Worauf baut die Familie außer der Blutsverwandtschaft und was hält sie zusammen?
Entscheidende Komponente der Verbindung ist das Gefühl füreinander, was eine Familie trägt. Aufbauend auf gemeinsamen Erinnerungen, gehalten lange von Abhängigkeit ist es doch zuerst eine kaum messbare Größe, die teilweise bedeutende auch materielle Verbände zusammenhält, die sich unter dem gleichen Namen finden.
Wie dieses Gefühl entsteht und was es ausmacht, ist schwierig unter einem Begriff zu fassen. Galt früher, dass geschwisterlich verbunden war, wer aus der gleichen Brust getrunken und damit genährt wurde, aus dem gleichen Schoß geboren ward, verdrängte die Bedeutung des Namens und der zugleich Einsatz von Ammen in wohlhabenden Familien dieses natürliche Verbindungsglied, was den Frauen eine klare Priorität bei der Begründung von Familie gegeben hatte. Es wurde durch den gemeinsamen Namen ersetzt, der wiederum patrilinear weitergegeben wurde, da Frauen für gewöhnlich den Namen ihres Gatten annahmen und damit nominell als Teil ihrer Geburtsfamilie aufhörten zu existieren, die dafür mit der Aussteuer ihren Obolus geleistet hatte, der die künftigen Mütter von allen weiteren Ansprüchen lange ausschloss.
Der Bund der Männer, der den Namen weiter trug und die Familie zusammenhielt, brauchte noch einen weiteren Faktor, der die Familie zusammenhielt und das Vertrauen für teilweise großen Kapitaleinsatz rechtfertigte. So wurden Kredite und Geschäfte vielfach in der Familie abgewickelt, zwischen Vätern und Söhnen oder auf der Onkel-Ebene, manchmal auch noch mit der großväterlichen Seite. Solche Kredite brauchten Vertrauen und Sicherheit.
Wie wurde Vertrauen gesichert oder wurde es aus der Natur der Familie vorausgesetzt?
Zum einen gab es sicher einen gewissen Vertrauensvorschuss in der Familie, doch genügte dieser nicht zur Sicherung von Krediten und wäre ohne eine zusätzliche Bindung von geringer Wirksamkeit gewesen. Ein Kernpunkt des Vertrauens war eine Gefühlsfrage - wem traue ich wirklich, genügt es, dass jemand mein Bruder oder Sohn ist oder muss diese emotionale Ebene zusätzlich stabilisiert werden?
Hier kamen sehr früh wieder die Frauen ins Spiel, gerade auch in den aufsteigenden bürgerlichen Familien der Renaissance, in denen teilweise erhebliche Kapitalbeträge übertragen wurden, gesichert durch das Vertrauen in die guten Verhältnisse, die eine gute Ehefrau garantierte. Die Frauen standen schon ab der Renaissance, als sich auch mit dem Buchdruck die Fähigkeit des Lesens und Schreibens immer weiter verbreitete, in ständigem brieflichen Kontakt, wussten untereinander über die jeweiligen Verhältnisse bescheid und schufen so eine zusätzliche Basis des Vertrauens, das Investitionen und Kredite zu sichern half, weil so bekannt war, wie es bei dem Betreffenden auch privat lief, ob die Ehe in Ordnung war, er geregelt seiner Arbeit nachging, für Ordnung und Sicherheit stand.
Zwar wissen wir nicht genau, welche Absprachen zwischen Ehegatten diese Korrespondenz begleiteten, um sich möglichst gut darzustellen, den erhofften Kredit zu bekommen oder inwieweit das Vertrauen unter den Frauen das der Ehegatten überstieg, aber es kann als gesichert gelten, dass diese Korrespondenz dazu beitrug das Vertrauen, als Basis von Krediten und Investitionen abzusichern und so wurde die auch emotionale Verbindung der Frauen eine wichtige Basis für die Kreditwürdigkeit einer Familie und der Geschäfte untereinander. Das Netzwerk der Frauen wurde so zu einer neuen Kreditsicherheit, welche stark auch auf emotionalen Komponenten beruhte.
So schufen die Frauen, indem sie sich in die Familie integrierten und das Familiengefühl stärkten, eine Welt von Vertrauen und Sicherheit, die damit zu einem materiellen Gegenwert werden konnte, auch wenn sie an diesem nicht direkt beteiligt wurden, sorgten sie doch für seine Sicherheit. Sie waren damit die Verantwortlichen für das richtige Gefühl in der Familie, ohne dass dieses als Mehrwert angerechnet wurde.
Sicher waren auch die Männer an diesem Gefühl und dem Vertrauen in die Familie durch ihr Verhalten beteiligt, doch wurde als Gradmesser das weibliche Gefühl aus der Art des Umgangs miteinander gewählt. Spannend wäre nun, zu fragen, ob dies am Mangel männlichen Gefühls oder an dem geringen Vertrauen in dieses lag.
Bis heute sind Frauen häufig für die weichen Themen verantwortlich, während Männer untereinander das Geschäftliche regeln, weil sie sich diesen nüchternen Bereich eher zutrauen. Auch wenn natürlich gesetzliche Gleichberechtigung besteht und in vielen Ehen die Partner als solche entscheiden und sich in allen Fragen abstimmen oder sogar die Frauen aufgrund größerer sachlicher Kompetenz die finanziellen Dinge regeln, wie es bei meinen Eltern ist, wird Männern häufiger weniger emotionale Kompetenz zugetraut, um die weichen Themen gut zu regeln.
Kenne es aus meiner Großfamilie, dass die Männer bei Tischreden oder feierlichen Angelegenheiten zu Ausbrüchen von Rührung mit feuchten Augen neigen, wie ich es selbst schon des öfteren erfahren durfte. Die Frauen sind dabei häufig eher liebevoll amüsiert, während die Männer sogar ob der eigenen Rührung, oder der über die schönen eigenen Worte, ein Element der Eitelkeit kann dabei sicher nie völlig ausgeschlossen werden, ins Stottern geraten.
Wie immer ich dieses Verhalten nun bewerte, als gelegentlich auch Beteiligter fiele ein neutrales Urteil naturbedingt schwer, kann ich zumindest sagen, dass die Männer von starken Gefühlen gerührt sind, auch wenn sich manche Cousine schon am Tränenfluss auch beteiligte, kann ich das von den Ehefrauen der Anwesenden nicht so berichten, die in diesen emotionalen Überfluss eingeheiratet haben, wobei Ausnahmen die Regel nur bestätigen.
Zugleich wird viel wert auf Traditionen und Rituale gelegt, die gemeinsame Essen umrahmen, vom Gebet und anschließendem Händereichen bis zum feierlichen Gesang bestimmter Lieder, die bei den Beteiligten ähnliche Rührung auslösen können, etwa Kein schöner Land oder Der Mai ist gekommen, von Stille Nacht zu Weihnachten ganz zu schweigen. Viele der Ehefrauen waren zumindest teilweise auch Hausfrauen und die Männer halfen nur auch, je nach interner Vereinbarung unterschiedlich, im Haushalt mit. Zwar wurden bestimmte Aufgaben traditionell von den Herren übernommen, wie das Bratenschneiden etwa, aber es galt lange noch eine traditionelle Arbeitsteilung auch beim Hausputz und ähnlichem, dahingestellt, ob dies an der jeweiligen Begabung auf diesem Gebiet lag, was mir zwar möglich aber auch zweifelhaft erscheint, wenn ich sehe, wie es in meiner Generation teilweise völlig umgekehrt wurde.
Ob die starke Neigung zur emotionalen Rührung, die von den Brüdern und ihrem Vater ausging und sich in der nächsten Generation fortsetzte, nun typisch männlich oder weiblich ist, kann ich nicht beurteilen. Sie ist jedenfalls sehr gefühlvoll und ein typischer Teil unserer Familienfeste, die zeigen, wie nah und vertraut wir uns doch immer noch sind, was sich auch bei Hochzeiten immer wieder zeigte aber auch sonst bei jedem geeigneten Zusammentreffen auftreten kann und was ich nicht ausschließlich auf den genossenen Alkohol zurückführen würde.
Zeigt sich in der Art, wie in meiner Familie häufig Männer die Beteiligten zu Tränen rühren können, die immer wieder gern erinnert und zitiert werden, eine besondere emotionale Kompetenz der Männer meiner Familie oder ist sie eher Ausdruck typisch männlicher Eitelkeit, die sich mit dem rührenden Lob der Familie auch selber lobt, was eine für Männer nicht untypische Qualität bis heute ist, die gerne bescheiden tun, um das ihnen gebührende Lob noch stärker zu betonen und damit erfolgreich sind, so sie es mit einer Prise Humor zu würzen wissen. Dies ähnelt der Betrachtung im Spiegel, während Mann gewöhnlich relativ unkritisch einen Adonis vor sich sieht, findet Frau häufiger Mängel an sich und es wäre vermutlich spannend, ob schon in dieser schlichten Neigung zur verzerrten Selbstwahrnehmung, auf welcher Seite auch immer, der Grund liegt, warum eine ganze Industrie von Schminkwaren entstehen konnte, die bis heute stärker von Frauen getragen wird, aber ist nicht Thema dieses Essays, das sich doch primär dem Gefühl in der Familie widmen sollte und dies im Stile Montaignes gerne ganz ungeschminkt tun möchte.
Lasse an dieser Stelle mal offen, ob es primär Eitelkeit sein könnte, zumindest empfand ich es als Beteiligter nie so, sondern war eher aufgewühlt und gerührt von der emotionalen Nähe der Familie, empfand stark für die Familie und möchte den anderen männlichen Verwandten nichts anderes dabei unterstellen. Wie es in anderen Familien ist, kann ich nur bedingt beurteilen, solches wurde mir aber seltener berichtet.
Ob daraus nun eine besonders hohe emotionale Kompetenz der Männer meiner Familie rühren könnte, bin mir der gefährlichen Eitelkeitsfalle wohl bewusst, die in dieser Familie gerne bestückt wird, um hervorzustechen, kann dahinstehen, weil spannender für mich an dieser Stelle ist, dass auch diese gelegentlich zeremonielle Rührung den Männern als Gegensatz zu ihrem sonstigen männlichen Verhalten, dass sie auch gern öffentlich zur Schau tragen, angerechnet wird.
Die Rührung und das starke gezeigte Gefühl gilt als Gegensatz zu dem, was die Männer der Familie sonst ausmachen soll und wird darum besonders beachtet, während die Rührung der Frauen eher als erwartungsgemäß gelten würde, feuchte Augen von den Vätern der Familien nicht erwartet werden, die sich sonst im Kampf des Lebens ohne zuviel Gefühl erfolgreich zeigen sollen, womit ich die Schublade der Konvention bereits voll geöffnet habe.
Bin so groß geworden und kannte zugleich noch die Sprüche der Großeltern, eine Junge kennt keinen Schmerz, bei der Elterngeneration hieß es dann eher ein Indianer, um das militärische darin zu überwinden, was eher mit überwundenen Idealen verbunden wurde. Sollte also hart und männlich sein, um zugleich bei Festen die besondere Rührung als eben besonders zu zelebrieren und dem Kult der Familie damit einen höheren Wert zu geben. Weichheit von Jungen wurde zwar in meiner Generation schon eher toleriert, war aber doch immer etwas anrüchig. Nur die Rührung und die feuchten Augen über die Familie, waren gestattet, sie kannten wir schon vom Großvater, der sie auch bei großen Festen zeigte.
Inwiefern damit in meiner Familie eine besonders hohe emotionale Kompetenz unter Männern vorhanden ist, kann ich nicht beurteilen, bezweifle es eher und denke, dass die beschriebene Rührung damit am Ende eher Bestandteil des besonderen Kultes um die Familie ist, der sogar Männer zu Tränen rühren kann. Das Familiengefühl ist also so groß, dass es als besonderer Gegensatz sogar sonst harte Männer zu Tränen rühren kann und ich denke, dass dieses Element dabei immer auch mitschwingt, auch wenn es in meiner Familie unter den Männern durchaus gelegentlich die Neigung zu emotionale Extremen geben kann, betonen sie diese gerne nur im Rahmen der Familie und werden sonstige Ausraster lieber höflich beschwiegen, der Familie und ihres Zusammenhaltes wegen, was ich mir an dieser Stelle auch zugestehe.
Welcher Seite ich die höhere emotionale Kompetenz heute zutrauen würde, weiß ich nicht genau, da alle auch immer in Gewohnheiten und Mustern reagieren. Die stärkere Neigung zu manchmal emotionalen Ausbrüchen würde ich keiner Seite allein zusprechen, sondern müsste es je nach Anlass im Einzelfall beurteilen. Klar werden Männer auch in meiner Familie, wie im Alltag eher zu weniger emotionalem Verhalten erzogen. Was sie wann mehr zeigen, ist eine Frage des Charakters und der Neigungen.
Aus eigener Erfahrung auf dem großen Markt der Paarung kann ich nur berichten, dass Frauen, zumindest am Ende oder danach, häufig kühler und besonnener reagierten, außer ich habe das ganze innerlich schon vorher aus sonstigen Gründen beendet gehabt. Überhaupt scheinen mir Frauen bei der Paarung mir mehr Erwartung und Berechnung vorzugehen als Männer oder zumindest als ich, wie es mir schien, legen allerding größten Wert auf die rein emotionale und damit unberechenbaren Gründe ihrer Entscheidung, die ich mit zunehmendem Alter nicht mehr zu verstehen versuchte, weil es keinen mir zugänglichen Schlüssel gab.
Kann zumindest sagen, wenn ich mich in eine Beziehung stürze, tue ich es immer mit ganz viel Gefühl, was mich natürlich angreifbar und verletzlich macht, zu seltsamen Reaktionen auch in mir führen kann, der ich mit Mustern der Erwartung an mein Verhalten groß wurde, andererseits die Gestattung der emotionalen Rührung beim Thema Familie sehr hoch achte und darum, wenn ich Nähe suche und nicht nur Sex, schnell in familiären Kategorien denke, die wiederum empfindsam und verletzlich machen, was zugleich die im Werben erforderliche Männlichkeit ein wenig beschneidet aber nach glaubwürdigen Berichten anderer Männer und im Rückblick auf die bisher gemachten Erfahrungen, kann ich zumindest sagen, ich stehe mit diesem Problem nicht ganz alleine und bin über die Jahre trotz unmännlich emotionaler Neigungen, die auch im Alltag getarnt wurden, nicht immer völlig vereinsamt.
Ob sich daraus ein Schluss für die Rolle des Gefühls in der Familie im allgemeinen schließen lässt, vermag ich nicht zu sagen. Zumindest in meiner Familie spielen starke männliche Gefühle der Rührung eine besondere Rolle für den Zusammenhalt, auch als Gegensatz zur sonst erwarteten Rolle. Der Alltag zeigt mir zwar immer wieder wie Frauen zu Äußerungen der Rührung neigen, wie süß und ähnliches, aber tatsächlich eine relativ nüchternere Betrachtung des Beziehungslebens haben als Männer und auch die Fähigkeit das Hemd oder die Bluse bei bedarf schneller zu wechseln als ich, außer ich wollte den Wechsel zuvor schon und war emotional längst weniger beteiligt, was aber alle Konturen verschwimmen lässt und eine allgemeine Aussage eher unmöglich macht. Gefühl ist wichtig in der Familie, die Basis aller Liebe aber manchmal bei der Entstehung ein sicheres Hindernis in seltsamer Welt, die häufig dabei anderes noch sagt, als sie meint, außer mir hier natürlich, aber, was weiß ich schon als Mann vom Gefühl?
jens tuengerthal 4.7.20
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