Sonntag, 16. August 2020

Genidentität

Was macht Identität und Verwandtschaft aus?

Während der argentinischen Militärdiktatur wurden tausende Menschen ermordet und verschwanden teilweise spurlos. Ihre Kinder wurden von Angehörigen der neuen Eliten aufgenommen und als adoptierte groß gezogen, fern ihrer eigenen Familie.

Gegen diesen Kinderraub wehrten sich, wie Christina von Braun in ihrem Buch Blutsbande berichtet, die Mütter der Opfer und also die Großmütter der entführten Kinder, die nach dem Ort ihres Widerstands Madres de la Plaza de Mayo genannt wurden.

Sie setzten nach dem Ende der Diktatur in Zusammenarbeit mit Genetikern Zwangstests durch, die Gesetz wurden und mit denen sie die Kinder ihrer ermordeten Kinder in ihre Familie zurückholen wollten.

Ob das legitim und gut für die Kinder war, entschieden Gerichte, womit zumindest ein gewisser Schutz der Kinder gewährleistet wurde. Unklar ist, wie dieser Zwang zur Untersuchung der genetischen Identität für die Kinder war, die längst in einer anderen Familie aufgewachsen und integriert waren.

Hier fragt Christina von Braun vorsichtig, was familiäre Identität ausmacht, ob das Blut, also die natürliche Verwandtschaft entscheidend sein oder Familie nicht vielmehr ein soziales Konstrukt ist, unabhängig von genetischer Verwandtschaft, wie es die Sozialwissenschaften ohnehin eher vertreten.

Würden diese Kinder dann nochmal zu Opfern der längst beendeten Diktatur, wenn sie, um nachträglicher Gerechtigkeit wegen, aus ihrer nahen sozialen Familie gerissen würden und dafür in die ihnen sozial ferne genetischen Familie müssen?

Dies scheint auf der einen Seite natürlich und gerecht, es ist ja die Familie, in die sie hinein geboren wurden. Andererseits haben sie mit der natürlichen Familie keine soziale Beziehung, werden also in eine fremde Welt gestoßen, was traumatische Folgen haben kann.

Was macht ihre Identität aus und wer sind sie wirklich?

Familie ist eben immer auch der soziale Zusammenhang, in dem wir aufwuchsen und der uns damit geprägt hat. Habe immer versucht, meine Partnerinnen in meine Familie zu integrieren. Dabei aber auch Fälle erlebt, wo das einseitig war, weil sie nichts mit ihrer Familie zu tun haben wollten, weil diese ihnen angeblich nicht gut tat. Was ich immer akzeptierte, wenn auch unwillig, was blieb mir auch übrig, fand es aber immer komisch und letztlich fehlte damit eine wichtige Bindung an die eigenen Wurzeln. Es ging in diesen Fällen im Ergebnis nie gut, dahingestellt ob es allein daran lag.

Für mich ist Familie wichtig für das Verständnis meiner Identität, erklärt mir vieles über mich, meine Neigungen wie meine Aversionen. Ohne dieses Wissen und diesen Zusammenhang würde mir etwas fehlen.

Ob dieser allerdings aus der genetischen Nähe resultiert oder aus dem sozialen Kontext der Großfamilie resultiert, in dem ich aufwuchs, wüsste ich nicht zu sagen. In meiner Erinnerung sind es die sozialen Ereignisse und der Kontext, in dem ich aufwuchs.

Es taucht bestimmtes Verhalten in  meiner Familie über Generationen immer wieder auf. Von der Neigung zur Rührung bis zur Cholerik. Ob dies nach Vorbild angenommen oder durch die Gene zumindest mitbedingt ist, wüsste ich nicht zu sagen. Für beides spricht einiges.

Erst, indem ich mich etwa dem Element der Cholerik bewusst stellte, konnte ich es weitergehend überwinden, was für eine Prägung durch Erfahrung spricht. Indem ich nun darüber schreibe, wird der Prozess noch offener und klarer - aber es wird dieses Jekyll und Hyde Element auch wieder wie eine Urkraft spürbar, der ich quasi ausgeliefert war, wenn sie auftrat ohne bewusste Möglichkeit der Steuerung, was sehr für eine Anlage spricht.

Denke, es ist wichtig für Menschen auch ihre natürliche Herkunft zu kennen, um sich ganz zu verstehen. Aber die soziale Prägung wirkt sicher in noch mehr Bereichen. 

Vielleicht können wir uns eine Familie aussuchen, wenn wir, warum auch immer, mit der natürlichen nicht klarkommen. So wie viele von uns auch irgendwann eine eigene Familie mit ausgesuchtem Partner gründen. Dennoch bleibt manches in uns, das die Identität bis zur Symbiose ausmacht, was wir durch Anlagen geerbt haben. Beides macht erst kumulativ unser Sein aus, warum im argentinischen Beispiel auch die zwangsweise Rückführung, so gerecht sie scheint, mehr Probleme verursachen, als lösen könnte.

Es gibt in diesem komplexen Bereich keine einfachen Antworten aber viele offene Fragen, warum wir vermutlich am besten im Einzelfall unter Abwägung aller Umstände entscheiden, statt auf klare und einfache Lösungen zu hoffen. Weil wir alle und das Leben eben komplex und kompliziert ist, braucht es viel Vorsicht, so gerecht wie nur möglich zu handeln.

jens tuengerthal 16.8.20

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