, manche grausten sich davor, fühlten sich nie anerkannt, was auch an denjenigen gelegen haben könnte, andere wuchsen voll in die Familie hinein und verschwanden dennoch wieder.
Entsprechend aufgewachsen, war für mich immer klar, dass ich eines Tages heiraten würde, auch wenn das bisher Illusion blieb, ist der Wunsch nach dieser Vervollständigung meiner selbst als Mitglied der Familie noch nicht verschwunden, habe ich mich immerhin viermal verlobt, also das Eheversprechen zumindest ohne größere juristische Konsequenzen vorgehabt zu geben.
Die einzigen Reisen, die ich heute noch freiwillig antrete und die mich mit der sonst konsequent gelebten kantschen Tradition der Immobilität als nachhaltigeres Lebensprinzip brechen lassen, sind Familienfeste. Ob ich noch heiraten werde, weiß ich nicht, würde es jedoch nie ausschließen, so unsinnig ich, vernünftig, kritisch betrachtet, das Institut der Ehe finde, was der Liebe eigentlich entgegensteht, doch ist die Tradition, in der ich aufwuchs, so frei und gelockert sie mittlerweile wurde, stärker als alle Logik und Philosophie, was mich auch emotional für diesen Traum, so unrealistisch er sein mag, immer wieder anfällig machte, mit mehr oder weniger gravierenden emotionalen Folgen.
Wer zu meiner Familie gehört, weiß ich nicht sicher zu sagen. Sicher die engen Blutsverwandten im ersten Grad. Juristisch auch die weiteren Grade, denen ich mich aber wesentlich weniger verbunden fühle als einigen Mitgliedern der erweiterten Familie. Welche Pflichten und Rechte daraus resultieren, frage ich mich selten. Es ist eher ein Gemeinschaftsgefühl, was durch traditionelle Zugehörigkeit zur Gemeinschaft begründet wurde.
Es gibt einige Freunde aus Kindertagen, die ich dazu zählen würde, wenn ich auch mit den wenigsten noch in Kontakt stehe und das eher theoretisch betrachte. So etwa fehlt mir jedes Jahr an Weihnachten eine schon lange nach Paris verheiratete Freundin aus Kinderzeiten wie ihre Mutter. Auch Teile des Freundeskreises meiner Eltern, die sich seit vermutlich bald 50 Jahren jährlich zum Adventssingen bei meinen Eltern treffen, sehe ich inzwischen als Teil der Familie, was auch daran liegen könnte, dass der gemeinschaftliche Gesang ein wichtiger Teil unserer familiären Rituale immer war.
Weiß nicht, ob ich diese oder irgendeine Tradition fortsetzen werden außer den bereits genannten Ritualen, die ich mit den jeweiligen Herzdamen pflege, um sie, teils auch noch ohne dass sie es ahnen, in die Gemeinschaft der Familie aufzunehmen. Bin nicht sicher, ob diese in ihrer rituellen Art und Weise der Zelebrierung älter sind als mein Großvater, der Anfang des vorigen Jahrhunderts geboren wurde und wer sie in das nächste weitertragen wird, wie Zugehörigkeit dann definiert wird. Komme nichtmal auf die Idee meine Geburtstage größer zu feiern und dazu die Familie einzuladen, was ansonsten nahe läge, mir aber zugleich fern lag, so sehr ich mich der Tradition verbunden fühle, deren Chronist ich literarisch wurde. Vielleicht ist es das Amt des Chronisten auch Abstand zu wählen, passend für den Beobachter, sich ein wenig zu entziehen aber wer weiß, vielleicht ändert sich diese Sicht auch eines Tages nochmal, weil die Zugehörigkeit stärker wirkt als alle Gewohnheit und jeder vernünftige Vorsatz.
Fragte ich mich, ob ich gerne ein großes Fest machen würde, zu dem ich alle Frauen einlüde, denen ich emotional oder körperlich nahe war, was vielleicht etwas unübersichtlich würde, lässt mich die Vorstellung lächeln, auch wenn mir, realistisch gedacht, ein normales Familienfest vermutlich näher läge, bei dem ich mir ungefähr vorstellen kann, wie es abliefe, weniger emotionale und sonstige Schlaglöcher lauern würden, es deutlich überschaubarer bliebe und ich mich schon aus Traditionsgründen vermutlich für die realistischere Lösung entschiede, finde ich den Gedanken der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft aus einmal geschlechtlicher oder emotionaler Nähe nicht uninteressant und überlege mir, bis es zum einen oder anderen kommt, wie ein französischer Film zum Thema wohl aussehen würde und lache darüber.
jens tuengerthal 25.5.20
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