Montag, 15. Juni 2020

Zeitliteratouren

Durch die Jahrhunderte heute lesend kulturgeschichtlich wie literarisch gereist. Von der Lutherzeit bis in die später Aufklärung ging es, wenn auch in umgekehrter Reihenfolge und etwas hin und her, da der Leser die Freiheit hat, die Zeit nach Laune zu wählen.

Länger schon nicht mehr hatte ich von Monsieur Göthe gelesen, dem wunderbaren Band über Goethes Großvater von Boehnke, Sarkowicz, Seng aus der Anderen Bibliothek, in dem erzählt wird wie Goethes Großvater, noch Göthe genannt, sich als Schneider aus Thüringen, ganz in der Nähe, dies nur nebenbei, wo meine Familie über Jahrhunderte wurzelte, aufmachte, sein Handwerk in Frankreich, besonders in Lyon, wo die Seidenwerker saßen, zu perfektionieren und sich schließlich als erfolgreicher Gewandschneider in Frankfurt niederzulassen. 

Von seinem Großvater, der ein sehr erfolgreicher Handwerker war, heute las ich, wie sowohl der Darmstädter Hof als auch schlesische Adelige bei ihm Kostüme bestellten, die er ihnen in Rechnung stellte und er einem Rechtsstreit über eine unbezahlte Rechnung mit der Familie Textor hatte, einer alten Frankfurter Patrizierfamilie, der Goethes Mutter entstammte, schweigt Goethe, der später in Weimar als Freund und Berater des Herzogs von Goethe wurde. Dafür erzählt er in Dichtung und Wahrheit, was immer daran nun Dichtung und was Wahrheit wirklich ist, um so mehr von seinem mütterlichen Großvater Textor, der einmal Bürgermeister war, über den Goethe anlässlich der Kaiserkrönung mit in den Römer durfte. Darüber plaudert er gern, weil dieser städtische Adel etwas galt in seiner Heimatstadt, während der neureiche Handwerker, der es mit guter Arbeit, großem Talent und viel Fleiß zu einem Vermögen brachte, lieber verschwiegen wird.

Dass Goethes Vater Jura studierte, als Privatier lebte und sich das schöne Haus bauen konnte, in die bekannte Familie Textor einheiraten konnte und seinen Kindern, ohne je selbst einer geregelten Arbeit noch nachgehen zu müssen, eine gute Ausbildung finanzieren konnte - Goethe studierte in Leipzig und Straßburg oder dichtete vermutlich mehr, worauf ihn sein Vater nach Hause beorderte, wie den Protagonisten im Weltpuff Berlin allerdings mit deutlich weniger sexueller Erfahrung bis dahin und im Leben wohl überhaupt aber dafür reichlich emotionalen Abenteuern.

Der Gewandschneider stand sich gut in Frankfurt und Umgebung, wie es Thomas Mann von dem Vorfahren der Buddenbrooks in Rostock berichtet und so nimmt manch große Familie im Handwerk ihren Anfang, worüber in meiner Familie nichts bekannt ist - waren wohl mehrheitlich Pastoren, Lehrer oder Bauern aber auch da ist wenig gewiß, habe weniger Ahnung als Phantasie, zumindest ging auch mein Großvater nach Frankreich, was seinem späteren erfolgreichen Weg in Frankfurt wohl nicht geschadet hat, wohin die Familie nach dem Krieg aus dem mecklenburgischen geflüchtet war, auch wenn sie wie die Göthes thüringisch war oder damals aus Sachsen-Gotha stammte.

Während Goethes Großvater, der gewandte Monsieur Göthe noch Anschluss an die besseren Kreise als Handwerker suchte aber sogar bei Hofe geschätzt wurde, brachte es mein Großvater noch am Bundesrechnungshof zum Ministerialrat, was dem Geheimen Rat des Enkels dieses Schneiders zumindest am Ende ähnelt und ließ seine vier Söhne studieren deren einer mein Vater wurde aber das ist eine ganz andere Geschichte - zumindest waren meinem Großvater die Familie, der gute Name und die Kontakte zu den alten Familien wichtig, der er doch wie einst Monsieur Göthe mit nahezu nichts in der großen Stadt am Main ankam, nachdem er sich zuvor noch einige Jahre als Holzfuhrmann verdingt hatte, was zwar kein Handwerk war, aber doch die gute Kenntnis von Pferd und Wagen erforderte, was nur sein jüngster Sohn mit Leidenschaft übernahm, aber hier geht es ja um Goethes und nicht um meine Familie - wir sind auch meines Wissens nicht verwandt oder verschwägert bisher - wo auch immer es Goethe noch in den ersten Jahren mit dem Herzog in thüringischen, damals sachsen-weimarschen Wäldern und Auen trieb.

Auf den verschwiegenen Großvater, der dem gern großbürgerlichen Goethe vermutlich als Handwerker nicht der Rede wert war, um das eitle peinlich hier zu sparen, folgte der spätaufklärerische Roman Hermann und Ulrike von Johann Karl Wezel, den Goethe nicht besonders lobte, ob aus Neid oder Unverständnis einmal dahingestellt, denn dieser Band 411 der Anderen Bibliothek ist ein echter Schatz. Ein früher Bildungsroman, der erzählt, wie Held Hermann als Kind einfacher Handwerker am bizarr spöttisch beschriebenen Fürstenhof erzogen wird, sich in die unkonventionelle Baronesse Ulrike verliebt und wie beide voller Irrungen und Wirrungen schließlich der adeligen Welt entfliehen.

Im reichhaltigen und oft auch überbordenden Personal des in 2 Bänden in der Anderen Bibliothek erschienen Romans spiegelt sich ein wunderbares Bild der deutschen Gesellschaft des ausgehenden achtzehnten Jahrhunderts wieder. Der Geist des Romans ist geprägt vom Freiheitsstreben der Aufklärung und trägt doch den unkonventionellen Ausbruch für die Liebe, die alle Standesgrenzen überschreitet, schon in sich, der fast nach Sturm und Drang klingen könnte. Es bleibt das spöttisch distanzierte in den Beschreibungen Wezels, was an Voltaire oder Diderot erinnert, auch wenn Wezel rund 40 Jahre später lebte. Er schreibt unterhaltsam, mit einem Lächeln auf den Lippen und doch immer wieder von aufklärerischem Geist getrieben, der das Wahre, Schöne, Gute will. 

Eine lohnende Lektüre, mit der ich heute für einige Seiten in die höfische Welt eintauchte, in der die Konventionen noch viel stärker als alle Gefühle waren und bestimmte Beziehungen als unmöglich galten, um jeden Preis zu verhindern waren, was die Liebe aber, wie alle Erfahrung eher potenziert, denn die Unmöglichkeit einer Beziehung - ob nach Konvention, Stand oder Alter macht ja gerade ihren Reiz aus und wer sich allen Widerständen zum Trotz dennoch findet, kann damit wohl sehr glücklich werden, sagen die Gerüchte und einzelne bekannte reale Beispiele, wie etwa meine Großeltern, die sich auch gegen die Konventionen ihrer Zeit fanden und verliebten und eine wunderbare Liebesgeschichte lebten, lassen wir mal die späteren Affären meines Großvaters als im offiziellen unwichtig beiseite.

Spannend wäre dabei die Frage, ob die Liebe am Widerstand der Umgebung noch wächst oder wie häufig ein bloßer Trotz ist, was sie nicht am glücklichen Erfolg hindern muss. Wächst die Liebe, wie von Romeo und Julia bekannt, am Widerstand bis zur völligen Verzweiflung, macht blind für alles andere oder ist diese Prüfung der Ablehnung der Kitt aus dem die großen Lieben wachsen können, weil, wenn alles stimmt, es ganz leicht zu gehen scheint, sich wohl manches auch in zu schneller Gewohnheit abnutzen kann, nicht mehr als kostbarer Schatz wertgeschätzt wird.

Habe darauf noch keine sichere Antwort gefunden nur Erfahrung sowohl als auch gesammelt aber für dauerhafteren Bestand als drei mal drei Jahre noch keine praktischen Beispiele mit mir in einer der Rollen finden können. Die passende Verbindung macht vieles viel leichter, während die unpassende manches viel aufregender macht und die Liebe mehr fordert, die, wo sie besteht, vermutlich auch daran gewachsen ist.

Hermann und Ulrike wollen sich auf den ersten 130 Seiten, die ich las, schon sehr, werden daran aber nach Möglichkeit von ihrer Umgebung gehindert, weil die Baronesse doch unmöglich den einfachen Knaben wollen kann. Sie werden beide von ihrer je Umgebung abgelenkt und in Arbeit gestürzt, doch die Liebe zeigt sich als ein widerständiger Infekt, der immer wieder auftaucht und sie zueinander zieht, bis sie es wagen ihr, gegen alle Konvention, einfach zu folgen, was doch wunderbar ist, wenn die Liebe, wo sie wirklich ist, stärker als alle Umgebung sein kann und auch das Unmögliche erreicht.

Spannend wäre dabei noch die Frage, was die Liebe wirklich ist, wann sie so groß wird, dass sie alle Zweifel besiegt und auch die unmögliche Beziehung möglich macht. Ist es dieser Wahnsinn, des einander verfallen seins, der es unmöglich macht, ohne einander noch je weiter leben zu wollen, was Liebende nicht nur gerüchteweise fühlen und meinen und ich spreche auch bei diesem Wahn aus Erfahrung, der jede andere Existenz ohne einander völlig unmöglich erscheinen lässt, sogar wenn alle Vernunft längst sagt, es kann nicht gehen, konnte nie gut gehen, musste logisch scheitern, würde nur weh tun und viele der vernünftigen Argumente mehr, die aber alle gering erscheinen gegen die Größe des Gefühls, das den Liebenden umtreibt.

Es versteht kein Außenstehender, die immer wieder liebevoll, beschwichtigend oder irgendwann genervt auf die Liebenden einreden - mit Einsicht in die Umstände ist bei keiner Seite zu rechnen. Die Außenstehenden können die Größe des Gefühl nicht erfassen, während die Beteiligten sich unmöglich vorstellen können, je ohne einander zu sein, bis sie es dann sind und damit irgendwie leben müssen oder auch nicht, wie das Beispiel Romeo und Julia zeigte.

Hier prallt die emotionale Welt der Romantik oder des Sturm und Drang auf den Geist der Aufklärung, der die Welt gerechter und besser machen will, gegen Standesschranken kämpft und trotz aller aufgeklärten Erziehung der beiden Liebenden wird bei ihnen am Ende die Liebe stärker sein, was sie ausbrechen und ein gefährliches, abenteuerliches und konventionell unmögliches Leben wagen lässt, weil die Liebe über allem steht. Dies ist Ausdruck von Freiheit und Gleichheit der Menschen wie von der Größe romantischer Gefühle, die auch die verrückteste Entscheidung noch völlig logisch und folgerichtig erscheinen lässt.

Betrachte es und denke, wie gerne würde ich ausbrechen, es wagen, ergäbe sich je die Gelegenheit nochmal oder wirklich und weiß doch, glücklich werde ich damit sicher nicht. Betrachte es also lieber mit Abstand und vernünftig, füge mich den Umständen, die eben sind, wie sie sind und versuche ordnungsgemäß zu leben, statt dem großen Gefühl wohin immer es sich neigen sollte, zu folgen - dahingestellt, ob ich damit dauerhaft glücklicher bin, lässt es zumindest vernünftig leben und das mögliche genießen, statt das Unmögliche noch oder wieder zu wollen, was eben unmöglich und das ist auch gut so, solange es nicht stärker wird als alle Vernunft, was ja gelegentlich vorkommen soll.

Diese Dialektik zwischen hoher Emotionalität, die alle Welt aus den Angeln heben kann und dem Wunsch nach Befreiung durch Aufklärung in einer so geordneten Welt ist die Feuerprobe der Aufklärung in der Praxis. Wie lebensfähig sind Kants Grundsätze, wenn uns das Gefühl voll ergreift, sind wir dann noch frei oder des Denkens fähig, frage ich mich, sind alle Liebenden also unfreie Sklaven ihrer Gefühle bloß, die vom schmerzenden oder jubelnden Herz getrieben werden, weil sie unmündig bleiben oder ist es umgekehrt erst die wirkliche Befreiung jenseits aller Fesseln dem wirklichen Gefühl, was immer das dann sein soll, zu folgen.

Habe noch keine allgemeingültige Antwort darauf gefunden, nicht mal eine, die für mich immer gelten würde, sondern betrachte es immer noch verwundert staunend und weiß noch nicht genau, wohin es am Ende führt - aber so ist das Leben eben auch, was weiß ich schon davon oder kann ich je wissen - wunderbar aber beschreibt Wezel in seinem großen Roman die Irrungen Wirrungen der Liebe gegen alle Konvention zwischen den Idealen der Aufklärung - bin gespannt, ob ich hinterher irgend klüger bin.

Als dritten Band, diesmal von Galiani, bin ich mit Bruno Preisendörfer in die Lutherzeit gereist, als unser Deutsch erfunden wurde, wie es im Untertitel heißt und habe dort das Kapitel über die Ehe im Zeitalter der Reformation gelesen. Worauf kommt es dabei an und welche Regeln galten nun in dieser Zeit des Umbruchs, in der sich die Menschen auch wenn die Konfession mal wechselte dennoch paaren und fortpflanzen wollten, weil es in unserer Natur eben liegt.

Preisendörfer beschreibt schön die Konventionen der Zeit, wie plötzlich Pastoren ihre Liebsten heiraten sollten in evangelischen Gebieten oder die Kirche sie weiter als Haushälterinnen tolerierte in den katholischen Regionen. Es geht um mögliche und unmögliche Ehen, über die von den Eltern noch ausgesuchten Partner, weil es um eine Verbindung von Familien ging, was von Frau und Mann zu erwarten war, wie evangelische Fürsten den Kosten der Heirat, die manche in den Bankrott fast stürzte, Einhalt gebieten wollten durch genaue Vorschriften was gegessen und wieviel Bier getrunken werden durfte - Wein war nur ausnahmsweise zu genehmigen. Auch damals schon war trotz geplanter und ausgesuchter Ehe noch das Ideal die Ehe voller Liebe, die glücklich mit dem wurde, was gesollt war.

Heute zelebriert hauptsächlich der Adel die Hochzeiten hier noch in so konventioneller Form, was aber nicht gegen deren Haltbarkeit spricht und auch nicht für die der freier geschlossenen Lebensabschnittsbünde mit Partnern wechselnden Geschlechts gelegentlich auch. 

Luther schrieb noch klar, dass des Weibes Wille dem Manne unterworfen sei, womit heute wohl keine erfolgreiche Eheanbahnung mehr möglich wäre, doch auch zu dieser Zeit gab es schon Prozesse, gegen gewalttätige Ehemänner und Frauen, denen von Richtern strenge Schranken gewiesen wurden und die Opfer erwarben Freiheit oder den Anspruch auf Schadensersatz. Im Gerechtigkeitsdenken hat sich also trotz markiger Sprüche der Reformatoren nicht viel geändert. Im Traum von großer Liebe bei manchen etwas Verrückten, den Autor eingeschlossen, auch nicht wirklich - bis dahin leben wir mit der aufgeklärten Realität gut.

jens tuengerthal 15.6.20

Sonntag, 14. Juni 2020

Salonliteratouren

Am heutigen Sonntag im Juni die Reise von Adam Smith nach Frankreich zu Ende gelesen. Der Band der Anderen Bibliothek von Reinhard Blomert über die Entstehung der Nationalökonomie war wesentlich unterhaltsamer und spannender als der Untertitel vermuten ließ.

Wie schön war es den berühmten Philosophen und den jungen Herzog auf ihrer Grand Tour durch Frankreich mit einem Abstecher an den Genfer See zu Voltaire zu begleiten. Sehr gut waren dabei auch immer wieder Blomerts Ausflüge in die Geschichte, bei denen er den größeren Kontext der Ereignisse und die lokale Historie mit gutem Weitblick erläuterte - ein richtiges Bildungsbuch aus dessen Lektüre du bereichert und dabei noch gut unterhalten am Ende zufrieden hervorgehst - zumindest mir ging es so.

So regte das Buch immer wieder zur vertiefenden Lektüre ein, der ich gerne mit Wiki, dem Brockhaus und weiteren auch historischen Bänden folgte, über die ich teilweise bereits schrieb, weil sie wunderbar neue alte Welten erschlossen.

Nun aber kam das lange letzte Kapitel über Paris, die dortigen Salons und ihren entscheidenden Einfluss auf Smith und sein Werk. Diese Epoche kannte ich bereits ein wenig durch die beiden hervorragenden Bücher von Philipp Blom. Zum einen die Bösen Philosophen über den Salon von Baron Holberg und das vergessene Erbe der Aufklärung. Wie aus diesem Kreis radikaler Atheisten, zu denen auch Diderot, Galiani und Rousseau zählten, ein ganz neuer mutiger Geist, der alles gewohnte infrage stellte, in die Welt kam. Daneben noch das vernünftige Ungeheuer, das sich mit der Entstehung der Enzyklopädie besonders beschäftigt und dabei auch diesen und andere der Pariser Salons der Aufklärung streift.

Auch diese Bände seien jeder Leserin wie auch jedem Leser besonders ans Herz gelegt, auch weil Blom mit großem Fachwissen und immer wieder klarem Urteil mitnimmt und begeistert, wenn er etwa das öffentliche Bild des vermeintlich großen Rousseau ins rechte Licht rückt - nicht umsonst heißt die Aufklärung auch Zelt der Illumination im englischen. Es geht um Befreiung der Menschen von der Sklaverei von Vorurteilen und Aberglaube, wofür diese Männer und Frauen mutig lebten und immer wieder auch die Haft in der Bastille riskierten oder sogar erleben mussten wie Diderot und Voltaire.

Auch diese Gruppe, die sich im Salon von Holbachs Pariser Haus traf, besucht Smith und diskutiert mit großer Begeisterung, ist angetan von ihrem freien Geist, der die Welt und moralisches Handeln völlig ohne Gott erklärt. Dies macht den Philosophen, der als Ökonom berühmt wurde auch mutiger und freier in seinem Denken, nachdem er im bigott christlichen Schottland und England schon manchen Ärger infolge der Interventionen der dortigen Kirche hatte.

Natürlich besucht Smith auch die anderen Salons und findet wohl einige Verehrerinnen unter den Damen, schwärmt selbst wohl auch für eine, wobei wir, vermutlich mangels Quellen, nicht erfahren, wie weit er dabei kam. Eingeführt werden Smith und teilweise auch der Herzog durch David Hume, den lebenslang engem Freund des englischen Philosophen. Hume war zu dieser Zeit Sekretär beziehungsweise später Stellvertreter des englischen Botschafters in Paris, der dann etwa zeitgleich zum Gouverneur von Irland berufen wird, woraufhin der Freund leider bald nach London zurückkehrt. Vorher aber führt er Smith, der immer noch relativ wenig französisch sprach in die Salons ein und stellt mit schwärmerischen Briefen die wichtigsten Kontakte her.

Der Herzog beschäftigt sich in dieser Zeit wohl mehr mit den üblichen Besuchen beim Adel und am Hof in Versailles, warum von ihm relativ wenig die Rede ist in diesem spannendsten Kapitel, auch wenn Smith den Kontakt zur am Hof einflussreichsten Gruppe von Ökonomen sucht und findet, die gerade mit mutigen Reformen versuchen, die angeschlagene französische Wirtschaft zu retten.

Es ist wohl übertrieben, wie es einige Franzosen später schrieben, dass Smith nur deren Ideen weiterentwickelte, aber Einfluss auf sein ökonomisches Denken hatte diese Erfahrung sicher, manches lernte er neu kennen. Er traf auch den später unglücklich berühmten Necker, der als Minister scheitern musste im Salon seiner Frau und viele andere wichtige Köpfe, Künstler und Literaten aus dem Paris der Aufklärung, was für ihn in vieler Hinsicht eine Erleuchtung wurde.

Die Rückkehr nach England, der Rückzug ins Haus der Mutter, um den Wohlstand der Nationen zu schreiben wie sein späteres Leben, werden auf wenigen Seiten abgehandelt und spielen hier keine entscheidende Rolle mehr. Den Einfluss der französischen Reise und des Denkens Philosophen in Paris, wie insbesondere der Kreis um Holbach genannt wurde, hat Blomert in seinem Band klar aufgezeigt und damit einen Smith vorgestellt, den die manchmal etwas schlichte Dogmatik der Schule von Manchester, die in vielem bis heute leider herrschend blieb, völlig unter den Teppich kehrt. Es ist dies auch ein sozialer Denker, dessen Hauptwerk die Theorie der ethischen Gefühle war. Dieser neue Blick auf einen meist auf den freien Markt reduzierten Denker allein, lohnte die Lektüre schon, zum großen Genuss wurde sie durch die Reise nebenher und vor allem die kenntnisreiche und kluge Schilderung der Pariser Salons. Eine unbedingte Empfehlung und ich freue mich sehr über die Lektüre des Buches, was mir eine damals noch Finanzwissenschaftlerin schenkte, die damit einen Volltreffer landete und so in besserer Erinnerung bleibt.

jens tuengerthal 14.6.20

Samstag, 13. Juni 2020

Weltpuffliteratouren

“Ja ja mein Sohn und nun denke wieviele es heimlich für Geld thun, wieviele du einfach ansprechen und mitnehmen kannst, wieviele es aus bloßer Liebe und Geilheit thun, dann haste ne Ahnung von Berlin, wie es weint und lacht. Rede mal mit Ausländern. Für die ist Berlin der Weltpuff, na Deutschland überhaupt. Paris nischt mehr dagegen, ganz abgekommen,”
(aus Rudolf Borchardt, Weltpuff Berlin, S. 725)

Ein Titel,der schon aufmerksam macht, weil Sex immer geht und tatsächlich geht es auch immer wieder darum in Rudolf Borchardts Weltpuff Berlin, in dem ich nach längerer Pause heute mal wieder mit der ihm entsprechenden Leichtigkeit lachend las. Als drittes, nachdem ich zuerst wieder mit Adam Smith in Paris war und über die Entwicklung seiner ökonomischen Theorien reichlich theoretisch las, was für Ökonomen vermutlich viel interessanter als für Literaten ist, wie danach noch ein Kapitel von Joseph und seinen Brüdern über den erfolgreichen Betrug bei dem Jakob, also Josephs Vater, seinen Bruder Esau hinterging, der sich bei der Geburt schon unfein vordrängte und der kräftigere von beiden wurde, aber eben auch der weniger feine und bei der Mutter weniger beliebte, die das ganze inzenierte und Jakob zur zwischenzeitlichen Reise ins Zweistromland rät zur babylonischen Verwandtschaft, um dem jähen Zorn des Bruders zu entgehen, der sich, wie sie richtig vermutete, schon wieder beruhigen würde, wenn die ins Auge gefasste Hochzeit Esaus käme.

Es wurde natürlich wieder gevögelt im Weltpuff Berlin, das wird es ständig, auf jede nur denkbare Art und mit teilweise sportlichem Ehrgeiz des Ich-Erzählers, eines vierundzwanzigjährigen jungen Mannes aus guter bürgerlicher Berliner Familie, der vom Vater nach einem Skandal im Studium in Göttingen nach Hause beordert wurde und dort mit einer kleinen Kammer, die sonst als Telefonzimmer im Entré nur dient, als Quartier vorlieb nehmen muss, was ihn nicht hindert, nahezu jede Gelegenheit im Haus oder zu Studienzwecken unterwegs zum Vögeln zu nutzen und doch unterscheidet sich Borchardts Weltpuff, dessen Veröffentlichung der Sohn des Dichters nach dessen Wiederentdeckung 2012 im Marbacher Literaturarchiv noch verhindern wollte, sehr stark von sonstiger pornographischer Literatur auch der mit Anspruch eines Henry Miller, weil er ganz nebenbei ein feines Gesellschaftsbild seiner Zeit, ihrer Sitten und der eigentlichen Gefühle des Protagonisten liefert. Es geht viel um Sex und es lässt bewundern, wie viele Gelegenheiten der Erzähler mit seiner scheinbar unerschöpflichen Potenz zu nutzen weiß, auch wenn er sehr wohl fein unterscheidet, wo er seinen Samen fallen lässt und wo er es sich lieber spart, nur dem Wunsch der Damen nach Sex folgt, zu dem er scheinbar auch körperlich sehr gut ausgestattet eine besondere Begabung besitzt.

Das tausendseitige Manuskript war erst spät im Nachlass entdeckt worden, stammt wohl aus dem Jahr 1937 und weist einige so auch veröffentlichte Unvollständigkeiten auf, zeigt seine Brüche und ist doch ein großartige Bild des Berlins der Kaiserzeit. Ob es, wie Helmuth Kiesel vermutetete, als reaktionärer Schlag gegen den Feminismus zu sehen ist, mit dem der lange gute Freund und Bewunderer von Hugo von Hofmannsthal, sich gegen die leichten und käuflichen Frauen wendet, scheint eher fraglich, zu viel Sachkenntnis und stille Bewunderung für das Wunder Frau und das Glück ihrer Lust ist, aller fast nüchternen Sachlichlichkeit zum Trotz spürbar - da schreibt einer, der die Freude an der Lust kennt und weiß, was gemeinsame Freude daran heißt, der Frauen nicht einfach gebraucht, wie es zur Zeit der Handlung des Romans wie seiner Entstehung, fast vierzig Jahre vor der sexuellen Revolution, noch üblich war, sondern ein Genießer, der sich ein wenig über die Austauschbarkeit der Lust amüsiert aber ohne sich über die Frauen zu erheben, sondern auch dem Dienstmädchen im Elternhaus in ihrem Bereich Bewunderung entgegenbringt.

Vor allem aber ist Weltpuff, neben all dem austauschbaren und mal mehr mal weniger aufregenden Sex, der erledigt wird, eine ganz feine Liebesgeschichte,  die es mit Tucholskys Rheinsberg oder Gripsholm aufnehmen kann. Am deutlichsten wird dies in den Szenen mit seiner wohl großen Liebe, die ein wenig älter leider keine passende Partie für den noch Studenten sein kann, weil beide in den Umständen leben, in denen sie eben leben. Die Beschreibung dieser Sehnsucht und auch wie diese beiden Liebenden ihre Lust leben, die auch voller Leidenschaft en Detail natürlich geschildert wird, aber doch ganz anders als jene ist, die er irgendwo bei jeder passenden oder unpassenden Gelegenheit mit älteren oder jüngeren Damen oder Mädchen findet.

Borchardt, der in seiner Lyrik sehr sphärisch teilweise war und eine ungeheure klassische Bildung zeigte, ein eigene Welt entwarf, war, in Italien lange lebend, ein früher Bewunderer Mussolinis, dem er eine Ausgabe seines Werks über Dante bei einem Zusammentreffen 1933 verehrte. Der zeitweise Anhänger des Faschismus, der sehr mit George sympathisierte, wie übrigens Stauffenberg auch, der früh NSDAP-Mitglied war und den Kurs der Faschisten auch zuerst bewunderte, bevor er sich dem Widerstand anschloss, sein Leben riskierte und verlor für das gute Deutschland, wie seine letzten Worte lauteten, was auch an die Hermetik eines George erinnert, schrieb sein pornographischstes Werk bereits unter der Herrschaft der Nazis als Sohn einer jüdischen Familie. Rudolf Borchardt und seine Frau wurden im August 1944 von der SS in Italien verhaftet und nach Innsbruck transportiert, versteckten sich nach ihrer Freilassung noch in Tirol, wo er am 10. Januar 1945 verstarb.

Frauenfeindlich ist der Weltpuff Berlin nie, soweit ich ihn bisher las, auch wenn mancher Sex fast maschinell erledigt wird, um den Damen die gewünschte Befriedigung zu schenken, werden diese doch im Rahmen des möglichen und der Verhältnisse ihrer Zeit als selbständige Wesen beschrieben, die sich ihre Befriedigung suchen und der er, mit Freude an der Sache und einem gewissen natürlichen Talent dabei, gerne dient. Es gibt Damen, die er bewundert und verehrt, eine, die er wirklich liebt und viele mit denen er eben vögelt, weil es sich anbietet und beide Seiten ihren Spaß daran haben und das ist anders als ein Henry Miller, der im Opus Pistorum den Sex mit einem geilen Kind oder einer Hure danach, die er angewidert vom pädophilen Vater nach der Orgie mit dem Kind auf einem Bretterstapel hinter einen Bauzaun fickt, dass sie noch Wochen brauchen wird, bis sie sich alle Splitter aus ihrem Hintern gepult haben wird. Ob das hohe Kunst oder Pornographie bei Miller eher ist, mögen andere entscheiden und wie viel Verachtung dort aus manchen Zeilen tropft, wenn es mit Detailfreude an die Schilderung von Orgien auch der SM-Szene geht, auch die pädophile Erotik einer Lolita des genialen Nabokov, die nicht ohne Grund das Kultbuch der Pädo-Szene schon lange ist, scheint mir auch wenn weit weniger explizit pornographischer und gefährlicher als der Weltpuff, in dem der Sex häufig sportlich bis an die Grenzen des eben möglichen betrieben wird.

Es handeln dort Menschen, die ihrer Natur folgen und sich dabei an keine Schranken gebunden sehen aber immer mit Respekt und Achtung füreinander und das auch, wenn der Protagonist klare Klassenunterschiede auch beim Sex macht und eigentlich ohnehin nur die eine will, die er nicht haben kann, weil er als Student noch zu jung ist, sie eine andere Partie machen muss, auch wenn es so perfekt zu passen scheint, wie bei ihrem verliebt erotischen Ausflug im Cabrio nach Rheinsberg, eine kleine Hommage an Tucholsky aber auch ein natürliches Ausflugsziel für Berliner Paare, denn wo ließe sich romantischer lustwandeln als im Schloss und Garten von Kronprinz Friedrich, das er später seinem Bruder Heinrich vermachte, auch wenn dieser sich eher geistig als erotisch auslebte, was an einer frühen sächsischen Verführung und ihren pathologischen Folgen gelegen haben könnte, was hier aber kein Thema sein sollte.

Die natürliche Lust, die gemeinsam gesucht wird, bei jeder passenden oder auch mal unpassenden Gelegenheit ist bisher immer ein gemeinsamer sinnlicher Akt gewesen, der beide zur Befriedigung führt, zumindest die Damen meist glücklich erschöpft oder sogar bebend zurücklässt, was mir eher emanzipiert als antifeministisch scheint, auch wenn manches vielleicht aus heutiger Sicht so beurteilt werden könnte, sollte dieses Romanfragment aus seiner Zeit heraus gelesen werden und die darin zu findende Freiheit als solche erkannt werden.

Gemeinsame Glückssuche und das Streben nach Befriedigung als etwas Schönes und Natürliches, zeugt eher von einem freien Denken, wie es schon viele Jahre davor am Mont Verita praktiziert wurde, auch wenn unklar ist, wer da wen mit welchen esoterischen Beschwörungen mehr benutzte. Dergleichen gibt es im Weltpuff nicht. Der Sex ergibt sich und wird genossen, auch wenn es mal grenzwertige Szenen gibt, die keiner mehr so heute schriebe, ist das Bild der lustvollen selbständigen Frau, die sich ihre Befriedigung bei Gelegenheit sucht, ohne darum viel mehr zu erwarten, aufgeklärter und freiheitlicher als es viele Menschen bis heute sind und doch schon vor über 83 Jahren geschrieben worden.

Wie oft ist es bis heute umgekehrt noch, dass sich Männer in Frauen befriedigen, ohne sich weiter um deren Lust zu kümmern, weil sie keine Ahnung oder kein Interesse haben und wie oft habe ich, wenn ich mich darum wie natürlich auch bemühte von Damen gehört, es ginge ihnen nicht um Befriedigung beim Sex sondern um Nähe, was meist bedeutet, sie können eben keine dabei finden, weil sie nie einen Partner hatten, der sich um ihre Lust bemühte. Wie wenig Menschen wissen immer noch nichts über den nervus pudendus und seinen Verlauf, an dem die weibliche Lust primär hängt, wie verbreitet ist das falsche Gerücht vom ominösen G-Punkt, den es nie gab, um dessentwillen sich viele unvollständig oder schlecht fühlten, wofür es real keinen Grund gibt, weil die Natur eben ist, wie sie ist und der Nerv verläuft, wie er verläuft und damit eben nur einem kleinen Teil der Frauen die vaginale Befriedigung je ermöglicht. Doch wie wenig Menschen wissen bis heute von diesem genialen Nerv, der länger ist als das männliche Glied und stärker anschwellen kann, wenn er richtig gereizt wird - auch Rudolf Borchardt kann noch nichts von diesen erst in den letzten Jahren veröffentlichten Forschungen gewusst haben, doch er schreibt den Frauen eine selbstbewusste eigene Sexualität zu, die nach ihrem Glück und ihrer Befriedigung strebt, die den besonders geeigneten Schwanz des Protagonisten, vermutlich war er leicht gekrümmt, wie es neurologisch am wirkungsvollsten wohl ist, wovon Borchardt natürlich nichts wusste, zu schätzen und für sich zu nutzen wussten.

Der Weltpuff klingt vom Titel her reißerisch und obiges Zitat scheint dies zu bestätigen - auch heute kann jeder im Sex finden, was ihm gefällt in dieser Stadt und die Foren für jede Neigung sind zahlreich, aber viel mehr noch als eine Beschreibung des Sex in the city ist es eine Roman auch über die Liebe und die gesellschaftlichen Formen und Unterschiede, die in den unterschiedlichen Gesprächen sehr fein beobachtet, beschrieben werden. Es ist ein Gesellschaftsbild der Zeit, die auch nicht so viel anders war als unsere sexuell, weil die Menschen eben sind, wie sie sind und sich daran nichts geändert hat aber sie ist dabei erstaunlich emanzipiert und feinsinnig aufmerksam mit einem natürlichen Blick auf den Genuss in den Beschreibungen. Eine lohnenswerte Leseerfahrung, die weniger pornographisch als natürlich erotisch ist, auch wenn sich manche Apostel noch empörten, ist Borchardts Protagonist ein sexueller Feinschmecker und auch wenn er manchmal wie ein willkürlicher Vielfraß nach der Summe betrachtet scheinen könnte, ist er auf den zweiten aufmerksamen Blick viel differenzierter und ein wunderbares Porträt der Gesellschaft im ausgehenden Kaiserreich.

jens tuengerthal 13.6.20

Blutslitertouren


Lange nach langer Nacht mit viel Rotwein davor heute auf den Spuren des Blutes im Nahen-Osten lesend unterwegs gewesen. Zunächst mit Thomas Manns Joseph und seine Brüder, sodann mit Christina von Brauns Blutsbande über Verwandtschaft als Kulturgeschichte auch vom biblischen Palästina bis ins europäische Mittelalter und am Ende sogar bis in die Neuzeit gewandert.

Mit Thomas Manns biblischer Verwandtschaftsgeschichte, tue ich mich lesend immer noch schwer. Er schreibt mit genialem Humor, der immer wieder an überraschenden Stellen zwischen den Zeilen auftaucht, wie ich ihn bei Mann so liebe und mit der für ihn so typischen unangestrengten Eleganz, aber er imitiert eben auch den nervigen Verkündigungston der Bibel, die eben kein bloßes Geschichtswerk ist, sondern für viele Menschen bis in die Gegenwart eine Quelle von Wahrheit und Wundern, über die sich jeder vernünftige Mensch nur wundern kann, wie schon Montaigne in seinen Essays wunderbar frech bemerkt, die eben genau weil sie verwunderlich und unglaublich sind, als Wunder gelten, womit der Grad des Unsinns nicht mehr über die Glaubhaftigkeit sondern nur über die Größe des Wunders entscheidet, was einem vernünftig, kritisch denkenden Menschen nicht wirklich verständlich zu machen ist. Je unsinniger etwas scheint, desto größer sei die Präsenz Gottes darin zu sehen. Musste eben glauben oder nicht. 

Die Geschichte von Esau und Jakob, wie der eine Bruder sich durch einen ziemlich miesen Trick und in Zusammenarbeit mit der Mutter auf fragwürdige Art das Recht der Erstgeburt sichert, dabei den anderen ehrlichen Jäger wie den blinden Vater Isaak schlicht betrügt, wird schön erzählt und auch wenn Mann sich konsequent an den biblischen Ton hält, bis auf kleine Bemerkungen, die den inneren Abstand aufzeigen, alles übrige fast als Glosse in der äußeren Form einer Verkündung erscheinen lässt, genügte schon die Art der Schilderung, zu zeigen, wie wenig er von dieser fragwürdigen Heiligkeit hält. 

Wie geschickt andererseits mischt Thomas Mann dabei die christlich patriarchale Linie mit der jüdisch matriarchalen, in dem er letztlich die Mütter die Geschicke durch gut inszenierten Betrug wunschgemäß führen lässt, was, wären wir hier bei Christina von Braun und ihrer kulturgeschichtlichen Betrachtung auch der Verhältnisse der Geschlechter, wohl fragen ließe, ob das natürlich vernünftigere, der matriarchalen Linien der Verwandtschaft, auf das sich die Juden teilweise auch erst nach dem brutalen Einbruch der christlichen Sekte auf ihrem Gebiet einließen und das einen neuen Zusammenhalt brachte nach der rabbinischen Lehre, weil die Mutter eben immer eher sicher ist, wie es im Grundsatz mater semper certa est, seinen Ausdruck fand, während Väter, bevor es wissenschaftliche Vaterschaftstests gab, immer unsicher waren, also auf Glaube und dem symbolischen Akt der grundsätzlichen Anerkennung etwa durch Heirat nur beruhten.

Dieser Betrug mit Tierfellen und verstellter Stimme, die nicht unbemerkt bleibt, aber aufgrund gefälschter Anzeichen nicht für ausschlaggebend gehalten wird, wiederholt, was Mann schon vorher zur Zwillingsgeburt von Esau und Jakob schrieb, wo der feinere, höflichere Jakob, dem drängenden, viehischen Esau den Vortritt ließ, was sich auch in den Gestalten widerspiegelt. Wie nah der noch fast vollständig behaarte Esau hier dem Herikat aus dem Gilgamesch Epos vor seiner Rasur kommt, hat viel Größe und einen wunderbaren Humor, dem biblischen Tonfall zum Trotz. Denke dabei an die mehrwöchige Lehre bei einer Hure in die Herikat kaum Mensch geworden geht, frage mich, wie das in die Bibel integrierbar wäre, wie heilig unsere triebhafte Natur wem wäre von denen, die sie am liebsten keusch verleugneten, sich in Entsagung übten, die Gottesmutter zur Jungfrau werden ließen.

Auch wenn sich Thomas Mann hüten würde, den Vergleich mit Heinrich hierbei zu suchen, es zumindest je auszusprechen, nach dem mühsam wiederhergestellten Frieden nach dem ersten großen Krieg in dem die Bekenntnisse eines Unpolitischen, die beiden so ähnlich verschiedenen Brüder bis zum Tod der Mutter entzweiten, aber wer sieht nicht darin auch die schlichtere politische Prosa Heinrichs gegenüber der eleganten von Thomas, aber so ist eben manch symbolisches Ereignis ein typischer Spiegel der Verhältnisse, wie sie unter uns Menschen immer wieder nicht völlig unähnlich auftauchen. Mann muss nicht über seine Familie sprechen und tut es doch stets, wie vermutlich jeder, der aus einer stammt und den sie prägte, außer er möchte gern ganz anders sein, wie es Heinrich immer wieder versuchte, womit wir von Joseph inhaltlich schon fast bei den Blutsbanden der klugen Christina von Braun sind.

Vermutlich sollte ich den Josephsroman mehr wie die Ilias oder die Edda lesen, als einen alten Sagenband und dessen Wahrheitsanspruch wie bei den Reisen des Odysseus nur lächelnd betrachten. Dessen höchster Gipfel im Christentum wohl die Befruchtung Mariens und die Göttlichkeit des Menschen Jesus ist, der eins mit Gott und dem Heiligen Geist sein soll. Diese Geschichte ist keinem vernünftig denkenden Nichtchristen verständlich zu machen und auch wenn die mittelalterliche Malerei teilweise versuchte diese Beseelung mit einem Strahl ins Ohr Mariens darzustellen, weil eine Befruchtung mit Glied und Vagina ja unkeusch, vor allem unrein, nicht heliig und unbefleckt genug wäre, realistischer oder glaubwürdiger wurde es damit nicht.

Doch sind wir mit dieser ganz zentralen Erzählung auch schon bei den Fragen angekommen, mit denen sich die Blutsbande in der heutigen Lektüre auseinandersetzen. Dabei ging es um die Notwendigkeit der Enthaltsamkeit als christliches Ideal und wie dies konsequent über den Kult der Jungfräulichkeit zu geistigen Abstammungslinien führte, die schon Jesus nach dem Wortlaut der Bibel favorisierte, indem er Brüder und Schwestern alle nannte, die sich zum gleichen Vater bekennen.

Dazu führt von Braun langsam an die Entwicklung heran, warum sie so wichtig war für die von der Kirche gewollten Machtstrukturen und wieviel sie dafür änderte und viel später zur Dogmatik machte, wie eben die Jungfräulichkeit Mariens, über deren Reinheit und wie sie trotz voriger paradiesischer Erbsünde überhaupt unbefleckt sein könnte. Manche und dies blieb bis in die Gegenwart vielerorts herrschend, sehen die Frau nur als hohles Gefäß, das nur durch den ihr eingesetzten Geist gereinigt und damit geheiligt würde. Damit reinigte Jesus seine Mutter, nahm die Erbsünde von ihr und ließ sie zur heiligen Jungfrau werden.

Im Christentum entwickelte sich konsequent eine Linie der tabuisierten Sexualität, die dem Judentum noch völlig fremd war und ist, im Gegenteil gehört der vollzogene Beischlaf zu den Pflichten des Sabbat. Warum mit diesem seltsamen Menschenbild eine Sekte herrschend werden konnte, scheint immer noch sehr seltsam und wieso das in vielem ähnliche und aus den gleichen Wurzeln stammende Judentum hier einen ganz anderen Weg ging, wäre näherer Betrachtung noch wert.

Das Christentum, das den von den Juden noch erwarteten Messias schon mit dem gekreuzigten Rabbi aus dem Stamme Davids gehabt zu haben glaubt, hat manch offensichtliche Unstimmigkeiten, die keiner kritischen Betrachtung standhielten und die eben nur als Wunder geglaubt werden können oder nicht. Darum rührt die Reinheit Mariens, die von der Erbsünde durch den göttlichen Strahl, der sie wohl auch befruchtete, ob nun vaginal oder durchs Ohr, bedarf hier keiner weiteren Erörterung, es geht ja schließlich nur um Glaube nicht um ernsthafte Fragen der Naturwissenschaft, auch wenn dieser lange so gelebt wurde und teilweise von manchen noch so zelebriert wird, als seien die alten Sagen die letzten Wahrheiten, es immer noch Menschen gibt, die den biblischen Unsinn der Kreation als vermeintlich vernünftige Lehre verbreiten, die doch nur ein hartnäckiger Aberglaube ist, der sich Kreationismus nennt und an viele alte Irrwege erinnert.

Ob es heute noch klug sein kann, sich an solche Wunder zu halten, wo wir den Prozess der Zeugung genau kennen, Jesus als historische Gestalt betrachten können, die es möglicherweise gab, was immer diese mit den ihm später angedichteten Geschichten zu tun hatte, ob der hippieartige Prediger der Liebe, der nur seine Religion, das Judentum, reformieren wollte, wirklich je für Enthaltsamkeit war oder an die Jungfräulichkeit seiner leiblichen Mutter glaubte, Erfahrungen mit Sex überhaupt machte in seinen 33 Lebensjahren, mag dahinstehen, wenn wir es mit Mascha Kaleko betrachten, wie sie es in der letzten Strophe ihres Gedichtes Rezept beschreibt:

Zerreiß deine Pläne. Sei klug
Und halte dich an Wunder.
Sie sind lang schon verzeichnet
Im grossen Plan.
Jage die Ängste fort
Und die Angst vor den Ängsten.

Es ist ein weiter Weg von der Wundergläubigkeit des Mittelalters, zur Herrschaft der Vernunft gewesen, die mit der Aufklärung spätestens, aber eigentlich schon mit der Renaissance ihren Anfang nahm - einer, der noch viele Opfer unterwegs forderte, von der Hexenverbrennung über die Macht der Inquisition, den Dreißigjährigen Krieg bis zu den religiösen Massakern unserer Tage und ganz zu schweigen von den an Moralvorstellungen zerbrochenen Leben und Lieben. Ob es angesicht all dieser Opfer noch vertretbar sein kann, den Wunderglauben als unschuldige Schrulle eben gläubiger Menschen zu betrachten, den wir klug nennen können oder uns eher dies von Kaleko so treffend bedichtete Paradoxon, die Wunder lächelnd betrachten lässt, ist eine Frage, die vielleicht weiter führt, als die Auseinandersetzungen mit Aberglaube und seinen absurden Wandlungen.

Menschen finden Trost im Glauben, er hilft ihnen, ihre Ängste zu verjagen und im absurden Alltag zu bestehen, das natürlich sinnlose Leben mit all seinen Verzweiflungen weiterzuführen, statt sich nüchtern für das Nichts zu entscheiden, wofür es vernünftig betrachtet häufig mehr Gründe geben kann, als die Unwiderruflichkeit dieser Entscheidung zu verhindern wüsste. So mag der so lange und so oft tödliche Glaube für viele die wichtigste Krücke im Alltag sein, ob sie nun beten oder ihr vermeintliches Schicksal an absurde Vorhersagen und eben Wunder knüpfen, die damit seltsam genug heilsamer sein können als die nüchterne Vernunft, die dem kritisch denkenden Menschen natürlich sagt, dass dies alles Unsinn ist, auch biblische Gestalten eben menschlich sind, wie sie Thomas Mann so treffend in all ihrem Leiden und ihrer peinlichen Neigung zum Selbstbetrug beschreibt, ihrer natürlichen Eitelkeit aber auch ihrer Fähigkeit zu verzeihen, womit wir fast schon bei der Liebe sind, die das Blut, das manche verbindet, zusammenhält.

Befrage ich mich radikalen Atheisten, der Diderot, Holbach und seinen Freunden geistig näher steht als der Bibel je, aber aus familiärer Tradition in dem absurden Verein bleibt, an was ich glaube und was mich weiterleben lässt, wäre die Antwort immer die Liebe und der Traum von der großen Liebe, die kommt um zu bleiben, auch wenn die Praxis mich längst eines besseren belehrte, selbiges eher einem Wunder gliche, als einer realistischen Erwartung zur Gestaltung der Zukunft, alle Vernunft dagegen spricht, noch einmal auf dieses gefährliche Pferd zu setzen, was mich schon so häufig in die größten Mißhelligkeiten meines Lebens brachte, sehen wir von dem einen tödlichen Fahrradunfall ab, der schlicht meiner manchmal Blindheit geschuldet war, aber geistig keine längeren Auswirkungen hatte, konnte dies Gefühl, an dessen selig machende Wirkung ich immer noch glaube, mich schon so viele Monate und Jahre meines Lebens völlig lähmen, dass kein vernünftiger Mensch dies je nachvollziehen könnte, mich immer wieder völlig unfrei machen und am Leben verzweifeln lassen, sogar mich so sehr quälen, dass die härtesten Entsagungsrituale harmlos verglichen scheinen, andererseits aber in kurzen glücklichen Momenten so viel schenken, dass ich für einen Moment erfüllter Liebe alles gäbe. So gesehen bin ich also ein unbelehrbarer Gläubiger der Liebe, auch wenn ich mir sicher bin, dass diese nur Ergebnis einer bio-chemischen und neuronalen Reaktion ist, nichts als Natur also, die uns auch beim Sex, dieser eigentlich nüchtern betrachtet, absurden gymnastischen Übung antreibt und sie für das tollste halten lässt, auch wenn ich in dieser Zeit die wunderbarsten Bücher in Ruhe lesen könnte, beschäftigte mich nicht der Wahnsinn der Liebe so lange. Nach Grundsätzen der Effektivität betrachtet wäre Onanie immer das bessere Mittel, warum sie auch vom Glauben so streng gebannt werden musste, denn ohne Wirksamkeit der Verbote und unter mit sich zufriedenen Menschen, braucht es keine absurden Wunder mehr.

Als Gläubiger halte ich zwar die Liebe für kein Wunder, dichte ihr auch keine absurde Wesenheit an, sehe sie als Teil unserer Natur, ein gut erdachtes Mittel, die Fortpflanzung, die natürlich gewollt ist, attraktiv erscheinen zu lassen, verstehe welche psychischen Elemente uns dabei motivieren und mache mich dennoch zu ihrem völligen Sklaven gerne und immer wieder, als wäre ich nicht vernünftig und lernfähig, was uns menschlichen Wesen ja sonst gerne nachgesagt wird, auch wenn die Liebe und ihre Auswirkung viele Gründe zu zweifeln geben,

Sich davon relativ fern halten, wie Kant es vorbildlich tat, der auch gleich auf das Reisen ganz verzichtete und damit zum großen Vorbild unserer Zeit wurde, wenn all die gehetzten Idioten ihr Handeln einmal vernünftig kritisch betrachteten und nicht nur Trends, Moden und dem Verhalten der anderen hinterher liefen, könnte ein gelassener Weg zum Glück sein, bei dem ich in meinem Bücherturm lesend lebte und nichts mich wirklich tangierte, wie oft schrieb ich genau das schon herbei - fraglich dabei nur, ob ein solches Sein noch meines wäre, ich damit zwar ausgeglichen aber nie erfüllt und glücklich wäre, warum ich vermutlich lieber nochmal in die tödlichen Untiefen vermeintlich großer Liebe sprünge, als vernünftig auf sie zu verzichten und mir dabei vorzugaukeln, dass ich doch mit guten Büchern und Ruhe alles hätte, was mich glücklich macht, obwohl ich genau weiß und erspüre, ohne große Gefühle bleibt wenig Leben übrig und von mir nichts und also enthalte ich mich jeden Urteils nun und künftig über albernen Glauben an Wunder oder den Wert vernünftiger moralischer Grundsätze und frage mich vielmehr, ob die konsequente Inkonsequenz vielleicht die menschlichste aller Eigenschaften ist und was sich daraus für die Zukunft und den Umgang mit Kant lernen lässt, der vom Umgang mit Liebe und Frauen praktisch keine Ahnung hatte, was manches oder für mich manchmal alles natürlich relativiert.

So hat die heutige Lektüre, wie gute Bücher es so gerne tun, mich wieder auf ziemlichen Umwegen zu mir gebracht und damit im Abwegigen ihr Ziel erreicht und auch wenn das noch nicht dauerhaft zufrieden macht, die Frage nach dem immer richtigen Weg nun offener als je ist, vor allem die nach dem was nun, hat es die Toleranz gegenüber dem Glauben gestärkt, eigene Beschränktheit offenbart und auch die praktischen Grenzen meines sonst Hausgottes Kant aufgedeckt. Um das cui bono kümmere ich mich nach der nächsten Lektüre, zufrieden wie weit ich nur auf dem Diwan nach durchzechter Nacht heute noch durch die Welt gekommen bin durch disziplinierte und neugierige Lektüre, was mehr sollte ich wollen?

jens tuengerthal 12.6.20

Donnerstag, 11. Juni 2020

Bücherheimatliebe

Liebe meine kleine Bibliothek
Im Seitenflügel im dritten Stock
Gehen die Regale bis zur Decke
Einige der schönsten am Diwan
Für den direkten Zugriff zum Lesen
Dort bin ich zuhause und glücklich
Muss nirgendwo mehr hinreisen
Habe die Welt schön eingebunden
Durch alle Zeiten um mich wäre
Vollkommen glücklich könnte ich
Diese kleine Welt als gemeinsame
Teilen doch sind Leser nie einsam
Leben mit ihren Büchern gemeinsam
Richten sich um sie ein und der Rest
Der Welt fließt an ihnen vorbei
Wer wollte das schon ruhig teilen
Was sollte mich dort noch tangieren
Dachte ich hätte alles Glück der Welt
Bereits gefunden dann verflog es
Aber die Bücher blieben bei mir
Sind meine große Welt geworden
Wie Montaigne einst der sich noch
Mit seiner Bibliothek in den Turm
Seines Schlosses zurückzog um
Seine Essays zu schreiben dafür
Ämter Ehren und Welt lieber aufgab
Alles weltliche seiner Frau überließ
Die es besser als er zu regeln verstand
Dort lebte und schrieb er bis ihn sein
Steinleiden irgendwann dahinraffte
Betrachtete die Welt als Leser
Bedacht schreibend von Ferne
Ihm zu folgen schönstes Ideal
Ließe die Welt mich so leben
Wie schön wäre es auf Erden
Zögen sich mehr zum Lesen zurück
Friedliche Leser in ihren Bibliotheken
Statt Krieger auf Schlachtfeldern oder
Touristen in überfüllten Fliegern
Müssten sich nicht ständig beweisen
Vielleicht ein Vorbild für die Welt
Die Ruhe wiederzuentdecken
Wie die Einsamkeit zu lieben
Ohne ständige Veränderung außen
Dafür mehr Bewegung im Geist
Die Bücherheimatliebe könnte ein
Verträgliches Ideal künftig sein
Fraglich ob es jemand teilt
Denk ich bei meinen Büchern
Voll Vorfreude auf die nächsten
Bände ruhe ich lesend in mir
Tut alles Übermaß mir selten gut
Bleibe ich ein glücklicher Leser

jens tuengerthal 11.6.20

Mittwoch, 10. Juni 2020

Größenverhältnis

Bei Michel de Montaigne über
Römische Größe gelesen die
Sich vor allem darin zeigte
Dass sie errungene Reiche
Gerne Besiegten zurückgaben
Die dann Könige von Gnaden
Roms wurden in der Schuld standen
Der Sieger treue Diener wurden
Dazu bringt Montaigne Beispiele
Von Cäsar und Cicero wie aus
Der übrigen römischen Welt
Wo als reich galt wer abgab
Besser noch zurückgab um
Der Verbindung Dauer zu geben
Dem Reich damit Stabilität statt
Sich auf Eroberungen stolz nur
Auszuruhen oder sie zu plündern
Wie es die Kolonialherren taten
Deren Reiche darum viel weniger
Lange Bestand hatten für deren
Schäden bis heute bezahlt wird
Mehr noch müsste ginge es
Gerecht auf dieser Welt zu
Bestimmten nicht meist Sieger
Wohin die Welt sich bewegt
Was aber ist wie es ist darum
Keiner weiteren Klage hier wert
Montaigne klagt an anderer Stelle
Gegen Sklaverei und Kolonien
Gerade dieses Erbe aber belegt
Wie weise Rom in vorchristlicher Zeit
Als Überbringer von Kultur handelte
Um dauerhafte Stabilität zu sichern
Wenig dauerhaft dagegen waren
Stets die unrechten Eroberungen
Ohne hier über die Krim zu streiten
Auch den Osten der Ukraine lieber
Schweigend zu übergehen um sich
Auf das was Größe ausmacht lieber
Zu besinnen und damit also
Großzügig sich zu zeigen was
Wohl den gerade an Würde deutlich
Geschrumpften Mitgliedern der
Untergegangenen UDSSR sichtlich
Schwerer fällt als deren Funktionären
Einst die sich ganze Regionen noch
Scheinbar legitim als Volkseigentum
Brüderlich gern zuschoben um dann
Regional neu zu besiedeln weil die
Kommunistische Sekte zu gerne
An die Internationale glaubte auch
Damit ihren Glauben verbreiten wollte
Wie bis heute erfolglos in Afghanistan
Über das schon Tolstoi ähnlich schrieb
Denn wirkliche Größe zeigt sich erst
Gegenüber den Verlierern statt sie
Gut christlich bekehren zu wollen
Wobei da die Jünger Mohamed
Keineswegs besser abschneiden
Wie dieser Geist der getragen war
Von republikanischer Bescheidenheit
Sich im Kaiserreich langsam verflüchtigte
Wäre ein Grund zu politischer Klage
Was nicht nur dem Christentum hierbei
Anzulasten ist aber zumindest auch
Was als Sekte so erfolgreich wurde
Weil es lautstark das Gegenteil predigte
Vont dem was es mit Ungläubigen tat
Die manche immer noch bekehren wollen
In angemaßter Überlegenheit wie gerade
Zu Zeiten Montaignes es geschah aber
Auch aus deutscher Geschichte sind
Eroberungen bei denen Sieger wieder
Die Besiegten als Herrscher einsetzten
Noch teilweise bekannt wie etwa bei
Heinrich dem Löwen der die Obotriten
Aus dem Geschlecht Mecklenburg getauft
Vom Sohne ab wieder einsetzen ließ als
Damit längstes regierendes Geschlecht
Dem nur die Greifen von Vorpommern
Als Hezöge noch nahe kamen womit sich
Stabile Verhältnisse erklären lassen
Dahingestellt ob die Worte des märkischen
Junkers Bismarck dort geschehe alles
Hundert Jahre später je passend waren
Wie demokratisch republikanisch sich die
Wähler in Mecklenburg zeigen werden
Bei den nächsten anstehenden Wahlen
Besteht zumindest die Chance dabei
In der demokratischen Mitte anzukommen
Statt wie Thüringen mehrheitlich Parteien
Jenseits dieses Spektrums zu wählen
Sei es aus Trotz oder Unverständnis noch
Weil die DDR nicht demokratisch erzog
Aber Montaigne wäre nicht der Denker
Der berühmt wurde und blieb wenn seine
Gedanken nicht zeitlose Wirkung hätten
Es braucht keinen peinlichen Trump
Zu belegen wie weise der Edelmann
Aus dem Périgord einst handelte als er
Den aktuellen Herrschern die ihn lasen
Weil er sie wie die Franze oder Henry
Beriet oder mit ihnen korrespondierte
Wie etwa mit Königin Elisabeth I. 
Damit deutlich die Leviten wohl las
Also an deren Stolz appellierte und sich
Dazu auf die alten Römer berief die
Sonst gerne von den Apologeten des
Untergangs als schlechtes Beispiel
Genannt schon damit weise handelte
Sicher im Sinne seiner humanistischen
Ausbildung nur zu wünschen wäre
Mehr läsen ihn heute zu verstehen
Echte Größe liegt in der Hingabe
Des gerecht eroberten als Gnade
Nicht etwa christlich gedacht dabei
Sondern aus Gründen der Vernunft
Die so Stabilität am ehesten gewährt

jens tuengerthal 10.6.20

Dienstag, 9. Juni 2020

Bauliteratouren


Mal wieder ein Essay von Joachim Fest gelesen, nach der wunderbaren Lektüre von Adam Smiths Reise nach Frankreich, der inzwischen in Paris ankam, dem natürlich Hauptziel der Reise und dort in den Salons der Aufklärung verkehrt aber dazu in den nächsten Tagen mehr, wenn ich über alle Salons, die er besuchte las - heute möchte ich den Gedanken von Fests Versuch über die Geburt der Hässlichkeit folgen, weil sie ein spannendes Bild einer Zeit im Umbruch entwerfen, auch wenn sie mittlerweile schon vor 13 Jahren veröffentlicht wurden, bleiben die Gedanken des verstorbenen Herausgebers der FAZ und klugen Essayisten spannend und wichtig.

Die Hässlichkeit wurde Fest zufolge im 19. Jahrhundert geboren mit der Industrialisierung der Kunst und fand deutlichen Ausdruck im überbordenden Wilhelminismus, wofür übrigens der Berliner Dom ein wirklich herausragendes Beispiel völlig misslungener Baukunst ist, die das Weltkulturerbe Museumsinsel empfindlich stört, die Bauten großer Architekten mit unproportioniert protziger Hässlichkeit, die nur eine Kuppel größer als der Petersdom wollte, auf plumpe Art in den Schatten stellt, wie sie dem auch sonst minderbegabten Wilhelm II. so ganz entsprach. Diesen spricht Fest nicht ausdrücklich an, lästert nur über den Wilhelminismmus, das tat dafür Franz Hessel in seinem Flaneur in Berlin, dem ich zu gerne dabei folge, weil diese Kirche der Inbegriff von geschmackloser Häßlichkeit in einem wunderbaren Ensemble ist und das Protzertum des unklaren Wilhelminismus so wunderbar ausdrückt, einer der unpassendsten Bauten Berlins ist, auch wenn der grauenvolle Alexanderplatz, der trotz viel Fassadenkitt noch immer beredter Ausdruck des totalitären und beschränkten Denken des real existierenden Sozialismus der DDR ist und eine ähnlich grau kalte Stimmung verbreitet, wie sie jenseits uniformierter Paraden vielfach herrschte.

Doch wirft Fest es dem Leser nicht so schnell an den Kopf, wie ich es hier der Überraschung wegen, die Aufmerksamkeit erringt, sogleich tat, auch wenn manche meiner Leserinnen diese Abneigung meinerseits schon kennen werden. Es kann nicht oft genug gesagt werden, wie fehl am Platz dieser Bau ist auch neben dem bald vollendeten Humboldtforum, dass die alte Schlossfassade rekonstruierte und sich damit wunderbar in das Ensemble der Insel einpasst, dahingestellt, ob es ein Armutszeugnis der neueren Architektur ist, keine Formensprache gefunden zu haben, die dort besser hinpasste, als die Rekonstruktion eines noch von klassischer Formensprache geprägten Schlosses, sie hatten ja keine Wahl und ich bin sehr froh darüber, bis auf eine Seite, die schlicht kubisch anmutet, was einseitig noch erträglich ist. Der Autor leitet es vielmehr langsam mit dem Blick auf die klassische Formensprache der Antike und das alte Handwerk her.

Seltsamerweise nimmt Fest aber die Malerei der Romantik von seinem Verdammungsurteil aus - mal einige Schinkels und Caspar David Friedrichs ausgenommen, würde ich gerade da längst den grausamen Kitschverdacht hegen, der besagt, die entsprechenden Werke seien schlicht belanglos und nett, insbesondere bei den Nazarenern fällt es mir schwer, nicht wegzusehen von diesem peinlichen Versuch von Romtouristen ihren mittelalterlichen Katholizismus zu zelebrieren, beginnt für mich in vielem schon hier die Hässlichkeit, allerdings noch vorindustriell und handwerklich - Gebrauchskunst zur Dekoration wurden sie erst einige Jahre später - geschaffen wurden sie mit Überzeugung, ob sie mir nun gefallen oder nicht und denke an Moritz von Schwind und andere, fiele mir wenig ein, was mir gefiele. Die Antiaufklärung Romantik bleibt eine peinliche Epoche in vielerlei Hinsicht.

Die letzte große und einheitliche Epoche, die alle Bereiche der Kunst erfasste, nennt Fest den Klassizismus, danach wäre alles nur noch Stückwerk geworden aber nicht mehr umfassend, so auch beim Jugendstil, der in verschiedenen Ländern auch völlig unterschiedlich benannt wurde und differente Formen entwickelte. Dieser nahm wiederum die klaren Formen der Antike auf und nannte sie vollkommen, wie auch schon die Renaissance dem Ideal dieser Zeit nachstrebte, was zumindest bis zum Biedermaier auch noch für das Kunsthandwerk gesagt werden konnte, was danach vielfältig zerfaserte, von den unsäglichen deutschtümelnden Anleihen ans Mittelalter lieber ganz zu schweigen.

Sicher gibt es noch hin und wieder Treffer im Design oder in der Architektur,  Bauten Liebeskind etwa und auch manche Versuche aus der Bauhausschule sind zu ästhetischen Klassikern geworden, doch sollte die Frage erlaubt sein, ob das Bauhaus nicht völlig überhöht wird, dessen Schuhkastenformen inzwischen die ganze Welt bedecken und meist verschandeln, weil was einmal gut und nett gedacht war, in Masse nicht wirklich besser wird, eher im Gegenteil und dagegen die Altbauten der Gründerzeit trotz kitschigem Stuck wohltuend warm dem Auge erscheinen.

Natürlich weiß ich, vor welchen Bauten von van der Velde ich aaah und oooh sagen muss und wie schick doch die Einrichtung war, die er für Harry Kessler entwarf. Als Einzelstücke im gut sanierten Altbau gerne auch das eine oder andere Bauhaus-Designer Stück aber die Einheitlichkeit der Baukastenfassaden, die ganze Viertel dieses Planeten mit schlichten geraden Linien bedecken, lassen schon am ästhetischen Sinn dieser zeitweise Schule zweifeln, der mehr Trotz als echte ästhetische Entwicklung war.

Halte noch mehr als Fest nur andeutet, das Bauhaus zumindest in der Architektur für überschätzt und finde die Orientierung an schlichten Formen der Antike oder Klassik immer vielversprechender, auch wenn sich eine Altbauwohnung mit Kamin und Stuckdecke natürlich plüschig neben der klaren Architektur einer Palladio Villa ausnimmt, die immer ästhetisches Vorbild über die Generationen bleibt, wie ein ideales Landhaus auszusehen hätte, ich aber gerne auch im Altbau mit Kamin und Stuckdecke wohnte, lieber zumindest als in den klaren Linien eines Bauhaus Kastens, auch wenn eine Wagenfeld Lampe schick aussehen kann, zöge ich immer die Bibliotheksleuchte für mich vor und scheine damit nicht mehr ein belächeltes Einzelexemplar zu sein, sondern auch die Formensprache der Architektur, so konstatiert Fest und ich neige zur vorsichtigen Zustimmung, findet wieder zu klassischen Formen zurück, statt sich in ewig wiederholten Schuhkästen darstellen zu wollen.

Ob wer seine Zeit verstehen will, zurückschauen muss, gegenwärtig noch präsent zu sein, ist eine das Essay umrahmende Floskel, die Fest aber zu dem aus meiner Sicht sehr interessanten Schluss führt, dass es vielleicht nicht mehr den radikalen Bruch mit der Vergangenheit braucht, wie so viele auch nervige Epochen der Moderne lang, die dies mit ausschweifender Hässlichkeit zelebrierte, sondern es vielmehr ein Bemühen braucht, die Erinnerung den Bedingungen der Gegenwart anzupassen, um versöhnt mit dem zu leben, was Schönheit ausmacht und was wir seit der klassischen Epoche Griechenlands kennen können, vom goldenen Schnitt bis zur klaren Form - wir müssen die Welt nicht neu erfinden sondern lieber achtsam mit der Geschichte leben, womit ich nicht meine, dass wir nun die Bausünden der Baukastenepoche und ihren rostenden Beton als Kunstwerk heilig sprechen sollten, sondern weniger Furcht vor klassischen Formen haben sollten.

jens tuengerthal 9.6.20

Voltaireliteratouren

Mit Adam Smith und dem jungen Herzog von Toulouse über Marseille nach Genf gereist, um dort Voltaire zu besuchen, den großen Autor der Aufklärung, der auch zeitweise im englischen Exil gelebt hatte und den der Schotte sehr schätzte, weil er die Philosophie der Freiheit in schöne Worte zu kleiden verstand, was wenigen Philosophen je so gelang.

Voltaire war ein Genie, er schrieb nicht nur begnadet im Geist der Aufklärung, konnte auch im Sinne des Königs dichten oder sogar sich vom Papst angenehme Worte für eine Widmung schreiben lassen, ließ sich auch gerne als großer Dichter feiern, verkehrte für eine Zeit, von Madame Pompadour unterstützt, auch bei Hof und überwarf sich doch immer wieder mit vielen auch dort schnell, war aber vor allem, was bei Künstlern nicht alltäglich ist und dem Dichter selbst völlig fremd, sehr geschickt im Umgang mit Geld und häufte ein Vermögen an, mit dem er sich für die letzten Jahre seines Lebens ein schönes Schlösschen am Genfer See bauen konnte mit schönem Park und eigenem Theater, über das sich die fromm prüden Calvinisten dort gehörig empören konnten, auch wenn er dort sicherer war vor Verfolgung als in Frankreich, weil die Schweiz die Schweiz war, blieb es trotz vieler Besucher nur ein Exil, weil Genf nicht Paris ist.

Voltaire, der Freund Friedrichs des Großen, der sich auch mit diesem immer wieder überwarf, sogar nach zu schneller Abreise von Berlin einmal in Frankfurt festgesetzt wurde, bis er ein Gedicht Friedrichs wieder heraus gab, dass Fritz nicht in fremden Händen wissen wollte, aber dennoch der lebenslange Freund und Briefpartner des Monarchen blieb, der ihn, zwanzig Jahre jünger, natürlich überlebte aber auch immer wieder verzieh, obwohl er bissig auch über die Sparsamkeit des Franzosen lästerte, der angeblich Kerzen geklaut hätte, eben nicht umsonst reich wurde. Doch nicht nur Friedrich ließ ihn kurz in der freien Reichsstadt verhaften, Voltaire musste mehrfach in die Bastille, weil er sich zu frei über die Kirche äußerte, sich mit den Jesuiten anlegte, die andererseits seine verehrten Lehrer auf dem berühmten Jesuitenkolleg Louis-le-Grand waren, was ihm viele Kontakte bis in höchste Kreise eröffnete, er dort Freundschaften fand, die ein Leben lang hielten. Sein Name Voltaire ist das Anagramm seines bürgerlichen Familiennamens Arouet.

Mehrfach ließen Adelige ihn verprügeln, die sich von ihm als Dichter und Mann provoziert fühlten aber sich mit einem bürgerlichen, der ja nicht satisfaktionsfähig für sie war, nie geschlagen hätten, was den stolzen Franzosen noch mehr verletzte als die Schläge, die ihn trafen.

Während seiner Flucht nach England, als ihm mal wieder die Verhaftung drohte, hatte er sich viel mit der dortigen Literatur aber auch mit dem Finanzwesen in London beschäftigt, wurde auch mit Anteilen an der East India Company reich. So reich sogar, dass er dem schwäbischen Herzog von Württemberg einen Kredit geben konnte an dem er bis zum Ende seines Lebens sehr gut verdiente. Wobei er den an den Schwaben geliehenen Betrag mit Offizieren von Friedrich verdiente mit denen er Finanzgeschäfte machte, in dem er nach dem siebenjährigen Krieg Wechsel günstig kaufte, die der damals klamme König herausheben musste, an denen er mehrere hunderttausend verdiente, was der König nicht sehr schätzte.

Er hatte auf den ausdrücklichen Wunsch seines Vaters hin Jura studiert, weil Literat, was er als Berufswunsch angegeben hatte, ja nichts anständiges war, kurze Zeit in einer Kanzlei gearbeitet und dabei viele Tricks gelernt, die ihm später von Nutzen waren für seine Geschäfte wie möglichst günstige Verträge. 

Jura habe ich zwar auch studiert, wie so viele Schreiberlinge, aber viel von Verträgen verstehen oder eine Ahnung zu haben, wie ich mein Recht durchsetzen könnte, würde ich mir darum nie anmaßen, alle Erfahrung spricht dagegen - aber vielleicht ist dies auch ein Teil des großen Genies und Spötters Voltaire, der sich in wenigen Jahren so in die Materie einfinden konnte, dass sie ihm sein Leben lang nutzte, er auch seine lange beste Freundin und Geliebte Emilie du Chatêlet beraten konnte, als diese sich um ein Schloss in Flandern sorgte, wo sie länger mit Voltaire und teilweise auch ihrem Gatten lebte, der es nebenbei auf seine Kosten hatte sanieren lassen. Dafür brachte die große Naturforscherin Chatêlet ihm vieles aus den Naturwissenschaften näher, was seinen Horizont noch zusätzlich erweiterte und sein Werk um Bände über Newton und anderes ergänzte.

Leider starb seine kluge Geliebte nach der Geburt eines Kindes und die folgenden Jahre trieb sich Voltaire sehr unstet zwischen Preußen, Frankreich und Lothringen herum, wenn ihm mal wieder in Paris die Verfolgung drohte.

Was Adam Smith mit Voltaire besprach, ob dieser gelangweilt war, die Besucher bald wieder wegschickte, sich selbst versteckte, entschuldigte oder zurückzog, wie er es häufig tat, wenn ihn jemand langweilte, oder sie sich wiederholt sahen, ist nicht ganz klar - zumindest hat Smith auch nach dem Besuch noch mit Hochachtung über den Franzosen geschrieben und von ihm geschwärmt, der zum Zeitpunkt des Besuches schon über 70 war und 84 Jahre alt wurde.

Es war schön über kleine historische Anekdoten mal wieder in die Welt von Voltaire und der Enzyklopädisten einzutauchen, zu denen dieser ja mit Diderot und Holbach auch gehört. Voltaire war nicht der radikale Atheist, auch wenn er manchen Streit mit der Kirche riskierte, er legte Wert auf Anerkennung und Ruhm wie die Aufnahme in die Akademie und so arbeite er schon zeitlebens an seinem Nachruhm, den er, nicht völlig uneitel, so gut sicherte wie seine finanzielle Unabhängigkeit.

Ihn zu lesen, auch als Historiker, der Henry IV. zur französischen Kultfigur machte und viele der diesem zugeschriebenen Redensarten prägte - von Paris ist eine Messe wert bis zum Hahn im Topf - damit aber einen Konvertiten in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses stellte, der als Hugenotte lange gegen den offiziellen Weg gekämpft hatte, ist bis heute lohnend uns sein Candide ist von unglaublicher Schönheit getragen vom freien Geist der Aufklärung den dieser auch Gast des Salons im Hause Holbach mit geprägt hat, wenn auch nicht so radikal und konsequent im Denken wie manche seiner Freunde, so doch bei aller Eitelkeit und Anbiederung bei Hof, die ihn auch vor schlimmeren bewahrte, ein echter Freigeist, der als Dichter und Denker der Erinnerung sehr wert ist, warum die heutige Tour mit einer Verneigung vor dem Genie endet, um auch künftig diesem Geist zu huldigen, weil es noch dringend der Aufklärung bedarf, bis wir uns wirklich aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit befreit haben, in aufgeklärten Zeiten leben, in denen nicht länger der Aberglaube das Leben bestimmt sondern Vernunft und Freiheit.

jens tuengerthal 8.6.20

Montag, 8. Juni 2020

Marktliteratouren

Regelt der Markt sich von alleine oder braucht es ordnende Eingriffe, um die Gerechtigkeit zu erhalten, kann der freie Markt ohne funktionieren?

Heute gelesen, wie Adam Smith angesichts der Diskussion über den Getreidehandel in Frankreich und der dort zu seiner Zeit gemachten Erfahrungen seine Theorie vom freien Handel als Voraussetzung des allgemeinen Wohlstandes entwickelte. 

Wie konnte die Theorie vom Freihandel auf dem Boden einer zentral verwalteten Monarchie entstehen?

Im Frankreich jener Jahre um 1765 kam es zu einem massiven Verfall des Getreidepreises durch ein Überangebot nach dem Ende des Krieges mit Preußen, infolge etwa 300.000 Esser weniger und späteren Vereinbarung zum Handel mit den sich unabhängig erklärenden Vereinigten Staaten von Amerika.

Gleichzeitig trieben Großhändler die Preise durch scheinbare Exporte und künstliche Verknappung wieder in die Höhe, weil sie auf große Gewinne hofften, die sie erfolgreich machten und zugleich noch als Retter der Nation geehrt wurden, da sie die plötzlich Mangelware reimportierten. In dieser Situation sah sich der Staat in der Pflicht, die Bauern als Basis des Wohlstandes der Nation zu retten und ließ auf Rat einer Gruppe einflussreicher Ökonomen am Hof, die Zölle erst im Land und dann auch für den Export fallen, gestatteten eine Art Freihandel, um die im Krieg verarmten Bauern am Wohlstand zu beteiligen, da vermutet wurde, der Markt würde es regeln.

Dieser Versuch funktionierte relativ gut für die Großbauern, wie die Mühlen, die als Aktiengesellschaften im Besitz des Staates waren, allerdings nicht für den Rest der Bevölkerung, ein breiter Aufschwung scheint fraglich, weil es noch keine schützenden Gesetze gegen Monopole gab, womit die Wohlhabenden noch reicher wurden und die Armen keine großen Gewinnen machen konnten.

Lassen sich diese Ideen auf unsere Zeit und die besondere Situation im politisch-ökonomischen Bereich übertragen?

Die bis heute spannende Frage ist, ob der Handel mehr oder weniger Regeln braucht, um den Wohlstand der Mehrheit zu vergrößern. Unter Berufung auf Smith forderte eine einflussreiche Gruppe lange und bis heute eine weitere Liberalisierung der Märkte, wandte sich gegen staatlichen Protektionismus, forderten weniger Staat und mehr Freiheit, der Markt würde es schon regeln, Freiheit sei die Basis von Erfolg. 

Dies war und ist eine klassische Position der Republikaner in den USA, bei denen sich unter dem Decknamen Boston Tea Party noch eine Gruppe besonders marktliberaler Radikaler zu etablieren versuchte.

Auf den Protektionismus aber wollte die Regierung Trump ihren Aufschwung stellen, erhöhte Zölle, forderte eine Stärkung ihrer Rechte im Handel und versetzte damit die Märkte in Unruhe. Dies schien, solange relativ gut zu gehen, wie es den Menschen in Amerika damit besser ging, sie genug verdienten, der riesige amerikanische Markt lebte, weil viele das Gebaren ihres Präsidenten sportlich sahen, er sich eben wie ein Unternehmer benahm, der hoch pokerte, um den maximalen Gewinn für seinen Staat zu realisieren. Mit der Corona-Krise kam der Einbruch dieser Politik. Wie die Welt auf den monatelangen Stillstand und die folgende wirtschaftliche Krise reagiert, ist noch unklar, auch, wie sich eine zweite Welle auswirken könnte und ob Produktivität vor Sicherheit gehen darf, zu wessen Gunsten dies erfolgt.

Eine wirtschaftliche Krise fordert sicher viele Opfer, doch fragt sich, ob es zulässig sein kann bewusst Menschenleben zu gefährden, um ein System am Laufen zu halten, was eigentlich der Versorgung aller dienen soll oder dann das System einen Fehler hat, weil es den Menschen für weniger wert erachtet als seine Funktionalität, ein nötiger zeitweiser Stillstand größeren Schaden verursachte als jede Krankheit.

Stellte Corona die Systemfrage?

Nüchtern am Markt orientiert betrifft Corona mit den Älteren vor allem eine Gruppe von Menschen, die eine geringe Produktivität haben aber hohe Kosten etwa durch Renten oder medizinische Versorgung verursachen. Deren Leben riskieren, um den Wohlstand der Mehrheit zu sichern, wäre volkswirtschaftlich wesentlich produktiver als der Versuch ihrer Rettung, der noch unklar viele Opfer einer Krise kosten wird.

Auch wenn sich diese Betrachtung ethisch verbietet, weil sie eine Gruppe von Menschen zum Wohle der Mehrheit aussortierte, eine Politik betriebe, die in der Wirkung jener der Nationalsozialisten gliche, die eine Glaubensgruppe und andere nach rassischen Gesichtspunkten aussortierte, könnte sie sich in einer Demokratie lohnen, weil die Mehrheit lieber ihren Wohlstand mehrt, statt durch Verzicht, andere retten zu wollen und entsprechend wählt. Betrachte ich die Corona-Krise so, könnte die Regierung Trump relativ vernünftig gehandelt haben, auch wenn davon auszugehen ist, dass dieser selbsternannte Genius die Problematik bis heute nicht begriffen hat, lieber Verantwortung leugnet und andere beschuldigt, um von eigenen Fehlern abzulenken, was lange am Markt relativ erfolgreich sein konnte, wie sich auch bei der Auflösung der UDSSR in der Gruppe der dabei reich gewordenen Menschen zeigte.

Braucht ein Markt, in dem plötzlich Politiker wie Trump auftauchen, die um ihrer nationalen Interessen wegen, die vor einer Wahl ihre persönlichen auch werden, Regeln, die dies verhindern können oder gehört dies zum natürlichen Risiko?

Ist die Demontage der USA aufgrund verfehlter, rückwärtsgewandter Politik, die nicht mehr in das Zeitalter der Globalisierung passt, von der diese am meisten profitierten, die verdiente Quittung oder spielt da nur einer im Stile der Westernhelden den Protektionisten, um einen besseren Deal auszuhandeln, folgt er keinen Prinzipien und Grundsätzen sondern schlicht dem Erfolg, ist es die richtige Behandlung autoritärer Nachbarn wie China?

Es stellen sich hier viele Fragen und wirken zahlreiche Einflüsse zusammen, die eine einfache klare Antwort schwer machen, auch wenn Gewissen und Moral das Verhalten dieses Präsidenten verurteilen mögen, besagt dies noch nichts über den Erfolg seiner Politik, die mit vielen Gewohnheiten bricht. Es bleibt im Ergebnis komplex.

Am Markt der Wähler wird sich zeigen, wie erfolgreich diese Politik sein kann. Wird er bestätigt, könnte er die durch eigene Fehler verursachte Krise mit Glück überwinden, sollte er bestraft werden, könnte dies für ein vernünftiges Verhalten der Mehrheit sprechen, das Vertrauen in die Freiheit bestätigen, die Fehler und Ausrutscher auch wieder korrigiert.

Fraglich bleibt nur, ob solche Kurswechsel, wie Trump sie vollzieht, erlaubt sein dürfen oder vorab verhindert werden müssen, die Stabilität des System zu gewährleisten, was im Interesse der Mehrheit liegt, auch wenn sie es nicht erkennt.

Adam Smith ging in seiner Staatstheorie vom vernünftigen Unternehmer aus, der im Interesse des Gemeinwesens handelt, von dem er profitieren möchte. Dieses aufklärerische Denken ist an der Freiheit des einzelnen orientiert und geht davon aus, dass dessen Erfolgsstreben von Vernunft geleitet wird und damit auch ethischen Grundsätzen genügt. Diese zwei Axiome aber scheinen häufiger fragwürdig in der Realität. Weder handelt jeder immer vernünftig, ist Erfolg häufig auch eine Gefühlsfrage und wird damit durch eine komplexe Summe von Ursachen bestimmt, noch sind die Grundsätze eines guten Kaufmanns, wie sie noch die Buddenbrooks etwa hoch hielten, am Markt realistisch, wie am Ende sogar die Buddenbrooks zu belegen scheinen, deren Firma liquidiert wird mangels Erben und hat nicht recht, wer Erfolg hat?

Geht damit die Theorie schon von falschen Annahmen aus, ist deshalb grundsätzlich falsch, wie es uns das System Trump gerade vorzuführen scheint, was zwar nach unternehmerischen Grundsätzen Politik macht, aber in der Realität scheitert und nur durch Ablenkung und Beschuldigung Dritter statt ehrlicher Verantwortung noch Erfolg haben kann und dennoch aus vielen anderen Gründen erfolgreich sein kann, in dem sich einige bereichern werden?

Hielte es für anmaßend Smith Theorie widerlegen zu wollen mit dem Beispiel eines peinlichen Politikers - zu Zeiten der Monarchie mit einem positiven Unternehmerbild erdacht, konnte sie nicht die komplexen Einflüsse einer modernen Mediendemokratie berücksichtigen. Fraglich könnte aber sein, ob eine ökonomische Theorie, die von vielfältig anderen Grundlagen ausgeht, noch geeignet sein kann Antworten für unsere Zeit zu geben, es noch um mehr oder weniger Regeln geht oder nicht vielmehr angesichts der Komplexität jeder Einzelfall gesondert betrachtet werden muss, die meisten ökonomischen Theorien relativ unsinnig sind.

Im Frankreich des 18. Jahrhunderts wurde unter besonderen Umständen bei einer Krise der Landwirtschaft infolge der Preisschwankungen bei Getreide nach Ende eines Krieges, angesichts eines plötzlichen Überangebots der Versuch der Deregulierung gestartet und ging nicht völlig daneben, ob dies für einen globalisierten Markt unter den Bedingungen heutiger Zeit auch so gelten kann, sollte im Einzelfall betrachtet werden, statt eine Theorie zu verallgemeinern, die besonderen Umständen geschuldet ist.

Vielleicht liegt eines der Probleme dabei im Prinzip der Gewaltenteilung verborgen. Der Rechtsstaat braucht es zur vernünftigen Kontrolle, welche Stabilität garantiert. Andererseits rekrutieren sich die Leiter der Exekutive aus den führenden Kräften der Legislative, die sich eigentlich gegenseitig kontrollieren sollen, andererseits aus einer durch Wahlen bestimmten Mehrheit rekrutiert werden sollen, um so die Mitbestimmung des Volkes an der Führung des Staates zu sichern.

Viele halten Politik für wahnsinnig spannend, dabei geht es eigentlich um nichts als die Organisation von Verwaltung und die Realisierung von Beschlüssen dort. Welchen Gewinn es für ein Gemeinwesen bringt, wenn bei der formalen Organisation möglichst viele Menschen mitbestimmen, erschließt sich nicht von alleine, wir haben uns nur in der Demokratie angewöhnt, es für normal und richtig so zu halten, weil damit die Mehrheit die grobe Richtung mitbestimmen kann, was einerseits eine relative Zustimmung für auch einschneidende Beschlüsse mit sich bringt, dem Egoismus formale Grenzen setzt, andererseits das Handeln der Verwaltung anfällig für populistische Stimmungen macht, die in der Legislative stellvertretend ausgefochten werden sollen.

Handelten die Regierungen stets vernünftig, wie es Smith dem idealen Kaufmann unterstellt und verträten nicht auch Partikularinteressen, wie sie natürlich persönlichen Bedürfnissen folgen, bräuchte es keines Parlamentes als Kontrollorgan, dann handelte die Exekutive also die Verwaltung stets legitim, wie es früher Königen unterstellt wurden, deren Regierung als von Gottes Gnaden galt. Ob die Führung durch eine Person oder Familie anfälliger für Korruption und Vetternwirtschaft ist als die durch Parteien, bei denen die Verantwortung nur auf mehr Köpfe verteilt wird, zu streiten, ist müßig, insofern sich das Prinzip relativer Mitbestimmung am Markt als erfolgreicher durchgesetzt hat, weil es Kontinuität durch Zustimmung der Mehrheit sichert, die für Sicherheit gewisse Kosten und Beschränkungen akzeptieren. Als zusätzliches Kontrollorgan gibt es Medien, die über das Handeln der Führung berichten und damit die Öffentlichkeit beeinflussen.

In Schwierigkeiten gerät das System immer wieder, wenn es mit anderen Systemen nur relativer Freiheit konkurrieren muss, wie sie etwa in Russland oder China praktiziert werden, die aber dafür auf hiesigen Märkten als Händler mit der unsererseits garantierten Freiheit als Konkurrent auftreten wollen, ohne die gleiche Freiheit auf ihren Märkten zu gewähren, noch ihrer Bevölkerung die hier üblichen Freiheiten zu garantieren. Bei Russland, was sich durch Eingriffe seiner Geheimdienste und durch Propagandamedien aktiv um die Destabilisierung westlicher Republiken und Europas bemüht, ist es ein durchsichtig klarer Konkurrenzkampf, welcher sich gegen Einzelpersonen, in Deutschland etwa Merkel, die Putins Freund Schröder einst besiegte, richtet und versucht unliebsame Sanktionen durch weitere Provokationen und die Finanzierung von Populisten auszuhebeln, ohne dabei eine alternative Lösung bieten zu können, warum nicht davon auszugehen ist, dass sich gebildete Menschen länger davon täuschen lassen. Anders dagegen ist es bei China, mit dem Trump auf Western-Art Konflikte ausficht, während sich der übrige Westen lieber anbiedernd um Plätze auf dem dortigen Markt für die eigene Industrie bemüht, auch wenn damit Prinzipien der Demokratie und Menschenrechte verraten werden, es kein moralisches Handeln mehr gibt.

Mit China aber wie mit Nordkorea setzt Trump seine Deal-Politik fort, bei der er Vereinbarungen unter Freunden sucht, die er vorher bei den Verhandlungen noch zu erniedrigen und zu erpressen versucht, soweit er es für sinnvoll hält. Momentan stiftet er Brände im Land und außerhalb an, um damit von seiner negativen Bilanz abzulenken, die Diskussion über sein völliges Versagen in der Corona-Krise zu vermeiden. Dies erinnert an die Politik Putins, der durch permanente Provokation nach außen, ob in der Ukraine oder auf der Krim, den inneren Zusammenhalt stärkt, weil sich die Russen von Feinden in der Welt verfolgt sehen, die das Verhalten ihres gewählten Präsidenten sanktionieren, statt darüber nachzudenken, wohin das System Putin das Land geführt hat, wen es bevorzugt und wie es das Land in eine Oligarchie verwandelt hat nach einem kurzen Aufbruch der Demokratie nach 1989. Insofern die Menschen dort nie etwas anderes kennenlernten, ist es niemandem aufgefallen und scheint der Mann des früher KGB als das geringere Übel, vielen sogar als Held des Vaterlandes.

So befindet sich das die Werte der Demokratie verteidigende Europa in einer schwierigen Position. Nachbar Russlands, was sich als Gegner mit ständiger destruktiver Demontage beschäftigt, Partner Amerikas, was keine Zuverlässigkeit mehr bietet, sondern sein Fähnchen in den Wind hält, unberechenbar wurde, eine Politik aus einer anderen Zeit betreibt, die vom Konflikt lebt, weil dieser andere Probleme verdeckt. Konkurrent in China, das den weltgrößten Absatzmarkt zögerlich und beschränkt nur gegen Auflagen öffnet,  während es von einer korrupten Parteiendiktatur geführt wird, die einen Führerstaat etablierte.

Ist es in dieser Situation richtig allein den freien Kräften des Marktes zu vertrauen, wenn auf diesem so gegensätzliche Kräfte agieren, die für sich mit freiheitlichen Prinzipien und Gleichheit nichts zu tun haben?

Wird die Freiheit da nicht zum Bauernopfer gemacht, das nicht konkurrieren kann?

Es scheint sehr komplex und einfache schnelle Antworten verbieten sich so sehr wie bloße Vorurteile. Ruhe und abwarten wären geboten, funktioniert aber nur schwer in einer von immer schnelleren Medien beeinflussten Demokratie, die froh sein kann, wenn sie alles ohne größere Schäden übersteht. So verhält es sich auch mit der Anwendbarkeit der liberalen Ideen von Smith, die auf dem Prinzip der Freiheit aufbauen und klar moralisches Handeln des einzelnen voraussetzen, da dies in seinem Interesse wäre, dächte und handelte er und alle anderen vernünftig. Ob die Gesetze der Vernunft, die den Markt, auf dem jeder logisch nach maximalem persönlichen Erfolg strebt, leiten sollen durch das Prinzip der Masse, was einzelne Ausreißer ausgleichen könnte, stärker wirken als der Egoismus scheint gerade fraglich.

So scheint Smith Theorie zur Ökonomie die ideale freiheitliche Theorie für eine ideale und freiheitliche Gesellschaft, die real aber nirgendwo so existiert, weil unterschiedliche destruktive Einflüsse das Erreichen des Idealzustandes so gut wie möglich verhindern. Fraglich bleibt, ob daraus, wie führende Ökonomen es lange taten, eine immer Priorität des Marktes als Basis des Ideals zu folgern ist oder eher eine des Staates, der diesem Geschehen unter bestimmten Bedingungen erst die Basis geben kann. Auch hier gilt vermutlich, dass ausschließliche Entscheidungen meist falsch sind, es guter Kompromisse bedarf und der beste Weg irgendwo zwischen den Extremen entlang führt.

Die Antwort auf die Frage nach dem richtigen System könnte damit vielleicht besser ein “kommt drauf an” sein. Statt sich in Ausblendung der nie gegebenen Bedingungen auf ein System totaler Liberalisierung um der Freiheit willen zu verlassen, was bestehende Monopole und Strukturen stabilisierem und begünstigen könnte, damit der Freiheit eher schadet, auch wenn es auf deren Basis fußt, eine regelnde Hand für nötig zu halten, um die Bedingungen der Freiheit für alle zu schaffen, wäre eine Möglichkeit, gute Ideen zu Ende zu denken.

Real leben wir ständig in Kompromissen zwischen mehr oder weniger Freiheit bei denen sich irgendwelche Gruppen immer darum bemühen ihre Partikularinteressen möglichst gut durchzusetzen, warum es Unsinn ist, von einer einzigen Theorie Richtung und Antwort auf alle Fragen zu erwarten. Wichtiger für die Zukunft könnte sein, die Bedingungen der Freiheit, die den Markt alleine regeln lässt, für mehr Menschen so gut wie möglich herzustellen, also Gleichheit der Beteiligten am Markt, Schutz vor Monopolen und mehr Chancen zur Gleichheit schon in der Ausbildung, wie es der Sozialstaat ja mehr oder weniger erfolgreich versucht. Dahingestellt ob nun die funktionierende soziale Marktwirtschaft der Stein der Weisen sein kann oder auch nur ein Kompromiss unter Berücksichtigung der Schwächeren ist, könnte es lohnender sein, über Wege und also Kompromisse im System nachzudenken als über grundsätzlich neue, die oft mehr schaden als nutzen.

jens tuengerthal 8.6.20

Sonntag, 7. Juni 2020

Betroffenheitsgehorsam

Ganz in schwarz aber ohne
Rassistische Hintergedanken
Ganz im Gegenteil eher
Marschierten gute Menschen
Trotz Corona durch Städte
Riskierten damit ihre Leben
Um sich solidarisch zu zeigen
Mit ermordeten wie unterdrückten
Afroamerikanern was auch schon
Nach Rassenlehre fast klingt
Aber politisch korrekter als
Schwarz heutzutage ist
Auch wenn sie es trugen
Dabei gehorchen sie in der Herde
Dem Betroffenheitsgehorsam
Einem Gefühl anstatt das sich
In Massen gerne einstellt dabei
Dahingestellt wem es dient
Zuerst dem eigenen Gewissen
Dann den Unterdrückten dieser
Davon überfüllten Erde auch
Soll es dem Anspruch nach
Auch wenn niemand davon
Einen persönlichen Gewinn hat
Ist Solidarität irgendwie wertvoll
Zuletzt denken die dort daran
Trump einen Dienst zu erweisen
Was sie de facto aber genau tun
Nicht nur weil sie ihn beschimpfen
Über den ungebildeten Reichen
Als lächerlichen Ami spotten
Was die leichteste Übung ist
Genau die Rolle spielt er ja
Damit den Zusammenhalt stärken
Sondern die Saat der Polarisierung
Die dieser Donald gerne sät
So gut aufgehen lassen was
Amerika spaltet aber dem totalen
Corona Versager eine Chance gibt
Der sich selbst vernichtete weil
Offensichtlich völlig unfähig
Zur Führung des Landes
Alleine erfolgreich spalten kann
Wer das unterstützt hilft ihm
Gerade mehr als den Opfern
Warum kritisches Denken vorab
Auch in Zeiten von Corona
Mehr Erfolg verspricht leider
Nur hört Masse nie auf Vernunft
Wollte es nur gesagt haben
Auch wenn es nicht hilft

jens tuengerthal 7.6.20

Fernnah

Was ist überhaupt Nähe
Frage ich mich einsam
Aber glücklich in Gedanken
Bei einer Prinzessin wohl
Wir sind uns fern noch
Viel näher als viele die
Ineinanderstecken nur
Was zeigt wie relativ
Nähe immer wohl ist
Wie fern Sex sein kann
Wo Berührung sich nur
Zur eigenen Befriedigung
Aneinander mechanisch reibt
Als ginge es um Gymnastik
Mehr als ein Gefühl füreinander
Was das miteinander erst zum
Gipfel des Glücks uns macht
Warum wir jenseits auch von
Zeit und Raum verbunden sind
Was Lust zum Wunder macht
Das bebend überfließt zum
Gipfel gefüllter Nähe und
Was käme je näher

jens tuengerthal 7.6.20

Kubinkeliteratour

“... darüber, daß man statt des einen Mannes im Notfall den anderen nehmen könnte - so ungefähr wie man statt einer rosa Bluse ja auch eine hellblaue anziehen könnte - darüber bestanden zwischen ihnen keinerlei Meinungsverschiedenheiten … denn endlich waren sie doch beide Frauen …”

Mit dieser Einigkeit zwischen Frau Betty Löwenberg und ihrer Pauline, dem Kindermädchen, Mädchen für alles und bis dato Verlobten von Emil Kubinke kurz vor Ende des Romans Kubinke bringt Georg Hermann die Geschichte und das Leiden seiner Hauptperson auf den Punkt. Der gute Emil wird die Suche nach Liebe nicht überleben, so viel kann schon verraten werden, ohne ein Geheimnis auszuplaudern, schließlich deutet der Autor genau das schon im Vorwort an, aber schafft es dann über 334 Seiten in Band 414 der Anderen Bibliothek die Spannung mit viel Humor aufrecht zu halten.

Georg Hermann, der eigentlich Georg Hermann Borchardt hieß, entstammte einer bekannten jüdischen Berliner Familie. Der 1871, also im Jahr der Reichsgründung, in Berlin geborene Schriftsteller wurde 1943 im KZ Auschwitz ein Opfer des Holocaust. Im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts war Hermann ein vielgelesener und erfolgreicher Autor, der seinem großen Vorbild Theodor Fontane nacheiferte, zuerst sogar im Verlag von Fontanes Sohn verlegt wurde. Am erfolgreichsten waren seinerzeit die Romane Jettchen Gebert und Herniette Jacoby, die im Berlin der Jahre 1839/40 spielen und das Bild einer liberalen jüdischen Familie zeichnen. Sie erschienen in über 260 Auflagen. Nach dem Reichstagsbrand flüchtete Hermann mit seiner Familie nach Holland, seine Bücher wurden bei der Bücherverbrennung im Mai 1933 von den Nazis und ihren Mitläufern in die Flammen geworfen. Nach der Besetzung Hollands durch die Wehrmacht wurde er Anfang 1943 gezwungen seinen Wohnort Hilversum, wo Liebermann einst eines seiner schönsten Bilder malte vom Landhaus seines Freundes, zu verlassen und sich nach Amsterdam zu begeben. Aus dem Durchgangslager Westerbork wurde er Mitte November nach Auschwitz deportiert, dort auf der Altenrampe aussortiert und kam wohl am 19. November 1943 in der Gaskammer ums Leben.

In seinem Roman Kubinke hat Hermann den einfachen Angestellten als tragische Figur des Romans entdeckt. In seinem Scheitern ist er Falladas »Kleinem Mann«, in seiner Fallhöhe Döblins Franz Biberkopf ähnlich, in seinen distanziert ironischen Beschreibungen der bürgerlichen Welt, lässt er an die Buddenbrooks denken, nur liebevoll von unten betrachtet, nicht als Teilnehmer von oben – doch in seiner Liebenswürdigkeit ist Kubinke beispiellos. Hermann war seinerzeit so erfolgreich wie ein Thomas Mann. Mit Kubinke hat er dem »kleinen Mann«, dem arbeitenden Träumer, der sein Herz am rechten Fleck trägt, was im Alltag nicht unbedingt nützlich ist oder stark macht, ein Denkmal geschrieben.

Das Berlin der Kaiserzeit ist die Epoche der Romane Georg Hermanns. Er lässt die Stadt wachsen, neue Kieze breiten sich aus: Schöneberg, Wilmersdorf, Charlottenburg, die zum Zeitpunkt der Romanhandlung noch nicht zu Berlin gehören. An allen Orten bemüht sich die Stadt »hochherrschaftlich« zu werden. Auch Emil Kubinke, der als Friseurgehilfe am 1. April 1908, an dem die Geschichte beginnt. die im auf und ab der Jahreszeiten nicht einmal ein Jahr später endet, aus der Provinz in die wachsende Metropole kommt und auf sein Glück hofft, kennt diese Welt nur aus der Distanz. Er selbst muss durch den Dienstboteneingang im »Gartenhaus«, wo er unter dem Dach mit seinem lebenstüchtigen Kollegen Tesch wohnt, der kräftig berlinert. Im Vorderhaus hat der Friseur Ziedorn einen florierenden Salon, verkauft sein Haarwuchsmittel »Ziedornin« und macht bei vermögenden Damen und in der Nachbarschaft wohnenden Huren gern Hausbesuche, die seine Dienste mit Naturalien vergüten, im quasi Tauschhandel, bis seine Gattin es unterbindet.

Kubinke sucht etwas schüchtern und wohl noch naiv, doch voller Engagement sein Glück – auch in der Liebe. Er erprobt es im Frühling zunächst bei Hedwig und Emma, den zwei Dienstmädchen im Haus, die eine drall, die andere schlank und beste Freundinnen, auch wenn sie teilweise um die Männer konkurrieren. Beide lassen den verwunderten Friseur abblitzen, benutzen ihn nur mangels Alternative zwischendurch. Das große Glück in der der Liebe findet er schließlich bei der rothaarigen Pauline aus der Beletage, mit der er sich im Grunewald sogar »verlobt«, schon das gemeinsame Leben samt Einrichtung und Laden plant. Doch Kubinke, arglos und nichtsahnend noch, wie so viele Männer in der Liebe immer wieder, den Autor dieser Zeilen inbegriffen, wird von den Unterhaltsforderungen seiner vorherigen Probelieben erpresst, die ihn, der nur bis zur Oberquarta das Gymnasium besuchte, das er nach dem Tod des Vaters verlassen musste, weil gebildet wirkend, für wohlhabend halten. Für das Leben in der Großstadt und dessen lockere Moralvorstellungen, ist er nicht gewappnet. Ihm legt sich wie von selbst der Strick um den Hals und so endet ein Jahr der Liebe mit Dreien, von dem ihm scheinbar nichts bleibt, hatte er doch seiner Pauline den Prozess, der ihm höchst peinlich war verschwiegen, zumal er davon ausging, dass er natürlich gewinnen würde, weil es doch schon biologisch gar nicht sein könnte, dass er ahnungslos geschwängert hätte, der nie an so etwas dachte.

»Aber endlich, endlich und zum Schluß hoffe ich doch, mir die Gunst des Lesers zu erringen. Denn – da ja in meiner Geschichte viel geliebt wird, so wird mir viel verziehen werden.«, schreibt Georg Hermann im Vorwort und dieser Kubinke und sein Unglück mit den Frauen in Berlin ist wirklich liebenswert und gerne ergänze ich noch, es ist eine Illusion zu glauben, dass nur die Damen der Großstadt so abgebrüht wären, wie es obiges Zitat nahelegt, denn sie sind doch alle Frauen, ob aus der Provinz oder aus Berlin, nur der Tonfall mag hier noch ein anderer sein.

Fragte mich bei der Lektüre mehrfach, ob ich es wirklich aushalte, ihn bis zum absehbar tragischen Ende zu lesen, mit dem der arme und so sympathische Kubinke ein Opfer seiner Ehrlichkeit und seiner Sehnsucht nach Liebe wird, die doch im Leben immer einen festen Boden braucht und so realistisch seine Träume mit Pauline waren, so lebensfern verhielt er sich in anderem und seinem tiefen Vertrauen auf die große Liebe die so oft heute kommt und morgen verschwindet, danach von nichts mehr wissen will und nur noch schaut, wie sie ihre Schäfchen ins Trockene bringt - zumindest scheint belegt, was einfach verschwindet, kann nicht groß gewesen sein, auch wenn dies zu verstehen immer Zeit braucht.

Waren die geschwängerten Frauen die Opfer und die Männer immer nur Täter, die zurecht bestraft gehörten, verhielt sich Kubinke nur naiv und war darum nicht lebensfähig oder ist es ein Gesetz der Liebe, wie Hermann es an anderer Stelle in seinem wunderbar distanzierten Ton beschreibt, dass es die vollkommene Harmonie nie geben kann, es am besten funktioniert, wenn jeder seine Geheimnisse behält, der Traum von Liebe nur eine naive Illusion für nette Momente ist, es im Leben aber immer nur ums Überleben miteinander geht und wo dies einigermaßen harmonisch möglich ist, alle Seiten zufrieden sein sollten?

Je mehr wir von großer Liebe träumen oder sie erringen wollen, desto ferner liegt sie meist - als ich das letzte mal, Jahre bevor ich Kubinke las, den Traum von der Liebe aufgegeben hatte, mich realistisch mit der Wirklichkeit abfand und mit ihr zufrieden zu Leben versuchte, zumindest ein guter Liebhaber gewesen sein wollte, schneite plötzlich eine kleine Prinzessin in mein Leben, verzauberte mich mit dem Traum von großer Liebe im Bündnis mit ihrer mir damals nicht unbeträchtlich erscheinenden Schönheit völlig und gerne wollte ich den Unsinn wider besseren Wissens glauben, bis ich mal wieder völlig erstaunt und naiv, auch wenn mehr als doppelt so alt als Emil Kubinke je wurde, auf die Nase fiel und dem verlorenen Herz aus der unmöglichen Beziehung zu lange hinterher trauerte.

Heilsam war so gesehen die Lektüre des Romans, der mir, auch wenn über hundert Jahre früher spielend, vorführte, es hat sich nie etwas geändert - nur ist es kein Privileg allein der Frauen an die Austauschbarkeit der Männer zu glauben, auch wenn sie ihre Hingabe gern wörtlich als einmaliges Glück inszenieren, was mich immer wieder zum Glauben an die ewige Liebe verführte, sogar wenn Erfahrung das Gegenteil belegen könnte, Männer können das, wenn vernünftig und kühl genug, genauso. Wie oft gelang mir dieses selbst, wo ich emotional noch nicht zu sehr beteiligt war, wie aber setzte mich mein naives, schlechtes Gewissen unter Druck, als ich meinte mich zwischen drei Prinzessinnen einst entscheiden zu müssen, die zwar verschieden doch jede für sich wunderbar waren, von denen aber eigentlich keine die Entscheidung wollte, sondern zumindest teilweise, zufrieden mit dem waren, was war, während ich von der großen Liebe noch träumte, ohne es so zu nennen - aber wie tief ist doch dieser Traum noch in mir verwurzelt, von dem ich weiß, er tut über kurz oder lang nur weh. Bin ich emotional masochistisch veranlagt, könnte ich mich aus guten Gründen fragen.

Wäre es also, Emil Kubinke, den sympathischen kleinen Mann betrachtend, im Leben klüger und im Ergebnis attraktiver, den Traum zu beerdigen, um das Mögliche ohne zu großen emotionalen Ballast zu genießen oder lebt es sich schöner mit Träumen, auch wenn sie sich in der Realität nie erfüllen werden - vielleicht kommt eines Tages doch die eine Prinzessin, mit der ich bis ans Ende meiner Tage glücklich bleibe, was ja jeden Tag kommen kann, oder ist das Leben viel genussreicher, wenn ich mich vernünftig in das füge, was eben ist, um zu funktionieren, den emotionalen Ballast abwerfe, nicht wieder naiv zu sein, lieber kluge Kompromisse schließe, glücklich mit dem, was gerade ist.

Alle Erfahrung spricht dafür und das tragische Ende von Kubinke, der zum Werther wird, bestätigt es - denn ein Werther ist nicht attraktiv als Mann, außer für romantische Schwärmer aber nie für vernünftige, kluge Frauen, sondern ein Idiot, so literarisch schön er auch sein mag, war er mir zu vernünftigen Zeiten immer fremd, bis ich selbst einer beinah wurde, an den Traum von der großen Liebe glaubte, als wäre ich sechzehn - in der Liebe pragmatischer zu relativieren, zumindest für sich scheint vernünftig - aber wie es der Dichter dann schaffen soll, glaubwürdige Liebeslyrik vom absoluten Glück zu schreiben, bleibt unklar und so balanciere ich lächelnd noch ein wenig zwischen Anspruch und Wirklichkeit bei dem Versuch das Leben dazwischen zu genießen, unsicher nach welcher Seite es am Ende geht, aber so bleibt es zumindest überraschend noch, trotz aller ewigen Wiederholung in immer gleicher Form bei den Versuchen der Begattung, die keiner so nennen würde.

Kubinke zu lesen jedenfalls lohnt sich, auch um des feinen Blicks in das Berlin der Kaiserzeit wegen, der einen historischen Horizont eröffnet, der mir erstaunlich nah vorkam - es hat sich in der Liebe und ihren Folgen eben doch nie viel geändert - bei Männern zumindest und vermutlich auch bei Frauen, aber was weiß ich schon von diesen, denk ich lächelnd und wie immer ein wenig verträumt.

jens tuengerthal 6.6.20