Sonntag, 7. Juni 2020

Kubinkeliteratour

“... darüber, daß man statt des einen Mannes im Notfall den anderen nehmen könnte - so ungefähr wie man statt einer rosa Bluse ja auch eine hellblaue anziehen könnte - darüber bestanden zwischen ihnen keinerlei Meinungsverschiedenheiten … denn endlich waren sie doch beide Frauen …”

Mit dieser Einigkeit zwischen Frau Betty Löwenberg und ihrer Pauline, dem Kindermädchen, Mädchen für alles und bis dato Verlobten von Emil Kubinke kurz vor Ende des Romans Kubinke bringt Georg Hermann die Geschichte und das Leiden seiner Hauptperson auf den Punkt. Der gute Emil wird die Suche nach Liebe nicht überleben, so viel kann schon verraten werden, ohne ein Geheimnis auszuplaudern, schließlich deutet der Autor genau das schon im Vorwort an, aber schafft es dann über 334 Seiten in Band 414 der Anderen Bibliothek die Spannung mit viel Humor aufrecht zu halten.

Georg Hermann, der eigentlich Georg Hermann Borchardt hieß, entstammte einer bekannten jüdischen Berliner Familie. Der 1871, also im Jahr der Reichsgründung, in Berlin geborene Schriftsteller wurde 1943 im KZ Auschwitz ein Opfer des Holocaust. Im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts war Hermann ein vielgelesener und erfolgreicher Autor, der seinem großen Vorbild Theodor Fontane nacheiferte, zuerst sogar im Verlag von Fontanes Sohn verlegt wurde. Am erfolgreichsten waren seinerzeit die Romane Jettchen Gebert und Herniette Jacoby, die im Berlin der Jahre 1839/40 spielen und das Bild einer liberalen jüdischen Familie zeichnen. Sie erschienen in über 260 Auflagen. Nach dem Reichstagsbrand flüchtete Hermann mit seiner Familie nach Holland, seine Bücher wurden bei der Bücherverbrennung im Mai 1933 von den Nazis und ihren Mitläufern in die Flammen geworfen. Nach der Besetzung Hollands durch die Wehrmacht wurde er Anfang 1943 gezwungen seinen Wohnort Hilversum, wo Liebermann einst eines seiner schönsten Bilder malte vom Landhaus seines Freundes, zu verlassen und sich nach Amsterdam zu begeben. Aus dem Durchgangslager Westerbork wurde er Mitte November nach Auschwitz deportiert, dort auf der Altenrampe aussortiert und kam wohl am 19. November 1943 in der Gaskammer ums Leben.

In seinem Roman Kubinke hat Hermann den einfachen Angestellten als tragische Figur des Romans entdeckt. In seinem Scheitern ist er Falladas »Kleinem Mann«, in seiner Fallhöhe Döblins Franz Biberkopf ähnlich, in seinen distanziert ironischen Beschreibungen der bürgerlichen Welt, lässt er an die Buddenbrooks denken, nur liebevoll von unten betrachtet, nicht als Teilnehmer von oben – doch in seiner Liebenswürdigkeit ist Kubinke beispiellos. Hermann war seinerzeit so erfolgreich wie ein Thomas Mann. Mit Kubinke hat er dem »kleinen Mann«, dem arbeitenden Träumer, der sein Herz am rechten Fleck trägt, was im Alltag nicht unbedingt nützlich ist oder stark macht, ein Denkmal geschrieben.

Das Berlin der Kaiserzeit ist die Epoche der Romane Georg Hermanns. Er lässt die Stadt wachsen, neue Kieze breiten sich aus: Schöneberg, Wilmersdorf, Charlottenburg, die zum Zeitpunkt der Romanhandlung noch nicht zu Berlin gehören. An allen Orten bemüht sich die Stadt »hochherrschaftlich« zu werden. Auch Emil Kubinke, der als Friseurgehilfe am 1. April 1908, an dem die Geschichte beginnt. die im auf und ab der Jahreszeiten nicht einmal ein Jahr später endet, aus der Provinz in die wachsende Metropole kommt und auf sein Glück hofft, kennt diese Welt nur aus der Distanz. Er selbst muss durch den Dienstboteneingang im »Gartenhaus«, wo er unter dem Dach mit seinem lebenstüchtigen Kollegen Tesch wohnt, der kräftig berlinert. Im Vorderhaus hat der Friseur Ziedorn einen florierenden Salon, verkauft sein Haarwuchsmittel »Ziedornin« und macht bei vermögenden Damen und in der Nachbarschaft wohnenden Huren gern Hausbesuche, die seine Dienste mit Naturalien vergüten, im quasi Tauschhandel, bis seine Gattin es unterbindet.

Kubinke sucht etwas schüchtern und wohl noch naiv, doch voller Engagement sein Glück – auch in der Liebe. Er erprobt es im Frühling zunächst bei Hedwig und Emma, den zwei Dienstmädchen im Haus, die eine drall, die andere schlank und beste Freundinnen, auch wenn sie teilweise um die Männer konkurrieren. Beide lassen den verwunderten Friseur abblitzen, benutzen ihn nur mangels Alternative zwischendurch. Das große Glück in der der Liebe findet er schließlich bei der rothaarigen Pauline aus der Beletage, mit der er sich im Grunewald sogar »verlobt«, schon das gemeinsame Leben samt Einrichtung und Laden plant. Doch Kubinke, arglos und nichtsahnend noch, wie so viele Männer in der Liebe immer wieder, den Autor dieser Zeilen inbegriffen, wird von den Unterhaltsforderungen seiner vorherigen Probelieben erpresst, die ihn, der nur bis zur Oberquarta das Gymnasium besuchte, das er nach dem Tod des Vaters verlassen musste, weil gebildet wirkend, für wohlhabend halten. Für das Leben in der Großstadt und dessen lockere Moralvorstellungen, ist er nicht gewappnet. Ihm legt sich wie von selbst der Strick um den Hals und so endet ein Jahr der Liebe mit Dreien, von dem ihm scheinbar nichts bleibt, hatte er doch seiner Pauline den Prozess, der ihm höchst peinlich war verschwiegen, zumal er davon ausging, dass er natürlich gewinnen würde, weil es doch schon biologisch gar nicht sein könnte, dass er ahnungslos geschwängert hätte, der nie an so etwas dachte.

»Aber endlich, endlich und zum Schluß hoffe ich doch, mir die Gunst des Lesers zu erringen. Denn – da ja in meiner Geschichte viel geliebt wird, so wird mir viel verziehen werden.«, schreibt Georg Hermann im Vorwort und dieser Kubinke und sein Unglück mit den Frauen in Berlin ist wirklich liebenswert und gerne ergänze ich noch, es ist eine Illusion zu glauben, dass nur die Damen der Großstadt so abgebrüht wären, wie es obiges Zitat nahelegt, denn sie sind doch alle Frauen, ob aus der Provinz oder aus Berlin, nur der Tonfall mag hier noch ein anderer sein.

Fragte mich bei der Lektüre mehrfach, ob ich es wirklich aushalte, ihn bis zum absehbar tragischen Ende zu lesen, mit dem der arme und so sympathische Kubinke ein Opfer seiner Ehrlichkeit und seiner Sehnsucht nach Liebe wird, die doch im Leben immer einen festen Boden braucht und so realistisch seine Träume mit Pauline waren, so lebensfern verhielt er sich in anderem und seinem tiefen Vertrauen auf die große Liebe die so oft heute kommt und morgen verschwindet, danach von nichts mehr wissen will und nur noch schaut, wie sie ihre Schäfchen ins Trockene bringt - zumindest scheint belegt, was einfach verschwindet, kann nicht groß gewesen sein, auch wenn dies zu verstehen immer Zeit braucht.

Waren die geschwängerten Frauen die Opfer und die Männer immer nur Täter, die zurecht bestraft gehörten, verhielt sich Kubinke nur naiv und war darum nicht lebensfähig oder ist es ein Gesetz der Liebe, wie Hermann es an anderer Stelle in seinem wunderbar distanzierten Ton beschreibt, dass es die vollkommene Harmonie nie geben kann, es am besten funktioniert, wenn jeder seine Geheimnisse behält, der Traum von Liebe nur eine naive Illusion für nette Momente ist, es im Leben aber immer nur ums Überleben miteinander geht und wo dies einigermaßen harmonisch möglich ist, alle Seiten zufrieden sein sollten?

Je mehr wir von großer Liebe träumen oder sie erringen wollen, desto ferner liegt sie meist - als ich das letzte mal, Jahre bevor ich Kubinke las, den Traum von der Liebe aufgegeben hatte, mich realistisch mit der Wirklichkeit abfand und mit ihr zufrieden zu Leben versuchte, zumindest ein guter Liebhaber gewesen sein wollte, schneite plötzlich eine kleine Prinzessin in mein Leben, verzauberte mich mit dem Traum von großer Liebe im Bündnis mit ihrer mir damals nicht unbeträchtlich erscheinenden Schönheit völlig und gerne wollte ich den Unsinn wider besseren Wissens glauben, bis ich mal wieder völlig erstaunt und naiv, auch wenn mehr als doppelt so alt als Emil Kubinke je wurde, auf die Nase fiel und dem verlorenen Herz aus der unmöglichen Beziehung zu lange hinterher trauerte.

Heilsam war so gesehen die Lektüre des Romans, der mir, auch wenn über hundert Jahre früher spielend, vorführte, es hat sich nie etwas geändert - nur ist es kein Privileg allein der Frauen an die Austauschbarkeit der Männer zu glauben, auch wenn sie ihre Hingabe gern wörtlich als einmaliges Glück inszenieren, was mich immer wieder zum Glauben an die ewige Liebe verführte, sogar wenn Erfahrung das Gegenteil belegen könnte, Männer können das, wenn vernünftig und kühl genug, genauso. Wie oft gelang mir dieses selbst, wo ich emotional noch nicht zu sehr beteiligt war, wie aber setzte mich mein naives, schlechtes Gewissen unter Druck, als ich meinte mich zwischen drei Prinzessinnen einst entscheiden zu müssen, die zwar verschieden doch jede für sich wunderbar waren, von denen aber eigentlich keine die Entscheidung wollte, sondern zumindest teilweise, zufrieden mit dem waren, was war, während ich von der großen Liebe noch träumte, ohne es so zu nennen - aber wie tief ist doch dieser Traum noch in mir verwurzelt, von dem ich weiß, er tut über kurz oder lang nur weh. Bin ich emotional masochistisch veranlagt, könnte ich mich aus guten Gründen fragen.

Wäre es also, Emil Kubinke, den sympathischen kleinen Mann betrachtend, im Leben klüger und im Ergebnis attraktiver, den Traum zu beerdigen, um das Mögliche ohne zu großen emotionalen Ballast zu genießen oder lebt es sich schöner mit Träumen, auch wenn sie sich in der Realität nie erfüllen werden - vielleicht kommt eines Tages doch die eine Prinzessin, mit der ich bis ans Ende meiner Tage glücklich bleibe, was ja jeden Tag kommen kann, oder ist das Leben viel genussreicher, wenn ich mich vernünftig in das füge, was eben ist, um zu funktionieren, den emotionalen Ballast abwerfe, nicht wieder naiv zu sein, lieber kluge Kompromisse schließe, glücklich mit dem, was gerade ist.

Alle Erfahrung spricht dafür und das tragische Ende von Kubinke, der zum Werther wird, bestätigt es - denn ein Werther ist nicht attraktiv als Mann, außer für romantische Schwärmer aber nie für vernünftige, kluge Frauen, sondern ein Idiot, so literarisch schön er auch sein mag, war er mir zu vernünftigen Zeiten immer fremd, bis ich selbst einer beinah wurde, an den Traum von der großen Liebe glaubte, als wäre ich sechzehn - in der Liebe pragmatischer zu relativieren, zumindest für sich scheint vernünftig - aber wie es der Dichter dann schaffen soll, glaubwürdige Liebeslyrik vom absoluten Glück zu schreiben, bleibt unklar und so balanciere ich lächelnd noch ein wenig zwischen Anspruch und Wirklichkeit bei dem Versuch das Leben dazwischen zu genießen, unsicher nach welcher Seite es am Ende geht, aber so bleibt es zumindest überraschend noch, trotz aller ewigen Wiederholung in immer gleicher Form bei den Versuchen der Begattung, die keiner so nennen würde.

Kubinke zu lesen jedenfalls lohnt sich, auch um des feinen Blicks in das Berlin der Kaiserzeit wegen, der einen historischen Horizont eröffnet, der mir erstaunlich nah vorkam - es hat sich in der Liebe und ihren Folgen eben doch nie viel geändert - bei Männern zumindest und vermutlich auch bei Frauen, aber was weiß ich schon von diesen, denk ich lächelnd und wie immer ein wenig verträumt.

jens tuengerthal 6.6.20

Samstag, 6. Juni 2020

Traumlust

Liege auf meinem Diwan
Der westöstlich hier steht
Denke an eine voller Lust
Möchte sie überall küssen
Mit meiner Zunge vorlaut
Dabei dennoch ganz still
Auf all ihren Lippen um
Den Schaum der Vorfreude
Von ihnen innig zu schlecken
Doch bevor ich von den einen
Oben zu den anderen unten
Komme sie kommen zu lassen
Will ich über sie wandern
Jeden Wirbel vom Hals aus
Hinab dabei liebkosend wie
All ihre Hügel besteigend
Bevor ich mittig angekommen
Vom Hügelbesteiger zum
Perlentaucher nun werde
Der endlich in ihr nicht mehr
Auftaucht sondern lieber
Kommt um zu bleiben als
Dann gemeinsam glücklich
Schon weiter blickend auf
Dem schönsten Gipfel
Unserer geteilten Welt
Während alles bebt
Zumindest im Traum
Bin ich doch erwacht
In wieder Einsamkeit

jens tuengerthal 6.6.20

Freitag, 5. Juni 2020

Troubardourliteraturen

Wieder mit Reinhard Blomert in Adam Smiths Reise nach Frankreich aus der Anderen Bibliothek unterwegs gewesen und von Paris nach Toulouse gefahren, dabei, auf dem Hinweg noch das eine oder andere über die Gegend und ihre Kultur erfahren, die berühmt ist für ihre guten Weine - aus dem Languedoc kommen einige der besten Weine Frankreichs, die ich persönlich sogar häufig den schwereren Bordeauxs vorziehe. 

Dieser kleine historische Ausflug in den Südwesten Frankreichs, hat mich wiederum dazu verführt ein wenig über die im Buch erwähnten Katharer, ihre Kultur und vor allem über die mit ihnen in Verbindung gebrachte Kultur der Troubadoure nachzulesen, die den Auftakt der europäischen Liebeslyrik bilden und was läge einem auch Dichter näher, als auf deren Spuren zu wandeln, sich zwischen den Verweisen um sie zu verlieren,um dabei neue Welten zu entdecken vom heimischen Diwan aus, auch wenn ich noch gerne daran denke, wie ich einst 1996, nach dem 1. Staatsexamen mit der damals Liebsten auch durch diese Gegend des wunderbaren Frankreichs fuhr noch nicht ahnend, welche Spuren mir spätere Lektüre offenbaren würde.

Troubadoure oder Trobadore, wie es ursprünglich im okzitanischen hieß, sind die Dichter, Komponisten und Sänger einer besonderen Form der Lyrik, die erstmals in okzitanischer Sprache verfasst wurde, also der vor Ort in Occitanien gesprochenen, das Teile Frankreichs, Spaniens und Italiens umfasste. Sie sangen und dichteten im 12. und 13. Jahrhundert und als ihr erster großer Dichter gilt Wilhelm IX., Herzog von Aquitanien. Dieser Wilhelm oder Guilhem, wie die Franzosen ihn nennen, wurde auch der doppelgesichtige Troubadour genannt, weil er einerseits feinsinnige höfische Dichtung schrieb, andererseits auch Verfasser derber, teils vulgärer und stark sexuell geprägter Lieder ist, was wieder zeigt, der gute Dichter, wie sein Nachfahre, ist am besten auf allen Gebieten zuhause und stets mit Hand und Kopf bei der Sache. Dabei brachte er erstmals das Ideal der höfischen Liebe in seine später gültige Form.

Wilhelm ist auch der Großvater von Eleonore von Aquitanien, die später zur Königin der Troubadoure wurde und sowohl Königin von Frankreich wie von England war und damit ist der Herzog auch Urgroßvater von Richard Löwenherz, den das Leben viel umtrieb, wie die Liebe, der darum auch als Troubadour-König gilt und der eine zeitlang unfreiwillig in der Pfalz als verbrachte. Eleonore ist die Enkelin der noch ehelichen Tochter einer späteren Geliebten ihres Großvaters, der für diese, die Gefährliche genannte, sogar seine Frau verstieß, was ihm reichlich Ärger mit der Kirche einbrachte. Seine Urenkelin Marie de Champagne, die der Ehe Eleonores mit Ludwig VII. entstammt, wurde auch Literatur Mäzenin und förderte an ihrem Hof die Entstehung der berühmten höfischen Romane, wo etwa die Geschichte um die Ritter der Tafelrunde erdacht wurde, welcher die abendländische Epik seit dem Hochmittelalter stark beeinflusste. Die Literatur liegt bei ihm also mit weiten Folgen in der Familie. 

Selbst gilt Wilhelm als Autor der elf Lieder eines Chansonniers, die in einer wunderbar illuminierten altprovenzalischen Liederhandschrift veröffentlicht wurden und bis heute erhalten blieben. Er führte in seinem Leben einige Kriege in wechselnden Bündnissen unter anderem gegen die Mauren und um Toulouse, das er am Ende seines Lebens dann doch verlor und war lange Zeit einer der größten Landbesitzer Frankreichs, besaß mehr als König Philipp II. etwa, riskierte für die Liebe und die Lust sein Leben und ist durch seine Dichtung wie seine derben Lieder unsterblich geworden. Ein wirklich großer Dichter, welcher der Erinnerung würdig und mit seinem Leben den idealen Stoff für einen Roman oder dessen Verfilmung mitbringt. Er wird in einer anonymen Vida als größter Dichter und Frauenverführer seiner Zeit beschrieben, der es so gut verstand zu dichten, wie die Frauen zu betrügen.

Hierbei stellt sich dem Dichter die Frage, ob der Herzog wirklich ein Betrüger war oder nicht schlicht der Minne auch Leben einhauchte, wie es sein Nachfahre Henry IV. als König von Navarra, wie später als Herrscher von Frankreich auch tat, über den gemunkelt wird, er hätte mehr Untertanen gezeugt als jeder andere König Europas. Soll die Minne nur graue Theorie im höfischen Spiel bleiben, was manche heutige Wissenschaftler schon weltfremd als religiöses Ritual umdeuten, mit dem sich die verfolgten Katharer noch in ihrem Dienst für die Jungfrau Maria äußerten, was den meisten Troubadouren vermutlich so fern lag wie Herzog Wilhelm nachweislich, der im lustvollen Leben bewies, wie sehr sich schöne Dichtung mit echter Lust vereinen lassen, dass gute Dichtung eben auch von schönen Musen lebt.

Ein Beispiel seiner freien Dichtung, die ihm heute als sicher zugeschrieben wird, sind die 11 cansons, die hier zitiert sein und die für sich sprechen:

Gefährten, ich werde ein schicklich' Lied dichten
Gefährten, ich kann nicht verhindern, dass ich mich erschrecke
Gefährten, ich habe so viele Enttäuschungen gehabt
Ich werde ein Lied über gar nichts dichten
Ich werde ein Lied dichten, da ich schläfrig bin
Ich möchte, dass alle wissen
Da sehen wir es von neuem blühen
Ich werde ein neues Lied dichten
Große Freude ergreift mich, wenn ich liebe
Mit der Milde der neuen Jahreszeit
Da mir die Lust gekommen ist, zu singen

Doch Wilhelm schämte sich auch nicht in anderen seiner derberen Lieder mit seiner Potenz zu prahlen, seine Geliebten mit Stuten zu vergleichen, die er leider nicht beide sich zusammen halten könnte, da die eine die andere nicht erträgt. Ob es die Potenz steigert oder eher schwächt mehrere wechselnde Geliebte zu haben, ist bis heute umstritten, denke wahre feinsinnige Kunst liegt in der Konzentration und über den Rest schweigt der Edelmann lieber, zumal mehrere auf einmal meist eher sportlich im Ergebnis sind denn erfüllend, wie die Erfahrung lehrt, aber vermutlich wird jede Generation diese Erfahrung wieder von neuem machen müssen und im Ausschweifen die Bestätigung suchen, bis sie entdeckt, dass nicht Vielfalt sondern Einmaligkeit dauerhaft größtes Glück bringt, was in der Beliebigkeit schnell verschwimmt.

Für die Dichtung und die Minne insbesondere aber bringen wechselnde Musen stete Inspiration und ob die Huldigung der einen und einzigen den vielen, die dies Glück nie erfahren, wirklich zusammen zu kommen, dauerhaft reizvoll erscheinen kann, ist eine andere Frage, vermute aus Erfahrung eher, es langweilt die meisten, weil die Menschen Aufregung erleben wollen und so lebt die Minne mit den immer gleichen Spielchen und ewigen Versprechen bis zum heutigen Tag fort, auch wenn sich der Wortlaut ein wenig geändert hat, die Dichtung weniger reimt als freien Ausdruck eher sucht, dem Gefühl seinen Lauf zu lassen, wird es im Kern um das gleiche gehen wie im Mittelalter auch und wie es weit vorher schon das Hohelied der Bibel voll Freude auch an der Lust besang.

Die berühmten Verse, ein Lied über gar nichts zu machen, gehören zur dunklen oder hermetischen provenzalischen Lyrik, deren Verständnis sich nicht einfach erschließt:
 
Ich werde ein Lied über rein gar nichts machen:
Weder über mich noch über andere,
Weder über die Liebe noch über die Jugend,
Noch über anderes,
Ich habe es im Schlaf gedichtet
Auf einem Pferd.

Es drückt das Lebensgefühl des freien Edelmanns aus, wie es später auch Michel de Montaigne oder vor ihm noch Cyrano de Bergerac so treffend ausdrücken konnten.

In diese Richtung noch stärker geht es in canso V. in dem er beschreibt, wie er es mit zwei Frauen treibt, wörtlich dichtet, dass er sie einundertachtundachtzig mal “gefickt habe”, bis ihm fast das Zaumzeug brach, nachdem sie ihn vorher mit einem Kater auf die Probe gestellt hatten, er aber sicher nicht sagen könne, welche Erschöpfung ihn bei Tagesanbruch befiel. 

Geheimnisvoller und dezenter dichtete er dagegen in der VII. canso in einem höfischen Lied, in dem er die Sehnsucht stärker auf die Natur überträgt:

Da wir es von neuem erblühen sehen,
Wiesen und Obstgärten ergrünen wieder,
Flüsse und Brunnen erglänzen,
Lüfte und Winde,
Ein jeder möge ich sich der Lust erfreuen
Die er genießen will.

So war Wilhelm IX. Herzog von Aquitanien ein lustvoller und geistvoller Genießer, der das Leben in seiner ganzen Schönheit zu würdigen wusste und seine Kultur damit vielfältig prägte. Finde ihn weniger doppelgesichtig als einen ganzen Menschen, der in vielen Bereichen präsent, auch der Lust Ausdruck zu geben weiß, was bis heute die hohe Kunst der Minne bleibt, denn schlicht zu vögeln, ist ein mechanischer Vorgang, den jeder nach der Natur beherrschen lernen kann, es nur so zu nennen schnell billig, aber den Sex zu einem Dienst an der Kultur zu erheben, aus ihm ihn Versform Kunst zu machen, ob ganz direkt oder lieber verborgen in höfischer Manier, zeichnet den wahren Genießer aus, der nicht nur über unbekannte Gefilde dichtet, sondern sich mit des Lebens ganzer Fülle auch in Versen gern ineinander ergießt, um so erfüllt das schöne Leben miteinander zu genießen.

Die deutsche Minnelyrik und ihre Sänger werden für gewöhnlich nicht zu den Troubadouren gezählt, während die einst Trouvère aus Nordfrankreich heute auch Troubadoure genannt werden, die durch das Comic Asterix und Obelix und den dortigen meist unglücklichen Barden Troubadix noch eine neue Berühmtheit erhielten.

Spannend war neben dem zuerst Ausflug ins Reich der frühen Dichtung, die von Lust und Liebe nur so strotzt, auch die nebenbei Beschäftigung mit den Katharern, die vor allem in Occitanien eine starke Bewegung bildeten, die bis in höchste Kreise reichte, weite Teile Europas ergriff.

Die Katharer sahen sich als Basisbewegung, die auf Armut und einfaches Leben größten Wert legen, nannten sich darum die Reinen und gelten als die größte und radikalste heterodoxe Strömung im mittelalterlichen Christentum. Wir würden sie heute antikapitalistisch nennen und erstaunlich viele Slogans der heutigen Zeit, tauchen auch schon bei dieser Bewegung im 12. bis 14. Jahrhundert auf. Manche nennen sie auch nach der südfranzösischen Stadt Albi, wo sie ihren Anfang nahmen und ein großes Zentrum hatten, Albigenser und entsprechend hieß die große gegen sie gerichtete militärische Maßnahme der Kirche auch Albigenserkreuzzug, der dazu führte, dass die Region erstmal dem französischen König unterstellt wurde, auch wenn es noch lange dauern sollte und scharfe Mittel der Inquisition brauchte, bis der Widerstand wirklich gebrochen war, die Katharer wirklich verschwanden.

Später wurde Navarra auch zu einem Zentrum der Hugenotten und ihr König Henry, wurde erst für die französische Krone katholisch, aber das ist eine andere Geschichte, die bei der Bewegung der Katharer noch keine Rolle spielte, auch wenn die Reformationsbewegung ähnliche Mängel beklagte wie die Albigenser. Diese Laien und Armutsbewegung, die auch auf den sonst von den Kirchenoberen Zehnten verzichtete, hatte sich schnell weit verbreitet und sowohl das Materielle wie die Sexualität und Fortpflanzung als Unrein zurückgewiesen, was nicht wirklich zum Stil der Troubadoure passte, warum die These einer versteckten Marienverehrung auch relativ absurd erscheint aber was findet sich im Aberglauben nicht alles und braucht keinerlei vernünftiger Begründung wie schon die gestern erwähnte seltsame Geschichte von Adam und Eva belegt.

Das antikapitalistische Element als Gegenbewegung zur beginnenden Geld und Warenwirtschaft verbunden mit einer dualistischen Bibelauslegung, die jener der Bogomilen ähnelte, begeisterte viele Menschen, die sich vor dem neuen fürchteten und einfache Antworten suchten und fanden. Die Kirche versuchte erst den friedlichen Weg der Verhandlung, in dem sie Zisterziensermönche schickten, die nach einem gemeinsamen Weg suchen sollten - als einer von diesen ermordet wurde, kam es zum Kreuzzug auf den folgend über hundert Jahre verschiedene kleiner Gefechte an Rückzugsorten geführt wurden aber auch noch einige Gläubige und Bischöfe der Katharer verbrannt wurden. Der Umgang mit Andersgläubigen war dem heutiger Islamisten nicht unähnlich.

Spannend war, dass diese Bewegung auch Frauen gleichberechtigt zum Diakonat zuließ, was Rom bis heute nicht geschafft hat, dennoch viele Menschen nicht daran hindert, dieser Sekte weiterhin hinterherzulaufen, wohl auch weil sie eine lange Tradition hat - aber es sollten sich die Atheisten nicht über das Glaubensglück der anderen äußern, solange sie niemand stören und das französische Modell des Laizismus in Europa herrschend bleibt, möge jeder nach seiner Fasson selig werden, ermahne ich mich selbst dabei ein wenig zur preußischen Toleranz. Es war eben eine mittelalterliche Sekte, die antikapitalistische Slogans, die nur noch nicht so hießen mit einer freien Spiritualität verbanden, die Frauen relativ gleichberechtigt behandelten für die Zeit, denn, auch wenn sie nicht Bischöfe werden durften, waren sie zu sakralen Handlungen fähig und spielten eine wichtige Rolle.

Heute suchen wieder dem Nationalismus nahestehende Menschen die Tradition aufleben zu lassen, die schon die Nazis begeistert hatte, was Alfred Rosenberg dazu brachte, diese als Nachfahren der Westgoten zu sehen, sie als germanische Kämpfer gegen römische Priestermacht zu Vorbildern zu ernennen. Verschiedene populär geschiebene Romane haben für ein breites Interesse an der Region gesorgt, wobei die verbliebenen Burgen und der gute Wein des Languedoc ein übriges tun, den Besuch attraktiv zu machen. Unter den Neo-Katharern gibt es eine Gruppe, die mit dieser nationalen Religion Occitaniens eine Abspaltung des Languedoc von Frankreich erreichen wollen, andere sind den Neonazis zuzurechnen, all diese Gruppen sind eher mit Vorsicht zu genießen und im heutigen Europa schwer integrierbar. Die einzige Region Europas in der noch Occitanisch eine offizielle Sprache ist, blieb bis heute Katalonien, das sich ständig von Madrid unterdrückt fühlt, aber auch das ist eine andere Geschichte, die hier zu weit führte, erwähnenswert am Ende dazu nur, dass Herzog Wilhelm IX. sein Bündnis mit dem König von Aragon für ein Bündnis mit dem Grafen von Barcelona einem Raimond Berengar III. aufkündigte - der Zusammenhalt der Bewohner dieser Region ist bis heute erhalten geblieben, erklärt den Aufstand der sich trotz vieler Zugeständnisse unterdrückt fühlenden Katalanen und Basken auf der anderen Seite - die Bewohner des ehemaligen Königreichs Navarra und der Umgebung halten sich schon lange für etwas ganz besonderes, wie dies auch die Friesen und Franken in Deutschland gerne tun, ohne dass dies hier größere Auswirkungen hätte.

Über die Tradition der Troubadoure mehr nachzudenken, mit der Kunst zu spielen, die Dichtung an die Hand gibt, um die Verführung jenseits schlichter Mechanik zu einem ästhetischen Glück zu machen, könnte im Zeitalter des virtuellen Dating einen ganz neuen Zauber entfalten und wo dieser nicht wirkt, ist alles übrige keines weiteren Gedankens wert - so lebt die Minne, wie die Kunst der Troubadoure im deutschen hieß, auch im digitalen Zeitalter fort und ist doch nie anderes gewesen als der Zauber der Worte, die uns beben lassen.

jens tuengerthal 5.6.20

Donnerstag, 4. Juni 2020

Untergangsliteratouren

“Die Dekadenz unserer Gesellschaft hat längst einen verheerenden Zustand erreicht”, beginnt Gerhard Henschel in seinem Buch Menetekel das Kapitel ‘Auf der Suche nach der guten alten Zeit’ und zitiert dabei einen Leserbrief der FAZ aus dem Jahr 2005. Die Frankfurter Allgemeine ist in ihrem Feuilleton, damals noch unter Frank Schirrmacher, schon lange zu einem der führenden Medien des Kulturpessimismus geworden, der so alt ist wie die menschliche Kultur und zumindest von 3000 Jahren legt der Autor hier auf humorvolle Art Rechenschaft ab und berichtet über all die Untergangspropheten und ihre immer nur relative reale Wirkung.

Es gab sie in jeder Generation die Untergangspropheten und sie kommen immer wieder und so fragte schon Umberto Eco, den Henschel am Ende seiner Einleitung zu Wort kommen lässt: "Wie sollen wir diejenigen, die das Ende der Welt kommen sehen, davon überzeugen, dass andere, in der Vergangenheit, es auch schon so gesehen haben, und das in jeder Generation?" 

Was haben der frühchristliche Schriftsteller Tertullian, der Reformator Martin Luther, der deutsche Marinedichter Gorch Fock, Oswald Sprengler und der Verhaltensforscher Konrad Lorenz mit Helmut Schmidt gemeinsam? 

Sie alle waren überzeugt, in Zeiten des kulturellen Niedergangs zu leben und fürchteten den nahenden Untergang in einer immer schlimmer werdenden Gesellschaft, an was sie die sicheren Symptome dafür auch fest machten, ging es meist um Sexualität und vermeintliche Dekadenz, wobei sich die Symptome des Zerfalls über die Jahrhunderte hinweg gleichen: Zu großer Wohlstand, ausschweifende Genusssucht, Verweichlichung des Einzelnen sowie eine allzu deutliche Laxheit in Fragen der Moral. So begrüßte es Gorch Fock 1914 als "der Segen des Krieges" den zahlreichen Lastern seiner Zeit ein jähes Ende bereitete: Ob Fock mit den Auswirkungen des Krieges auf die Menschen zufrieden war, lässt sich nicht feststellen; er kam 1916 in der Seeschlacht am Skagerrak ums Leben, zumindest sein Untergang wurde damit bestätigt. Doch kam Oswald Spengler in seinem "Untergang des Abendlandes", dessen erster Band 1918 erschien und dem Henschel ein eigenes Kapitel widmet, schließlich ist es bis heute eine Bibel der Untergangspropheten, zu einem anderen Ergebnis, für ihn hatte die abendländische Kultur ihr schicksalhaft bestimmtes Ende so gut wie erreicht.

Für viele dieser Propheten war das Leben in der Großstadt der Anfang aller Übel und zu diesen gehörten zahlreiche, das Landleben predigende, führende Nationalsozialisten, die tatsächlich das größte Übel des 20. Jahrhunderts über ihr Land brachten. Was die Frage stellen könnte, inwiefern nicht die Propheten bereits Teil ihrer Prophezeiung sind und darum gemieden werden sollten, wie alle Weissagung, die meist auf einem unguten Gefühl eher beruht als auf Vernunft.

Gerne wird von den Kulturpessimisten der Untergang des römischen Reichs als Fixpunkt gewählt, mit dem alles Schlechte begann und das geht von den frühen Kirchenvätern bis zu den politischen Diskussionen der Gegenwart. Dabei sind sie sich immer sicher, was die Ursache dieses Untergang nur sein konnte, haben klare und einfache Antworten auf komplexe Fragen, was auch viele Menschen mit geringerem Horizont begeistern kann, da es ja alles logisch und ganz einfach ist. Der moralische Verfall und die Dekadenz im späten Kaiserreich wurde von Zeitgenossen bis in die Gegenwart als ausschlaggebend vermutet, was jedoch so simpel wie falsch ist. Der Untergang Roms hat komplexe Ursachen, ist nach Meinung der meisten heutigen Historiker nicht an einer Sache festzumachen, sondern an einer Summe von Gründen, von denen wir auch erst langsam einen Teil zu begreifen beginnen. Die Komplexität ist jedoch nicht so sexy wie einfache Antworten auf schwierige Fragen, warum diese häufig einen erstaunlichen Erfolg haben, auch wenn sie weniger mit der Realität als einem ihr aufgestülpten moralischen Anspruch zu tun haben. So fand die Metapher von der spätrömischen Dekadenz auch noch unter Westerwelle Eingang in den politischen Diskurs der Gegenwart, so unsinnig wie falsch dieses Schlagwort sachlich immer war.

Gerne klagen die Kulturpessimisten aller Zeiten über die Sexualisierung der Gesellschaft und fordern dabei ein zurück zur natürlichen Moral, woher immer sie diese nehmen wollen und was sie auch dafür halten. Ob sich darin noch die biblische Schöpfungsgeschichte mit dem Beginn des Schamgefühls spiegelt oder eher ein allgemeines Unwohlsein, was keinen sachlichen Grund hätte, könnte einen Schlüssel zum Verständnis dieser zyklisch wiederkehrenden teilweise absurden Anschauungen liefern. Vielleicht liegt in der absurden Schöpfungsgeschichte mit ihren Widersprüchen mehr verborgen als viele ahnen,

So ist auch der vermeintliche Philosoph der Freiheit, Rousseau, mit seinem Traum von der Rückkehr zum natürlichen Leben vermutlich nur seiner eigenen frühen Religiosität auf den Leim gegangen, die Werte von Kultur und Zivilisation so zu negieren, deren Teil der Dichter, Komponist und leider auch Philosoph war. Bei Rousseau noch nebenbei zu erwähnen, dass er sich mit all seinen Freunden unter den Philosophen in Paris überwarf, darunter Diderot und Baron Holbach, weil er schlicht asozial war, seine leiblichen Kinder ins Heim steckte, sich um wenig verantwortlich kümmerte, log und betrog, die Bekanntheit seiner Philosophie nur ihrem Gebrauch durch die späteren Initiatoren des Terreur in Frankreich verdankt, die es schafften die Errungenschaften der Revolution in wenigen Jahren unter der Guillotine ins Gegenteil zu verkehren, was als Ausweis für einen freiheitlichen Denker wenig taugt, sondern nur einen gefährlich totalitären Ansatz belegen könnte, rückt diesen Anwalt des Naturzustandes vielleicht in ein vernünftigeres Licht. Ob dies primär durch Rousseaus Inkontinenz bestimmt war, die ihn wenn möglich soziale Ereignisse meiden ließ, sei an dieser Stelle dahingestellt, es gibt zumindest Menschen, die damit ohne eine Negierung der Welt umgehen. Rousseau wetterte über die modernen Zeiten, hielt sich aber eine Liebhaberin, deren Kinder ins Heim mussten, weil er nicht in seiner Ruhe gestört werden durfte, ließ sich ohne Dankbarkeit aushalten, glich darin manch anderen Kulturpessimisten, die über die schlechten Sitten laut klagen, die sie für sich zu gerne praktizieren, war ich versucht zu schreiben, was allerdings schon fast zu kultupessimistisch wieder klingt.

So gäbe es noch zahlreiche Beispiele, die Henschel mit großem Fleiß und gehörigem Spott auflistet, doch die spannendere Frage bleibt für mich, was wollen diese Menschen erreichen und wohin führt ihre Klage. Gab es die guten alten Zeiten je, wer wollte in ihnen leben, abgesehen davon, dass eine zivilisatorische Rückkehr irreal ist oder wird da nur ein Hirngespinst gegenüber allem Neuen beschworen, was längst den Bezug zur Realität verloren hat. Wie Steven Pinker in seinem klugen Band Aufklärung jetzt! darlegt, ging es der Menschheit nie so gut wie jetzt, hat auch die gern gescholtene Globalisierung für eine Verbreitung des Wohlstandes gesorgt, den es noch nie in diesem Maße gab, werden die Zeiten, trotz Corona, Trump und Putin immer besser, was messbar und nachweisbar ist. Dennoch wettern Zweifler dagegen, predigen den Untergang um teilweise durchaus berechtigte Ziele zu erreichen.

Die Gegenseite um Trump und die Aluhutträger, die ebenfalls eine Form von Untergangspropheten sind, wenn auch der besonders lächerlichen Form, warum sich das Wort Prophet bei diesen intellektuell eher minderbemittelten Mitgliedern der Gesellschaft, seltsam ausnimmt, warnen dagegen vor ominösen Gefahren, die der Welt ohne sie drohten, geben also einfache Antworten auf komplexe Fragen, wollen auf Demonstranten oder Flüchtlinge, die im Deutschlandfunk nun Migranten heißen, was ich noch fragwürdiger finde, weil es den Anlass der Flucht infrage stellt und stattdessen das einer Völkerwanderung gleichende Bedürfnis nach Migration unterstellt, fast einer neuen Verschwörung gliche, worüber sich nun trefflich streiten ließe, was aber zu sehr vom eigentlichen Thema ablenkte, schießen lassen.

Zurück aber zur biblischen Scham, der Tabuisierung der Sexuaität als Machtmittel und deren Auswirkung auf das Denken der folgenden Generationen. Während im Gilgamesch-Epos die Kultivierung des Herikat durch Rasur und die Monate bei einer Hure, die ihm das grundlegende Wissen über Lust und Liebe beibringt, im Vordergrund der Schöpfungsgeschichte einer Stadtkultur stehen, die der Zivilisation und ihren Errungenschaften zugewandt ist, macht die biblische Schöpfungsgeschichte das Gegenteil. Sie beginnt mit einer Vertreibung aus dem Paradies wegen Ungehorsam gegenüber einem erfundenen Gott, lässt die Erlangung von Bewusstsein, was uns Menschen erst ausmacht, vom Tier vermutlich unterscheidet und nachdenken lässt, als Unglück dastehen, weil die Urmenschen vom Baum der eben Erkenntnis gegessen hätten. Negiert die Menschwerdung, das cogito ergo sum, für ein irreales Ideal.

So ließen die Juden ihre erstmals im babylonischen Exil aufgeschriebene Schöpfungsgeschichte beginnen, um die Sehnsucht nach dem Paradies der Heimat wach zu halten, wie Stephen Greenblatt es vermutet. Was sollte ihre Stammesgenossen auch aus der kultivierten Zivilisation in Babylon in die wüste Heimat locken, warum sollten sie ein Leben in Zelten, dem in der modernsten Stadt ihrer Zeit vorziehen, wenn es nicht das Paradies wäre, was sie lockte und was ist daran überhaupt verlockend?

Insofern dies keinem vernünftigen und kritisch denkenden Menschen einsichtig ist, brauchte es die Strafe des Bewusstseins, das uns gut und böse unterscheiden lässt. Auch wenn wir spätestens seit Kant wissen, dass Aufklärung genau darin liegt, aus dieser Unmündigkeit befreit zu sein, ein moralisches Urteil fällen zu können, hat dieser Gegensatz des Paradieses, in dem es diese Unterscheidung nicht gab, uns also alles angenehm erschien, weil wir das Gegenteil nicht kannten, sich erhalten und träumen immer noch viele von solch paradiesischen Zuständen in denen alles gut wäre, auch wenn wir dann nicht mal wüssten, was gut ist.

Wer hofft, dass alles gut sein könnte, wenn es wie früher oder vorher wäre, sieht in der Veränderung eine Gefahr und keine Entwicklung, vor allem keinen Fortschritt, fürchtet den Untergang oder die Vertreibung aus dem geträumten Paradies. Dass dieses eine absurde religiöse Vision nur ist, unter der kein vernünftiger Mensch leben könnte oder wollte, stellt kaum einer der von diesem Mythos geprägten Mitglieder der Kultur infrage, es ist schließlich der Bericht von der Schöpfung.

Das Paradies, in dem wir blöde glücklich wären, weil wir gut und böse nicht unterscheiden könnten, wäre die Hölle für jeden denkenden Menschen und was macht unser Menschsein aus, als die Fähigkeit zu denken, auch wenn manche erheblichen Zweifel daran zulassen, dass sie es überhaupt tun. Dennoch hat sich der Alptraum aus dem Mythos als Idealbild erhalten, sprechen wir von paradiesischen Zuständen, wenn wir etwas ideal Gutes beschreiben wollen, auch wenn uns dies nur so erscheinen kann, weil wir unterscheiden können, also mit der natürlichen Dialektik allen Seins leben lernten.

Wer über den Zustand der Zivilisation klagt, träumt von paradiesischen Zuständen, weil gut und böse unterschieden werden. Diejenigen wollen zurück zu etwas, was es nie gab, was sie aber idealisieren, um die negativen Seiten dessen, was ist, beklagen zu können. Die guten alten Zeiten waren nie gut, in ihnen klagten nur die damaligen Reaktionäre ohne Perspektive, dass die vorigen Zeiten besser gewesen wären, was sich ewig so fortsetzt, seit wir uns mit dem Mythos von Adam und Eva und ihrer Vertreibung aus dem idiotisch idealisierten Paradies herumschlagen.

Folgten wir dagegen dem Ideal von Gilgamesch, in dem Schritte zur Zivilisation als positive Entwicklung gesehen werden, bräuchten wir keinen Kulturpessimismus mehr und könnten stattdessen genießen was ist in der real besten aller Welten, weil es noch nie so vielen Menschen so gut ging, sie so sicher vor Gefahren waren, die sie vorher bedrohten, weil wir mit Vernunft nach Lösungen für die Zukunft suchen, statt mit seltsamen religiösen Mythen Ursprünge zu erfinden, die logisch nur zu Zweifeln an Kultur und Entwicklung führen können.

Auch die Kulturpessimisten wollen nicht das Schlechte sondern den Zustand verbessern, in dem sie sich zurück wenden und ein vermeintlich paradiesisches Ideal verklären, bei dem je nach Neigung verteufelt wird, was den Betreffenden fern liegt und was zu genießen ihnen nicht vergönnt ist. Sexualität, Frauen, Männer, moralischer Verfall, schlechte Sitten, reine Natur und anderes mehr. Auch wenn es diesen Zustand nie gab, was Henschel mit seinem weiten Rückblick sehr deutlich macht, ist seine Idealisierung gegenüber dem kulturellen Fortschritt der Zivilisation deutlich das Produkt eines absurden religiösen Idealzustandes, den es ebensowenig je gab und der alles, was menschlich ist negiert.

Sich davon zu lösen, die Zivilisation mit ihren Fortschritten, die millionen Menschenleben retteten, wie Impfungen, moderne Medizin, Hygiene und anderes mehr, lieber zu feiern, statt zu negieren, gäbe die Möglichkeit, sie konstruktiv zu gestalten, um zu erhalten, was erhaltenswert ist, wie unserer Natur, die wir zum Überleben und guten Leben brauchen. Stattdessen beobachten wir gerade wieder, wie ein Wohltäter wie Bill Gates, der für die Rettung vieler Menschen verantwortlich ist, zum Hassbild von Realitätsverweigerern wird, die lieber Gefahren eines Virus leugnen, an dem Millionen starben, statt den Fortschritt zu bejahen und ihre innere Unfreiheit dabei für einen Freiheitskampf halten, ohne zu bemerken, dass sie diesen auf Kosten anderer Menschen führen.

Ob es dafür bezeichnend ist, dass die religiöse Rechte der USA, die sich gern bibeltreu sieht, lieber den Versager und Realitätsverweigerer Trump unterstützt, statt die Not zu erkennen, in die er durch seine Blindheit ihr Land brachte, könnte eine wichtige Frage für die Zukunft sein. Zumindest sind unter diesen viele Kulturpessimisten, die glauben, dass früher alles besser war, warum sie Amerika auch wieder groß machen wollten und Zweifel an einer egalitären und liberalen Kultur haben. Von denen wiederum sind die meisten durch den biblischen Schöpfungsmythos und seine kulturpessimistische Sicht geprägt, vielen gilt dieses frühe politische Machwerk sogar als heilig, warum sie nicht die klare politische Intention des Textes aus seiner Zeit heraus erkennen, sondern sich lieber das Paradies zurückwünschen, davon träumen nach ihrem Tod dorthin zu gelangen, weil sie meinen eine unsterbliche Seele zu haben, wo auch immer dieser erfundene religiöse Wahn seinen Ort im menschlichen Körper haben soll.

Sich davon zu befreien, um zu erkennen, wie gut uns die Zivilisation tut, wie sehr sie uns befreit, warum ich mir keine Gedanken darüber machen muss, wie wer mit wem Sex hat, sondern mich lieber freue, wenn alle Menschen dies auf ihre Art erfüllend tun können, ist ein wichtiger Schritt in eine bessere Zukunft und zu einem JA zur Kultur, die endlich wieder positiv gestaltete, statt ewige Zweifel auszulösen. Kritik ist gut und wünschenswert, sie überprüft den weiteren Gang und stellt infrage, was gut und nützlich ist und was schadet aber der das Ende fürchtende Kulturpessimismus ist schlicht eine lächerliche Bewegung. Getragen von Lügen, Neid und Impotenz, kann sie niemanden glücklich machen, sondern schafft sich, wie die Psychoanalyse, nur die Probleme, die sie dann lautstark beklagt, indem sie sich mit Problemen allein beschäftigt, statt nach Lösungen zu suchen, die Destruktion als Hauptaufgabe hat.

So bringt die Beschäftigung mit Henschels Menetekel die Forderung nach einer neuen Aufklärung, einem kritischen aber der Zivilisation und dem Fortschritt zugewandten Denken, das lieber Lösungen sucht, statt nur den Untergang zu beklagen. Es war wichtig, die Diskussion um das Klima, von dem wir immer noch verdammt wenig wissen, aber genug unser Verhalten kritisch zu überdenken, in die Mitte der Gesellschaft zu holen - dafür ist der Jugend um Greta zu danken - doch ist Verweigerung keine Entwicklung und kein Fortschritt, vielmehr müssen wir nun noch mehr überlegen, wie wir schnellstmöglich brauchbare Lösungen entwickeln, die eine langfristige Perspektive bieten. Weg von der Klage der Dekonstruktion, hin zur Entwicklung und Gestaltung. Nur wer den Fortschritt und die Zukunft konstruktiv mitgestaltet, kann etwas bewirken, wer nur verweigert, mag in vielem richtig liegen, bewegt damit aber nichts.

Eine positive Entwicklung kann auch in einer Verlagerung der Prioritäten bestehen, so werden wir gegen etwas weniger Kraft haben und also weniger erreichen als für etwas und haben zugleich mehr Kraft in der Gestaltung. Menschliche Entwicklung geht auf eine zunehmende Kultivierung und Zivilisierung - diese Bewegung mit absurdem Protest, ob gegen Impfung, die Leben rettet, oder sexuelle Freiheit aufhalten zu wollen, geht in die falsche Richtung und überlässt den Raum zur Gestaltung anderen, was der Kultur selten nutzt und den Fortschritt der Zivilisation allein mit ökonomischen Faktoren gestaltet, die nicht notwendig eine Entwicklung der Zivilisation bedeuten, weil dort häufig kurzfristige Interessen regieren.

Wer Zukunft gestalten will, sollte sich vom Kulturpessimismus dringend abwenden, der nur eine zyklisch wiederkehrende Klage aufnimmt, ohne etwas bewirken zu können oder zu wollen. Vor allem sollten sich diejenigen fragen lassen, was sie wie erreichen wollen und wo ihre Ziele wurzeln, um lieber für die Gestaltung in die Pflicht genommen zu werden, statt nur der ewigen Destruktion Vorschub zu leisten, die niemandem vorwärts bringt. Mache mich lieber auf, die Zukunft konstruktiv zu gestalten, als mir eine Vergangenheit zurück zu wünschen, die nie paradiesisch war, vergesse um des Glücks und der Freiheit wegen lieber gleich das Paradies, um das bestmögliche Leben leben zu können in der besten aller Welten.

jens tuengerthal 4.6.20

Mittwoch, 3. Juni 2020

Rassismusaufklärung

Wo beginnt Rassismus

Zählt die Absicht dahinter

Oder genügt die Tat
Im relativen Licht der Zeit
Ephraim Langstrumpf war
In meiner Kindheit noch
Ein Negerkönig was heute
Klar rassistisch wäre
Wer sich schwarz anmalt
Handelt auch rassistisch
Ist ein schwarzes Bild
Als Zeichen der Solidarität
Schon rassistisch oder nur
Ein billiges Imitat der Herde
Die nicht selber denkt
Warum denke ich bei der
Kampagne #blacklivematters
Wo am Mittwoch alle für den
#blackouttuesday sich als
Die eben zu spät kommen
Digital schwarz präsentieren
An das blackfacing schon
Was ist noch sensibel
Wo werden wir empfindlich
Sind wir dabei lernfähig
Wäre kein Unterschied
Mehr nötig oder möglich
Braucht es Unterscheidung
Wem dient welche dabei
Entlasten wir damit nur
Das Gewissen anstatt
Warum Farben wo es
Um Menschen geht

jens tuengerthal 3.6.20

Literatouren 03.6.20

Nachdem ich die literarisch eher mäßige aber dadurch lehrreiche Pfaueninsel mit mehr oder weniger tragischem Ende für die Hettche zumindest eine relativ gute Kenntnis der preußischen Geschichte wie ein ernstes Bemühen, alles was historisch passierte, zu erwähnen, attestiert werden kann, beendet habe, nun über zwei Tage unter anderem in Reinhard Blomerts kenntnisreichen Band der Anderen Bibliothek über Adam Smiths Reise nach Frankreich eingetaucht, der mit schönen Ausflügen fern aller persönlichen Tragik in die französische und europäische Geschichte aufwarten kann.

Während sich der Band anfänglich mit einigen Ausführungen zu Smith Philosophie wie seinem Werdegang etwas in die Länge zog, lese ich ihn nun mit großer Begeisterung auch aufgrund der schönen Ausflüge des Autors in die europäische Geschichte und ihren großen Kontext zum Verständnis der Entwicklung. Auch Hettche machte gelegentlich solche Ausflüge nicht völlig ohne Sachkenntnis, doch baute er sie in den Roman ein, dessen Story darunter litt und damit ein wenig zwischen den Stühlen hing, weder guter Roman noch Sachbuch wurde, während Blomerts Adam Smith ein vielfältiges Sachbuch ist, was die historischen Ausflüge literarisch gut zu erzählen weiß, was genügt, gespannt zu lesen, statt genervt mit den Augen zu rollen, den Autor selbst daran erinnert, was ihm, also mir, besser nicht passieren darf und wie ich darum erzählen muss und ob die Kombination zweier Ebenen in einem Buch - der kulturhistorisch berichtenden, wie ich sie am liebsten lese, mit der literarisch erzählenden, wie etwa im Zauberberg oder den Buddenbrooks, um nur die beiden elegantesten zu nennen, möglich ist und wenn ja, wie sie realisiert wird.

Wie der Wechsel der Ebenen, die unabhängig nebeneinander stehen, eine Möglichkeit wohl bietet, über die ich dringend vertieft nachdenken sollte, bevor ich demnächst völlig in meinem großen Projekt abtauche, das verbinden soll, was ich liebe, um zu erzählen, woher ich komme und wohin es geht - aber was erst wird,  ist ja relativ uninteressant für alle Leser, darum lieber mehr zur heutigen und gestrigen Lektüre über Smith und seine Rolle als Reisebegleiter, die im aktuellen Kapitel in Toulouse beginnt, was ich aber aufgrund der umfangreichen aber faszinierend guten Ausführungen noch nicht erreicht habe.

Spannend ist die Rolle Frankreichs und Englands auf ökonomischen Gebiet historisch zu betrachten, weil es viel auch über das jetzige Europa lehrt und die unterschiedlichen Versuche der Krisenlösung, die sich aus der jeweiligen Rolle des Staates im ökonomischen Gebilde erklärt und warum die Wege logisch aus historischen Gründen schon so unterschiedlich dabei sind.

Der französische Zentralismus, der schon unter Franz I. anfing und unter Ludwig XIV. seinen ersten Höhepunkt erreichte, der zum Zeitpunkt der Reise bereits 50 Jahre Tod war, dafür regierte noch bis 1773 Ludwig XV. der vorletzte Herrscher aus dem Haus Orleans bis zur Revolution, ist ein zentraler Punkt, der die Stabilität des Ständestaates garantierte. Jeder hatte dort seine Rolle. Der König versammelte, wenn möglich, den Adel am Hof und beschäftigte ihn dort, um dessen anderweitige politische oder militärische Aufmüpfigkeit kontrollieren zu können. Nebenbei war durch die Konkordate Ludwigs XIV. auch der erste Stand relativ stark eingebunden worden, rang nur noch teilweise unter dem vorletzten Louis mit der Kirche, die etwa das Projekt der verdächtigen Aufklärer um die Enzyklopädisten Diderot und d’Alembert verhindern wollte, was ihr dank der unterstützenden Hilfe der Geliebten des Königs, der berühmten Pompadour, nur mäßig gelang, auch wenn die Jesuiten das Unternehmen teilweise sehr gefährdeten und ihren Gegner Diderot zeitweise sogar in die Bastille brachten.

Ganz anders dagegen die Situation in England, besser gesagt Britannien, da ja Smiths wegen auch der Vergleich zu Schottland von Bedeutung ist, und im Deutschen Reich, das sich zum Zeitpunkt der Reise noch heilig und römisch nannte, auch wenn die vom Haus Habsburg schon zu lange beanspruchte Krone nur noch wenig realen Boden hatte. Nach dem dreißigjährigen Krieg und dem Friedensschluß von Münster und Osnabrück, von dem das Frankreich Ludwigs XIV. stark profitierte, war Deutschland nicht nur religiös ein Flickenteppich, der schwer zu regieren war - was die entschiedene Vertreibung des Hugenotten durch Ludwig und die Aufhebung des Ediktes von Nantes seines guten Großvaters Henry IV. vielleicht ein wenig erklären kann. Doch so sehr damit für eine gewisse Zeit die innere Stabilität Frankreichs gefördert wurde, zumindest bis zur Revolution und dem ihr später folgenden Laizismus, so sehr war es auch ein Aderlaß, der die protestantischen Nachbarn, allen voran Preußen stärkte,  was dessen späteren Aufstieg begünstigte. 

Zum Zeitpunkt der Reise ist der siebenjährige Krieg bereits vorbei und damit die drei schlesischen Kriege beendet. Friedrich blieb im Ergebnis siegreich, auch wenn er seinen Staat für ein da noch scheinbar wertloses Stück Land fast ruiniert hatte, durfte er es nach dem Frieden von Hubertusburg behalten und machte sich auf kluge Art das französische Modell imitierend an den Wiederaufbau der Mark, wurde später durch die erste polnische Teilung sogar König von Preußen, zu dem dann eine Landverbindung von der Mark aus bestand und das nicht länger nur eine Inselkrone unter polnischem Lehen im ehemaligen Gebiet des deutschen Ordens war, dem späteren Ostpreußen. Vorher war er wie Vater und Großvater schon nur König in Preußen gewesen nicht aber im Reich.

England hatte als erstes die Prinzipien der Industrialisierung begriffen, den Welthandel im Empire und den freien Markt, auch wenn es ihm aufgrund verschiedenster politischer Querelen und Bündnisse nur bedingt erfolgreich folgte. So beschreibt Blomert mit anschaulichen Zitaten auch, wie sehr sich Smith und seine Clubfreunde über das Verbot des Imports französischer Weine ärgerten, den sie bevorzugten, gegenüber dem steuerfrei importierten, ihnen zu süßen portugiesischen Weinen. In England hatte das Empire schon unter Elizabeth I. Form angenommen, die durch die Verstaatlichung der East Indian Company noch verstärkt wurde. Starke Kräfte plädierten hier für freien Handel, auch wenn andere das Gleichgewicht von Import und Export anmahnten, was die USA gerne der heutigen Bundesrepublik vorhalten, dem europäischen Exportweltmeister, der wesentlich weniger einführt als ausführt und darum auch theoretisch immer reicher wird, was aufgrund anderer sozialer Fehlkonstruktionen nur eine Illusion gegenüber den Nachbarn ist, aber eine neidvoll spaltende Sicht auf den Wohlstand bleibt.

Deutschland schlug sich zu dieser Zeit noch mit zahlreichen Grenzen und Zollschranken herum, wie sie Thomas Mann so wunderbar spöttisch noch nach dem Untergang des Reiches für das 19. Jahrhundert beschrieb, was Handel und einheitliche ökonomische Entwicklung bremste. Die Unterschieden zwischen den heute Bundesländer genannten Regionen gab es schon immer mehr oder weniger stark, dabei waren für eine Epoche die angehörigen der Hanse besonders erfolgreich und reich oder die kaiserlichen Kreditgeber in Augsburg und Nürnberg, später wurden es Regionen wie, für viele noch überraschend, Preußen, das über viele Grundstoffe der Industrialisierung in seinem Territorium verfügte, ohne dies zum Zeitpunkt der Eroberung durch Friedrich II. wie später infolge des Wiener Kongresses wie des Reichsdeputationshauptschlusses bereits so genau zu wissen. Sie saßen auf dem Geld und wussten es nicht völlig ungeschickt eine gewisse Zeit zu nutzen, was erklärt warum der Sohn der Königin Louise, die auf der Flucht vor Napoleon an der Lungenentzündung im mecklenburgischen starb, sich bereitwillig von Bismarck und Moltke später zum Krieg gegen Frankreich bringen ließ, auch wenn er die ihm in Versailles dann aufgesetzte Kaiserkrone eigentlich gar nicht wollte, er fühlte, dass hier der Untergang Preußens begann.

Wichtiges spannendes Thema, amüsanterweise an dem Tag, an dem ich auch vom unerwarteten Besuch des damals noch Kronprinzen auf der Pfaueninsel las, der mit seiner aparten Gattin aus dem Hause Sachsen-Weimar, die Hettche realistisch klüger erscheinen lässt, kein Wunder bei einer Enkelin von Anna Amalia, bin ich versucht zu sagen, gegenüber dem sogenannten Kartätschenprinzen, der nach den Ereignissen vom März 1848 aus Berlin gen England fliehen sollte, um sich dem Zorn der Berliner zu entziehen, auf die er hatte schießen wollen, ganz im Gegensatz zu seinem bedächtigeren Bruder Friedrich Wilhelm IV., der später aber auch den Einflüssen der Gruppe um  den da aufsteigenden Junker Bismarck erlag und den parlamentarischen Versuch in Preußen schon im November wieder beendete. Gerade angesichts der Unruhen in den USA und der hysterisch schwachen Reaktion des noch Präsidenten Trump, lohnt es sich kritisch über die harten Kerle nachzudenken, die nie Kompromisse suchen, weil ihnen häufig dafür die kritische Einsicht der Möglichkeiten fehlt, sie das Eingeständnis von Fehlern für Schwäche halten, dahingestellt ob dies bei Wilhelm I. später so war, der ohnehin eher König und Kaiser von Gnaden anderer Genies war, nämlich Moltke und Bismarck.

Mit dem Ende der Hanse als europäischem Freihandelsraum, der sich zunächst über die Ostsee und die deutschen Hansestädte erstreckte, später in ganz Europa Dependancen hatte,endete eine zeitlang die deutsche Vorherrschaft auf europäischen Märkten und wurde durch nichts gleichwertiges ersetzt. Stattdessen bunte Kleinstaaterei, die sich gegenseitig Konkurrenz machte, möglichst vom Nachbarn noch Zölle kassierte, also Geld eher unproduktiv und den Handel behindernd verdiente.

Der siebenjährige Krieg, der zum Zeitpunkt der Reise, die als Grand Tour für einen Gentleman aus bester Familie gedacht war, den Smith als tauglicher Lehrer begleitete, erst zwei Jahre beendet war, ist schon ein Weltkrieg der damaligen Supermächte Frankreich und England gewesen, die sich um Amerika und Indien balgten und scheinbar überall war England als Sieger vom Feld gegangen, auch wenn die nur acht Jahre nach Beginn der Reise bevorstehende Boston Tea Party schon vom drohenden Gegenteil zeugt, was die Franzosen natürlich nach Kräften unterstützten. Auch dort ging es übrigens um Abgaben, in dem Fall auf Tee, also die Beschränkung des Handels durch das Empire und seine dramatischen Folgen, mit der auch die Regierung Trump wieder auf typisch imperialistisch großmäulige Art versucht ihre Schäfchen ins Trockene  zu bringen und noch, so sehr es sich manche Europäer auch wünschen, sind diese Wahlen nicht entschieden, auch wenn der wohl großmäuligste aller amerikanischen Präsidenten bei geringster intellektueller Basis, gerade viel dafür tut, nicht wiedergewählt zu werden.

So reist Smith durch das Europa der Aufklärung, in dem Frankreichs staatlich geprägte Ökonomie der Manufakturen noch eine führende Rolle hat und das mit den Geistern der Aufklärung von Diderot bis Voltaire wie den anderen Enzyklopädisten auch geistig eine führende Rolle spielt, an der sich manch aufgeklärte Herrscher wie Friedrich II. oder Katharina die Große orientieren, deren Großzügigkeit gegenüber Diderot am Ende die Enzyklopädie rettete und damit das aufgeklärt kritische Fundament der späteren Revolution legte. Die Pariser Salons, die unsere Reisenden später noch besuchen werden, sind ein Teil dieser aufgeschlossen kritischen Welt - auf diese Begegnung mit den alten Freunden aus den Bösen Philosophen des sehr geschätzten Philipp Blom, freue ich mich und bin sehr gespannt.

Das schöne an historischen Literatouren, sind immer die Brücken, die sich schließen und mit denen das Netz des Verständnisses wächst, das die Welt verbindet und zu einem offenen Ort macht, der über sich nachdenkt. Die kulturhistorischen Zusammenhänge und Unterschieden in Europa auch durch die teilweise direkt verknüpften Königshäuser, wie Ludwig XIV., der Coup mit der Krone Spaniens für sein Haus gelang, allerdings zum hohen Preis langer Kriege, wie der Aufgabe jeder politischen Verbindung mit Spanien, oder die Ehe zwischen Ludwig XVI. und Maria Theresias Tochter Marie-Antoinette, das neue Bündnis besiegelte, das die Pompadour mit Zarin Elisabeth und eben Maria Theresia gegen Fritz geschmiedet hatte, der die drei prompt die drei Erzhuren nannte, gegen die er Preußen mit viel Glück nur verteidigte.

All dies macht die Nähe der späteren amerikanischen Revolutionäre zu Frankreich klar, die damit den Briten zumindest indirekt noch schaden konnten, wenn sie diese schon nicht im Feld besiegten und so zeigt sich mancher militärisch scheinbar glanzvolle Sieg in der langfristigen Beurteilung als mit so hohen Kosten verbunden, das er dauerhaft doch zur Niederlage wird, weil sich Kriege nie lohnen auch für Preußen nicht, dass völlig von den Landkarten verschwand. Wann die Briten begreifen, was der Sieg Johnsons sie kosten wird, ist noch unklar, auch wer zurückrudern wird, nachdem der gerade noch amtierende Premier noch nicht an Corona sterben durfte,  um dem Spuk ein schnelles Ende zu bereiten, doch werden auch diese scheinbar verwirrten englischen Bestrebungen im größeren europäischen historischen Kontext noch von anderer Seite beleuchtet - wie weit dieses Nein eher ein Bekenntnis zorniger Unpolitischer war, die besser geschwiegen hätten, ist eine andere Frage, die auch eine literarische Betrachtung interessant macht.

Hätte Thomas Mann besser geschwiegen, statt seine deutschnationalen Bekenntnisse eines Unpolitischen aus dem Gefühl und der Seele der Nation zu verfassen, um derentwillen er sich mit Heinrich danach überwarf, der sich dafür immer zu weit links anbiederte, was die DDR-Regierung gerne benutzte, ihn groß zu reden, der zwar der altersgemäß große Bruder war aber literarisch immer eher der Kleine blieb, sehen wir vom Henry IV. ab, was wieder zeigt, wie dankbar ein guter und feiner Blick auch auf die französische Geschichte oder eine Grand Tour dorthin sein kann, um Charakter und Persönlichkeit zu schulen, was keine Fürsprache für meist überflüssige Reisen in einer ständig gehetzten Gesellschaft sein soll, sondern vielmehr die geistigen Prioritäten betont, die ein literarischer Blick auch über die eigenen Grenzen hinaus bringen kann, denn nicht Reisen, sondern Lesen bildet.

jens tuengerthal 3.6.20

Dienstag, 2. Juni 2020

Literatouren 1.6.20

Am Pfingstmontag ein wenig in Hettches Pfaueninsel mit mäßiger Begeisterung gelesen, dafür mit umso größerer Freude einen Text von Joachim Fest in Bürgerlichkeit als Lebensform gefolgt, der unter dem Titel: Die verlorene Kunst - Geschichtsschreibung als Wissenschaft und Literatur, Betrachtungen über Herbert Lüthy als Historiker und Autor anstellt, viel mehr aber noch in die Kunst und Bedeutung des Schreibens von Geschichte eintaucht. Diese Gedanken über die Bedeutung der Sprache bei der Erzählung der Geschichte und der großen Rolle dieser für die Gestaltung der Zukunft wie der Wahrnehmung der Gegenwart, machen es zu einem gerade jetzt, während die Demokratie durch das ungute Wirken zahlreicher Populisten östlich wie westlich Europas, wie teilweise auch mitten in diesem, von Ungarn über Polen bis Britannien und die von Russland aus geführte Propagandaschlacht gegen den Westen, so wichtig einen genauen Blick auf unsere Wahrnehmung zu werfen und worauf es für ein möglichst klares Bild der Geschichte ankommt, ob es dieses gibt.

Was ist Geschichtsschreibung heute und welche Bedeutung kommt ihr in rasenden Medien zu,  in denen sich Schlagzeile über Schlagzeile erhebt, eine die andere, des Geschäftes wegen noch übertreffen will?

Wo steht diese langsame und sorgsame Wissenschaft, welche alte Quellen exakt erforschen muss, will sie sichere Aussagen machen, in einer Zeit dar, in der Präsidenten über soziale Netzwerke kommunizieren und diese zensieren wollen, wenn sie nicht mehr ihrer Meinung entsprechen?

Wie erdrückend ist die Beschäftigung mit der Geschichte des 20. Jahrhunderts und seiner Schrecken, fragen sich viele, die sich gerne sonst mit Geschichte beschäftigen- Auch ich selbst wich nach der Schulzeit diesem Thema gerne aus, soweit es nicht für Recherchen des eigenen Schreibens erforderlich war. Der Holocaust und die entsetzlichen Auswirkungen der beiden Weltkriege in dessen ersten auch mein Urgroßvater vor Verdun damals fiel, wie es euphemistisch die Gemetzel umschreibend noch immer heißt, wenn einer erfolgreich im Krieg umgebracht wurde, sind kein Stoff der begeistert und Träume für morgen formt, sondern vielmehr einer, der abschreckt und das Grauen über die Abgründe des menschlichen Wesens lehrt.

Dennoch bleibt eine Faszination auch bei diesem Thema, was die Abgründe unseres Seins offenbart und Fest, der große Hitler Biograph, berichtet, wie sein Vater ihm noch davon abriet, sich mit Hitler zu beschäftigen, um diesem Kerl nicht noch mehr Gewicht zu geben, obwohl er selbst als Angehöriger des demokratischen Reichbanners Schwarz Rot Gold, die in der Weimarer Republik parteiübergreifend die Demokratie verteidigen wollten, zu den Gegnern und Verfolgten des Regimes gehörte. Zwar gab es in dieser Generation eine große Scham über das, was geschehen war aber auch das Bedürfnis, diese zu überwinden, die Jahre der Diktatur hinter sich zu lassen.

So erlebte meine Elterngeneration noch die Auseinandersetzung mit ihren Eltern eher als Widerstand und Protest gegen das große Schweigen, der in der Bewegung von 68 seinen Ausdruck fand, die mehr Verantwortung in der Auseinandersetzung einforderte, auf die mit Schweigen und Empörung über andere Provokationen reagiert wurde, was sich gegenseitig bis in die siebziger Jahre hinein noch potenzierte, ohne eine wirkliche Auseinandersetzung je zu erreichen. Damals wurde das Schweigen groß geschrieben, auch ich erlebte noch in meiner Kindheit Worte der Großeltern, die eher zu erklären und rechtfertigen versuchten, was geschah, dass ja nicht alles schlecht war und nach der großen Wirtschaftskrise und der vielen Gewalt auf den Straßen endlich einer kam, der aufräumte und für Ordnung sorgte, was zunächst den Zuspruch vieler Bürger fand, denen die Gefahren des Populismus und die Folgen des Faschismus nicht klar waren, es als deutsche Folklore abtaten.

Das wieder aufgeräumte und stolze Land, das nach der Niederlage von 1918 in konservativen und rechten Kreisen gern über die Dolchstoßlegende schwadronierte, in dem es in bürgerlichen Kreisen noch normal war, deutschnational zu denken, wie meine Großmutter erzählte, die stolz auf ihren Schülerstreich zur Maifeier war, bei dem sie am Bremer Kippenberg die Fahnen vom aktuellen schwarzrotgold der Weimarer Republik in schwarzweißrot der Kaiserzeit austauschte, was heute eher auf eine undemokratische, staatsfeindliche Gesinnung schließen ließe, die ihr fern lag, so politisch war sie nicht, sie sah sich als gute bürgerliche aus konservativer alter Familie, kaisertreu eben und mit Hindenburgs als Nachbarn in Hannover aufgewachsen und damit wohl eher in der Mitte der Gesellschaft als am rechten radikalen Rand, wohin eine solche Aktion heute führte.

Habe als Kind noch über diese Anekdoten gelacht, die Teil der Familienhistorie waren, die ich heute kritischer sehe, weil sie offenbaren, wie ein Teil der Elite in der neuen Demokratie nicht angekommen war und das Spiel der Auflehnung lieber mitspielte, stolz darauf war. An diesen irgendwie Stolz knüpfte Hitler mit seinen Reden an, die Themen wie Nationalgefühl, Blut und Boden, Ehre und Volksgemeinschaft auf schlichte Art variierten. Fest beschreibt in seiner großen Hitler Biografie von 1973 auf den Spuren von Lüthy, der für ihn geistiger Leitfaden war, weil er den offenen, kritischen Blick auf die Geschichte hatte, sich gegen den Totalitarismus von links wie rechts wendete, wie dieser schlichte Versager, der nur ein glänzender Demagoge war, der in unsicheren Zeiten den Ton traf, um damit viele mitzureißen, die sich begeistern wollten, statt sich als Verlierer und Versager in Armut zu schämen, es schaffte in der Politik Bedeutung zu erlangen, die weder in seiner Persönlichkeit, noch seiner Erscheinung vernünftige Gründe fand. Wer verstehen will, warum so etwas funktioniert, wie schlichte Geister mit simpler Demagogie in Führungspositionen kommen, was so viele Menschen ihnen folgen lässt, sollte genau auf die Geschichte schauen, um dies für die Zukunft zu verhindern. 

Wie können wir den Erfolg der Demagogen verhindern, was ist der richtige Weg dazu?

Fest beendet den Text über Lüthy und seine besondere Rolle, der 2006 in der Neuen Zürcher erstmals erschien mit einer Parabel über die Blinden eines indischen Dorfes, die von Buddha zusammengerufen wurden, um einen Elefanten zu beschreiben. Jeder beschrieb das große Tier, dem was er fühlen konnte entsprechend, wer an den Beinen stand, meinte Elefanten seien große Säulen, wer den Rücken befühlte, beschrieb das Tier als einen Hügel, die an den Ohren meinten, Kornschaufeln zu sehen, der am Rüssel war überzeugt das Tier gliche einem Schlauch, hätte eher die Gestalt einer riesigen Schlange.

Jeder hatte von seinem Standpunkt aus völlig recht, begriff aber nicht den Zusammenhang, weil der Blick sich nur auf ein Detail konzentrierte, vergaß, was das Ganze erst ausmacht, genau das aber macht nach Lüthy und Fest den guten Historiker aus, der den Überblick behält und den Zusammenhang erkennt, statt sich nur auf ein Detail zu konzentrieren, was den Blick trüben kann und genau dies zu sagen, hielt Fest für eine der wichtigen Aufgaben der Zukunft. Erst im Zusammenhang wird die Geschichte klar und durchsichtig, die Lehren aus ihr verständlich.

Dieser Punkt ist es, der mich begeistert hat, weil er zeigt, worauf es im Kern der Beschäftigung mit Geschichte ankommt. Natürlich ist es in Studien wichtig, die Detailarbeit mit Quellen zu beherrschen, wie es Lüthy mit seinem großen Essay über Frankreich und warum dort die Uhren anders gingen bewies. Der kluge Schweizer, der eine der ersten modernen Übersetzungen Montaignes schuf, hat genau diesen Punkt beherrscht, den im politischen Kampf um Detailfragen auch unter dem Einfluss verschiedener Lobbyisten, viele gerne detailversessen vergessen. 

Geschichte wird erst aus den großen Zusammenhängen verständlich, wenn ich die handelnden Personen einordnen und ihre Taten verstehen kann. Dazu gehören auch die familiären wie sozialen Zusammenhänge, die eine moralische Haltung erklären und in den nötigen Kontext stellen, erst so kann ich Geschichte verstehen., warum der Blick in und auf die Familie der Anfang eines wirklichen Verständnisses für Geschichte ist. Zu den eigenen Wurzeln gehen, liegt uns relativ nahe, aus diesen ergibt sich der Zusammenhang, weil es sich mehr vom aktuellen Horizont und seinen Wertungen löst, soweit das überhaupt möglich ist.

Habe bei meinen Großeltern eine starke Wandlung in ihrer Sicht und der Darstellung ihrer Rolle in der Zeit des sogenannten Dritten Reiches erlebt. Hatten sie ihren Kindern, also meiner Elterngeneration gegenüber, noch geschwiegen, sich gegen alle Vorwürfe gewehrt, waren ausgewichen mit dem Hinweis auf die Notwendigkeit des Neuanfangs, wie ihn auch Adenauer so gern zelebrierte, stellten sie sich mir gegenüber langsam anders dar. Diese Wandlung vollzog sich in mehreren Schritten bei der väterlichen wie der mütterlichen Seite.

Gegenüber mir als Enkel war der Stolz nicht mehr so stark, sie versuchten eher die Situation zu erklären, wie schwer die Zeiten waren, warum sie Anfangs auf einen guten Weg unter Hitler noch hofften, was alles Gutes auch begann. Von der Ruhe auf den Straßen bis zu den plötzlich staatlich beschäftigten vielen Arbeitslosen, dem plötzlichen Stolz auf ihr Vaterland, dass wie etwa bei Olympia 1936 wieder jemand war. Dabei wurde immer auch vor der zugleich Gefahr von den Kommunisten gewarnt, die als mindestens ebenso große, wenn nicht sogar gefährlichere Bedrohung für Freiheit und Wohlstand gesehen wurde.

Fragte ich bei meinem Großvater väterlicherseits nach, der Jura und Volkswirtschaft studiert hatte, ob er an das Programm glaubte, flüchtete er sich zuerst mit seiner Frau zusammen in allgemeine Floskeln, gab aber im Detail zu, schon gemerkt zu haben, dass es so ökonomisch eigentlich nicht funktionieren konnte, aber es wären mit der Rentenmark und nach der großen Krise von 1929 auch unsichere Zeiten gewesen, in denen sich an jede Perspektive geklammert worden wäre, wobei er nie Parteimitglied gewesen wäre und wusste warum,

Der antifaschistische Schutzwall, wie das totalitäre Regime der DDR seine Grenze zum freien Westen nannte, galt als Rechtfertigung doch besser nicht zu streng mit den vielen Mitläufern zu sein, weil die Bedrohung durch die brutalen Russen doch mindestens ebenso groß wäre. Dabei erzählten beide Großmütter von der Angst der Frauen vor den vergewaltigenden russischen Horden, den wilden Kosaken aus dem fernen Asien, die sich wie Tiere benommen hätten, ohne dass es eine von beiden erlebt hätte, aber die Legende war Teil des Wiederaufbaus im Westen nach 1945, diente wohl auch der Rechtfertigung, da wer sich so geopfert hatte, nicht mehr für das vorige Wegsehen oder Mitmachen rechtfertigen musste, die bösen Russen, die sich an den deutschen Frauen rächen wollten für die Taten der Reichswehr im Osten, die aber, nach anfänglicher Erzählung der Großväter noch sauber geblieben wäre, da die Verbrechen wie die Konzentrationslager von der SS begangen wurden, keiner etwas davon wusste. Manche Widersprüche sehen wir erst mit viel Abstand, weil die Neigung alles nett erzählte, nett zu finden, größer ist als das Bedürfnis nach Aufklärung und historischer Wahrheit, zumindest der Vermeidung klarer Lügen, was immer die Wahrheit auch sein soll. 

Die Lüge von der sauberen Reichswehr hat Reemtsma mit seiner Wehrmacht Ausstellung, die in den Neunzigern durch Deutschland wanderte widerlegt. Die Reichswehr war nie sauber, es konnte jeder wissen, was geschah, zumindest wer wollte und hin sah.. Zugleich änderte sich seit der Weizsäcker Rede von 1985 die Bewertung der Niederlage als Befreiung auch im konservativ bürgerlichen Lager.

Bei einem der Besuche bei meinen Großeltern in Bremen gastierte die Ausstellung im Rathaus, sie rieten mir vom Besuch ab, da dies doch eher ein linkes verzerrtes Bild wäre, was die Geschichte verfälschen würde, viele unschuldige Soldaten und Offizieren zu Tätern machte, die doch nur, wie es eine Frage der Ehre wäre, ihr Vaterland verteidigen wollten. Vermied damals den Konflikt mit den Großeltern noch, schaute mir die Ausstellung an anderen Orten an, weil es mir auch nicht passte, dass hier ein pauschaler Vorwurf erhoben werden sollte, familiärer Frieden persönlich näher liegt als ein gerechtes Bild der Welt.

Zwar lag mir der Schlußstrich fern, was ich auch von den Großeltern nie hörte, dabei wurde sich eher indirekt ausgedrückt, dass Deutschland ja seine Verpflichtungen aus dem Krieg sehr großzügig nachkomme, womit dies kein Thema sein müsse, aber in der Wirkung war der noch aus der Nachkriegszeit stammende Geist, der vom Wiederaufbau als hungernde oder vergewaltigte Opfer des Krieges geprägt war, auch wenn es der mütterlichen Großmutter als Übersetzerin für die Engländer noch relativ gut ging, stärker als die Schuldgefühle für das, was in deutschem Namen geschah. Dafür wurde gern singulär Hitler verantwortlich gemacht, der gemeine Deutsche hätte ja nichts gewusst.

Lange erzählte meine Großmutter mütterlicherseits etwa die Geschichte, wie die Engländer sie, bevor ihr Dienst für die Truppe begann, in ein Konzentrationslager führten und welcher Schock das für sie gewesen wäre, weil sie ja nichts geahnt hätten von dieser vor den gutgläubigen Deutschen völlig verborgenen Brutalität. Die Großväter hielten sich da eher zurück. Es galt die Formel, sie hätten schon wissen können, wenn sie nachgeforscht hätten, aber das tat ja keiner, weil alle Angst hatten, was ihnen drohte, würden sie für Systemgegner gehalten, weil die Angst vor dem Lager, von denen keiner etwas gewusst haben will, größer war als Neugier und Gerechtigkeitssinn, wie ich heute ergänzen würde.

Mit dieser Art der Betrachtung und ihren Widersprüchen, bin ich groß geworden. Zugleich aber gab es auch andere Geschichten, wie die der Verhaftung meines Urgroßvaters in Bremen, der angeblich seinen jüdischen Bankier auf der Straße gegrüßt hatte, sogar den Hut zog, nicht die Straßenseite gewechselt hatte also für bürgerlich Höflichkeit im Gefängnis landete, aus dem ihn die Arbeiter seiner Fabrik angeblich rausgebrüllt haben, nach anderen Gerüchten ein Wort Görings, der ihn noch als ersten Ingenieur Richthofens in dessen Staffel gekannt habe, was weniger ehrenvoll natürlich klingt.. Diese Geschichte wurde von der mütterlichen Großmutter schon früh mit Stolz erzählt, obwohl die angeblich auch guten Taten der Nazis noch gerechtfertigt wurden, für Verständnis zumindest geworben wurde. Hier wurden eigentlich schon innere Widersprüche deutlich, die ein typisches Produkt der verdrängten Verantwortung sind wie Aleida Assmann so treffend in Der europäische Traum schreibt, dahingestellt ob die Beschäftigung mit Problemen diese eher verstetigt oder aufhebt.

Ganz langsam nach 1985 wandelte sich das Denken der älteren Generation. Sie übernahmen die Verantwortung, für das, was geschehen war zwar nicht sofort aber sie bemühten sich immer mehr den eigenen Abstand zum Regime zu betonen. Sahen das Ende des Krieges mehr als Befreiung denn als Niederlage,  wie Weizsäcker es erstmals formuliert hatte. Plötzlich tauchten Geschichten auf, nach der mein Großvater etwa den Tisch mit deutlicher Unwilensbekundung verlassen hätte, nachdem ein Bekannter dort die Taten in der Nacht vom 9. November 1938, der lange Kristallnacht genannten Reichspogromnacht, gelobt hatte, was ein gefährliches und mutiges Verhalten gewesen wäre. Dazu war mein Großvater relativ schweigsam, meinte nur, es wäre eine Frage des Anstands gewesen und dieser Kerl sei ja auch ein unangenehmer Zeitgenosse gewesen. Dies stille hanseatische Heldentum, was nicht viel von sich redete, tat, was moralisch geboten war, ansonsten lieber schwieg, spielte eine Rolle auch in meiner Betrachtung der Geschichte und ihrer eigentlich offenbaren Widersprüche, denen ich nicht nachging, weil ich den Großvater lieber mit Respekt als stillen Helden betrachtete, denn als meist feigen Mitläufer, was wahrscheinlicher wäre, wozu ich aber zu wenig weiß, kompetent urteilen zu können und mit dem Hauch des Halbwissens mich dann lieber auf die Heldenseite lehnte, zumal ich im Studium verschiedene Nachfahren der Helden des Widerstandes kennenlernte, dabei lieber eine Zugehörigkeit fühlte, als zu offenbaren, was wirklich war.

Vielleicht ist das heutige Bedürfnis lieber einen Helden des Widerstandes als Großvater zu haben, auch wenn das wohl keiner wirklich war, zumindest keinen Täter und keinen nur Mitläufer, wichtiger für die Zukunft als die tatsächlichen historischen Ereignisse, weil die Umbesetzung der Werte eine deutliche Sprache spricht, die in eine Gesellschaft führt, in der Widerstand gegen Totalitarismus als Heldentum gesehen wird, Identifikation auch in der folgenden Generation lieber mit den Opfern oder zumindest Gegnern des Regimes gesucht wird, um eine positive familiäre Geschichte zu haben.

Der väterliche Großvater, der zwar nie wieder nach dem Krieg wohl ein inniges Verhältnis zu seinem Bruder aufbaute, der für die Nazi in nicht ganz unwichtiger Position in seiner Heimat Wilhelmshaven gearbeitet hatte, aber kurz vor Kriegsende wieder als Pfarrer Unterschlupf bei seiner Kirche fand, die ihn noch viele Jahre als Jugendleiter beschäftigte, sich aber gerne damit lautstark brüstete, dass er durch seine guten Kontakte nach Berlin seinen Bruder nach dieser Sache in Belgien gerettet hätte, was mein Großvater weit von sich wies, der nach dem 20. Juli als sich sein Name auf den Listen Goerdelers fand, angeklagt wurde allerdings wegen einer angeblichen Unterschlagung, die er nach eigener Aussage nie begangen hätte, sagte, er sei kein Nazi gewesen, aber als Vater von vier Kindern auch nicht in den Widerstand gegangen, obwohl es wohl gute Kontakte über Kameraden aus der Kadettenzeit gab.

Trotz mehrfachem Nachhaken, habe ich dabei nie mehr erfahren können als die letzte Version, dass sein Kadettenfreund Bülow, auf dessen Gut in Güstrow sich die Großeltern einst kennenlernten, seinen Namen als vertrauenswürdigen Beamten weitergegeben habe, der eher auf Seiten des Widerstands stünde, er aber sonst nichts gewusst hätte, was er doch auch der Großmutter nie hätte antun können. Allerdings saß zum Zeitpunkt der Erzählung, etwa ein halbes Jahr vor seinem Tod, die Großmutter mit am Tisch, der er immer geschworen hatte, nichts mit dem Widerstand zu tun zu haben, weil er doch nicht sein Leben riskieren sollte. 

Alleine habe ich ihn dazu nicht mehr gesprochen, allerdings scheint mir aus heutiger Sicht und im Wissen darum, wie geheim Widerständler ihre Tätigkeit lange gehalten haben, aus Gesprächen mit Witwen und Opfern der Zeit, die Aussage mindestens fragwürdig, vor allem im Angesicht der Tatsache, dass ihn nach dem Krieg ein ehemaliger belgischer Ressistancekämpfer als Zeuge bei der Aufhebung des Betrugsverfahrens verteidigte, über den ich wiederum von einem uralten Straßburger Freund, der selbst mit der Resistance das Elsass wieder befreit hatte, nach voriger langer Odyssee durch Russland und Afrika, die hier aber kein Thema sein soll, erfuhr, dass er ein führender Kopf des dortigen Widerstands war, wenn er für meinen Großvater aussage, ich davon ausgehen könne, dass er mehr wusste, als er zu Lebzeiten sagte.

Dieser Großvater war zwar als ehemaliger kaiserlicher Kadett ein Konservativer gewesen aber sein Studium im Paris der 20er spricht schon für einen weiteren Blick, gelegentlich äußerte sich auch so, dass die besondere Betonung, dass er ja schon seiner Frau wegen, sich nie dem Widerstand angeschlossen hätte, nicht mehr ganz glaubwürdig im Schatten seines sonstigen Lebens wirkte, doch schien ihm bis zu seinem Tod 1991 wichtiger in Frieden mit seiner Frau zu leben, keine Lüge zu offenbaren, als sich vor dem Enkel als Held darzustellen, was ja nach der Rede von Weizsäcker zur Befreiung wie infolge des langjährigen Wirkens von Marion Gräfin Dönhoff als Publizistin langsam möglich und normal geworden war.

Ob meinem Großvater dabei die preußische Bescheidenheit wichtiger war als der Glanz eines späten Heldentums vor seinem Enkel, der ihn dazu sehr nachhaltig befragte, weil er die Geschichten von seinen alten Straßburger Freunden aus der Zeit des Widerstandes gehört hatte oder schlicht der eheliche Friede, weiß ich nicht zu sagen, alles spräche nicht gegen eine gewisse Altersweisheit, der Frieden mit seiner Frau halten ließ, was ein alles überragender Punkt gewesen sein könnte, denn nicht umsonst fürchtet mancher, der bei einer Lüge erwischt wurde, dass er auch anderer verdächtigt werden könnte und insofern handelte er sehr vorausschauend wohl.

Während die väterliche Großmutter bei der Befragungen zu Leben und Alltag in der NS-Zeit auch wiederholt betonte, dass ja auch manches erstmal besser geworden sei, hielt sich der Großvater, der gerne das Wort sonst immer führte und das letzte noch lieber hatte, erstaunlich zurück, deutete nur einmal an, es war die Zeit der Wehrmachtsausstellung, dass es solche und solche gegeben hätte, blieb also nicht bei der Behauptung der sauberen Wehrmacht, was ein echter Paradigmenwechsel für einen sonst stolzen Lichterfelder Kadetten war, der lange auch der NATO als Diplomat diente.

Auffällig dagegen wandelte sich bei der Bremer Großmutter die Betrachtung der Zeit und der Rolle der Familie in ihr. Zum einen wurde die Geschichte vom großväterlichen Protest in der Nacht des 9. November nach dessen Tod immer neu ausgeschmückt, zum anderen erzählte sie irgendwann, sie sei zur Ehrung ihrer längst verstorbenen Schwiegereltern in Yad Vashem ins Bremer Rathaus eingeladen worden, die angeblich ein jüdisches Ehepaar über den Krieg versteckt hätten. Habe zu den Details dieser schönen Familiengeschichte nicht weiter nachgeforscht, finde es aber sehr spannend, wie sich das Bewusstsein gewandelt hat im Laufe der Zeit.

Von der anfänglichen Abwiegelung, sie hätten ja nichts gewusst, über die dann Verharmlosung und Relativierung, wie die Inszenierung des eigenen Vaters als zumindest etwas Widerständigen, weil er seinen Bankier gegrüßt hatte, zum Heldentum des Gatten und der Schwiegereltern im aktiven Widerstand, nahm meine Großmutter noch mit über neunzig eine vollständige Änderung ihres Selbstverständnisses und ihrer Rolle vor, die zumindest ein indirektes Heldentum schuf, was den Widerstand als gut und richtig darstellte, damit konsequent gedacht die eigene vorherige Verharmlosung als falsch sehen musste.

Ob sie so weit dachte, kann ich nicht beurteilen, das Alter verleiht ja über das Gedächtnis auch manche Gnade der Betrachtung, die sich dem normalen Durchschnitt weniger erschließt, zumindest hat sich in ihrem moralischen Gewissen etwas entwickelt, was im hohen Alter noch die Rolle der Familie unter der Diktatur anders definierte als viele Jahrzehnte davor, wo wirtschaftlicher Erfolg und gesellschaftliche Anerkennung wichtiger waren.

Schwierig an diesen Berichten von Augenzeugen ist immer, dass sie aus ihrem Erleben nur erzählen, mit dem sie irgendwo an dem Elefanten standen, also selten mit Abstand über das Ganze berichten, noch als Beteiligte Zusammenhänge erkennen können. Auch die Motivation zur Darstellung der Ereignisse veränderte sich. So war es meiner bremischen Großmutter im Alter wichtig als politisch korrekt wahrgenommen zu werden, was einerseits eine Wandlung bedeutete, andererseits aber auch ihrem in vielem an ihre Rolle angepassten Verhalten entsprach, die sich zwar gerne etwas widerständig und wild gab, solange es im gesellschaftlich korrekten Rahmen blieb, der von einer Lady erwartet werden durfte.

Nachdem Marion Dönhoff mit ihren Büchern und den Geschichten des Widerstandes wie dem Einsatz für die deutsch-polnische Begegnungsstätte auf dem moltkeschen Gut Kreisau in Schlesien eine völlige Umwertung des Widerstandes geschaffen hatte - die nach dem Krieg noch teilweise als untreue Offiziere behandelt wurden, auf die weniger Verlass wäre, schien es gegen Ende des Lebens meiner Großmutter verlockender, dem Widerstand anzugehören und als Heldin am Rande gesehen zu werden.

Was immer nun historisch in beiden Familien wirklich war, hat sich doch die Darstellung und die Wahrnehmung innerhalb einer Generation beim größten Teil völlig gewandelt. Plötzlich war es ein Wert, als Held wahrgenommen zu werden, der irgendeine Nähe zum Widerstand hatte, die vor den eigenen Kindern, die mit Wut 1968 noch eine endlich Rechtfertigung forderten, völlig geleugnet worden war, denen sie jede Erklärung schuldig blieben, auch weil sie lieber verdrängten, um erfolgreich weiter zu funktionieren, alten Autoritätsidealen folgten, welche die folgende Generation dann gerne vollständig negierte.

Aber auch als Enkel bemerkte ich den Prozess der Veränderung bei der Darstellung der eigenen Rolle und der Betrachtung der eigenen Vergangenheit innerhalb zweier Jahrzehnte. Die erzählte Geschichte änderte sich damit für die Augenzeugen in relativ kurzer Zeit, wie wird sich dies erst in den folgenden Generation verändern, frage ich mich, wie etwa werden meine Enkel mich lesen und wie werden deren Kinder dies wiederum auslegen. Wann schreiben wir Geschichte und wann schreiben wir sie nur auf, liegt im Bericht schon der Wille zur Gestaltung und wohin führt dieser?

Die Geschichtsschreibung entwirft ein Bild ihrer Zeit, sie stützt sich dabei zuerst auf Augenzeugen und dann auf Dokumente und andere Quellen, die eine Aussage entsprechend unserem jeweiligen Horizont ermöglichen. Betrachte ich all die unterschiedlichen Wertungen, die durch eine den Zeitverhältnissen entsprechende aktuell politisch korrekte Sprache erreicht wird,  die immer bestimmte Ausdrücke mehr oder weniger bestraft oder lobt, wird die relative Gültigkeit der Geschichtsschreibung deutlich.

Fest betonte noch wie Lüthy als exakter Historiker die Notwendigkeit genauer Quellenstudien, welche für glaubwürdige Ergebnisse unabdingbar sind, doch scheint mir auch nach eingehender und kritischer Betrachtung nur der nächsten familieninternen Quellen und ihrer Wandlung der Betrachtung sehr wichtig zwar die Geschichtsforschung als Bild der Zukunft möglichst exakt zu betreiben, aber zugleich auch sich immer bewusst zu bleiben, wie relativ stets unsere Wahrnehmung ist, um zu merken, was bleibt und was wieder verschwindet.

Der Genderdiskurs etwa, der manch seltsame Verwirrungen im Gebiet der Sprache erzeugte, sorgte für eine Veränderung im Bewusstsein der Wahrnehmung von Rollen. Folgende Generationen werden dadurch die Welt auch sprachlich anders wahrnehmen und ihre Sicht anders abbilden. So sehr ich mich auch als Historiker, der ich auch darum nicht bin, beispielsweise anstrenge, werde ich immer nur ein Bild meiner Sicht abliefern können, die durch vieles geprägt wurde, dessen ich mir seltenst vollständig bewusst bin, male also ein Bild der Zustände zu einer Zeit und liefere nie ein Foto ab. Sogar wo ich Fotografien habe, werden diese immer nur ein reflexiver Spiegel der Wirklichkeit sein, die ich wahrnehme, wie es meinem beschränkten Horizont entspricht.

Schaue ich irgendwelche Bilder früherer Geliebter an, staune ich gelegentlich über mich, was ich an diesen jemals fand oder diese an mir, weil nach dem Abkühlen der hormonellen Prägung die Wahrnehmung logisch eine andere ist.

Ist nun die ehemalige Geliebte zu der Zeit, in der sie mir als schönste der Welt erscheint, weil mein Gefühl es so will, objektiv schöner gewesen oder nur meine Wahrnehmung emotional getrübt?

Die Antwort kenne ich gut - Liebe verblendet und Gefühl macht noch die abstruseste Figur uns zur Schönheit, schaue dann subjektiv geprägt und entsprechend schön scheint mir, was ich liebe. Doch macht Liebe wirklich schön oder nie objektiv, gibt es objektive Schönheit oder ist, exakt betrachtet, jedes ästhetische Urteil immer auch subjektiv, weil der Goldene Schnitt etwa, zwar helfen kann aber die Summe der Einflüsse uns nie vollständig bewusst ist, wir nur einen Teil erfassen können, also auf das Gefühl als Maßstab unseres Urteils angewiesen sind und so könnte ich am Ende feststellen, dass es keine objektive Schönheit gibt, jedes Urteil vom Gefühl bestimmt wird und was diesem gut tut, womit wir uns also wohl fühlen, nicht schlecht für uns sein kann, auch wenn wir der Glaubwürdigkeit unserer geschmacklichen Urteilen gern den Anschein relativer Objektivität geben, dürfte diese eine absolute Illusion sein, finden wir dafür Bestätigung bei anderen, bedeutet dies nur, dass wir gelernt haben uns gut an Moden oder ähnliche moralisch fragwürdige Schwankungen anzupassen.

Wo wir durchschnittlich werden und uns also vom eigenen Empfinden entfernen, wird der Grad der Zustimmung zu unserem ästhetischen Urteil zunehmen, bekommt es den Anschein der Objektivität, warum vermutlich so viele Menschen sich inzwischen kosmetischen Operationen unterziehen ihre relative Durchschnittlichkeit  zu erhöhen. Dies ist besonders stark bei denen, die behaupten einen eigenen Stil zu haben, der die Varianten der Mode noch tiefer im Empfinden spiegelt, was entsprechend graduell an Eigenständigkeit verliert, sie sind vermeintlich individuelle Spiegel des Zeitgeistes ohne eigene Standkraft.

Spannend wird es schließlich wo das ästhetische Urteil sich mit dem moralischen mischt, wie wir es etwa noch im vergangenen Jahrhundert mit der Diskussion von Rassemerkmalen und Verbrechervisagen oder ähnlich fragwürdigen Zuordnungen hatten. Diese absurde Diskussion endete für Millionen Menschen tödlich. So urteilen wir heute über solche Versuche moralisch klar und streng, weil sie nur Vorurteile schaffen, nicht dem Einzelnen gerecht werden.

Dennoch wenden wir in der Praxis auch zur Wiedererkennung ständig solche Muster an, damit unser Gehirn funktioniert, auch wenn wir diese aus guten Gründen moralisch verurteilen. Sind wir also noch ehrlich oder eher nie?

Welchen Wert haben moralische Verurteilungen, die dem widersprechen, was unser Gehirn tatsächlich macht, um Menschen wiederzuerkennen?

Das ganze System scheint relativ fragwürdig und wenig geeignet ein zuverlässiges, etwa dem kategorischen Imperativ entsprechendes Urteil zu liefern. Was ist dann ein historisches Urteil je wert, dass auf solch relativen Kriterien fußt, die logisch die Basis unserer Wahrnehmung sind?

So mag ich davon überzeugt sein, den ganzen Elefanten zu sehen, also den historischen Zusammenhang zu erkennen und weiß doch, wäre ich ehrlich und nicht nur ein gieriges kleines Würmchen, dass seine Leistung am Markt verkaufen muss, müsste ich gestehen, es gibt keine objektive Geschichtsschreibung, so wenig wie historische Wahrheiten, kann nur so gut wie möglich Geschichten schreiben, wie es etwa ein Herodot tat, um zumindest den ästhetischen Genuß zu bieten, wenn ich schon die Lüge vermeintlicher Exaktheit vorkaspere, um mich gut zu verkaufen, sollte es doch zumindest schön sein, dann bleibt bei der Lektüre der historischen Märchen zumindest der ästhetische Genuß übrig, was doch am Ende ein Wert wäre.

jens tuengerthal 2.6.20.

Montag, 1. Juni 2020

Müggelliteratouren

Am Pfingstsonntag bei schönstem Wetter auf den Spuren des Friedrishagener Dichterkreises zum Müggelsee in schöner Begleitung gefahren, was die Preußenliteratour von Freitag zumindest personell noch fortsetzte und in die Gegenwart wie nach Berlin trug.

Mit S-Bahn und Regionalbahn ging es nach mehrfachem Umsteigen aufgrund der mal wieder Baustellen über Erkner nach Rahnsdorf, wo wir noch maskiert die Bahn verließen und in Richtung Wald aufbrachen, den großen Müggelsee zu umrunden bevor wir uns der Dichtung dort widmen wollten.

Ein wunderbarer Weg durch den Wald, mit Laternen, die, wie so vieles in der östlichen Provinz, auch wenn sie sich Berlin nennt, ihre Herkunft aus der DDR nicht verleugnen konnten, wo sie nicht an schönere vorherige Zeiten erinnert, führte kerzengerade parallel zur Straße gen Rahnsdorf, wo wir nach einem Marsch an mehr oder weniger schöne Villen im märkischen Sand vorbei, das alte Fischerdorf erreichten, wie nach kleinem Umweg die von der BVG betriebene Fährtstation.

Die Ruderfähre überquerte mit nur jeweils vier Personen die hier schmale Müggelspree und wir hatten bei ihrem Eintreffen schon überlegt, wie lange wir dort wohl noch warten müssten, bis wir schließlich an der Reihe wären, dabei aber glücklicherweise entspannt im Halbschatten auf einer Bank sitzend. Mit Monatskarte konnten wir, die nach der bloßen Ruderfähre von gegenüber eintreffende, Personenfähre maskiert nutzen. Die Zahl der Maskierten dort verhielt sich umgekehrt proportional zu Alter und Risiko der Beteiligten - will sagen, je älter desto doller und weniger vorsichtig waren die Mitfahrenden, dahingestellt, was nun normal wäre, ob mehr Vorsicht oder Nachsicht hier geboten wäre, jeweils von hinten oder vorne, was ein weites Feld der Betrachtung wohl eröffnet.

Kaum hatten wir das andere Ufer ein wenig oberhalb erreicht, nun quasi gegenüber von Entenwall und Dreibock, wie die kleinen Inselchen zwischen Müggelspree und Müggelsee ihrer Bewohner vermutlich und ihrer Form wegen genannt wurden, beschlossen wir auf guten Vorschlag meiner schönen Begleitung das Speiserestaurant mit Garten Terrasse Neu Helgoland zu besuchen, was schon namentlich an unserer beider norddeutsche Heimat erinnerte. Wir nahmen die Plätze nach Neigung ein, sie lieber gut eingecremt in der Sonne, ich bevorzugte weder eingecremt noch mit so geschlossen, gelocktem Haupthaar versehen, den Schattenplatz, ihr gegenüber, auch wenn dieser schon inhaltlich natürlich einer an der Sonne war.

Platziert wurden wir, nachdem wir Namen und Telefonnummer als Corona-Abwehrmaßnahme beim nicht maskierten Empfangskomitee hinter dem spürbaren antifaschistischen Schutzwall schriftlich hinterlassen hatten, von einer Dame in den besten Jahren mit blondierter Frisur und am Hals sichtbar schwarzer Unterwäsche, die allerdings die Neugierde auf weitere Nachforschungen diesbezüglich in überschaubaren Grenzen hielt. Die Terrasse war gut gefüllt mit Bootsausflüglern, privilegierten Stammkunden und sonstigem Publikum der östlichen Randbezirke, was manche wohl bildungsferner aber zumindest nicht unbedingt bürgerlich nennen würde, was sich relativ gut dressiert verhielt, ohne dass ich sie des korrekten Corona-Abstandes wegen genauer ins Auge nehmen konnte.

Kaum saßen wir, kam die Bedienung und fragte, was wir trinken sollten, worauf wir im anfängerhaften Leichtsinn - wir waren ja das erste mal an dieser Seite der Müggelspree gelandet und hatten auch noch keinen der berüchtigten Tanztees im Neu-Helgoland besucht, zu dem viele der mittelgroßen oder gernegroßen der Schlagerbranche wohl aufspielen, wie wir bei unserem Abgang an einschlägigen Plakaten erkennen konnten, die den Eingang dekorierten aber wir zwei waren ja quasi von hinten gekommen, also vom Fähranleger aus, was die Unwissenheit vielleicht entschuldigen kann - den Bedienenden zunächst um die Karte baten. Die Quittung war, wir erhielten unsere Soljanka umgehend und das mitbestellte Radler, nachdem wir die Suppe bis zum letzten ausgelöffelt hatten, den schon Flüssigkeitsmangel auszugleichen. Zumindest konnte keiner sagen, wir wären nicht vorher gefragt worden und so nahmen wir die bei solch ungewöhnlichem Bestellverhalten wohl übliche Trennkost gelassen hin und gossen das mit Limonade verdünnte endlich Bier auf die im Bauch ruhende Suppe. Dafür waren wir im wilden Osten, saßen direkt auf der Terrasse am Seeufer und bekamen noch kostenlos den Charme der untergegangenen DDR mitgeliefert, machten also quasi auch eine Zeitreise.

Am Seeufer entlang ging es durch den Wald, der nur von einem kleinen Sandstrand unterbrochen wurde, auf dem sich kleinstädtisches Publikum der de facto immer noch Großstadt Berlin, zu der dieser See samt Umgebung gehört, seiner Art entsprechend sonnte. Es ist nicht nur durch viele Natur eine völlig andere Welt als Prenzlauer Berg oder Mitte, Bäume gibt es ja bei uns auch, zumindest den einen oder anderen, vor allem unterscheiden sich die Menschen, ihre Kleider und ihr Gebaren völlig vom sich gern für großstädtisch haltenden gen Zentrum. Landbevölkerung eben, vielfach auch übergewichtig, mit bunter Tinte teilweise entstellt oder aus ihrer Sicht vermutlich verziert, Kinder heißen vielfach Kevin und werden so auch laut gerufen, was dem ganzen eine eher akulturelle Atmosphäre gibt und daran erinnert, dass diese Menschen in ihrem Kulturkonsum auf die Angebote des privaten Fernsehens meist beschränkt sind, so viele Bücher wie Donald Trump in ihrem spannenden Leben lasen und die Zahl der auf ihren Bauch bereits gekommenen Biere gerne vor sich her tragen.

Aber dieses ostzonale Publikum, was den arroganten Großstädtern eher peinlich erscheint, tauchte nur wenige male geballt auf, am aufgeschütteten Strand, an einer Anlegestelle vor Plattenbauten mit lärmenden Buden wie vor und nach dem Spreetunnel - ansonsten war die Natur wirklich schön, es zeigten sich auch gelegentlich eher großstädtisch kultiviert wirkende Menschen, an romantischen Buchten mit schicken Fahrrädern, was für den Anblick der Landbevölkerung, die hier eben heimisch ist, trotz wunderschöner Umgebung oder vielleicht auch wegen, wieder entschädigte, vor allem war meine schöne Begleitung in jeder Hinsicht so ein Kontrapunkt zu den Eingeborenen, dass nichts mich nachhaltig stören konnte.

Nach Unterquerung der Spree durch den gekachelten und graffitiversifften Tunnel, der einen echten Berlin-Flair zumindest gab, kurz nach 16 km im dort Müggelpark pausiert, der erwartungsgemäß mit ähnlichem Publikum vom Stamme der östlichen Provinz begeisterte, was die Vorstellung des hier einmal Dichterkreises noch ferner liegen ließ, eher an Haialarm am Müggelsee erinnerte oder noch niedrigschwelligere eben Unterhaltung der arbeitenden Klasse. Was sich ladungsweise mit ankommenden Schiffen wieder bestätigte - aber, und das sei hier betont, nicht mißverstanden zu werden, wir wissen um die theoretisch hohe Lesekultur der DDR und das Bemühen einiger Personen auch im Arbeiter und Bauernstaat Hochkultur zu pflegen mit auch literarisch mehr als bemerkenswerten Ergebnissen, auch aus dem LSD Dreieck um den Helmholtzplatz, es gab auch die andere Seite - um den Müggelsee ist sie nur eben nicht so wirklich sichtbar, das ist das Lebensgefühl von Freizeitpark und was Goethe noch liebevoll Volkes wahren Himmel nannte.

Auf der Suche nach dem Antiquariat, mit dem das Museum des Friedrichshagener Dichterkreises verbunden ist, machten wir uns schließlich auf den Weg Richtung S-Bahn, um auch sonstige abendliche Termine der Großstadt noch entspannt erreichen zu können, auch wenn natürlich wenig je an den Müggelsee heranreichen könnte. Davor pausierten wir noch einmal wie ursprünglich geplant vor einem kleinen, für die Lage relativ feinen Bistro, das sich, sehen wir vom bestaunenswerten Umfang der Bedienung einmal ab, auch in Mitte oder angrenzenden Bergen befinden könnte, genossen Gemüse-Quiche und Apfelstrudel zu Tee mit Latte ohne Milch und Kaffee mit richtiger Milch ohne mich, direkt an der verkehrsarmen Hauptstraße.

Was hatte bekannte Dichter und Geister der Zeit wie Lou Andreas-Salome, Else Lasker-Schüler, Gerhard Hauptmann, Max Dauthendey; Knut Hamsun oder die Dehmels sich hierher verirren lassen?

Faszinierte den Kreis von Naturalisten das Provinzielle oder die schönen Häuser aus preußischen Zeiten, als sie noch im Kaiserreich dort ihren Naturalismus zu pflegen begannen, angeblich bohémehaft lebten und lebensreformerische Ziele verfolgten, also vermutlich ab 1890 wie später erst auf dem Mont Verita im Tessin, hier nahe der Müggelberge, was natürlich schon sprachlich im Vergleich etwas peinlich klingt, aber das ist halt Berlin, freie Liebe prakatizierten, was eher technisch als erotisch ist, damit aber dem meist Ergebnis der Sexsuche in Kommunen gut entspricht, oder gar nackt badeten. Der Gedanke befremdete viele dort wohl heute wie damals oder ist es eher so, dass den Autor der Gedanke freier Liebe mit diesem Publikum abstrus schien, was längst pornogeschult und nacktrasiert fast professionell vögen wird?

Zumindest hatten wir am anderen Ufer noch einen Fotografen gesehen, der im Halbschatten einer beschilften Bucht mitten im Wald der Müggelseeküste eine nackte Nymphe mit Arschgeweih, wie es unter brandenburgischen weiblichen Eingeborenen weiter verbreitet ist, als je schön war, zu fotografieren versuchte, ein zumindest entfernt kulturelles Ereignis wohl, auch wenn noch am anderen Ufer von Friedrichshagen. Den Kurven und Rundungen nach aus knapp 15m Entfernung oberflächlich geurteilt, kein gänzlich unästhetischer Anblick, trotz der tintesken Entstellung, aber wer wollte sich in vollkommener Natur und in Begleitung einer Dame mit solchen Oberflächlichkeiten bemalter Mädchen beschäftigen? 

Zumindest zeigte die als Natur schöne Umgebung, dass sich in ihr auch ästhetische Reize auf vielerlei Art entfalten konnten, was ja schon irgendwie nett ist, im tieferen Sinne der Bedeutung. Im übrigen hat der Autor genug nackte junge Damen gesehen und ohne jedes Talent dafür selbst fotografiert, als dass er hier pausiert hätte und die inhaltlich wertvolleren Bestandteile der Welt dafür noch eimal vernachlässigen würde, zumal immer noch in Gegenwart einer Dame, sich solches ohnehin ohne Worte verbietet.. So zog auch dieses einzige kleine kulturelle Ereignis spurlos vorbei.

Das Antiquariat fand sich, am Pfingstsonntag natürlich geschlossen, in einer Parallelstraße der Friedrichshagener Flaniermeile, gleiches galt für das daran angebundene Museum - zumindest hat sich der Dichter davor von einer seiner Musen, der zugleich schönen Dame seiner Begleitung, fotografieren lassen, die in der provinziellen Umgebung völlig konkurrenzlos blieb, und die fraglichen Schilder als kulturellen Mehrwert abgelichtet und auf den heimischen Berg gebracht, der über Umwege noch vor 20 h wieder erreicht wurde. Vielleicht gibt es eines Tages, etwa nach dem Besuch des Museums, noch mehr zu diesem Dichterkreis voll prominenter Schreiberlinge zu erzählen, falls es gute Gründe gibt, sich wieder in die östliche Provinz, mit schöner Landschaft, die seltsam genug, noch Berlin ist, zu verirren. Bis dahin war es da an Kultur aus und Literatour in südlicher Provinz des Hauptdorfs

jens tuengerthal 31.5.20