Montag, 15. Juni 2020

Zeitliteratouren

Durch die Jahrhunderte heute lesend kulturgeschichtlich wie literarisch gereist. Von der Lutherzeit bis in die später Aufklärung ging es, wenn auch in umgekehrter Reihenfolge und etwas hin und her, da der Leser die Freiheit hat, die Zeit nach Laune zu wählen.

Länger schon nicht mehr hatte ich von Monsieur Göthe gelesen, dem wunderbaren Band über Goethes Großvater von Boehnke, Sarkowicz, Seng aus der Anderen Bibliothek, in dem erzählt wird wie Goethes Großvater, noch Göthe genannt, sich als Schneider aus Thüringen, ganz in der Nähe, dies nur nebenbei, wo meine Familie über Jahrhunderte wurzelte, aufmachte, sein Handwerk in Frankreich, besonders in Lyon, wo die Seidenwerker saßen, zu perfektionieren und sich schließlich als erfolgreicher Gewandschneider in Frankfurt niederzulassen. 

Von seinem Großvater, der ein sehr erfolgreicher Handwerker war, heute las ich, wie sowohl der Darmstädter Hof als auch schlesische Adelige bei ihm Kostüme bestellten, die er ihnen in Rechnung stellte und er einem Rechtsstreit über eine unbezahlte Rechnung mit der Familie Textor hatte, einer alten Frankfurter Patrizierfamilie, der Goethes Mutter entstammte, schweigt Goethe, der später in Weimar als Freund und Berater des Herzogs von Goethe wurde. Dafür erzählt er in Dichtung und Wahrheit, was immer daran nun Dichtung und was Wahrheit wirklich ist, um so mehr von seinem mütterlichen Großvater Textor, der einmal Bürgermeister war, über den Goethe anlässlich der Kaiserkrönung mit in den Römer durfte. Darüber plaudert er gern, weil dieser städtische Adel etwas galt in seiner Heimatstadt, während der neureiche Handwerker, der es mit guter Arbeit, großem Talent und viel Fleiß zu einem Vermögen brachte, lieber verschwiegen wird.

Dass Goethes Vater Jura studierte, als Privatier lebte und sich das schöne Haus bauen konnte, in die bekannte Familie Textor einheiraten konnte und seinen Kindern, ohne je selbst einer geregelten Arbeit noch nachgehen zu müssen, eine gute Ausbildung finanzieren konnte - Goethe studierte in Leipzig und Straßburg oder dichtete vermutlich mehr, worauf ihn sein Vater nach Hause beorderte, wie den Protagonisten im Weltpuff Berlin allerdings mit deutlich weniger sexueller Erfahrung bis dahin und im Leben wohl überhaupt aber dafür reichlich emotionalen Abenteuern.

Der Gewandschneider stand sich gut in Frankfurt und Umgebung, wie es Thomas Mann von dem Vorfahren der Buddenbrooks in Rostock berichtet und so nimmt manch große Familie im Handwerk ihren Anfang, worüber in meiner Familie nichts bekannt ist - waren wohl mehrheitlich Pastoren, Lehrer oder Bauern aber auch da ist wenig gewiß, habe weniger Ahnung als Phantasie, zumindest ging auch mein Großvater nach Frankreich, was seinem späteren erfolgreichen Weg in Frankfurt wohl nicht geschadet hat, wohin die Familie nach dem Krieg aus dem mecklenburgischen geflüchtet war, auch wenn sie wie die Göthes thüringisch war oder damals aus Sachsen-Gotha stammte.

Während Goethes Großvater, der gewandte Monsieur Göthe noch Anschluss an die besseren Kreise als Handwerker suchte aber sogar bei Hofe geschätzt wurde, brachte es mein Großvater noch am Bundesrechnungshof zum Ministerialrat, was dem Geheimen Rat des Enkels dieses Schneiders zumindest am Ende ähnelt und ließ seine vier Söhne studieren deren einer mein Vater wurde aber das ist eine ganz andere Geschichte - zumindest waren meinem Großvater die Familie, der gute Name und die Kontakte zu den alten Familien wichtig, der er doch wie einst Monsieur Göthe mit nahezu nichts in der großen Stadt am Main ankam, nachdem er sich zuvor noch einige Jahre als Holzfuhrmann verdingt hatte, was zwar kein Handwerk war, aber doch die gute Kenntnis von Pferd und Wagen erforderte, was nur sein jüngster Sohn mit Leidenschaft übernahm, aber hier geht es ja um Goethes und nicht um meine Familie - wir sind auch meines Wissens nicht verwandt oder verschwägert bisher - wo auch immer es Goethe noch in den ersten Jahren mit dem Herzog in thüringischen, damals sachsen-weimarschen Wäldern und Auen trieb.

Auf den verschwiegenen Großvater, der dem gern großbürgerlichen Goethe vermutlich als Handwerker nicht der Rede wert war, um das eitle peinlich hier zu sparen, folgte der spätaufklärerische Roman Hermann und Ulrike von Johann Karl Wezel, den Goethe nicht besonders lobte, ob aus Neid oder Unverständnis einmal dahingestellt, denn dieser Band 411 der Anderen Bibliothek ist ein echter Schatz. Ein früher Bildungsroman, der erzählt, wie Held Hermann als Kind einfacher Handwerker am bizarr spöttisch beschriebenen Fürstenhof erzogen wird, sich in die unkonventionelle Baronesse Ulrike verliebt und wie beide voller Irrungen und Wirrungen schließlich der adeligen Welt entfliehen.

Im reichhaltigen und oft auch überbordenden Personal des in 2 Bänden in der Anderen Bibliothek erschienen Romans spiegelt sich ein wunderbares Bild der deutschen Gesellschaft des ausgehenden achtzehnten Jahrhunderts wieder. Der Geist des Romans ist geprägt vom Freiheitsstreben der Aufklärung und trägt doch den unkonventionellen Ausbruch für die Liebe, die alle Standesgrenzen überschreitet, schon in sich, der fast nach Sturm und Drang klingen könnte. Es bleibt das spöttisch distanzierte in den Beschreibungen Wezels, was an Voltaire oder Diderot erinnert, auch wenn Wezel rund 40 Jahre später lebte. Er schreibt unterhaltsam, mit einem Lächeln auf den Lippen und doch immer wieder von aufklärerischem Geist getrieben, der das Wahre, Schöne, Gute will. 

Eine lohnende Lektüre, mit der ich heute für einige Seiten in die höfische Welt eintauchte, in der die Konventionen noch viel stärker als alle Gefühle waren und bestimmte Beziehungen als unmöglich galten, um jeden Preis zu verhindern waren, was die Liebe aber, wie alle Erfahrung eher potenziert, denn die Unmöglichkeit einer Beziehung - ob nach Konvention, Stand oder Alter macht ja gerade ihren Reiz aus und wer sich allen Widerständen zum Trotz dennoch findet, kann damit wohl sehr glücklich werden, sagen die Gerüchte und einzelne bekannte reale Beispiele, wie etwa meine Großeltern, die sich auch gegen die Konventionen ihrer Zeit fanden und verliebten und eine wunderbare Liebesgeschichte lebten, lassen wir mal die späteren Affären meines Großvaters als im offiziellen unwichtig beiseite.

Spannend wäre dabei die Frage, ob die Liebe am Widerstand der Umgebung noch wächst oder wie häufig ein bloßer Trotz ist, was sie nicht am glücklichen Erfolg hindern muss. Wächst die Liebe, wie von Romeo und Julia bekannt, am Widerstand bis zur völligen Verzweiflung, macht blind für alles andere oder ist diese Prüfung der Ablehnung der Kitt aus dem die großen Lieben wachsen können, weil, wenn alles stimmt, es ganz leicht zu gehen scheint, sich wohl manches auch in zu schneller Gewohnheit abnutzen kann, nicht mehr als kostbarer Schatz wertgeschätzt wird.

Habe darauf noch keine sichere Antwort gefunden nur Erfahrung sowohl als auch gesammelt aber für dauerhafteren Bestand als drei mal drei Jahre noch keine praktischen Beispiele mit mir in einer der Rollen finden können. Die passende Verbindung macht vieles viel leichter, während die unpassende manches viel aufregender macht und die Liebe mehr fordert, die, wo sie besteht, vermutlich auch daran gewachsen ist.

Hermann und Ulrike wollen sich auf den ersten 130 Seiten, die ich las, schon sehr, werden daran aber nach Möglichkeit von ihrer Umgebung gehindert, weil die Baronesse doch unmöglich den einfachen Knaben wollen kann. Sie werden beide von ihrer je Umgebung abgelenkt und in Arbeit gestürzt, doch die Liebe zeigt sich als ein widerständiger Infekt, der immer wieder auftaucht und sie zueinander zieht, bis sie es wagen ihr, gegen alle Konvention, einfach zu folgen, was doch wunderbar ist, wenn die Liebe, wo sie wirklich ist, stärker als alle Umgebung sein kann und auch das Unmögliche erreicht.

Spannend wäre dabei noch die Frage, was die Liebe wirklich ist, wann sie so groß wird, dass sie alle Zweifel besiegt und auch die unmögliche Beziehung möglich macht. Ist es dieser Wahnsinn, des einander verfallen seins, der es unmöglich macht, ohne einander noch je weiter leben zu wollen, was Liebende nicht nur gerüchteweise fühlen und meinen und ich spreche auch bei diesem Wahn aus Erfahrung, der jede andere Existenz ohne einander völlig unmöglich erscheinen lässt, sogar wenn alle Vernunft längst sagt, es kann nicht gehen, konnte nie gut gehen, musste logisch scheitern, würde nur weh tun und viele der vernünftigen Argumente mehr, die aber alle gering erscheinen gegen die Größe des Gefühls, das den Liebenden umtreibt.

Es versteht kein Außenstehender, die immer wieder liebevoll, beschwichtigend oder irgendwann genervt auf die Liebenden einreden - mit Einsicht in die Umstände ist bei keiner Seite zu rechnen. Die Außenstehenden können die Größe des Gefühl nicht erfassen, während die Beteiligten sich unmöglich vorstellen können, je ohne einander zu sein, bis sie es dann sind und damit irgendwie leben müssen oder auch nicht, wie das Beispiel Romeo und Julia zeigte.

Hier prallt die emotionale Welt der Romantik oder des Sturm und Drang auf den Geist der Aufklärung, der die Welt gerechter und besser machen will, gegen Standesschranken kämpft und trotz aller aufgeklärten Erziehung der beiden Liebenden wird bei ihnen am Ende die Liebe stärker sein, was sie ausbrechen und ein gefährliches, abenteuerliches und konventionell unmögliches Leben wagen lässt, weil die Liebe über allem steht. Dies ist Ausdruck von Freiheit und Gleichheit der Menschen wie von der Größe romantischer Gefühle, die auch die verrückteste Entscheidung noch völlig logisch und folgerichtig erscheinen lässt.

Betrachte es und denke, wie gerne würde ich ausbrechen, es wagen, ergäbe sich je die Gelegenheit nochmal oder wirklich und weiß doch, glücklich werde ich damit sicher nicht. Betrachte es also lieber mit Abstand und vernünftig, füge mich den Umständen, die eben sind, wie sie sind und versuche ordnungsgemäß zu leben, statt dem großen Gefühl wohin immer es sich neigen sollte, zu folgen - dahingestellt, ob ich damit dauerhaft glücklicher bin, lässt es zumindest vernünftig leben und das mögliche genießen, statt das Unmögliche noch oder wieder zu wollen, was eben unmöglich und das ist auch gut so, solange es nicht stärker wird als alle Vernunft, was ja gelegentlich vorkommen soll.

Diese Dialektik zwischen hoher Emotionalität, die alle Welt aus den Angeln heben kann und dem Wunsch nach Befreiung durch Aufklärung in einer so geordneten Welt ist die Feuerprobe der Aufklärung in der Praxis. Wie lebensfähig sind Kants Grundsätze, wenn uns das Gefühl voll ergreift, sind wir dann noch frei oder des Denkens fähig, frage ich mich, sind alle Liebenden also unfreie Sklaven ihrer Gefühle bloß, die vom schmerzenden oder jubelnden Herz getrieben werden, weil sie unmündig bleiben oder ist es umgekehrt erst die wirkliche Befreiung jenseits aller Fesseln dem wirklichen Gefühl, was immer das dann sein soll, zu folgen.

Habe noch keine allgemeingültige Antwort darauf gefunden, nicht mal eine, die für mich immer gelten würde, sondern betrachte es immer noch verwundert staunend und weiß noch nicht genau, wohin es am Ende führt - aber so ist das Leben eben auch, was weiß ich schon davon oder kann ich je wissen - wunderbar aber beschreibt Wezel in seinem großen Roman die Irrungen Wirrungen der Liebe gegen alle Konvention zwischen den Idealen der Aufklärung - bin gespannt, ob ich hinterher irgend klüger bin.

Als dritten Band, diesmal von Galiani, bin ich mit Bruno Preisendörfer in die Lutherzeit gereist, als unser Deutsch erfunden wurde, wie es im Untertitel heißt und habe dort das Kapitel über die Ehe im Zeitalter der Reformation gelesen. Worauf kommt es dabei an und welche Regeln galten nun in dieser Zeit des Umbruchs, in der sich die Menschen auch wenn die Konfession mal wechselte dennoch paaren und fortpflanzen wollten, weil es in unserer Natur eben liegt.

Preisendörfer beschreibt schön die Konventionen der Zeit, wie plötzlich Pastoren ihre Liebsten heiraten sollten in evangelischen Gebieten oder die Kirche sie weiter als Haushälterinnen tolerierte in den katholischen Regionen. Es geht um mögliche und unmögliche Ehen, über die von den Eltern noch ausgesuchten Partner, weil es um eine Verbindung von Familien ging, was von Frau und Mann zu erwarten war, wie evangelische Fürsten den Kosten der Heirat, die manche in den Bankrott fast stürzte, Einhalt gebieten wollten durch genaue Vorschriften was gegessen und wieviel Bier getrunken werden durfte - Wein war nur ausnahmsweise zu genehmigen. Auch damals schon war trotz geplanter und ausgesuchter Ehe noch das Ideal die Ehe voller Liebe, die glücklich mit dem wurde, was gesollt war.

Heute zelebriert hauptsächlich der Adel die Hochzeiten hier noch in so konventioneller Form, was aber nicht gegen deren Haltbarkeit spricht und auch nicht für die der freier geschlossenen Lebensabschnittsbünde mit Partnern wechselnden Geschlechts gelegentlich auch. 

Luther schrieb noch klar, dass des Weibes Wille dem Manne unterworfen sei, womit heute wohl keine erfolgreiche Eheanbahnung mehr möglich wäre, doch auch zu dieser Zeit gab es schon Prozesse, gegen gewalttätige Ehemänner und Frauen, denen von Richtern strenge Schranken gewiesen wurden und die Opfer erwarben Freiheit oder den Anspruch auf Schadensersatz. Im Gerechtigkeitsdenken hat sich also trotz markiger Sprüche der Reformatoren nicht viel geändert. Im Traum von großer Liebe bei manchen etwas Verrückten, den Autor eingeschlossen, auch nicht wirklich - bis dahin leben wir mit der aufgeklärten Realität gut.

jens tuengerthal 15.6.20

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