Freitag, 24. Oktober 2014

Bürgerlust II

Um zu wissen, was Lust am Sein des Bürgers ausmacht, scheint es mir klug, vorab einen Blick in die Geschichte zu werfen, um von dort aus zu verstehen, wie es wurde, was es ist und was wir daraus machten im Licht der Geschichte. Dass dies eine zutiefst bürgerliche Herangehensweise im Denken wie in der Systematik ist, könnte der Betrachtung hinderlich sein, sofern wir annehmen, wer etwas ist, oder als Teil von etwas, das selbige, aus dessen Art betrachtet, kann nur ein Bild liefern, das notwendig subjektiv, relativ unvollkommen, nie einen objektiven Horizont gibt. Versuchte ich darum, objektiver zu schauen, weniger bürgerlich also, bestünde vielleicht die Chance einer neutraleren Betrachtung, die allerdings relativ teilnahmslos bliebe. Ich schriebe nur als einer, der keine Ahnung von dem hat, worüber er schreibt, jedenfalls kein Gefühl dafür hätte. Da ich so bürgerlich bin, wie ich groß wurde und sie in meiner Familie seit vielen Generationen groß wurden und vermutlich Enkel und Urenkel, so es sie noch gibt, die Familie als Idee, groß werden, kann ich nur so schauen, wie ich es lernte. Ich bin also Teil meiner Betrachtung, nehme nicht für mich in Anspruch, objektiv zu sein, was immer das wem sein soll, sondern schreibe aus interner Sicht auch über ein Lebensgefühl, das ich nun historisch betrachte und tue das im möglichst ernsthaften Ton, um mich vor mir für mein nur schreibendes Tun zu rechtfertigen, womit wir schon ethisch, moralisch im Thema wären, aber dazu später, da es zunächst um die historische Entwicklung des Begriffs des Bürgers geht und wie daraus die Bürgerlichkeit als Lebensgefühl wuchs, was nun, wie eingestanden, nicht objektiv ist, aber doch einem gewissen Formalismus genügt und damit der Sache aus sich heraus dienlich sein könnte - ich schreibe bürgerlich, um den Bürger und sein Wesen zu verstehen, bin damit zumindest formal dem Wesen sehr nah, Nähe erkennt das Detail und somit vielleicht wesentliches, aber dazu später. Nach der historischen Einordnung dessen, was ein Bürger war und ist, verorte ich mich und die Tradition meiner Familie erzählend darin, um zu fragen, was von dem Begriff der Bürgerlichkeit in der klassenlosen Gesellschaft blieb.

Der Bürger und wie wir ihn begreifen, hat seine historischen Wurzeln im antiken Griechenland. Nach Aristoteles Definition war der Bürger, durch seine Teilhabe am Richten und an der Herrschaft bestimmt. In der Demokratie Athens des fünften vorchristlichen Jahrhunderts bedeutete dies, Bürger war, wer an den Gerichtshöfen als Richter fungieren und an den mindestens viermal im Monat stattfindenden Volksversammlungen, in denen über alle wichtigen Fragen der Polis entschieden wurde, teilnehmen konnte. Vom griechischen πολίτης – polites abgeleitet ist auch unser heutiges Wort Politik, πολιτεία – politeia = ‚das, was den Bürger und die Stadt betrifft, also ist dies eine zutiefst bürgerliche Sache und Frage, sich zu verwalten und sich um die Verwaltung der Gemeinschaft zu kümmern. Bürgerlich wäre danach, wer sich engagiert, was ein neues Licht auf ein oft mißbrauchtes Wort werfen könnte, insofern es mehr um das ob als das wie geht, wären danach viele bürgerlich, die das nie sein wollten.

Die der griechischen folgende bürgerliche Hochkultur, war die Roms, deren Wirkung Europa bis heute prägt. Ein Blick auf ihre Struktur ist für unser Verständnis vom Bürger erhellend. Verständnis ist Aufklärung, diese macht frei und ist also Bedingung der gesuchten Lust am bürgerlichen Leben. Das römische Bürgerrecht war anfangs wie in den griechischen Poleis nur auf die Einwohner der einen Stadt Rom und die Bauern der umgebenden Landstriche beschränkt. Daneben existierten die Stadtrechte anderer Städte. Es war ein Geburtsrecht, das den jungen Männern zusammen mit der Toga virilis verliehen wurde. Der Civis, also der Alteingesessene, durfte im Gegensatz zum Zugezogenen, Gast und zum Bundesgenossen an der Volksversammlung und an der Wahl teilnehmen, wobei die Stimme abhängig von Vermögen und Wahlbezirk unterschiedliches Gewicht hatte. Er konnte auch selbst Ämter übernehmen, wenn er genügend Geld dafür hatte. Seine Geschäfte, auch mit Nichtrömern, waren durch die römischen Gesetze geschützt, und sollte er in Schwierigkeiten geraten oder eines Verbrechens angeklagt werden, so konnte er sich auf Vorrechte berufen. Er war zum Kriegsdienst verpflichtet, wenn er in der Lage war, seine Ausrüstung selbst zu stellen. Der römische Civis durfte nur Römerinnen heiraten, was übrigens auch ein Grund war, weshalb die Ehe zwischen Marcus Antonius und Cleopatra als Skandal gesehen wurde. Die Bürger wollten also eine relativ inzüchtige geschlossene Gemeinschaft bleiben, wie klug das auch immer war.

Den Peregrini und Socii war es durchaus möglich, für persönliche Verdienste besonders im Krieg das Bürgerrecht verliehen zu bekommen. Auch Freigelassene konnten das Bürgerrecht erhalten, meist zusammen mit der Freilassung. Mit dem Bürgerrecht erhielt der Neubürger den Namen dessen, der es ihm verliehen hatte, und wurde zu dessen Klient.

Mit der Ausbreitung des römischen Einflussgebietes erhielt das römische Bürgerrecht einen höheren Status als die Bürgerrechte der eroberten Städte. Diese Bundesgenossen waren zwar verpflichtet, als Hilfskräfte an den römischen Kriegen teilzunehmen, besaßen aber weder Mitbestimmungsrechte noch die Privilegien, die römische Bürger genossen, wie z. B. eine gewisse Immunität vor Gericht und die Möglichkeit, in die besser bezahlten Legionen einzutreten. Dieser Zustand, von Pflicht ohne Recht führte zum Bundesgenossenkrieg (91–88 v. Chr.), der allen italischen Stämmen zwischen Po und Golf von Tarent das volle römische Bürgerrecht einbrachte. Ein Sieg machte sie zu Bürgern, eine spannende Konstellation auf dem Weg zur Freiheit und das auch jenseits der Stadt und hier mischt sich der Bürger einer Nation mit dem der Stadt. Das Selbstverständnis der Bürger ging über die enge Gemeinschaft hinaus.

Nichtitaler konnten das Bürgerrecht für sich und ihre Nachkommen erwerben, wenn sie nach Ableistung der vollen Zeit als Auxiliarkräfte ehrenvoll aus der Armee entlassen wurden. Auch wurde den Anführern eroberter Gebiete das volle Bürgerrecht verliehen, um sie an das Römische Reich zu binden, hier verband sich imperiale Politik mit Innenpolitik in einer Weise, die dem Reich half, sich zu reformieren und stark zu bleiben.

Mit dem Ende der römischen Republik endete auch das bürgerliche Mitbestimmungsrecht, obwohl der Senat und die Ämter offiziell weiterexistierten. Civis zu sein bedeutete jetzt nur noch einen sichereren Rechtsstatus und die Möglichkeit in die Legionen einzutreten. Ersteres wurde schon bald zugunsten der Bevorzugung der Reichen vor den Armen aufgeweicht, womit sich Freiheit mit Besitz verband, was eine logische contra dictio eigentlich ist, da Besitz gerade bindet und Freiheit nimmt, aber zur Ordnung ruft und zu guten Bürgern macht.

Im Jahr 212 erteilte Caracalla mit der Constitutio Antoniniana allen Einwohnern des römischen Reiches das Bürgerrecht, einerseits um die Identifikation der verschiedener Völker mit dem Reich zu fördern, andererseits um leichter neue Legionäre rekrutieren zu können, dies war kurz vor dem Untergang aus verschiedenen Gründen nötig, aber es zeigt sich, das globale Recht aller, verlor für die römische Elite an Wert und die es verteidigen sollten, wurden immer weniger. Die Ausdehnung, die das Reich zunächst stabilisieren sollte, bewirkte das Gegenteil und es war nichts mehr wert, Römer zu sein, es wurde zur bloßen Pflicht.

Über das Verständnis der Bürger in ihrer Rolle in der nun folgenden Übergangszeit mit dem Zerfall des römischen Reiches und der Völkerwanderung, gibt es wenig Aufzeichungen außer aus Klöstern, die ja eine Sonderrolle spielten als geistliche Herrschaften und in denen es wengier um bürgerliche Freiheit als um Gottesdienst ging

In der mittelalterlichen Verfassung, also zu einer Zeit, als es wieder eine Ordnung gab, nachdem die Roms verfiel, war ein Bürger einer Stadt ein vollwertiges Mitglied der Gemeinschaft, der alle Rechte und Pflichten genoss. Die übrigen Bewohner des Ortes hießen Inwohner oder Beisassen. Im Frühmittelalter besaßen zunächst nur die Mitglieder der städtischen Oberschicht, die aus ratsfähigen Familien stammten, das Bürgerrecht. Später weitete sich die Bürgerschaft aus, bis zunehmend auch Einwohner ohne Immobilienbesitz das Bürgerrecht erhalten konnten, oder Beisassen eigene Beisassenrechte eingeräumt wurden, die sich nur geringfügig von den Rechten der Bürger unterschieden.

Wichtigste, im Früh- und Hochmittelalter unabdingbare Voraussetzung für die Bürgerschaft, war der Immobilienbesitz, genauer der Besitz eines grundsteuerpflichtigen Anwesens innerhalb der Gemeinde oder Stadt. Besitzer von kleinen Häusern, die auf den Grundstücken der Bürger errichtet waren, waren damit zunächst vom Bürgerrecht ausgeschlossen. Die Anzahl der Bürger war damit im Vergleich zur Zahl der Einwohner vergleichsweise klein. Weitere Voraussetzungen waren die ehrliche Geburt, das heißt, dass sie ehelich geboren sein mussten und nicht von Henkern, Totengräbern und sonstigen „unehrlichen“ Berufen abstammten, ein Mindestvermögen und die Tatsache, dass sie zum Zeitpunkt der Aufnahme nicht in Rechtsstreitigkeiten verwickelt waren. Eigentum verpflichtete also und begünstigte zugleich, machte erst zum Bürger und in dieser Rolle aber auch eindeutig unfrei. Wer ein persönliches Interesse am Bestand der Stadt hatte, weil sie auch ihm gehört, bekam Rechte, Dasein allein genügte nicht. Fraglich inwieweit wir uns unter dem Diktat der Banken wieder dieser Situation indirekt immer mehr nähern und inwieweit der demokratische Staat hier eine Schutzpflicht hätte. Auch ein interessanter Exkurs wäre, warum die Henker und Totengräber als Bürger unehrlich waren oder als solche galten und was das für eine Gemeinschaft bedeutet, die töten lässt, aber dies zugleich unehrlich nennt.

Der Titel Bürger, in alten Aufzeichnungen wie Matrikeln oft lateinisch civis genannt, war kein Titel, der vererbt oder auf Lebenszeit vergeben wurde. Vielmehr musste er beantragt werden und wurde bei Vorliegen der entsprechenden Voraussetzungen gewährt. Diese Aufnahme in die Bürgerschaft wurde in der so genannten Bürgerrolle dokumentiert, wobei auch eine entsprechende Gebühr, das Bürgergeld, fällig war. Dieses Bürgergeld konnte auch gestundet werden – eine Maßnahme zu der Städte dann griffen, wenn sie Neubürger anwerben wollten. Rechtskräftig wurde die Aufnahme erst mit der Teilnahme des Neubürgers am Gesamtschwur, der meist beim Zusammentreten eines neu formierten Stadtrates von der gesamten Bürgerschaft geleistet wurde.

Bei Wegfall der Voraussetzung, insbesondere dem Verkauf oder der Übergabe des Hauses, welches das Bürgerrecht begründete, verfiel das Bürgerrecht wieder und der Bürger kehrte auf den Status eines Einwohners zurück. Was in heutigen Zeiten hoher Mobilität zu interessanten Ergebnissen führte hinsichtlich kommunaler Mitbestimmung. Ein immobiles Freiheitsrecht lässt auch auf einen sehr gebundenen Begriff von Freiheit schließen, der unserem heutigen kaum vergleichbar ist.

Wenn also der Sohn eines Ackerbürgers das väterliche Anwesen übernahm, konnte er damit das Bürgerrecht beantragen, das damit dem Vater verloren ging. Viele Handwerker ohne Nachfolger innerhalb der Familie verpachteten ihren Betrieb an einen Inwohner, blieben aber als Eigentümer noch Bürger. Häufig verkauften sie später das Anwesen an den Pächter unter Einräumung eines Wohnrechtes. Damit kehrte sich der Status um: der neue Eigentümer erhielt das Bürgerrecht, der alte wohnte als Inwohner auf dem Anwesen. Womit sich zeigt, Bürger war keine Qualität, die an Eigenschaften lag, sondern allein am Grund und also irgendwie auch Geld hing. Wo sich zum Glück zumindest etwas änderte im Lauf der Demokratie, wenn sie auch mit der Postdemokratie gerade Gefahr läuft, dies wieder zu verlieren und die Freiheit für Kredite zu verkaufen, aber das wird ein anderes Thema jenseits der Geschichte.

Mit der Aufnahme in die Bürgerschaft gingen verschiedene Pflichten einher, die die Inwohner nicht oder in geringerem Maß betrafen. Diese waren verschiedene Steuern, Wach- und Wehrdienst, Arbeitspflicht bei öffentlichen Bauarbeiten, die Bindung an die städtische Gerichtshoheit. Das Bürgerrecht umfasste neben der oft nach Einkommen abgestuften politischen Teilnahme und der Freiheit gegenüber Grundherren weitere Privilegien. So garantierte die Stadt den Rechtsschutz des Bürgers gegenüber äußeren Forderungen, beispielsweise gegenüber Gläubigern, kaufte Bürger aus der Gefangenschaft frei oder führte für ihre Bürger Fehden, bei denen dann die Bürger oder von ihnen bezahlte Söldner füreinander einstanden. Rechtssicherheit für die Geschäfte also, wie sie bis heute wichtig ist.

Mit dem Pfahlbürgertum, wurde Personen, die außerhalb der Stadt wohnten, ein Teil der Bürgerrechte gewährt, und es gab das Ausbürgertum, mit dem auswärtige Adlige, die Grundbesitz in der Stadt hatten, das Bürgerrecht erwerben konnten. Beide Formen verschwanden im Spätmittelalter. Die Kleriker hatten in den meisten Städten einen Sonderstatus inne, der sie vom Bürgerrecht ausschloss, ihnen aber einige Privilegien gewährte. Im Verlauf des Mittelalters bemühten sich viele Städte um die Einbürgerung der Geistlichen, um die Privilegien der Kirche aufzulösen.

Die Juden besaßen in den meisten Städten seit der Kammerknechtschaft 1236 ein eingeschränktes Bürgerrecht, das oft nur das Wahlrecht zum Stadtrat ausschloss und einen speziellen Judeneid, analog zum Bürgereid, umfasste. Nach den Judenpogromen um 1350 wurde dieses Recht meist nur noch auf Jahresfrist begrenzt erteilt.
Gegenwart

Mit der Verwirklichung der allgemeinen und freien Wahlen in der Weimarer Verfassung von 1918 erhielten erstmals alle deutschen Einwohner des Deutschen Reiches das volle (Staats-)Bürgerrecht. Frauen wie Männer und gleich welcher Religion. Eine revolutionäre Änderung, die zwar im Rahmen der Revolutionen von 1848 schon angedacht, aber nie erreicht wurde

Bis heute ist die Staatsbürgerschaft an das ius sanguinis gekoppelt, das heißt der volle Umfang aller staatsbürgerlichen Rechte (insbesondere Wahlrecht, Freizügigkeit, konsularische Unterstützung im Ausland) und Pflichten (z. B. Steuern und Abgaben, Meldepflicht oder Achtung von Gesetzen wie der Straßenverkehrsordnung) ist, bis auf wenige Ausnahmen des Einbürgerungsrechtes, vornehmlich an die Abstammung bereits deutscher Eltern gebunden. Durch die erweiterte Form des Staatszugehörigkeitsrechtes für Minderjährige nicht-deutscher Herkunft erlangen diese jedoch bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres einen Rechtsstatus, der sich den minderjährigen Deutschen annähert, die ja auch noch keine vollen Bürgerrechte genießen.

Im heutigen Sprachgebrauch wird der Ausdruck Mitbürger häufig zur Unterscheidung vollrechtlicher Deutscher und eingeschränkt berechtigter Nicht-Deutscher verwendet. Bundeskanzler Helmut Kohl unterschied in der Neujahrsansprache 1993/1994 „Mein herzlicher Gruß am heutigen Abend gilt Ihnen, liebe Landsleute, und unseren ausländischen Mitbürgern …“. Diese Unterscheidung nutzte auch der unterfränkische Regierungspräsidenten Paul Beinhofer am 6. Februar 2007 beim Empfang des Integrationsforums Miteinander leben – voneinander lernen, hier in der Differenzierung zwischen „ausländischen Mitbürgern“ und (deutschen) „Spätaussiedlern“. was noch deutlich auf das tiefsitzende Verständnis eines Blut- und Bodenrechtes schließen lässt, was den Notwendigkeiten eines Landes, das auf Einbürgerung angewiesen ist, wenn es nicht schrumpfen will, allein um seine sozialen Strukturen zu erhalten. Hier wird es wieder spannend inwieweit wir es uns leisten können weiter Bürger erster und zweiter Klasse zu unterscheiden oder doch allen, die zum Funktionieren des Staates beitragen, in dem sie hier Steuern zahlen und als Bürger nur eben mit halbem Recht leben, die vollen Bürgerrechte zu gewähren, um eine langfristige Integration der Gemeinschaft als Solidargemeinschaft mit Teilhabe zu ermöglichen. Eine sehr politische Frage, die hier etwas weit führte, aber viel mit dem Verständnis von Bürgerlichkeit und Freiheit zu tun hat.

Die Definition des Bürgers ist auf der Ebene der Kommunen ein klar definierter Begriff. Auch wenn er in den einzelnen Gemeindeordnungen in unterschiedlicher Weise umschrieben wird, bestehen im Kern keine wesentlichen Unterschiede. Bürger ist, wer Deutscher im Sinne des Artikels 116 des Grundgesetzes ist oder die Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedsstaates der Europäischen Union besitzt, das 18. Lebensjahr (in einigen Ländern das 16. Lebensjahr) vollendet hat und seit mindestens drei Monaten in der Gemeinde wohnt. Wer in mehreren Gemeinden wohnt, ist Bürger nur in der Gemeinde, in der er seinen Hauptwohnsitz hat.

Somit gibt es letzte Elemente der alten ständischen Gliederung: Bürger haben alle Rechte und Pflichten eines Einwohners, jedoch zusätzlich das aktive und passive Stimmrecht bei Gemeinderatswahlen und sonstigen Gemeindeangelegenheiten (Bürgerbegehren, Bürgerentscheid, Anhörung bei Gemeindegebietsänderungen) sowie die Pflicht, eine ehrenamtliche Tätigkeit in der Gemeinde anzunehmen und eine gewisse Zeit auszuüben, wenn keine Hinderungsgründe bestehen.

Der Begriff „Bürger“ ist in der Schweiz ein klar definierter juristischer Begriff. Das Bürgerrecht ist hier ein von einer Gemeinde verliehenes Recht, das vererbbar ist – siehe auch Schweizer Bürgerrecht. Die Begriffe Einwohner und Bürger sind deshalb nicht identisch. Grundsätzlich hat der Schweizer ein Gemeindebürgerrecht und daraus folgt der Kantonsbürger oder Schweizer Bürger. Die von der Einwohnergemeinde oft separaten Bürgergemeinden (teils auch Burgergemeinde genannt) sind eigenständige Körperschaften mit Behörden, Vermögen und Rechnungslegung. Diese Bürgergemeinden sind Nachfolger der mittelalterlichen Gemeinden; sie mussten spätestens mit der Bundesverfassung von 1848 Teile ihrer Kompetenzen abgeben. Die Regelungen divergieren von Kanton zu Kanton.

Nun habe ich versucht, einen kleinen Überblick über das zu bekommen, was wir heute Bürger nennen, es ist ein erster Schritt auf dem Weg zum Verständnis von heutiger Bürgerlichkeit, wie diese zu bewerten ist, für mich persönlich und als ethisches Gut in der Gemeinschaft. In der heutigen Parteiendemokratie wird viel durch eben diese Parteien in der Verwaltung der Kommunen, in denen die Bürger leben bestimmt. Das Leben findet auf mehreren Ebenen statt.

In Berlin, lebe ich in einem Kiez, das nähere persönliche Umfeld, in dem ich fußläufig meine Einkäufe hier städtisch erledigen und zugleich auch ausgehen kann, ein nahes soziales Umfeld, noch ohne größere juristische Regelung. Diese findet sich auf der Ebene des Bezirks, in dem ich gemeldet bin beim Einwohnermeldeamt als Bürger eines Bezirks der Stadt, die aus vielen Dörfern besteht. Mein Dorf nennt sich Pankow, auch wenn ich in Prenzlauer Berg lebe und wert darauf lege, weder in Weißensee, noch in Karow, Buch oder Pankow zu leben, was eben Dörfer am Rande sind, bin ich nun formal Pankower Bürger und der frühere Bezirk Prenzlauer Berg ging in dem anderen auf, bildet mit ihm eine Verwaltungseinheit mit einem Bürgermeister und einer Bezirksverwaltung deren Ämter über die Bezirke verteilt sind. Dieses neue fusionierte Dorf hat fast 300.000 Einwohner, was anderen Städten im Land schon genügte, sich ziemlich groß zu fühlen. Dennoch leben alle Bürger in ihren Kiezen, selten ziehen sie über die Grenzen in den anderen, auch wenn es heute etwas häufiger vorkommt als zu früheren Zeiten, um noch finanzierbaren Wohnraum zu finden, versuchen die Menschen, die Bindung zu ihrem Kiez zu erhalten, dort sind sie verwurzelt und so geht es auch mir und ging es mir an den Plätzen, an denen ich hier im Laufe der Jahre wohnte.

Als leidenschaftlicher Museumsbesucher überschreite ich auch mal die Grenzen meines Kiezes, was der Berliner sonst eher zu vermeiden versucht, zumindest soweit er in seinem Bezirk alles findet, was er zum Leben braucht, da die Museen sich eben über die Bezirke verteilen und für Besuche bei Bergguen oder in der Sammlung Scharf-Gerstenberg, begebe ich mich sogar mal nach Charlottenburg, tief im Westen, was mir sonst immer eher fern liegt. Wie schon oft beschrieben, zeigt sich die Unterschiedlichkeit der Bürger der je Bezirke schon oft auf den ersten Blick, fraglich wäre, ob dies auch für ihr Verständnis als Bürger und ihre Rolle gilt.

Treffen sich Berliner anderswo, sind sie Berliner und sich oft erstaunlich einig, bis es ins Detail geht, dann werden die Unterschiede deutlich und die Einigkeit schwindet schnell der Konkurrenz. Berlin hat verschiedene Ebenen der bürgerlichen Identität und das macht die lokale Betrachtung für den Begriff der Bürgerlichkeit so spannend, dass ich dieser lieber noch ein eigenes Essay widme. Nur soviel an dieser Stelle zum Ende der Geschichte der Bürgerlichkeit, die sich sonst in Details des aktuellen verliert, es gibt die Kiezbürger, die so unterschiedlich sind, wie die Städte, die als Berlin 1920 zusammengefasst wurden. Durch die Teilung hat sich auch ein unterschiedliches Verständnis der Berliner Identität entwickelt, die sich zwar als eine Stadt sehen, auch wenn das, was West-Berlin einmal war, historisch nie Berlin war, sondern vor der Stadt lag, gibt es auch ein unterschiedliches Verständnis für die verschiedenen bürgerlichen Institutionen der Bürgerlichkeit in Berlin.

Viel aus dem, was Berlin ausmacht und warum welche Bezirke gerade wie sind, lässt sich erst aus der Geschichte der Stadt verstehen, führte hier aber zu sehr zu einem Berlin Essay, worum es ja auch nicht gehen sollte, wenn auch die Bürgerlichkeit in Berlin und ihr Verständnis noch Gegenstand eines späteren Essays werden könnte, es gibt einfach viel zum Thema Bürgerlichkeit und dem Verständnis davon her, auf die geteilte Stadt und ihre seltsamen Wege zu schauen, die auch historisch ein völlig anderes Verständnis von bürgerlicher Freiheit und Verantwortung auf der anderen Seite begründen und auch wenn hier teilweise Grenzen schon verschwimmen an den Rändern, zeigt sich doch im Kern, die Identität ist lokal geprägt und das macht mehr im Leben aus, als es dem Betrachter von außen möglich scheint.

Geboren in Bremen und von mütterlicherseite her eng mit den Traditionen der dortigen Bürgerlichkeit auch verbunden gewesen, von der Bremer Eiswette bis zur Schaffermahlzeit an der mein Urgroßvater als Unternehmer noch teilnahm, hat Bremen als alte Hansestadt viel von bürgerlicher Tradition und Identität in seinen Traditionen bewahrt, zu denen auch die Verbundenheit zum dortigen Fußballverein Werder Bremen gehört, wie schlecht auch immer seine Lage gerade sein mag.

Es gibt vor dem alten Bremer Rathaus noch den Roland. Diese Figur, die längst Weltkulturerbe wurde stammt aus dem Jahr 1404 in seiner Steingestalt, vorher gab es noch eine wesentlich ältere Holzfigur, die Roland den Heerführer darstellt, den Neffen Karls des Großen, der auf seinem Schild die Reichsfreiheit Bremens als eben freie Stadt im Reich verkündet, die nur dem Kaiser Untertan ist und er rät den Bremern für diese vom Kaiser gewährte Freiheit Gott zu danken. Sein erhobenes Schwert stand für die Gerichtsfreiheit der Stadt und damit für einen ganz wichtigen Punkt der bürgerlichen Freiheit, die für den Reichtum der Hansestadt von großer Bedeutung war, die über die Weser direkten Zugang zur Nordsee und damit zum Handel mit den Niederlanden, England und manchen mehr hatte.

Zu Füßen des Rolands findet sich eine Figur jenes Krüppels, der im Jahre 1032 das Gelände umkrochen haben soll, das die Gräfin Emma der Stadt als Bürgerpark geschenkt hat, der es heute noch ist und in dem ich meine ersten Schritte insoweit ganz bürgerlich unternahm. In diesem Bürgerpark befindet sich heute auch das Parkhotel, mit dem ich auch verschiedene familiäre Traditionen verbinde, da nicht nur meine Eltern dort heirateten, mein Großvater und meine Großmutter all ihre runden Geburtstage dort feierten, sondern auch meine Mutter dort einmal arbeitete, bevor ich ihre volle Aufmerksamkeit forderte und es dann irgendwann von Bremen weg nach Frankfurt am Main ging.

Auch das ist wieder eine Stadt voller bürgerlicher Traditionen, die ein eigenes dickes Buch füllen könnten, warum ich hier nur einige zufällig auswählen will, die mir persönlich sehr nahe waren. Als erstes war dies der Stadtwald, in dem die Bürger flanierten und der sich weit gen Süden erstreckte, die Lunge der Stadt, die zu Frankfurt gehörte und nicht wie die im Taunus gelegenen Gemeinden Bad Homburg oder Kronberg nur Vororte waren, die besucht wurden, er gehörte zur Stadt und wurde belebt und ich habe viel die Freiheit dieses Waldes genossen, in dessen Nähe ich in Schwanheim groß wurde, denn was konnten wir dort nicht alles machen. Vom Hüttenbau bis zur Bunkereroberung oder der Munitionssuche am nahen Schießplatz. Sehr früh lernte ich auch die beiden aus Bürgerstiftungen hervorgegangenen großen Frankfurter Museen kennen. Das Städel, die Gemädesammlung Frankfurts voller schöner Meisterwerke, in der ich meinen ersten und ich glaube auch letzten Malkurs besuchte, denn die Verteilung der Talente scheint manchmal gerecht, was ich schreiben kann, geht mir dafür an bildnerischem oder musischem Talent ab. Aber die schon frühe Bindung zu diesen Bildern ist besetehen geblieben und und die Liebe zu Museen. Jeder Besuch im Städel ist ein Besuch bei alten Freunden und wie war ich enttäuscht als mich bei meinem ersten Besuch nach dem Umbau nicht mehr der Goethe von Tischbein mit den zwei linken Füßen begrüßte, der für mich immer das Städel und den Weg in diese Sammlung begründet hatte, der nun gerade in der wunderbaren Ausstellung über Deutschland vom genialen Neil MacGregor im British Museum zu London hängt als Leihgabe. Mein Vater ist schon lange Mitglied im Städeverein, auch wenn die Eltern schon längst nicht mehr in Frankfurt wohnen, aber es ist eben eine Tradition, wie er der Universität verbunden blieb, an der er studierte, promovierte und sich habilitierte. Die andere museale Tradition mit enger Bindung ist die Stiftung Senkenberg und das Senckenberg mit seinen riesigen Dinos und seinen Unmengen an ausgestopften Tieren und ägyptischen Sakophagen war ein Kindertraum und auch dieser Stiftung gehört mein Vater als Bürger irgendwie als Mitglied an. Erinnere mich genau an die jeweils monatilich erscheinenden Mitteilungen der senckenbergschen Gesellschaft, die häufig auf dem Klo lagen und in denen es immer auch Bilder von neuen Ausgrabungen gab. Mein Vater arbeitete auch irgendwie mit diesem Museum zusammen, jedenfalls hat er zu der Zeit, als Röntgengeräte noch eher nur in Kliniken standen für das Senckenberg viele Fossilien geröntgt und so kam ich als kleiner Junge in den Genuss etwa das in der Frankfurt nahen Grube Messel gefundene Urpferdchen oder den Archaeopterix von ganz nahem zu sehen. Sonntägliche Besuche mit Familie und Freunden in diesem Museum bei denen mein Vater aus seinem riesigen Vorrat an naturwissenschaftlichem Wissen schöpfend, Geschichten erzählte, gehören zu den Höhepunkten meiner kindlichen Erinnerung, wenn auch nicht ohne ein gewisses Gruseln vor  den Mumien oder den ausgestopften Tieren und der Angst in diesem Museum mit den Dinosauriern und Mumien eingeschlossen zu werden. In Erinnerung an bürgerliche Frankfurter Traditionen ist noch das Rathaus am Römer und die Feierlichkeiten, wenn etwa Freunden ein Orden verliehen wurde oder natürlich der dortige Weihnachtsmarkt, der sich bis zur nahen Paulskirche erstrecke, unweit der dann der Bunderechnungshof lag und noch liegt, jener Institution in der mein Großvater wiederum als Ministerialrat tätig war und die Finanzen des Bundes prüfte nachdem er vorher zu Brüssel und Paris die der NATO geprüft hatte als dann noch Diplomat irgendwie, aber das ist schon über vierzig Jahre her und entzieht sich fast der aktiven Erinnerung. Es gibt auch in Frankfurt zahlreiche weitere Orte traditioneller Bürgerlichkeit und die Paulskirche in der heute noch der Friedenspreis des deutschen Buchhandels zur jährlichen Buchmesse verliehen wird, die auf dem Weg vom Römer zum Bundesrechnungshof des Großvaters liegt, ist nur das prominenteste davon, als Sitz des Parlamentes nach der ersten bürgerlichen Revolution von 1848, die mitten ins Biedermeier fiel, jene Epoche zwischen Wiener Kongress und Reichsgründung, die den bürgerlichen Stil zur Mode erhob auch an den Höfen.

Zu dieser Zeit lebte die väterliche Familie noch in Gotha, die mütterlichen Linien teilten sich zwischen Hannover und Bremen auf. Ururgroßväter waren Hofbibliothekare beim dortigen Herzog und es gab da eine beamtische Tradition, auch wenn es gerüchteweise wohl ein Gut gab, zu dem im Rahmen der Unruhen von 1848 nach einer Anekdote des Großvaters, der Titel abgelegt wurde, weil einer der Vorfahren zu den eher revolutionär gesinnten Parlamanetariern in der Paulskirche gehörte, nach welchem Gasthof sich sein Kreis auch immer bennante - habe dies weder weiter verfolgt noch im Gotha oder sonstigen Archiven Belege dafür gefunden, aber es ist auch egal, ob es eine bürgerliche Tradition bis in das Jahr 1280 gab, aus der das Wappen der Familie stammt oder eine womöglich junkerliche, wovon ich als Bürger mal Abstand nehme oder doch nur eine irgendwie frei bäuerliche. Irgendwann wurde die eigene Familie bürgerlich und bekannte sich stolz dazu, forschte unter den Ahnen, freute sich mit Arnoldis und Spohrs verwandt oder verschwägert zu sein und genügte sich im übrigen selbst zwischen Aufstieg und Untergang und zutiefst bürgerlicher Tradition.

Beobachte ich meine Familie historisch sehe ich, dass es in der geraden Linie eine Abneigung gegen die Mitgliedschaft in Parteien gab, was es mit dem angeblich noch junkerlichen aber dann doch revolutionären Vorfahren in der Paulskirche auf sich hat, weiß ich nicht und spielt jetzt auch keine entscheidende Rolle. Es wurde gewählt, eher konservativ, bürgerlich, vielleicht liberal, darüber wurde nicht konkret sondern nur im Allgemeinen gesprochen, da das Wahlgeheimnis hoch geachtet wurde, aber sie waren in keiner Partei. Diese Tradition brach ich eine zeitlang als Sozialdemokrat nach dem Tod meiner Großväter, die das zu Lebzeiten sicher kaum verziehen hätten, um mich dann doch wieder aus dem System der Parteien in Tradition der Familie zu lösen.

So ganz konsequent war das wohl auch nur im nächsten Umfeld, da der Bruder meines Großvaters als früher Pastor ein engagierter Nazi in regional hoher Position wurde, bis er kurz vor Kriegsende wieder unter den Mantel der Kirche kroch, was ihm mein Großvater nie verzieh, der nach dem 20. Juli 1944, da sein Name entfernter auf den Listen Gördelers stand, wegen einer angeblichen Unterschlagung, die er nach dem Krieg widerlegen konnte, degradiert wurde und an die Ostfront geschickt wurde, während die einen Bremer Urgroßeltern nach einem Gerücht meiner Großmutter, dessen Wahrheitsgehalt ich nicht überprüfen möchte, weil sie mir so gut gefällt, ein jüdisches Ehepaar versteckten und damit retteten bis zu seiner Flucht und der andere Urgroßvater, der seinerseits als Fabrikant Ostfriesland elektrifizierte und noch im vorigen Weltkrieg mit Richthofen in einer Staffel geflogen war, einen Tag wohl tatsächlich ins Gefängnis  wanderte, bis ihn seine Arbeiter wieder herausbrüllten, weil er seinen jüdischen Bankier bei dessen Verhaftung und Abführung durch die SA freundlich mit Handschlag begrüßte.

Völlig unbeteiligt an diesem Mut meiner Großväter und Urgroßväter erfüllt mich diese Tradition doch mit einem gewissen Stolz, auch wenn er keinen Grund in mir hat und steht für eine neue demokratische Bürgerlichkeit, die sich jenseits aller Parteien als stolz und engagiert begriff. Bürger die ihren Staat auf viele Weise trugen und widerstanden, wo Gehorsam ihnen nicht zur Ehre gereichte. Dies preußische Verständnis von Ehre und Bürgerlichkeit, wie es sich auch auf dem Grabspruch des von der Marwitz findet, ist ein Stück Identität und bindet die Traditon in die Gegenwart ein, als ein seiner Gemeinschaft verantwortlicher Bürger, der in Traditionen denkt, sich aus ihnen definiert und einen hohen Wert auf Freiheit legt.

Diese Traditionen zeigen sich in noch zwei familiären Anekdoten. Der Großvater der väterlichen Linie etwa legte großen Wert darauf, ein preußicher Kadett gewesen zu sein nach dem frühen Tod seines Vaters 1914 in Frankreich. Andererseits legte er dabei genauso viel Wert darauf, dass er aus Lichterfelde beinahe wegen einer Frauengeschichte geflogen wäre, was dem Preußentum einen sehr menschlichen Anstrich gibt und sein Verständnis von Bürgerlichkeit erläutert. Schon irgendwie konservativ, deutschnational und kaisertreu irgendwie aber doch auch ironisch dabei und mit viel Abstand dazu, es auf der Konsenslinie eines eigentlich Preußen als Bundesbürger ironisch betrachtend und wert darauf legend, nie ein Nazi gewesen zu sein. Die andere Geschichte erzählt von der Beerdigung des Bremer Großvaters, der auch mit Gott und Kirche eher nichts am Hut hatte, spätestens jedenfalls nach seinen fast zehn Jahren in russischer Gefangenschaft, der die eher kaisertreue Linie meiner Großmutter, die noch in Hannover geboren war, eher belächelte. Auf dieser Beerdigung, die weitgehend seinem Wunsch entsprechend auf alle Kränze und Blumen verzichtete und lieber für die Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger spendete, sprach kein Pastor, dass wollte er nicht, sondern zwei Club Kameraden aus dem Club zu Bremen, einer auch sehr bürgerlichen typisch bremischen Institution unter dem Schütting, der alten Börse, direkt gegenüber dem Bremer Rathaus gelegen, in dessen Etablissement wir auch manchen Geburtstag feierten.

Die Großmutter dagegen, aus Hannover stammend, als Kind Nachbarin von Hindeburgs, die noch mit ihrer hugenottischen Grandmere französisch sprach und als junges Mädchen ihre Erziehung als Dame in einem Londoner Mädchenpensionat vervollkomnete, worauf sie großen Wert legte, und die damals bei Lady Storry, die junge Elisabeth als Mädchen im Garten nebenan spielen sah, war deutschnational und nach der Revolution noch kaisertreu geprägt. Sie erzählte immer wieder gern von ihrem Mädchenstreich, damals schon Gymnasiastin bei Kippenberg in Bremen, wie sie anläßlich des Maiaufzuges der Arbeiter auf den Dachboden der Schule kletterte und die Schwarzrotgoldene Fahne einzog, um die in Schwarzweißrot aufzuhängen, was, nachdem der Streich der beiden Mädchen aufflog, der für große Empörung sorgte, sicher den Schulverweis zur Folge gehabt hätte, wenn nicht mein Urgroßvater dies mit dem Direktor von Kippenberg im Club geklärt hätte. So war auch ihre Freundschaft zu Prinzessin Kira und Prinz Louis Ferdinand von Preußen, die auf dem Wümmehof bei Bremen nach dem Krieg lebten, ihr sehr wichtig und auch wenn sie betonte, wie normal bürgerlich ihr Verhältnis war und sie mit der Prinzessin kegeln ging und Spenden sammelte für den Deutsch-Amerikanischen-Freundschaftsverein ihr sehr wichtig. wobei sie wohl das vierhändige Klavierspiel mit Louis-Ferdinand sehr genoss, da beide wohl ausgesprochen musikalisch waren und sie ansonsten als Ehepaare miteinander Bridge spielten, die Kinder zusammen zur Tanzstunde gingen.

Bürgerliches Leben eben, das mich bei der ersten Lektüre der Buddenbrooks vielfach schmunzeln ließ, diesem wunderbarsten Bilderbuch deutscher Bürgerlichkeit in ihrer hanseatischen Ausprägung. Sie waren bieder die Bremer, relativ wohlhabend, schon gebildet aber weit davon intellektuell zu sein, lasen ihren Weser Kurier und hatten eine kleine Büchersammlung, lebten zwischen Bridgepartien, Tennis Club und früher den Ausritten im Bürgerpark. Dabei legte mein Großvater großen Wert auf die hanseatisch bürgerliche Tradition. Meine zeitweise adelige Verlobte, faszinierte meine Großmutter sehr, während es meinen Großvater eher mißtrauisch machte, wie er überhaupt in seiner Bürgerlichkeit zufrieden durchaus mißtrauisch war.

Anders dagegen der Großvater der bürgerlich väterlichen Linie, ein kleiner Mann, der fließend französisch und englisch parlierte, sich als junger Mann seinen Aufenthalt im Paris der 20er als Student der Rechte und der Volkswirtschaft noch als Zigarettenverkäufer auf der Leipziger Messe verdient hatte, war ein aufbrausendes Temperament mit cholerischer Neigung und zugleich unendlicher Liebe und Großzügigkeit. Ein Mann, der die Frauen liebte, angeblich bis er meine Großmutter traf, seine große Liebe, der er auch bis ins Grab relativ treu blieb, die er jedenfalls liebte und mit seiner auch lauten Art kultisch verehrte. Er hielt die Tradition als preußischer Kadett formal hoch, gab sich als Preuße und war doch ein kritischer Thüringer und Bürger der Großstadt, der erst im Alter aufs Land zog. Ein auch Lebemann, der gerne guten Wein trank, viel Wert auf Familie legte und für mich die Brücke zur Tradition der Buddenbrooks darstellte, da einerseits noch im vergangenen Jahrhundert verwurzelt und vieles praktizierend, was uns fremd schon schien, andererseits ein kritischer Geist, mit dem sich auch mit 87, älter wurde er leider nicht, noch kritisch auseinandergesetzt werden konnte und ich gestehe, um so älter er wurde, um so besser, weil die Strenge der Milde wich.

Er war Beamter und Rechnungsprüfer des Bundes aus Überzeugung. Zugleich war er Oberhaupt der Familie, worauf er viel Wert legte, wie auf die Anrede als Grotepater, eine Version von Großvater, was meine älteste Kusine sagen sollte, aber noch nicht aussprechen konnte und was er dann liebte, warum wir ihn von nun an alle so nennen mussten. Er war auch sehr frankophil, liebte seinen kleinen Weinkeller und seine verstecken Cognac Flaschen in seinem kirschhölzernen Arbeitszimmer, verausgabte sich gern schwitzend bei der Gartenarbeit und hier den Wünschen meiner Großmutter folgend. Es war ihm eine Lust, ein Bürger zu sein und wunderbar zeigt sich dies, auch am regelmäßigen abendlichen Abschied vom Tag, den die Familie dann auf der Bank unter dem Apfelbaum beging, um am Ende zum Ausklang Kein schöner Land … zu singen. Von ihm stammen auch Traditionen der Familie, wie sich vor jedem Essen die Hände mit einem Segensspruch und gutem Appetitwunsch die Hände zu reichen, sowie sogar vorab zu beten und dieses kleine Tischgebet ist sogar mir Atheisten so präsent und normal, dass es zu sprechen eher eine familiäre als eine spirituelle Handlung wäre, wenn ich auch zugegeben nur auf das sich die Hände vorab reichen noch Wert bei meiner Tochter gelegt habe, da die andere nette Formalie zu fern lag.

Bürgerlichkeit und das ist vielleicht nach diesen zwei Ausflügen einmal in die Geschichte der Bürger überhaupt und die persönliche deutlich geworden, ist eine Lebensform, die sich aus Tradition und Lust am miteinander speist, die verschiedene Wurzeln hat, die sich doch in einem Konsens findet, der über Bildung und einen Teil der Werte sich erklärt. Bürgerlichkeit ist in der Lust auch eine Freiheit. Ein Sein ohne Adel aber auch ohne Abhängigkeit, das sich gerne ein wenig oben anlehnt, wie sich von unten distanziert ist. Der Bürger ist stolz Bürger zu sein, ist aber sicher kein Arbeiter, kein Bauer und auch kein Adel, auch wenn es eigentlich, zumindest in der Bundesrepublik, keinen Adel mehr gibt, zumindest nicht funktional und der Adel viele bürgerliche Traditionen pflegt, wie auch umgekehrt die bürgerlichen Traditionen in Teilen sich denen des Adels annäherten, warum es hier dahinstehen kann. Es gibt das, was die Bürgerlichkeit ausmacht, formal nicht im Rechtsstaat. Der Bürger als Institut des Rechts ist in der formal klassenlosen Gesellschaft nur die Inhaberschaft bestimmter Bürgerrechte, die nach kurzem Kampf 1918 und nach längerem 1945 für alle Bürger gleich welchem Geschlechts und welcher Abstammung durchgesetzt wurden. Das aber hat nichts mit dem bürgerlichen Lebensgefühl aus Tradition und Familie zu tun, die auch auf Geschichte fußt aber einen eigenen Stand in der ständelosen Gesellschaft bildet. Es gibt die Bürger nicht mehr, die schon im Untergang einer Familie, dem Untertitel der Buddenbrooks untergingen und doch gibt es sie und leben sie von einem Konsens der Traditionen und finden sich untereinander. Sie haben ihre Institutionen, in die wenige von außen eindringen und sind doch oft letztlich nur noch am Brockhaus im Bücherregal festzumachen gewesen. Eine Tradition ohne reale Basis, die sich aus Erinnerung speist und die als solche keinen formalen Rahmen mehr hat, sondern nur noch Bruchstücke dieses Rahmens ihr eigen nennt.

Diese haltlose Existenz und ihre Verortung wird noch Gegenstand der folgenden Essays, deren weitere Ankündigung ich nun lieber unterlasse, wer weiß schon, wann ich sonst tatsächlich dazu komme, sie zu schreiben nebenbei, zumindest habe ich mich auf die doppelte Suche nach den Wurzeln der eigenen bürgerlichen Tradition begeben und sie zugleich versucht, in einen historischen Rahmen zu stellen und damit soll nun an dieser Stelle auch gut sein.
jt 24.10,14

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