Es ist manchmal sehr spannend, von entlegenen Orten der Welt zu lesen oder zu hören und zu erfahren, was dort als üblich gilt. Im Vergleich mit unserem Alltag kommt uns vieles zunächst völlig absurd vor und gleichzeitig können wir unsere Gewohnheiten am anderen hinterfragen.
Wie normal ist unsere Normalität und wie fremd ist das Fremde, wer befindet sich näher an der menschlichen Natur, was bleibt für uns unmenschlich und warum?
Noch spannender wird das Thema, wenn es um den Bereich Sexualität und den Umgang mit dem Geschlecht geht. Auch wenn wir Menschen uns alle auf die gleiche Art fortpflanzen, haben wir dabei überall andere Gewohnheiten und was am einen Ort als alltäglich und normal gilt, wird an einem anderen sogar mit dem Tod bestraft - manchmal begegnen uns solch völlig unterschiedliche Vorstellungen von dem was richtig und erlaubt ist sogar in einem Staat. So war in einzelnen Bundesstaaten der USA der Analverkehr oder oraler Sex unter Strafe gestellt, während andere schon die Hochzeit von Homosexuellen erlaubten.
Nun hat Nepal ein Gesetz erlassen, dass es unter Strafe stellt Frauen während der Menstruation aus der Dorfgemeinschaft zu verbannen oder sie während dieser Zeit zu zwingen, tagelang in Kuhställen oder primitiven Hütten zu hausen. Diese Praxis wird Chaupadi genannt und gehört zu den vielen Regeln, die es auf der Welt gibt, die Frauen diskriminieren. Danach gelten die Frauen während ihrer Regel als unrein und sie dürfen weder Essen zubereiten, noch zur Schule gehen oder sonst am sozialen Leben teilnehmen.
Die Frauen, die dann gezwungen sind, etwa in primitiven Laubhütten zu leben, sind dadurch verschiedensten Gefahren ausgesetzt von der Unterkühlung und sonstigen witterungsbedingten Gefahren bis hin zu Schlangenbissen und es kam schon häufiger zu Todesfällen, über die dann in empörten westlichen Medien teils ausführlich berichtet wurde.
Eigentlich kein Freund solcher Empörung über eben kulturelle Riten und der Einmischung in traditionelles Leben, kann ich es diesmal nur begrüßen, dass die nepalesische Regierung sich entschlossen hat, den aus dem hinduistischen Aberglauben, der dort verbreiteten Religion, stammenden Brauch unter Strafe zu stellen. Gleichzeitig hat sie auch andere Frauen diskriminierende Praktiken wie Säureangriffe und Sklaverei unter Strafe gestellt.
Damit wendet sich die Regierung gegen uralte Traditionen, die so unmenschlich sind wie das Kastenwesen des Hinduismus und andere Teile dieses Aberglaubens es immer waren. Sie wurde dazu auch durch die Aufmerksamkeit der westlichen Medien insbesondere nach dem schweren Erdbeben und der mit ihm in Verbindung angelaufenen Hilfsaktionen gebracht.
Es wäre zu hoffen, dass sich solche Aufmerksamkeit auch auf einen so unmenschlichen Brauch wie die Klitorektomie richtete, die zwar medial groß immer wieder hier angeklagt wurde aber in den Regionen immer noch üblich ist und mit der großen Zahl von Flüchtlingen, die hier Schutz suchten, teilweise, trotz geltender Verbote, hier wieder praktiziert wird.
Beide Praktiken sind unmenschlich und zeugen von einem Frauenbild, was wir nicht tolerieren können und wollen. Doch stecken hinter diesen Riten selten nur Männer und mehr traditionell denkende Mütter, die sich ihrem Aberglauben verbunden fühlen und ihre Kinder so erziehen wollen, wie auch sie aufwuchsen. Sie haben nicht das Empfinden, etwas grausames zu tun, sondern halten ihr Verhalten für völlig legitim und normal, meinen im Gegenteil, ihre Töchter vor Unreinheit und Schande zu bewahren, auch wenn sie diese mit dem Festhalten am Aberglauben erst dieser aussetzen.
Steht es mir als Mann und als in einer westlich emanzipierten Kultur aufgewachsenes Wesen überhaupt zu über solche Bräuche zu urteilen, die mir nach dem Gefühl unmenschlich, grausam und primitiv erscheinen, die ich gern weltweit geächtet sähe?
Wenn ich annehme, dass alle Menschen gleich geboren werden und jedem unveräußerliche Rechte wie körperliche Unversehrtheit, Würde und Freiheit zustehen, muss ich mich darüber aufregen und gegen solch unmenschliche Riten kämpfen.
Zum Glück kommt dies Gesetz nun von einer nepalesischen Regierung und ich muss mir keine Gedanken darüber machen, ob hier westliche Einmischung traditionelle Lebensformen stören, die eben soziokulturell bedingt entstanden sind. Sie haben es selbst bemerkt und geändert und ich freue mich, wenn damit nun zumindest in Nepal weniger Frauen und Mädchen diskriminiert werden sollten, nur weil sie einem alten Aberglauben folgen, der sich Religion nennen darf.
Doch wo ziehe ich da klare Grenzen, was darf ich erlauben und wo ist bereits ein Eingriff vorhanden, der dringend verboten und verfolgt werden muss. Bei der Klitorektomie sind sich die westlichen Kulturen da zum Glück inzwischen sehr einig, verurteilen und bestrafen es in ihrem Gebiet, wenn sie der Täter und Täterinnen habhaft werden.
Müsste ein gleiches auch etwa für die Beschneidung von Jungen gelten, wie sie in islamischer und jüdischer Tradition nach dem uralten Aberglauben üblich ist?
Dabei setzten sich Menschenrechtler, die sonst für eine volle Emanzipation von Homosexuellen oder sonstigen Minderheiten streiten, plötzlich für die Religionsfreiheit ein, auch wenn die Begründung dabei nicht vernünftiger ist, als sie es bei der Verbannung der Frauen in Unreinheit ist.
Fände es auch politisch schwierig, wenn gerade in Deutschland nun Juden nicht mehr ihrer Tradition gemäß leben dürften, weil ein solcher irreversibler Eingriff in die körperliche Unversehrtheit der Knaben verboten werden müsste wie die Klitorektomie, zumal dieser Eingriff meist keine gravierenden körperlichen Folgen hat. Doch rechtlich betrachtet dürfte ich den einen Eingriff in Freiheit und körperliche Unversehrtheit an Minderjährigen nicht anders beurteilen als die Verbannung der menstruierenden Frauen nach hinduistischem Aberglauben.
Beide beruhen auf Vorschriften des jeweiligen Aberglauben, die mit den Freiheitsrechten einer modernen Demokratie unvereinbar sind. Würde ich also gefragt und müsste in diesem Fall entscheiden, was erlaubt und was verboten werden muss, wäre ich auch aufgrund unserer Geschichte in einem moralischen Dilemma.
Würde nach meiner Überzeugung sogar noch weitergehen und etwa die Taufe von Kindern, die sie, ohne dass sie mündig wären, darüber zu entscheiden, in eine Religionsgemeinschaft aufnimmt und ihnen damit die Freiheit nimmt, darüber selbst nach freiem Gewissen zu entscheiden. Sie wachsen dann bereits in der christlichen Tradition auch in den Schulen auf, in denen wir immer noch die jeweiligen Sekten ihren sektiererischen Unterricht nach den Vorschriften des jeweiligen Aberglauben geben lassen.
Dieser Unterricht schadet meist nicht, die wirkliche Aufnahme in die Gemeinschaft erfolgt erst mit Konfirmation oder Firmung, die Kinder erfahren in diesen Stunden oft auch manches über andere Kulturen und Glaubensformen und sie sind eben eine lange Tradition unserer Gemeinschaft, die niemandem derzeit wirklich schadet.
Betrachte ich etwa meine Schwester, die eine sehr tolerante und aufgeklärte Lehrerin für evangelische Religion ist, wäre ich völlig unbesorgt, meine Kinder bei ihr in den Unterricht zu geben, wenn ich sie je taufen ließe, was mir aber schon falsch erschiene, da Menschen sich nach meiner Überzeugung frei und mündig für einen Glauben entscheiden sollten und also erwachsen, nicht als pubertierende Teenies, die sich vor allem auf die Geschenke zum entsprechenden Fest freuen. Dennoch denke ich, dass es meiner Tochter nicht schadete, von ihr manches über die Religionen zu lernen, wäre dabei völlig unbesorgt, weil ich bei ihr nie einen missionarischen Eifer beobachtete, sondern eher einen kritisch aufgeklärten Geist wie er bei vielen gerade evangelischen Theologen oder Religionslehrern sehr verbreitet ist nach meiner geringen Erfahrung.
Der Religionsunterricht ist Tradition in unserem Land wie die Initiationsfeste von Taufe, Erstkommunion, Konfirmation und Firmung. Sie bilden einen wichtigen Teil unserer gewachsenen Kultur und ich frage mich, wenn ich über sie urteile, schon ob das von der Vernunft gebotene Plädoyer gegen Taufe und religiöse Riten im Alltag und mit Minderjährigen nicht auch einen wichtigen Teil unserer Kultur verloren gehen ließe und wie wir diesen dann ersetzen könnten.
Auch den Nepalesen geht ein Teil ihrer Kultur verloren, wenn sich die Frauen während der Regel nicht mehr zurückziehen. Abgesehen von der unmenschlichen Diskriminierung und ihrer absurden Begründung könnte der einmal monatliche Rückzug aus der Gemeinschaft auch etwas positives haben, wenn er nicht als schmutzige Unreinheit erzwungen sondern als ein erhebender Rückzug betrachtet würde.
Sollten wir uns nicht alle einmal im Monat zurückziehen, um zu uns zu kommen, Zeit für uns allein und zum Nachdenken zu haben?
Aus meiner philosophischen Überzeugung, die von der radikalen Aufklärung geprägt ist und irgendwo zwischen Kant und Stirner sich zuhause fühlt, bin ich strikt gegen die Kindstaufe und die religiöse Erziehung von Minderjährigen, damit der vernünftig erzogene und aufgewachsene Mensch, der sich selbst von der Sklaverei der Vorurteile befreite, indem er Aufklärung im Sinne Kants betrieb, die Befreiung aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit vernünftig betrieb und also aus eigener Kraft ohne den Aberglauben an höhere Mächte zu urteilen lernte.
Auch wenn Kant manches schrieb, was religiöse Menschen zu ihren Gunsten auslegen können, weil er eben auch ein preußischer Hochschullehrer im Zeitalter des Absolutismus war, ist seine Antwort auf die Frage, was Aufklärung sei, dies SAPERE AUDE, habe Mut, der Kern seines Denkens, an das sich auch der kategorische Imperativ nahtlos anschließt, der uns lehrt jedes Gesetz an unserem Gewissen zu messen, über dem es nichts gibt.
Handeln wir den Ideen des großen Königsbergers entsprechend, sind wir frei und was sonst kann die Demokratie, die sich Freiheit und Menschenrechte auf ihre Fahnen schrieb, wünschen?
Nichts sonst, scheint mir und es lässt sich mit diesem Maßstab jede ethische Frage, die der Normierung vorausgehen sollte, vernünftig beantworten.
Die nepalesische Gesetzgebung gegen die eigene kulturelle Tradition scheint mir danach vernünftig und gut. Die vorherige Diskriminierung von Frauen aus Gründen des Aberglauben fand ich absurd und keinesfalls tolerabel, freue mich, dass es den Frauen dort nun zumindest dem Gesetz nach besser geht. Wobei erst die Zeit zeigen wird, inwieweit sich dies Gesetz auch durchsetzt und von den lokalen Behörden durchgesetzt wird, wie lange es dauert, bis der Aberglaube der aufgeklärten Vernunft weicht.
Das nepalesische Gesetz stellt die Befolgung der alten Riten unter Strafe. Schon 2005 hatte das nepalesische Verfassungsgericht den Chaupadi verboten, der aber im kaum entwickelten Westen des Landes weiter praktiziert wurde. Ob dort nun das neue Gesetz große Wirkung entfaltet, wird sich zeigen, vor allem frage ich mir wer danach bestraft werden soll. Die Frauen, die sich den Erwartungen fügen und sich wie Aussätzige einmal im Monat behandeln lassen oder Priester, die diesen Aberglauben weiter predigen und lehren?
Was kann ich überhaupt gegen gewachsene Gewohnheiten tun und bringt es etwas, solches Gewohnheitsrecht zu pönalisieren?
Neige dazu, dies zu bejahen, weil Fortschritt immer Veränderung bedeutet und wenn sich die Zivilisation ausbreitet, ist damit auch die Verbreitung ihrer Gewohnheiten und Regeln verbunden, die eben andere verdrängt. Die Frauen in islamischen Ländern werden auch irgendwann die Geltung des göttlichen Rechts, das ihre Freiheit beschränkt, immer mehr infrage stellen. Damit werden sich die Kulturen verändern und insofern dies im Zeitalter von Internet und globaler Kommunikation auch bedeutet, dass Menschen und Ziele sich weltweit immer ähnlicher werden, folgt daraus auch eine Verdrängung der Gewohnheiten, die dazu nicht mehr passen.
Damit gehen einerseits Teile dieser Kulturen unter und verlieren ein einendes Glied, was der je Aberglaube an vielen Orten der Welt immer noch ist - sofern wir uns weltweit auf den Maßstab des kategorischen Imperativs einigen können, heißt dies die größtmögliche Gewissensfreiheit für jeden einzelnen. Für diesen Zugewinn an Freiheit und Humanität, diese tolerante Basis eines gedeihlichen Miteinanders im Geiste der Toleranz, scheint der drohende Verlust kultureller Eigenheiten mir relativ gering.
Aber ich betrachte es als Europäer, der mit diesen Grundsätzen aufwuchs, zu dessen Kultur der Geist der Aufklärung gehört, in dessen Tradition ich lebe und denke und strebe damit danach dieses Denken in der Welt zu verbreiten und zum herrschenden zu machen. Finde das die bestmögliche Form des Zusammenlebens und wüsste keine, die ein besseres Miteinander gewähren könnte.
Dementsprechend, finde ich es absurd eine Frau in ihrem natürlichen Zyklus, der ihre Fruchtbarkeit auszeichnet und damit unseren Fortbestand garantiert als unrein zu betrachten, wie ich überhaupt ein religiöses Denken in Kasten absurd finde, weil alle Menschen die gleichen Rechte und Chancen haben sollten, auch wenn ich nicht zu denen gehöre, die behaupten alle Menschen sein gleich, denn wie verschieden begabt sie allein schon sind, kann jeder leicht im Alltag bemerken.
Der Satz der amerikanischen Verfassung, dass alle Menschen gleich geschaffen worden sein, scheint mir absurd, weil es für mich keinen Schöpfer gibt, sondern Menschen natürlich entstandene Geschöpfe sind und das auch wenn unsere Natur uns dazu befähigen sollte Menschen künstlich zu schaffen, wir dies in Teilen längst können und tun. Außerdem zeichnet es uns Menschen eben aus, dass wir alle irgendwie unterschiedlich beschaffen sind in ganz vielem und uns darum nie ganz gleich sind.
Das Prinzip der Gleichheit, das beim Ritus des Chaupadi in der Frage der Egalität von Mann und Frau ihrer Natur nach verletzt wird, wäre absurd, wenn es die faktischen Unterschiede verleugnen wollte. Menschen sind verschieden begabt, haben unterschiedliche Neigungen und Interessen, sollten nie gleichgemacht werden, sondern nur alle die gleiche Chance bekommen, ihrer Neigung und Begabung entsprechend leben zu können. Unsere Gemeinschaft schreibt zumindest theoretisch seit der französischen Revolution auch die materielle Gleichheit groß und leitet daraus je nach politischer Herkunft eine mehr oder weniger große Umverteilung ab, will Gleichheit politisch durchsetzen, was immer davon zu halten ist.
Der Zwang zur Gleichheit wird beim Thema Gender besonders laut, die auch nach versteckten Diskriminierungen etwa in der Sprache suchen. An sich eine ehrenvolle Sache, denn welcher Mann will schon Frau diskriminieren - gibt es vielleicht auch, aber so ganz grundsätzlich hat daran kein Mann ein Interesse, weil die Folgen für das Zusammenleben meist verheerend sind, wenn Mann nicht gerade auf Vergewaltigung steht, was zum Glück nur wenige tun meines Wissens nach und über Idioten zu reden, wie sie etwa gerade die USA regieren, ist meist nur idiotisch und lohnt nicht weiter, auch wenn sie zufällig Präsident wurden. So ist es auch mit der erzwungenen Gleichheit, die sich noch mit Lächerlichkeiten an der Sprache austobt aber zum Glück gerade nicht mein Thema ist.
Für das Thema Gender gilt wie für das Thema Trump, es ist besser dazu zu schweigen und die sich davon betroffen fühlenden, es unter sich klären zu lassen - auch wenn ich nun den Hass aller Feministinnen ernten würde, sage ich es doch, Männer und Frauen sind nicht gleich - sie sind in entscheidenden Dingen verschieden und das ist auch gut so, darum passen sie trotz aller natürlichen Gegensätze manchmal so gut zusammen, zumindest in der Mitte, was vermutlich eine chauvinistische Diskriminierung darstellt, die für Sprachkämpfer*innen und andere Fanatiker*innen und außen schlimmer noch ist als nepalesische Riten, die nun gesetzlich verboten wurden und so hat jeder seine Probleme.
Während in Nepal nun die Frauen nicht mehr in den Stall geschickt werden dürfen, bekommen im Zuge der Gleichberechtigung in Berlin nun auch die Frauen Pissoirs. Ob es dadurch weniger Schlangen vor Frauenklos geben wird oder das Unisex Klo die Frauen diskriminierenden Stehpinkel Einrichtungen vollständig abschafft ist so unklar wie die Frage, ob sich am Umgang mit den Frauen in Nepal etwas ändert, wenn sie nicht mehr öffentlich diskriminiert werden dürfen und der Aberglaube dafür in die Hinterzimmer zieht, in denen es weiter so zugeht, wie vorher vorne nur eben erzwungen versteckt.
Das jüdische Krankenhaus Berlin, das einen großen Teil der Beschneidungen an jüdischen und muslimischen Knaben vornimmt, hat in der Debatte über ein Verbot argumentiert, ihr Haus böte zumindest höchsten hygienischen Standard und verhinderte Infektionen und sonstige Probleme, wie sie die sonst im Hinterzimmer vorgenommenen Beschneidungen mit sich brächten. Dies Argument erinnert an die Krankenhäuser, die für eine Erlaubnis zur Abtreibung mit der Gefahr der sonst Engelmacherinnen argumentierten, was wiederum stark an jemanden erinnert, der sich für die Abgabe von Präzisionswaffen an Killer ausspricht, damit sie ihren Job möglichst sauber und schmerzfrei erledigen können.
Für die katholische Kirche, die Abtreibung unter ihrer polnischen Flugente Mord zu nennen begann und mittelalterlich in Afrika gegen Verhütung predigte und damit AIDS bei der Ausbreitung gut half scheint obiger Vergleich nicht absurd. Für mich schon, weil ich der Frau das Recht und die Herrschaft über ihren Körper zugestehe und diese Freiheit ist durch den für die Zeit der Fruchtbarkeit währenden Zyklus und die natürliche Notwendigkeit der Schwangerschaft bereits genug eingeschränkt ist, die Freiheit eines lebenden Menschen mir wichtiger scheint als die vielleicht Existenz eines Fötus. Aber das ist eine Entscheidungsfrage, in der ich den ethischen Gewohnheiten meiner Kultur entsprechend werte.
Rein logisch wäre ein strenger Positivismus genauso vertretbar und vermutlich sogar konsequenter als diese Entscheidung. Danach müsste entweder jedes Leben gleich geschützt werden und dann wäre Abtreibung Mord oder ich begrenzte das Leben auf die autonome Existenz, was aber zur Folge hätte, dass ich etwa Bewusstlose straflos töten könnte oder, weil ihnen ja die für das Menschsein nötige autonome Existenz fehlt - damit brächen herrliche Zeiten für die Organspende an - sollte ein Fehler dabei gemacht werden, ginge es nicht mehr um Mord und Totschlag sondern nur noch um eine schlichte Sachbeschädigung.
Auch wenn der australische Philosoph Singer solches konsequent positivistisch vertritt, schiene es mir eher unmenschlich und eiere ich lieber weiter mit irgendwie schlechten Kompromissen herum, was Leben ist, wann es beginnt und zweifle, ob es dazu eine verbindliche Aussage geben kann, außer der Nulllinie im EEG, zumindest solange wir Hirntote noch nicht wieder erwecken können. Dies tue ich sicher auch aus gut verstandenem Eigennutz, war ich doch nach einem Fahrradunfall in den 80ern wochenlang bewusstlos und hätte sonst einfach gut ausgeschlachtet werden können, wäre nicht mehr da, was ja lesbar noch der Fall ist.
Verliere mich wieder im weiten philosophischen Umfeld der Frage nach dem Leben, dabei ging es doch ursprünglich darum, ob Frauen in der Regel unrein sein dürfen, eine Ausgrenzung nur nach dem Aberglauben legitim sein darf.
So betrachtet war und fiel mir die Antwort leicht. Natürlich sind Frauen in der Regel nicht unrein oder aussätzig - der dazu passende uralte Witz, der fragt, warum Germanen in der Regel rote Bärte tragen, zeugt, so blöd er ist, von einem anderen Bild der Frau als es dieses Bergvolk mit seinen abstrusen Riten bewies.
Die bloße Abstoßung der Gebärmutterschleimhaut hat nichts unreines an sich, sondern ist die conditio sine qua non der weiblichen Fruchtbarkeit und damit der irgendwann Fortpflanzung, die der natürlichen Erhaltung unserer Art dient. Nichts daran kann natürlicherweise schlecht oder unrein sein. Ein Ritus, der solches lehrt, ist unmenschlich und gehört gebannt, wie es die Nepalesen nun glücklicherweise taten.
Doch die Betrachtung des Lebens und der Zeugung lässt die Gedanken eben weit schweifen, die geneigten Leser mögen es mir verzeihen. Gerne befreite ich die Menschen von allem Aberglauben, gäbe zumindest jedem die Chance, ein Leben ohne kennenzulernen, warum ich Kindstaufe wie Beschneidung konsequent verböte - aber, ich bin nur einer, froh die Freiheit zu haben, dies heute straflos äußern zu können - warum sollte ich meinem lieben Freund, der seine Tochter taufen ließ, weil es in seiner uralten, adeligen Familie eben so üblich ist, dies verbieten wollen, wenn er sich in dieser Tradition geborgen und aufgehoben fühlt und ich habe keine Sorge, dass seine Tochter davon irgendeinen Schaden nahm, sie bei ihren Eltern mit freiem Geist und viel Intellekt aufwachsen wird, mehr als viele Atheisten ihren Kindern je vermitteln.
Natürlich finde ich es gut, wenn die Nepalesen nun absurde Riten verbieten, die Frauen diskriminieren und sogar am Leben gefährden. Am besten würden alle Religionen verboten für Kinder und was Erwachsene sich antun, sollte ihre Sache sein, solange sie wirklich frei sind, womit die ganze Geschichte wieder von vorne beginnen könnte, weil um die Definition dessen was wirklich frei ist, mindestens genauso lange gestritten werden könnte. Wie unfrei sind erwachsene, gläubige Frauen in Nepal nun, die auch künftig ihre Unreinheit im Kuhstall oder in Laubhütten zelebrieren wollen durch dies Gesetz geworden und wer wäre ich, ihnen erzählen zu wollen, was für sie gut und richtig ist?
Was weiß ich schon, frage ich mich und schließe also staunend und unwissend dieses Essay, in dem ich eigentlich begeistert von einer bloßen Gesetzesänderung am anderen Ende der Welt berichten wollte und denke, sich in Bescheidenheit und Toleranz üben, könnte immer helfen, vielleicht weiß ich dann am Ende etwas mehr.
jens tuengerthal 11.8.2017
Freitag, 11. August 2017
Donnerstag, 10. August 2017
Verlustangst
Manche fürchten sich lieber, statt etwas zu ändern, damit sie sich nicht mehr fürchten müssen. Dann richten sie sich in ihrer Angst gemütlich ein und klagen gern, halten alle, die es anders sehen für Verräter oder Idioten, während sie mit ihrem Glauben an Verschwörungstheorien oder ihre alles dominierenden Ängste, allen übrigen eher verrückt erscheinen.
Normalerweise sind diese ängstlichen Menschen in ihrem Wahn in der Minderheit und eine allenfalls belächelte Randgruppe, die nur manchmal unangenehm laut wird, wie wir es gerade lange bei den Pegiden in Dresden erleben mussten, die ihre Xenophobie nur noch wenig als Kulturrettung für das Abendland zu tarnen versuchten. Unter den Wählern der Extremisten am rechen und linken Rand findet sich ein überproportional hoher Anteil an solch ängstlichen Menschen.
Warum Menschen sich lieber in die Angst flüchten, als den Mut zu wählen, mit dem sie sich gut fühlen würden, habe ich noch nie verstanden. Frage mich aber, ob dies je auf objektiven Tatsachen beruht oder aus egal welcher Sicht immer nur eine Frage der Haltung ist.
Angst vor etwas zu haben, ist nur eine Frage der Einstellung. Es gibt keine objektiven Kriterien für Angst, nur gewisse Ähnlichkeiten bei Gruppen von Menschen. Angst ist laut Wikipedia ein Grundgefühl, welches sich in als bedrohlich empfundenen Situationen als Besorgnis und unlustbetonte Erregung äußert. Auslöser können dabei erwartete Bedrohungen etwa der körperlichen Unversehrtheit, der Selbstachtung oder des Selbstbildes sein. Krankhaft übersteigerte Angst wird als Angststörung bezeichnet.
Viele Menschen fürchten den Tod, andere überhaupt nicht, suchen ihn im Gegenteil für sich als Freitod oder als Attentäter im Selbstmordanschlag. Die Bedrohung, vor der sich ängstliche Menschen fürchten, braucht keine objektiven Kriterien, es geht ja um ein Gefühl und also nur eine Empfindung des Betroffenen, für die keine allgemeinen Maßstäbe gelten.
Als Junge hatte ich Angst im Dunkeln, ließ immer Spalten im Rollladen und meine Eltern mussten mir versprechen, Licht im Flur an zu lassen, zu dem meine Tür einen Spalt offen stehen solle, damit ich beruhigt einschlafen konnte. Einen Schutz gab mir mein Teddy in der Nacht, den ich überallhin mitnahm und daher sogar mit auf die Klassenfahrt nehmen wollte, was allerdings auf keinen Fall rauskommen durfte, da so etwas für einen fast zehnjährigen Jungen total peinlich wäre. Stand also nicht zu meiner Angst, ohne den Teddy nicht einschlafen zu können, sondern ließ ihn insgeheim von meiner Mutter in mein Kissen einnähen, das mitzunehmen nicht peinlich war.
Liebte meinen Teddy, stand aber nicht dazu, weil es nicht zu meiner Rolle als Junge passte und so wurde die Angst aus der Rolle zu fallen, mir wichtiger als das eigentlich heilige Gefühl der Liebe. Diese Angst bestimmte mein Leben, bis Liebe und Leidenschaft für die Frauen alles andere überwog und dabei natürlich kein Mann seinen Teddy mitnehmen konnte.
Vorher aber hatte ich noch lange Angst, meinen geliebten Teddy irgendwo zu verlieren und hätte mir nicht vorstellen können, ohne ihn zu leben. Da ich entsprechend vorsichtig mit ihm war und immer auf ihn aufpasste, habe ich ihn tatsächlich nie verloren. Irgendwann habe ich ihn dann vergessen und er landete dann eine zeitlang bei meiner Tochter und von da vermutlich aussortiert als eben uralter abgegrabbschter Teddybär, dessen Hände und Füße meiner Mutter schon mehrfach mit Lederenden geflickt hatte, weil ich ihn über die Jahre so durchgeliebt hatte, als olles Ding im Keller, wo er nun in einer Kiste das Leben anderer vergessener Stofftiere teilt.
Bei meinem Teddy traf sich die Verlustangst mit der allgemeinen Kinderangst im Dunkeln, über die ich mit der gewohnten Gegenwart hinweg kam. Verlustangst gibt es in vielen Formen und deren schlimmste Form ist die Eifersucht. Es gibt immer noch Menschen, die meinen Eifersucht sei eben eben eine Ausdrucksform der Liebe, ungebändigtes Gefühl und völlig in Ordnung. Das halte ich für einen Irrtum. Zwar ist Eifersucht meist getrieben durch Verlustangst und von daher der kindlichen Angst um meinen Teddy, für den ich mich zugleich öffentlich schämte, weil ein Junge doch als Held ohne können musste, sehr ähnlich, doch ist sie in einem entscheidenden Punkt anders. Es geht dabei um ein anderes menschliches Wesen, das wir kaum je lieben können, wenn wir es besitzen wollen, wie einen Teddy.
Sicher habe ich meinen Teddy geliebt aber auch wenn ich ihm viel anvertraut habe und mir sicher war, er würde mich irgendwie beschützen, wusste ich doch, er war ein Stofftier - eine bewegliche Sache, wie ich es im Jurastudium nennen lernte, kein lebendes Wesen, warum ich ihn auch ohne Bedenken in das Kissen einnähen lassen konnte. In der Liebe zwischen zwei Menschen, die interessant wird, wenn die Teddys uninteressant werden, der Trieb neue Gewohnheiten schafft, geht es dagegen um die Begegnung von zwei selbständigen Wesen und die Liebe hat nur einen Wert als Gefühl, wenn sie nicht gekauft wird, sondern ein Geschenk um ihrer selbst willen ist. Es soll von “Herzen” kommen, was immer die Blutpumpe real damit auch zu tun hat, gilt uns Liebe nur was, wenn sie echt ist, ohne dass wir immer so genau sagen können, was dies echte eigentlich ist.
Auch manche Fußballvereine werben mit der wahren Liebe ihrer Fans. Dies besonders bei bodenständigen Menschen und schlichteren Gemütern, wie es etwa der BVB seit Jahren erfolgreich tut und dabei noch die Melodie aus Pippi Langstrumpf ein warmes, kindliches Gemeinschaftsgefühl schafft, auch wenn dies real wenig mit dem nüchternen Geschäft des Fußballs zu tun hat, noch dazu bei einer Aktiengesellschaft, aber Gefühl verkauft sich eben besser als nüchterne Zahlen.
Das hat nun auch die CDU begriffen und setzt für den Wahlkampf der Kanzlerin, die bisher eher mit einem schlichten, “sie kennen mich”, erfolgreich war, auf eine mit besonders emotionaler Werbung erfolgreiche Werbeagentur. Lassen wir uns überraschen wie die eigentlich nüchterne Merkel, die ihr Amt eher korrekt wie ein preußischer Beamter führt, nun auf der Welle des Gefühls reiten wird. Dass sie es kann, hat sie schon mehrfach bewiesen, wenn sie mit feinem Gespür auf bloße Stimmungen im Volk reagierte und ihre Überzeugungen rasch an das genaue Gegenteil wieder anpasste. Sie reagiert meist sehr dezent, lässt die Dinge, wenn möglich, alleine geschehen und ihren Lauf nehmen. Ihr Programm ist Vertrauen in Erfahrung und Kontinuität für eine breite Mehrheit aus der Mitte. Damit bietet sie wenig Angriffspunkte und muss sich kaum auf Provokationen und Polarisierung einlassen.
Anders der verzweifelte und etwas peinliche Kandidat der SPD, der Herr Schulz von nebenan, der für einen Buchhändler erstaunlich glaubhaft völlig unintellektuell wirken kann. Er schürt die Angst vor Ungerechtigkeit und also die, zu kurz zu kommen, die vielen Deutschen noch wichtiger lange war als die Verlustangst und wirbt für mehr Gerechtigkeit, die er als noch kleinerer Koalitionspartner der Regierung nicht glaubwürdig vertreten kann. Er appelliert also an ein Gefühl und will eine Stimmung nutzen, die wenige seiner Wähler betrifft.
Wer wirklich Angst hat, sozial zu kurz zu kommen oder meint zu den Verlierern der Hartz IV Reformen zu gehören, wird eher die Linke wählen als die alte Sozialdemokratie, die diese Regelung einst an der Macht selbst einführen ließ. Die Sozialdemokratie ist, stark, wenn sie sich als vernünftige Kraft der Mitte präsentiert, die ökonomisch erfolgreich arbeitet und ein Bündnis zwischen Arbeitern und Arbeitgebern schmieden kann, mit dem es der Mehrheit real besser geht.
Sie scheitert, wenn sie sich als bessere Linke präsentiert, weil diese Positionen kein vernünftiger Bürger aus der Mitte wählen kann. Mit Schulz, dem langjährigen Parlamentsvorsitzenden in Brüssel und Straßburg, der lieber Kommissar geworden wäre als Kandidat aber angesichts der Aussichten auf europäischer Ebene den Rückzug auf nationale Ebene vorzog und nun alles tut, die SPD zum schlechtesten Ergebnis ihrer Geschichte in der BRD zu führen, weil er an die Verlustangst der Wähler und die Angst vor Ungerechtigkeit appelliert, ohne ihnen glaubwürdig ernsthaft oder populistisch brauchbar eine Alternative bieten zu können, weil er entweder als Regierungsmitglied oder als europäischer Politiker schon lange Teil des Systems ist, dass er damit unglaubwürdig angreift, ist die Sozialdemokratie am Tiefpunkt ihrer Geschichte und Glaubwürdigkeit angekommen - Angst ist eben keine Perspektive.
Nach einem kurzen medialen Boom für den Überraschungskandidaten, der als Mr. 100%, noch seiner Partei alle Angst vor der erneuten Niederlage gegen Mutti nahm, ist er inzwischen auf unter Steinbrück-Niveau gelandet und schon scheint vielen sein Vorgänger, der sich auch durch nichts verdient machte als die Dauer seiner Amtszeit, wieder als der bessere Vorsitzende. Langsam bekommen es auch die üblichen stromlinienförmigen Jubelchargen der Partei mit der Angst zu tun, da dieser Würselner Lückenbüßer nun sogar ankündigte, sein Amt auch im Falle einer Niederlage, nicht aufgeben zu wollen.
Wer mit Angst in der Mitte in Zeiten der Hochkonjunktur und bei niedriger Arbeitslosigkeit erfolgreich werben will, muss mindestens naiv sein. Wer schlecht redet, was gut läuft, dessen Teil er vor allem seit Jahren irgendwo immer war, braucht verdammt gute Argumente, um nicht zum Clown zu werden. Bisher sieht es eher danach aus, als trüge Schulz die rote Nase nicht als trocken gelegter Ex-Alki sondern viel mehr als Witzfigur, die kein Argument hat, die von ihr getragene und vertretene Politik plötzlich schlecht zu reden.
Ob der Spezialdemokrat darum solch populistische Argumente immer wieder nutzt, die ihm keiner abnimmt und die nur die Parteien für ängstliche Randgruppen und Verlierer, AfD und Linke, stärken?
Es sammeln sich dort in den beiden radikalen Parteien nicht nur die klassischen Verlierer und Ewiggestrigen sondern all jene, bei denen die Angst etwas zu verlieren, die Hoffnung, zu den Gewinnern zu gehören, überwiegt. Die Wähler der nur scheinbar gegenüberliegenden politischen Pole sind sich näher, als vielen ihrer Anhänger bewusst ist.
Bei Amazon könnte als Vergleichsangebot stehen, wer heute AfD oder Linke wählt, hat meist auch Angst, zu kurz zu kommen oder nicht genug zu kriegen, glaubt, es ginge ungerecht zu und fühlt sich besonders benachteiligt. Warum angesichts dieser bekannten Fakten die SPD einen Gerechtigkeitswahlkampf auf einen Kandidaten zuschneidet, der nur unter Quotengesichtpunkten irgendetwas abbekommen konnte noch, scheint relativ unklar, angesichts ihres hohen Potenzials unter Beamten.
Wer mit der Angst spielt, wird von ihr erfasst und kommt schnell in ihr um, weil sie stärker wird als geahnt, in Potenz wächst. Wie oftmals völlig irrational, um nicht zu sagen idiotisch, sich ängstliche Menschen verhalten, ist bekannt. Warum Menschen sich dagegen freiwillig und voller Begeisterung der Angst und ihrer Herrschaft unterwerfen, bleibt rätselhaft und könnte doch der Schlüssel zum Erfolg der Populisten sein, die nicht nur von mangelnder Bildung profitieren, sondern auch eine Befriedigung in der Angst schenken, wie sie vernünftigen Menschen völlig unverständlich ist, die aber der Hauptantrieb bei Pegida und Autonomen ist, die Provokation zu suchen.
Wer sich verfolgt fühlt und aus diesem Kitzel noch Befriedigung zieht, wird sich im Kreis der Verfolgten wohl fühlen und die Gesinnungsgenossen werden ihre Ängste noch wechselseitig potenzieren - hier gilt dann nicht, meiner ist länger, die klassische Konkurrenzangst unter Männern, die schnell zur Impotenz führt, falls Mann sich unterlegen fühlt, sondern mein Horror und meine Angst sind viel größer und begründeter.
So erinnern die Horrorszenarien vom Untergang des Abendlandes und den Vergewaltigungsorgien der Islamisten, genau wie entsprechende Ängste auf der linken Seite, vor dem Faschismus der Eliten oder der sozialen Ausbeutung mich immer mehr an die Quartettspiele kleiner Jungen, bei denen es uns auch immer darum ging, den anderen mit höherer Geschwindigkeit, geringerem oder größerem Gewicht, mehr PS und anderen Vergleichsmaßstäben auszustechen. Es dauerte, bis ich bemerkte, dass weniger die ausschließliche Konzentration auf Rekorde immer gewinnen ließ, sondern das geschickte Pokern mit relativen Qualitäten - manchmal ist am Ende auch Sieger, wer den Kürzesten hat, wenn er ihn nur richtig einzusetzen weiß.
Überhaupt scheint mir die Leidenschaft für Angst und Katastrophen vielfach die Folge von zu wenig oder zu schlechtem Sex zu sein, denn warum sollte je danach trachten, sich mit solchem Unsinn wie Angst selbst zu quälen, wer guten Sex und tiefe gemeinsame Befriedigung kennt?
Wer genießen kann und dies zu leben versucht, hat weniger Raum für Angst und mehr für schöne Träume und Lust, was das Leben fraglos angenehmer macht. So könnte ausreichend guter Sex vielen Extremisten das Wasser abgraben.
Doch bedenke ich, wie schwer das inzwischen vielen Menschen fällt und das ich 7 Jahre und mehr als 7 Frauen warten musste, um wieder guten Sex zu haben, als hätte ich dem Aberglauben gemäß, meinem Gegenüber beim Anstoßen nicht in die Augen gesehen, könnte die Lösung des Problems der Angst als Quelle des Extremismus über den guten Sex schwerer fallen als erhofft und die erwartbar schlechten Ergebnisse derweil die Frustration weiter erhöhen und die Extremisten dauerhaft stärken und wer dann noch darüber impotent wird, würde schnell zur Gefahr für die Welt, wie uns die asexuellen Diktatoren und Verbrecher dieser Welt lehren könnten.
Aber auch beim Sex gilt der Wahlspruch der Aufklärung, SAPERE AUDE, habe Mut. Wer es wagt, sich seines Verstandes zu bedienen, um zu genießen, was ist, wird dabei meist mehr Vergnügen haben, als all jene, die sich nur blind von ihren Trieben steuern lassen, deren Glück oder Unglück dabei eher ein historischer Zufall denn ein bewusster Genuss ist.
Für Sex und Politik aber gilt, wer also aufgeklärt Mut hat, kritisch denkt, statt Propaganda zu verbreiten, wird freier und glücklicher sein, als all diese Opfer, die über Lügenpresse schimpfen, weil ihnen die Propagandasender des Kreml sagen, was die Wahrheit ist und sie darum überall fürchten belogen zu werden. Diese Angst vor der Wirklichkeit wird sich bei jeder Konfrontation mit der Realität außerhalb ihres engen von russischer Propaganda geformten Horizontes noch potenzieren und da diese nahezu überall ist, werden sich die armen Opfer überall verfolgt fühlen.
Denke dabei gerade an die Krankenschwester, die ich bei der Arbeit Ende der achtziger im Krankenhaus kennenlernte und die davon schwärmte, wie sie immer wieder zu Schulungen in die DDR, das bessere Deutschland, wie sie meinte, fuhr. Dann kam die Wende und die DDR hatte sich erledigt. Eine zeitlang verbreitete diese Schwester noch Gerüchte, dies sei ein von Imperialisten finanzierter Putsch gewesen, dann wurde ihre Kaderorganisation Mitglied der PDS und später der Linken - sie fühlte sich auch immer verfolgt, wie übrigens so manche radikale Linke, die ich in meinem Leben schon traf. Nichts durfte ich von ihrer Arbeit irgendwem erzählen, da sie fürchtete, entlassen zu werden, was ich für unwahrscheinlich hielt, da sie eine wirklich gute Schwester war und es in einem Pflegeberuf ohne Führungsaufgabe völlig egal ist, ob jemand mal Berichte an die Stasi lieferte.
Irgendwann, Jahre später, als ich lange schon nicht mehr an der Klinik arbeitete und mein Vater in Rente war, redete und lachte ich doch noch mal mit ihm über diesen Fall. Er fand es eher komisch, fragte sich, ob es wohl eine Stasi-Akte über ihn als Chefarzt gab, schließlich lag die Station in der diese Schwester arbeitete, direkt über seiner Abteilung und seinen Büros. Gestört hatte es mich schon lange, dass mich eine Hörige der DDR, die Teil eines Terrorregimes war, das sie finanzierte, vom vertrauten Gespräch mit meinem Vater abhielt - dennoch war mir mein Ehrenwort, dass ich ihr gegeben hatte, so kostbar, dass ich es hielt, bis mein Vater in Rente und die DDR nur noch eine Anekdote in den Geschichtsbüchern war, ohne bleibende Werte unterging.
Fragte meinen Vater, als es längst egal war, ob es ihm keine Sorge machte, überwacht worden zu sein von der Stasi, doch er lachte nur - was sollten die von ihm wollen, was nehmen oder stören? Er wollte frei von jeder Angst sein, liberal in seinem Denken bleiben und sich von keinem Extremisten zu irgendeiner radikalen Ansicht verführen lassen.
Diese Sicht beeindruckte mich nachhaltig und auch wenn ich sie jetzt geschönt habe, mein Herr Vater durchaus gelegentlich mal zu absurden politischen Meinungen neigt, trifft es doch den Kern seiner Überzeugungen gut und führt mich wieder zu dem Thema zurück, um das es in diesem Essay geht, die Angst vor Verlusten oder zu kurz zu kommen als Antrieb der Radikalisierung.
Warum radikalisieren sich weniger Menschen in Saudi Arabien als im Irak oder Jordanien, auch wenn die dortige Regierung mit ihrer wahhabitischen Spielart des Islam sich kaum vom IS und seinen Ansichten unterscheidet?
Weil sie relativ zufrieden im Wohlstand leben und es sich lieber gut gehen lassen und auf ihre Habseligkeiten aufpassen, statt den Aufstand zu proben und wer im Wohlstand lebt, lebt angenehm, wie Villon noch hunderte von Jahren vor dem peinlichen Schwaben Brecht dichtete, der besser in den schwarzen Wäldern geblieben wäre, statt DDR Propaganda noch zu betreiben.
Sind die Heimat des Propheten M und die Quellen seiner teils absurden Lehre näher an dessen Überzeugung oder sind es westlich liberale Imame?
Es ist mir egal, welcher Aberglaube wahrer sein soll, wenn schon das ganze System auf einer Lüge fußt, bleibt es eine Märchengeschichte für Leichtgläubige, die kritisch denkende Menschen in keiner Variante interessiert und das gilt für alle jüdischen Sekten und sonstigen spirituellen Bewegungen um den Globus, die dem Menschen ein Sein über seinen Haltbarkeitswert hinaus vorgaukeln.
Der radikale Islam kann die sich arm und unterdrückt fühlenden Muslime weltweit momentan gut motivieren ihr Leben für ein versprochenes Paradies und erschwindelte Jungfrauen zu riskieren - was schon wieder zeigt, wie unreif diese Knaben alle noch sind, denn welcher Mann mit Erfahrung will noch eine langweilige Jungfrau im Bett haben, die nicht weiß, was sie will.
Auch hier spielt die urkapitalistisch-protestantische Angst zu kurz zu kommen, eine entscheidende Rolle und motiviert viele Menschen zu einem absurden Streben nach Gewalt aus Rache für die gefühlte Unterdrückung der früheren Kolonialherren, die als imperialistische Ausbeuter durch die Welt zogen.
Angst treibt die Radikalen, egal von welchem Rand und auch die Macht Erdogans in der Türkei beruht mehr auf irrationalen Komplexen als nationalem Stolz. Warum sollten vernünftige Menschen diesen peinlichen Potentaten wählen, der ihr Leben zunehmend beschränkt und überall auf der Welt peinlichen Ärger verursacht?
Der nationale Stolz ist zu vielem Unsinn fähig, doch frage ich mich, ob es dabei eher um die Angst geht, etwas zu verlieren oder das Gefühl zusammen mehr zu sein - zur Angst könnte noch viel geschrieben werden und der Beispiele wo erwachsene Männer sich im Schatten der Angst albern benehmen, ist kein Ende zu finden - je gefährlicher die Werkzeuge sind, die sie zur Ablenkung dabei in den Händen halten, desto mehr reden wir über sie, wie Kim und Trump gerade beweisen - der Balkan ist auch ein steter Fundus für nationalen Stolz und die Neigung sich damit lächerlich zu machen, was vom Fußball bis zum echten Krieg reicht und es fragt sich allein, was da noch friedlich helfen könnte und wie wir die Menschheit dazu bringen, Ruhe und Gelassenheit höher zu schätzen als Eitelkeit und Macht?
Vielleicht hilft es, diese vorzuleben, sich über nichts mehr aufzuregen, um zu genießen, was ist, statt etwas ändern oder sich durchsetzen zu wollen. Finde das sehr befriedigend.
jens tuengerthal 10.8.2017
Normalerweise sind diese ängstlichen Menschen in ihrem Wahn in der Minderheit und eine allenfalls belächelte Randgruppe, die nur manchmal unangenehm laut wird, wie wir es gerade lange bei den Pegiden in Dresden erleben mussten, die ihre Xenophobie nur noch wenig als Kulturrettung für das Abendland zu tarnen versuchten. Unter den Wählern der Extremisten am rechen und linken Rand findet sich ein überproportional hoher Anteil an solch ängstlichen Menschen.
Warum Menschen sich lieber in die Angst flüchten, als den Mut zu wählen, mit dem sie sich gut fühlen würden, habe ich noch nie verstanden. Frage mich aber, ob dies je auf objektiven Tatsachen beruht oder aus egal welcher Sicht immer nur eine Frage der Haltung ist.
Angst vor etwas zu haben, ist nur eine Frage der Einstellung. Es gibt keine objektiven Kriterien für Angst, nur gewisse Ähnlichkeiten bei Gruppen von Menschen. Angst ist laut Wikipedia ein Grundgefühl, welches sich in als bedrohlich empfundenen Situationen als Besorgnis und unlustbetonte Erregung äußert. Auslöser können dabei erwartete Bedrohungen etwa der körperlichen Unversehrtheit, der Selbstachtung oder des Selbstbildes sein. Krankhaft übersteigerte Angst wird als Angststörung bezeichnet.
Viele Menschen fürchten den Tod, andere überhaupt nicht, suchen ihn im Gegenteil für sich als Freitod oder als Attentäter im Selbstmordanschlag. Die Bedrohung, vor der sich ängstliche Menschen fürchten, braucht keine objektiven Kriterien, es geht ja um ein Gefühl und also nur eine Empfindung des Betroffenen, für die keine allgemeinen Maßstäbe gelten.
Als Junge hatte ich Angst im Dunkeln, ließ immer Spalten im Rollladen und meine Eltern mussten mir versprechen, Licht im Flur an zu lassen, zu dem meine Tür einen Spalt offen stehen solle, damit ich beruhigt einschlafen konnte. Einen Schutz gab mir mein Teddy in der Nacht, den ich überallhin mitnahm und daher sogar mit auf die Klassenfahrt nehmen wollte, was allerdings auf keinen Fall rauskommen durfte, da so etwas für einen fast zehnjährigen Jungen total peinlich wäre. Stand also nicht zu meiner Angst, ohne den Teddy nicht einschlafen zu können, sondern ließ ihn insgeheim von meiner Mutter in mein Kissen einnähen, das mitzunehmen nicht peinlich war.
Liebte meinen Teddy, stand aber nicht dazu, weil es nicht zu meiner Rolle als Junge passte und so wurde die Angst aus der Rolle zu fallen, mir wichtiger als das eigentlich heilige Gefühl der Liebe. Diese Angst bestimmte mein Leben, bis Liebe und Leidenschaft für die Frauen alles andere überwog und dabei natürlich kein Mann seinen Teddy mitnehmen konnte.
Vorher aber hatte ich noch lange Angst, meinen geliebten Teddy irgendwo zu verlieren und hätte mir nicht vorstellen können, ohne ihn zu leben. Da ich entsprechend vorsichtig mit ihm war und immer auf ihn aufpasste, habe ich ihn tatsächlich nie verloren. Irgendwann habe ich ihn dann vergessen und er landete dann eine zeitlang bei meiner Tochter und von da vermutlich aussortiert als eben uralter abgegrabbschter Teddybär, dessen Hände und Füße meiner Mutter schon mehrfach mit Lederenden geflickt hatte, weil ich ihn über die Jahre so durchgeliebt hatte, als olles Ding im Keller, wo er nun in einer Kiste das Leben anderer vergessener Stofftiere teilt.
Bei meinem Teddy traf sich die Verlustangst mit der allgemeinen Kinderangst im Dunkeln, über die ich mit der gewohnten Gegenwart hinweg kam. Verlustangst gibt es in vielen Formen und deren schlimmste Form ist die Eifersucht. Es gibt immer noch Menschen, die meinen Eifersucht sei eben eben eine Ausdrucksform der Liebe, ungebändigtes Gefühl und völlig in Ordnung. Das halte ich für einen Irrtum. Zwar ist Eifersucht meist getrieben durch Verlustangst und von daher der kindlichen Angst um meinen Teddy, für den ich mich zugleich öffentlich schämte, weil ein Junge doch als Held ohne können musste, sehr ähnlich, doch ist sie in einem entscheidenden Punkt anders. Es geht dabei um ein anderes menschliches Wesen, das wir kaum je lieben können, wenn wir es besitzen wollen, wie einen Teddy.
Sicher habe ich meinen Teddy geliebt aber auch wenn ich ihm viel anvertraut habe und mir sicher war, er würde mich irgendwie beschützen, wusste ich doch, er war ein Stofftier - eine bewegliche Sache, wie ich es im Jurastudium nennen lernte, kein lebendes Wesen, warum ich ihn auch ohne Bedenken in das Kissen einnähen lassen konnte. In der Liebe zwischen zwei Menschen, die interessant wird, wenn die Teddys uninteressant werden, der Trieb neue Gewohnheiten schafft, geht es dagegen um die Begegnung von zwei selbständigen Wesen und die Liebe hat nur einen Wert als Gefühl, wenn sie nicht gekauft wird, sondern ein Geschenk um ihrer selbst willen ist. Es soll von “Herzen” kommen, was immer die Blutpumpe real damit auch zu tun hat, gilt uns Liebe nur was, wenn sie echt ist, ohne dass wir immer so genau sagen können, was dies echte eigentlich ist.
Auch manche Fußballvereine werben mit der wahren Liebe ihrer Fans. Dies besonders bei bodenständigen Menschen und schlichteren Gemütern, wie es etwa der BVB seit Jahren erfolgreich tut und dabei noch die Melodie aus Pippi Langstrumpf ein warmes, kindliches Gemeinschaftsgefühl schafft, auch wenn dies real wenig mit dem nüchternen Geschäft des Fußballs zu tun hat, noch dazu bei einer Aktiengesellschaft, aber Gefühl verkauft sich eben besser als nüchterne Zahlen.
Das hat nun auch die CDU begriffen und setzt für den Wahlkampf der Kanzlerin, die bisher eher mit einem schlichten, “sie kennen mich”, erfolgreich war, auf eine mit besonders emotionaler Werbung erfolgreiche Werbeagentur. Lassen wir uns überraschen wie die eigentlich nüchterne Merkel, die ihr Amt eher korrekt wie ein preußischer Beamter führt, nun auf der Welle des Gefühls reiten wird. Dass sie es kann, hat sie schon mehrfach bewiesen, wenn sie mit feinem Gespür auf bloße Stimmungen im Volk reagierte und ihre Überzeugungen rasch an das genaue Gegenteil wieder anpasste. Sie reagiert meist sehr dezent, lässt die Dinge, wenn möglich, alleine geschehen und ihren Lauf nehmen. Ihr Programm ist Vertrauen in Erfahrung und Kontinuität für eine breite Mehrheit aus der Mitte. Damit bietet sie wenig Angriffspunkte und muss sich kaum auf Provokationen und Polarisierung einlassen.
Anders der verzweifelte und etwas peinliche Kandidat der SPD, der Herr Schulz von nebenan, der für einen Buchhändler erstaunlich glaubhaft völlig unintellektuell wirken kann. Er schürt die Angst vor Ungerechtigkeit und also die, zu kurz zu kommen, die vielen Deutschen noch wichtiger lange war als die Verlustangst und wirbt für mehr Gerechtigkeit, die er als noch kleinerer Koalitionspartner der Regierung nicht glaubwürdig vertreten kann. Er appelliert also an ein Gefühl und will eine Stimmung nutzen, die wenige seiner Wähler betrifft.
Wer wirklich Angst hat, sozial zu kurz zu kommen oder meint zu den Verlierern der Hartz IV Reformen zu gehören, wird eher die Linke wählen als die alte Sozialdemokratie, die diese Regelung einst an der Macht selbst einführen ließ. Die Sozialdemokratie ist, stark, wenn sie sich als vernünftige Kraft der Mitte präsentiert, die ökonomisch erfolgreich arbeitet und ein Bündnis zwischen Arbeitern und Arbeitgebern schmieden kann, mit dem es der Mehrheit real besser geht.
Sie scheitert, wenn sie sich als bessere Linke präsentiert, weil diese Positionen kein vernünftiger Bürger aus der Mitte wählen kann. Mit Schulz, dem langjährigen Parlamentsvorsitzenden in Brüssel und Straßburg, der lieber Kommissar geworden wäre als Kandidat aber angesichts der Aussichten auf europäischer Ebene den Rückzug auf nationale Ebene vorzog und nun alles tut, die SPD zum schlechtesten Ergebnis ihrer Geschichte in der BRD zu führen, weil er an die Verlustangst der Wähler und die Angst vor Ungerechtigkeit appelliert, ohne ihnen glaubwürdig ernsthaft oder populistisch brauchbar eine Alternative bieten zu können, weil er entweder als Regierungsmitglied oder als europäischer Politiker schon lange Teil des Systems ist, dass er damit unglaubwürdig angreift, ist die Sozialdemokratie am Tiefpunkt ihrer Geschichte und Glaubwürdigkeit angekommen - Angst ist eben keine Perspektive.
Nach einem kurzen medialen Boom für den Überraschungskandidaten, der als Mr. 100%, noch seiner Partei alle Angst vor der erneuten Niederlage gegen Mutti nahm, ist er inzwischen auf unter Steinbrück-Niveau gelandet und schon scheint vielen sein Vorgänger, der sich auch durch nichts verdient machte als die Dauer seiner Amtszeit, wieder als der bessere Vorsitzende. Langsam bekommen es auch die üblichen stromlinienförmigen Jubelchargen der Partei mit der Angst zu tun, da dieser Würselner Lückenbüßer nun sogar ankündigte, sein Amt auch im Falle einer Niederlage, nicht aufgeben zu wollen.
Wer mit Angst in der Mitte in Zeiten der Hochkonjunktur und bei niedriger Arbeitslosigkeit erfolgreich werben will, muss mindestens naiv sein. Wer schlecht redet, was gut läuft, dessen Teil er vor allem seit Jahren irgendwo immer war, braucht verdammt gute Argumente, um nicht zum Clown zu werden. Bisher sieht es eher danach aus, als trüge Schulz die rote Nase nicht als trocken gelegter Ex-Alki sondern viel mehr als Witzfigur, die kein Argument hat, die von ihr getragene und vertretene Politik plötzlich schlecht zu reden.
Ob der Spezialdemokrat darum solch populistische Argumente immer wieder nutzt, die ihm keiner abnimmt und die nur die Parteien für ängstliche Randgruppen und Verlierer, AfD und Linke, stärken?
Es sammeln sich dort in den beiden radikalen Parteien nicht nur die klassischen Verlierer und Ewiggestrigen sondern all jene, bei denen die Angst etwas zu verlieren, die Hoffnung, zu den Gewinnern zu gehören, überwiegt. Die Wähler der nur scheinbar gegenüberliegenden politischen Pole sind sich näher, als vielen ihrer Anhänger bewusst ist.
Bei Amazon könnte als Vergleichsangebot stehen, wer heute AfD oder Linke wählt, hat meist auch Angst, zu kurz zu kommen oder nicht genug zu kriegen, glaubt, es ginge ungerecht zu und fühlt sich besonders benachteiligt. Warum angesichts dieser bekannten Fakten die SPD einen Gerechtigkeitswahlkampf auf einen Kandidaten zuschneidet, der nur unter Quotengesichtpunkten irgendetwas abbekommen konnte noch, scheint relativ unklar, angesichts ihres hohen Potenzials unter Beamten.
Wer mit der Angst spielt, wird von ihr erfasst und kommt schnell in ihr um, weil sie stärker wird als geahnt, in Potenz wächst. Wie oftmals völlig irrational, um nicht zu sagen idiotisch, sich ängstliche Menschen verhalten, ist bekannt. Warum Menschen sich dagegen freiwillig und voller Begeisterung der Angst und ihrer Herrschaft unterwerfen, bleibt rätselhaft und könnte doch der Schlüssel zum Erfolg der Populisten sein, die nicht nur von mangelnder Bildung profitieren, sondern auch eine Befriedigung in der Angst schenken, wie sie vernünftigen Menschen völlig unverständlich ist, die aber der Hauptantrieb bei Pegida und Autonomen ist, die Provokation zu suchen.
Wer sich verfolgt fühlt und aus diesem Kitzel noch Befriedigung zieht, wird sich im Kreis der Verfolgten wohl fühlen und die Gesinnungsgenossen werden ihre Ängste noch wechselseitig potenzieren - hier gilt dann nicht, meiner ist länger, die klassische Konkurrenzangst unter Männern, die schnell zur Impotenz führt, falls Mann sich unterlegen fühlt, sondern mein Horror und meine Angst sind viel größer und begründeter.
So erinnern die Horrorszenarien vom Untergang des Abendlandes und den Vergewaltigungsorgien der Islamisten, genau wie entsprechende Ängste auf der linken Seite, vor dem Faschismus der Eliten oder der sozialen Ausbeutung mich immer mehr an die Quartettspiele kleiner Jungen, bei denen es uns auch immer darum ging, den anderen mit höherer Geschwindigkeit, geringerem oder größerem Gewicht, mehr PS und anderen Vergleichsmaßstäben auszustechen. Es dauerte, bis ich bemerkte, dass weniger die ausschließliche Konzentration auf Rekorde immer gewinnen ließ, sondern das geschickte Pokern mit relativen Qualitäten - manchmal ist am Ende auch Sieger, wer den Kürzesten hat, wenn er ihn nur richtig einzusetzen weiß.
Überhaupt scheint mir die Leidenschaft für Angst und Katastrophen vielfach die Folge von zu wenig oder zu schlechtem Sex zu sein, denn warum sollte je danach trachten, sich mit solchem Unsinn wie Angst selbst zu quälen, wer guten Sex und tiefe gemeinsame Befriedigung kennt?
Wer genießen kann und dies zu leben versucht, hat weniger Raum für Angst und mehr für schöne Träume und Lust, was das Leben fraglos angenehmer macht. So könnte ausreichend guter Sex vielen Extremisten das Wasser abgraben.
Doch bedenke ich, wie schwer das inzwischen vielen Menschen fällt und das ich 7 Jahre und mehr als 7 Frauen warten musste, um wieder guten Sex zu haben, als hätte ich dem Aberglauben gemäß, meinem Gegenüber beim Anstoßen nicht in die Augen gesehen, könnte die Lösung des Problems der Angst als Quelle des Extremismus über den guten Sex schwerer fallen als erhofft und die erwartbar schlechten Ergebnisse derweil die Frustration weiter erhöhen und die Extremisten dauerhaft stärken und wer dann noch darüber impotent wird, würde schnell zur Gefahr für die Welt, wie uns die asexuellen Diktatoren und Verbrecher dieser Welt lehren könnten.
Aber auch beim Sex gilt der Wahlspruch der Aufklärung, SAPERE AUDE, habe Mut. Wer es wagt, sich seines Verstandes zu bedienen, um zu genießen, was ist, wird dabei meist mehr Vergnügen haben, als all jene, die sich nur blind von ihren Trieben steuern lassen, deren Glück oder Unglück dabei eher ein historischer Zufall denn ein bewusster Genuss ist.
Für Sex und Politik aber gilt, wer also aufgeklärt Mut hat, kritisch denkt, statt Propaganda zu verbreiten, wird freier und glücklicher sein, als all diese Opfer, die über Lügenpresse schimpfen, weil ihnen die Propagandasender des Kreml sagen, was die Wahrheit ist und sie darum überall fürchten belogen zu werden. Diese Angst vor der Wirklichkeit wird sich bei jeder Konfrontation mit der Realität außerhalb ihres engen von russischer Propaganda geformten Horizontes noch potenzieren und da diese nahezu überall ist, werden sich die armen Opfer überall verfolgt fühlen.
Denke dabei gerade an die Krankenschwester, die ich bei der Arbeit Ende der achtziger im Krankenhaus kennenlernte und die davon schwärmte, wie sie immer wieder zu Schulungen in die DDR, das bessere Deutschland, wie sie meinte, fuhr. Dann kam die Wende und die DDR hatte sich erledigt. Eine zeitlang verbreitete diese Schwester noch Gerüchte, dies sei ein von Imperialisten finanzierter Putsch gewesen, dann wurde ihre Kaderorganisation Mitglied der PDS und später der Linken - sie fühlte sich auch immer verfolgt, wie übrigens so manche radikale Linke, die ich in meinem Leben schon traf. Nichts durfte ich von ihrer Arbeit irgendwem erzählen, da sie fürchtete, entlassen zu werden, was ich für unwahrscheinlich hielt, da sie eine wirklich gute Schwester war und es in einem Pflegeberuf ohne Führungsaufgabe völlig egal ist, ob jemand mal Berichte an die Stasi lieferte.
Irgendwann, Jahre später, als ich lange schon nicht mehr an der Klinik arbeitete und mein Vater in Rente war, redete und lachte ich doch noch mal mit ihm über diesen Fall. Er fand es eher komisch, fragte sich, ob es wohl eine Stasi-Akte über ihn als Chefarzt gab, schließlich lag die Station in der diese Schwester arbeitete, direkt über seiner Abteilung und seinen Büros. Gestört hatte es mich schon lange, dass mich eine Hörige der DDR, die Teil eines Terrorregimes war, das sie finanzierte, vom vertrauten Gespräch mit meinem Vater abhielt - dennoch war mir mein Ehrenwort, dass ich ihr gegeben hatte, so kostbar, dass ich es hielt, bis mein Vater in Rente und die DDR nur noch eine Anekdote in den Geschichtsbüchern war, ohne bleibende Werte unterging.
Fragte meinen Vater, als es längst egal war, ob es ihm keine Sorge machte, überwacht worden zu sein von der Stasi, doch er lachte nur - was sollten die von ihm wollen, was nehmen oder stören? Er wollte frei von jeder Angst sein, liberal in seinem Denken bleiben und sich von keinem Extremisten zu irgendeiner radikalen Ansicht verführen lassen.
Diese Sicht beeindruckte mich nachhaltig und auch wenn ich sie jetzt geschönt habe, mein Herr Vater durchaus gelegentlich mal zu absurden politischen Meinungen neigt, trifft es doch den Kern seiner Überzeugungen gut und führt mich wieder zu dem Thema zurück, um das es in diesem Essay geht, die Angst vor Verlusten oder zu kurz zu kommen als Antrieb der Radikalisierung.
Warum radikalisieren sich weniger Menschen in Saudi Arabien als im Irak oder Jordanien, auch wenn die dortige Regierung mit ihrer wahhabitischen Spielart des Islam sich kaum vom IS und seinen Ansichten unterscheidet?
Weil sie relativ zufrieden im Wohlstand leben und es sich lieber gut gehen lassen und auf ihre Habseligkeiten aufpassen, statt den Aufstand zu proben und wer im Wohlstand lebt, lebt angenehm, wie Villon noch hunderte von Jahren vor dem peinlichen Schwaben Brecht dichtete, der besser in den schwarzen Wäldern geblieben wäre, statt DDR Propaganda noch zu betreiben.
Sind die Heimat des Propheten M und die Quellen seiner teils absurden Lehre näher an dessen Überzeugung oder sind es westlich liberale Imame?
Es ist mir egal, welcher Aberglaube wahrer sein soll, wenn schon das ganze System auf einer Lüge fußt, bleibt es eine Märchengeschichte für Leichtgläubige, die kritisch denkende Menschen in keiner Variante interessiert und das gilt für alle jüdischen Sekten und sonstigen spirituellen Bewegungen um den Globus, die dem Menschen ein Sein über seinen Haltbarkeitswert hinaus vorgaukeln.
Der radikale Islam kann die sich arm und unterdrückt fühlenden Muslime weltweit momentan gut motivieren ihr Leben für ein versprochenes Paradies und erschwindelte Jungfrauen zu riskieren - was schon wieder zeigt, wie unreif diese Knaben alle noch sind, denn welcher Mann mit Erfahrung will noch eine langweilige Jungfrau im Bett haben, die nicht weiß, was sie will.
Auch hier spielt die urkapitalistisch-protestantische Angst zu kurz zu kommen, eine entscheidende Rolle und motiviert viele Menschen zu einem absurden Streben nach Gewalt aus Rache für die gefühlte Unterdrückung der früheren Kolonialherren, die als imperialistische Ausbeuter durch die Welt zogen.
Angst treibt die Radikalen, egal von welchem Rand und auch die Macht Erdogans in der Türkei beruht mehr auf irrationalen Komplexen als nationalem Stolz. Warum sollten vernünftige Menschen diesen peinlichen Potentaten wählen, der ihr Leben zunehmend beschränkt und überall auf der Welt peinlichen Ärger verursacht?
Der nationale Stolz ist zu vielem Unsinn fähig, doch frage ich mich, ob es dabei eher um die Angst geht, etwas zu verlieren oder das Gefühl zusammen mehr zu sein - zur Angst könnte noch viel geschrieben werden und der Beispiele wo erwachsene Männer sich im Schatten der Angst albern benehmen, ist kein Ende zu finden - je gefährlicher die Werkzeuge sind, die sie zur Ablenkung dabei in den Händen halten, desto mehr reden wir über sie, wie Kim und Trump gerade beweisen - der Balkan ist auch ein steter Fundus für nationalen Stolz und die Neigung sich damit lächerlich zu machen, was vom Fußball bis zum echten Krieg reicht und es fragt sich allein, was da noch friedlich helfen könnte und wie wir die Menschheit dazu bringen, Ruhe und Gelassenheit höher zu schätzen als Eitelkeit und Macht?
Vielleicht hilft es, diese vorzuleben, sich über nichts mehr aufzuregen, um zu genießen, was ist, statt etwas ändern oder sich durchsetzen zu wollen. Finde das sehr befriedigend.
jens tuengerthal 10.8.2017
Mittwoch, 9. August 2017
Verweiblichung
Zusammenziehen aus Liebe ist ein schönes Vorhaben und klingt traumhaft, wenn sich zwei finden, die ein Leben teilen wollen. So ging es mir und wir wagten es. Mit großer Absicht für ein Leben voller Liebe sich gefunden, beieinander angekommen und anfängliche Wehen gut überstanden - bei nicht nachlassendem Gefühl und voller Vorfreude begonnen, was so oft der erste Grund für ein Scheitern ist.
Das ganze Leben auch im Alltag teilen, führt die Liebenden plötzlich in selbigen und zeigt die Unterschiede bei der je Bewältigung der dabei auftretenden Probleme. Was sich so selbstverständlich und ganz normal anhört, Millionen Menschen immer wieder ausprobieren, ist vermutlich die größte Übung in Toleranz, vor die uns das Leben stellt. Gewohnheiten ändern sich und manches, was immer normal schien, ist es plötzlich nicht mehr, sondern eher eigen und muss diskutiert werden.
Warum es dennoch in relativ vielen Fällen gut geht und was uns ganz gegen alle Gewohnheit zusammenhält, scheint mit dem Wunder der Liebe zusammenzuhängen, was sich den rationalen Erklärungen und Betrachtungen gern entzieht.
Aber genügt ein Gefühl, den Alltag zu bewältigen oder trübt es nur den sonst klaren Blick und lässt Dinge hinnehmen, die uns vorher unmöglich schienen?
Ich weiß es nicht ganz genau, auch wenn ich diesen Prozess nun nicht zum ersten mal durchmache, schon lange vorher über fast ein Jahrzehnt in nicht immer ganz einfacher Konstellation mit der Mutter meiner Tochter zusammengelebt habe zwischen immer wieder Kampf und schöner Erfüllung.
Erfahrung macht klug, sagen wir gern und so gesehen, könnte ich nun alles besser machen, wenn es so einfach wäre, die Dinge sich wiederholen würden. Sie tun es aber nicht, weil die Beteiligten andere sind, anders reagieren und selbst wenn ich tatsächlich reifer geworden sein sollte, woran Zweifel sehr begründet sind, heißt es noch nicht, dass beide den gleichen Blick auf die Dinge haben und so ist eben jedesmal neu und ein erstes mal mit allem, was dazu gehört.
Das Gefühl trägt zumindest über viele Konflikte hinweg und hilft Dinge zu klären, die sonst vielleicht zum Konflikt würden, bei denen wir im Alltag alleine nie nachgäben, die für uns absolut unverzichtbar schienen und plötzlich geht es dann doch, weil das Gefühl stärker ist als die Angst etwas zu verlieren oder sich etwas zu vergeben.
Zugleich macht es das nur Gefühl als Basis aber auch viel schwieriger als in arrangierten Ehen, wo für gut befundene Partner von Dritten zusammengeführt werden und sich in diese Situation fügen, weil es eben so ist und sie nun Mann und Frau sein sollen. In unserem Kulturkreis ist so etwas inzwischen verpönt und wir schwören spätestens seit der Romantik auf das Gefühl als einzig taugliche Grundlage einer Beziehung.
Ob nur darum die Scheidungsrate bei uns viel höher ist als in Kulturen, die noch auf vermittelte Ehen setzen, wäre wohl der Frage wert. Allein es spielen dabei auch so viele andere Fragen eine Rolle, wie die soziale und finanzielle Selbständigkeit der Partner, der Grad der persönlichen Emanzipation und das Freiheitsempfinden der Beteiligten. Auch von daher ist die Situation überhaupt nicht vergleichbar. Die soziale Rolle der Frau in den meisten Kulturen in denen eine Ehe vermittelt wird, machen den Vergleich auch unmöglich.
Auch in unserer Kultur war die soziale Rolle der Frau eine ganz andere, als die Vermittlung von Ehen hier noch normal war. Wie es die Germanen einst hielten, bei denen, wenn wir Tacitus Glauben schenken wollen, woran viele Zweifel auch gut begründet wären, die Frauen, die Schlüsselmacht hatten und das Haus hielten, während die Männer alle paar Jahre, der Felderwirtschaft entsprechend, Haus, Hof und Frau wechselten, wissen wir nicht so genau und auch nicht ob der Geist heutiger Gender-Diskussionen in dieser Natur noch wurzelt.
Aber auch in den Kulturen, in denen Ehen aus sozialen Gründen vermittelt wurden, wie es bei uns am längsten noch im Adel üblich war, spielte die Liebe als Ideal immer eine große Rolle. Sie war und ist der Traum von Glück und Erfüllung miteinander. Wie die immer noch erfolgreiche Fortpflanzung bei vermittelten Ehen zeigt, braucht es das Gefühl nicht dazu, auch wenn wir Sex und Liebe immer gern in einer idealisierten Verbindung sehen, die in der Realität aber oft auch in aus Liebe gefundenen Verbindungen ganz andere Formen annimmt und leider oft zur schnell zur vernachlässigten Nebensache wird, wenn nicht sogar zum Mittel der internen Politik, um Formen der Erpressung noch höflich zu umschreiben.
Aber die Abgrenzung von Politik und Erpressung fällt in der Realpolitik so schwer wie in der Ehe häufig. Während es bei der Politik noch um Parteiinteressen geht und die reale Durchsetzbarkeit eine große Rolle spielt, die zumindest eine sachliche Diskussion manchmal ermöglicht, auch wenn es gerade an den Rändern des politischen Spektrums eine immer stärkere Emotionalisierung bei bestimmten Themen gibt, von Hartz IV bis zu Flüchtlingen, nimmt in der Verbindung von Mann und Frau heute und hier das Gefühl die größte Rolle ein und wird als Basis einer erfolgreichen Verbindung betrachtet.
Wer sich zu einer Ehe mehr von pekuniären oder anderen rationalen Gründen verführen lässt, gilt als berechnend und kalt, die Verbindung als weniger Wert, auch wenn sie, vernünftig abgewogen, vielleicht viel bessere Gründe für ihre Haltbarkeit hat als die übliche Liebesheirat.
Verliere mich gerade etwas in den Exkurs zur Ehe und ihren besten Grundlagen, was scheinbar vom Thema wegführt. Das aber täuscht, denn im Kern ist das Zusammenziehen und ein gemeinsames Leben führen, ob es nun mit staatlich beglaubigten Trauschein geschieht oder, wie heute eher üblich, bereits vorher ohne, genau das, was das vorige Verliebtsein von der Ehe unterscheidet. Es geht nicht mehr nur um das schöne Wunder der Liebe und den hoffentlich wunderbaren Sex, den aber vermutlich auch viel weniger Menschen, die dennoch Zusammenziehen, je miteinander genossen haben, als sich darin von der Natur begabte glückliche Menschen vorstellen können, sondern um das neue Ding des gemeinsamen Alltags, der uns aber auch schnell an unsere Grenzen führt.
Dem Zusammenleben geht meist ein Umzug voran, der, wenn die Beteiligten nicht bereits finanziell so gut gestellt sind, dies alles von anderen erledigen zu lassen, eine enorme Kraftprobe und damit auch der erste große Praxistest für die Haltbarkeit einer Beziehung ist.
Umzüge sind anstrengend und beschäftigen uns völlig, lassen kaum Zeit zum Nachdenken oder kritischen Hinterfragen und vielleicht ist es von daher mit diesen wie mit Beerdigungen, die auch mit hohem organisatorischen Aufwand betrieben werden und von daher die Trauernden völlig binden und ihnen keine Zeit zum Nachdenken lassen während der erste Schmerz des Verlustes noch so groß ist.
Habe mich die ganze letzte Woche mehr als Handwerker, denn als Autor betätigt, nur wenig Zeit zwischendurch mir zum Lesen und Schreiben genommen, weil einfach zu viel zu erledigen war. Wie wir es geschafft haben die Sachen meiner Liebsten in ihrem schwäbischen Studienort alle allein einzuladen, ist mir, betrachtete ich es objektiv nüchtern und mit Abstand, ein Rätsel. Dass ich danach noch diesen zu großen Transporter über 12h aus dem tiefen Südwesten heil bis Berlin fuhr, scheint mir ein ähnliches Wunder.
Bedenke ich wie hoch das Risiko ist als ungeübter, halbblinder Fahrer mit einem Auto, das ich noch nie zuvor fuhr, auf dieser Strecke zu verunglücken oder liegenzubleiben, könnte sogar ich Atheist angesichts des heilen Ankommens fast vor Dankbarkeit gläubig werden, zumal sich das Wetter noch alle Mühe gab seinen Beitrag dazu zu leisten, dass wir nicht am Ziel ankämen, was dann doch wider Erwarten und mit nur fünf Stunden Verspätung geschah.
Wie wir dann nach nur zwei Stunden Schlaf am nächsten Morgen um sechs Uhr den Wagen in rasender Geschwindigkeit wieder ausluden und ich diesen tatsächlich pünktlichst und ohne eine Beule oder sonstige Schäden abgeben konnte, erstaunt mich immer noch und macht mich so glücklich, dass mir die Aufgabe, den gesamten Inhalt des Wagens noch bis in meinen Dritten Stock zu bekommen, fast klein erschien.
Mit Hilfe von lieben Freunden gelang es dann doch und so langsam sind wir am Ende des Chaos angelangt, beginnen uns einzurichten, werden die letzten Kartons wieder ausgepackt, ist endlich wieder Land und Ruhe in Sicht. Auch wenn wir uns beide nun immer wieder schwören, nie wieder umzuziehen, neige ich schon fast dazu, das ganze als halb so dramatisch zu sehen, wie es mir in der Sorge zuvor schien.
Der Mensch scheint weniger Schlaf zu brauchen, als wir sonst so meinen und ist in Extremsituationen zu außergewöhnlichem fähig. Natürlich ist ein Umzug an sich nichts besonderes und zum Glück zog ich nicht um - wo außer in Berlin sollte ich jetzt auch leben wollen? - musste nicht meine weit über sechzig Kisten voller Bücher schleppen, allein der Gedanke lähmte mich schon, aber vermutlich ginge es doch irgendwie, wenn es halt sein müsste.
Ist es die Liebe, die uns die Kraft gab, diesen Wahnsinn zu überstehen, ganz gegen die sonstigen Gewohnheiten von beiden, die wir eher mit dem Kopf arbeiten und uns lieber weniger vom Fleck bewegen, tagelang mehr als Handwerker zu vegetieren zwischen erschöpftem Einschlafen nach immer noch nicht getaner Arbeit und einfach weiter machen im ständigen Chaos, ständig etwas suchend, was nicht zu finden war?
Irgendwie fand sich dann doch alles wieder, wurde es schöner als erwartet oder geplant, taten sich neue Wege auf, zeigten beide Qualitäten, die sie sich selbst kaum zugetraut hatten, löste ich handwerkliche Probleme der Stabilität, so kreativ und überraschend erfolgreicher, als ich es mir theoretisch je zugetraut hätte. So wuchsen wir beide über uns hinaus und machten völlig überraschende Erfahrungen - blieb in Situationen ruhig, die mich sonst vermutlich explodieren ließen und weiß nicht mal, ob es nur an der Erschöpfung lag, die für solche Aktionen schlicht nicht genug Energie übrig ließ, meine Liebste trug schwerer und mehr, als sie von sich gedacht und ich je gewollt hätte und besiegte ihre anfliegende Migräne selbst, als ihr ein Brett auf den Kopf fiel und dann einfach alles wieder gut war.
Ob dies alles am Wunder der Liebe liegt, das uns mehr Energie gab, als wir uns je zutrauten, weiß ich nicht. Da ich es nicht ausschließen kann, fühlt es sich zumindest gut an, dies anzunehmen. Wäre ich weniger verliebt gewesen, hätte ich vermutlich alles genauer geplant, möglichst perfekt organisiert und wäre dafür in ständiger Unruhe gewesen, wenn etwas vom vorigen Plan abwich. So aber war ich dabei einfach verliebt, relativ planlos und ließ die Dinge einfach laufen.
Es klappte trotzdem vielleicht besser als top organisiert und auch wenn manches wie das Suchen der passenden Schrauben oder Teile viel länger dauerte, als wenn es meinem sonst perfekten Plan gemäß gelaufen wäre, es klappte und das Lachen über die zwischenzeitliche Verwirrung, ließ alles viel besser ertragen. Nüchtern dem perfekten Umzugsplan zu folgen, hätte vermutlich enorm Zeit gespart, nur was gewinnen wir mit eingesparter Zeit wirklich, frage ich mich, während ich mir zwischendurch die Zeit nehme, einfach mal darüber zu schreiben.
Nichts denke ich mit Momo und den Grauen Herren im Hinterkopf - gesparte Zeit ist verlorene Zeit und so dauert eben manches etwas länger, ist nicht alles ganz vernünftig, streiten wir uns auch mal stundenlang über unwichtige Dinge, weil eigentlich beide längst völlig erschöpft sind. Vielleicht wäre es weniger konfliktträchtig, perfekt organisiert zu sein, denke ich für Momente - aber der Versöhnungssex lässt alle Effektivität unwichtig erscheinen und voller Erstaunen stelle ich fest, wie viele treue Leser ich habe, auch wenn ich mal tagelang nichts schreibe.
Nun sitze ich hier und betrachte meine Wohnung, die sich immer mehr verändert. Sie wird weiblicher, nicht nur ihre vielen Schuhe, die sich schon länger im Flur reihen und mich so entzücken, wenn ich ihre dazu passenden, damenhaft kleinen Füße vor mir sehe, auch nicht nur ihre Jacken und Mäntel an meiner Garderobe, sondern die vielen kleinen Dinge, die aus ihrem Leben stammen und die wir nun teilen, die irgendwie schwedisch anmutenden weißen Schafsfelle aus den Korbsesseln in der Küche, die rosa Lampe hier, der Kerzenleuchter im Bad, ihr Geschirr in meinem Küchenregal, wenn sich ihre Sachen auf meinen stapeln und die penible Ordnung in ihrem Schrank, die plötzlich aus dem vorher noch Chaos wie ein Leuchtturm der Ordnung wächst, ihr liebstes Bild am Eingang der Küche oder das Mädchenzimmer, das plötzlich ganz hell mit weißen Möbeln in der Mitte wächst, ihre E-Gitarre und ihr Verstärker zwischen meinen Schränken, ihre grüne Fee und ihr Whisky, die plötzlich in der vorher mit überflüssigem verstopften Ecke in der Küche stehen.
Manches bleibt und doch ist irgendwie alles anders und während ich mich noch frage, wie ich diese neue weibliche Linie finde in meiner alten Wohnung, die meinen Bücherturm verändert, wo ich doch alle Veränderungen möglichst vermeide, da sie die Gedanken ablenken und es schwerer machen, sich nur auf die Worte zu konzentrieren, der ich jeden Kitsch aus meinen Regalen verbannte, die Bücher ganz nach vorne rückte, um sie in den Mittelpunkt zu stellen, in einer Bibliothek nur mit meinen paar Büchern zu leben, stelle ich fest, wie wohl ich mich nach der Verweiblichung meines gewohnten Lebensraumes fühle, weil ich plötzlich merke, was hier fehlte, wie warm und schön die weibliche Hand wirkt.
Hat Frau eine befriedende Wirkung auf Mann?
Auch das weiß ich nicht so genau. Angesichts all der drohenden und bestimmt noch auftretenden Konflikte, der erwartbaren wie der überraschenden, des manchmal völligen Unverständnisses füreinander, was noch überflüssigere Ersatzgefechte kämpfen lässt, schiene es wohl etwas verfehlt und anmaßend solches generell anzunehmen und dennoch spüre ich eine tiefe Harmonie, genieße trotz des immer noch etwas Chaos die neue Reinlichkeit. mit der sie Stück für Stück auch Besitz von nun unserer Wohnung ergreift, freue mich an Kitsch und Kleinigkeiten aus ihrem Leben, der die Räume mit ihrer Liebe erfüllt - auch wenn das weder aufgeklärt noch vernünftig klingt.
Mehr Weiblichkeit um mich zu zulassen, sie zu genießen, mich an ihr sinnlich zu erfreuen, wie ich lustvoll längst auch mal ihre schöne Wäsche hier auf die Leine hängte, scheint den Verlust der Einsamkeit und der eigenen nur durch mich geprägten Räume nicht nur zu kompensieren sondern gibt mir ein Gefühl der Vollständigkeit. Lebe nicht mehr nur für mich, sondern teile ein Leben, das durch eine Frau weiblicher in vielen wird. Auch wenn ich schon ahne, wie wir uns über bestimmte Punkte der Haltung zu Ordnung und Sauberkeit vermutlich irgendwann auch noch streiten werden, genieße ich die Verweiblichung gerade viel mehr, als ich erwartbare Konflikte fürchte
Das Land wird von einer Kanzlerin regiert, die Bundeswehr von einer Verteidigungsministerin neu aufgestellt, immer mehr Frauen überall werden immer selbstverständlicher. Manche fürchten den Verlust ihrer Männlichkeit oder die Schrumpfung typisch männlicher Tugenden in einer immer mehr gegenderten Welt, die sich dabei noch um möglichst große politische Korrektheit bemüht.
Sehe die Gefahren sicher auch und bemühe mich darum, auch diese Sorgen zu verstehen, während ich gerade genieße, wie meine Wohnung weiblicher wird und mir die Verweiblichung der Welt nicht als Bedrohung sondern als Verschönerung erscheint. Freue mich an der sinnlichen Schönheit der Weiblichkeit, die nun ein Teil meines Lebens wird. Genieße die Gegenwart der schönen Zartheit voller Lust und entdecke Seiten an mir, die ich lange nicht kultivierte, weil sie auch nicht zu meiner Rolle als Mann nicht passten. So werden andere Seiten aktiviert und ich genieße es, wie es kommt, vielleicht weil ich vom Gefühl geblendet bin und darum mir alles schön scheint, vielleicht aber auch, weil die Erfahrung lehrt, es ist gut so und tut Mann und Frau gut, sich so zu ergänzen und gemeinsame Wege zu suchen, um von jeder Seite mal dies mal jenes mehr leben zu lassen, damit alle dabei glücklich sind.
Nicht sicher bin ich mir dabei, ob dieses angenehme Wohlgefühl aufgeräumter und wohlgeordneter Weiblichkeit nun meine männliche Seite verdrängt oder meine weibliche Seite weckt, da wir wohl alle immer mehr als eine Seite in uns tragen und die äußere Geschlechtlichkeit nur einen kleinen Teil unseres ganzen Wesens ausmachen. Als schon immer leseverrücktes Muttersöhnchen, habe ich zwar lange alle Rituale sozialer Männlichkeit gepflegt und mich gelegentlich dabei auch als Held gefühlt und doch im Kern mich immer bei einer guten Tasse Tee mit einem feinen Buch in der Hand am wohlsten gefühlt und so im Laufe der Jahre immer mehr der üblichen Rituale hinter mit gelassen, um das zu tun, was ich wirklich liebe und womit ich glücklich bin - Bücher, Schreiben, Liebe in natürlich vertauschbarer Reihenfolge und Bedeutung, da ohnehin immer die Letzten die Ersten sein werden und so sehe ich der Verweiblichung meiner Wohnung gelassen entgegen, es geht ja nichts von mir verloren, vielleicht ist nur mehr Platz für andere Seiten von mir, die ich vorher nicht so pflegte.
jens tuengerthal 9.8.2017
Das ganze Leben auch im Alltag teilen, führt die Liebenden plötzlich in selbigen und zeigt die Unterschiede bei der je Bewältigung der dabei auftretenden Probleme. Was sich so selbstverständlich und ganz normal anhört, Millionen Menschen immer wieder ausprobieren, ist vermutlich die größte Übung in Toleranz, vor die uns das Leben stellt. Gewohnheiten ändern sich und manches, was immer normal schien, ist es plötzlich nicht mehr, sondern eher eigen und muss diskutiert werden.
Warum es dennoch in relativ vielen Fällen gut geht und was uns ganz gegen alle Gewohnheit zusammenhält, scheint mit dem Wunder der Liebe zusammenzuhängen, was sich den rationalen Erklärungen und Betrachtungen gern entzieht.
Aber genügt ein Gefühl, den Alltag zu bewältigen oder trübt es nur den sonst klaren Blick und lässt Dinge hinnehmen, die uns vorher unmöglich schienen?
Ich weiß es nicht ganz genau, auch wenn ich diesen Prozess nun nicht zum ersten mal durchmache, schon lange vorher über fast ein Jahrzehnt in nicht immer ganz einfacher Konstellation mit der Mutter meiner Tochter zusammengelebt habe zwischen immer wieder Kampf und schöner Erfüllung.
Erfahrung macht klug, sagen wir gern und so gesehen, könnte ich nun alles besser machen, wenn es so einfach wäre, die Dinge sich wiederholen würden. Sie tun es aber nicht, weil die Beteiligten andere sind, anders reagieren und selbst wenn ich tatsächlich reifer geworden sein sollte, woran Zweifel sehr begründet sind, heißt es noch nicht, dass beide den gleichen Blick auf die Dinge haben und so ist eben jedesmal neu und ein erstes mal mit allem, was dazu gehört.
Das Gefühl trägt zumindest über viele Konflikte hinweg und hilft Dinge zu klären, die sonst vielleicht zum Konflikt würden, bei denen wir im Alltag alleine nie nachgäben, die für uns absolut unverzichtbar schienen und plötzlich geht es dann doch, weil das Gefühl stärker ist als die Angst etwas zu verlieren oder sich etwas zu vergeben.
Zugleich macht es das nur Gefühl als Basis aber auch viel schwieriger als in arrangierten Ehen, wo für gut befundene Partner von Dritten zusammengeführt werden und sich in diese Situation fügen, weil es eben so ist und sie nun Mann und Frau sein sollen. In unserem Kulturkreis ist so etwas inzwischen verpönt und wir schwören spätestens seit der Romantik auf das Gefühl als einzig taugliche Grundlage einer Beziehung.
Ob nur darum die Scheidungsrate bei uns viel höher ist als in Kulturen, die noch auf vermittelte Ehen setzen, wäre wohl der Frage wert. Allein es spielen dabei auch so viele andere Fragen eine Rolle, wie die soziale und finanzielle Selbständigkeit der Partner, der Grad der persönlichen Emanzipation und das Freiheitsempfinden der Beteiligten. Auch von daher ist die Situation überhaupt nicht vergleichbar. Die soziale Rolle der Frau in den meisten Kulturen in denen eine Ehe vermittelt wird, machen den Vergleich auch unmöglich.
Auch in unserer Kultur war die soziale Rolle der Frau eine ganz andere, als die Vermittlung von Ehen hier noch normal war. Wie es die Germanen einst hielten, bei denen, wenn wir Tacitus Glauben schenken wollen, woran viele Zweifel auch gut begründet wären, die Frauen, die Schlüsselmacht hatten und das Haus hielten, während die Männer alle paar Jahre, der Felderwirtschaft entsprechend, Haus, Hof und Frau wechselten, wissen wir nicht so genau und auch nicht ob der Geist heutiger Gender-Diskussionen in dieser Natur noch wurzelt.
Aber auch in den Kulturen, in denen Ehen aus sozialen Gründen vermittelt wurden, wie es bei uns am längsten noch im Adel üblich war, spielte die Liebe als Ideal immer eine große Rolle. Sie war und ist der Traum von Glück und Erfüllung miteinander. Wie die immer noch erfolgreiche Fortpflanzung bei vermittelten Ehen zeigt, braucht es das Gefühl nicht dazu, auch wenn wir Sex und Liebe immer gern in einer idealisierten Verbindung sehen, die in der Realität aber oft auch in aus Liebe gefundenen Verbindungen ganz andere Formen annimmt und leider oft zur schnell zur vernachlässigten Nebensache wird, wenn nicht sogar zum Mittel der internen Politik, um Formen der Erpressung noch höflich zu umschreiben.
Aber die Abgrenzung von Politik und Erpressung fällt in der Realpolitik so schwer wie in der Ehe häufig. Während es bei der Politik noch um Parteiinteressen geht und die reale Durchsetzbarkeit eine große Rolle spielt, die zumindest eine sachliche Diskussion manchmal ermöglicht, auch wenn es gerade an den Rändern des politischen Spektrums eine immer stärkere Emotionalisierung bei bestimmten Themen gibt, von Hartz IV bis zu Flüchtlingen, nimmt in der Verbindung von Mann und Frau heute und hier das Gefühl die größte Rolle ein und wird als Basis einer erfolgreichen Verbindung betrachtet.
Wer sich zu einer Ehe mehr von pekuniären oder anderen rationalen Gründen verführen lässt, gilt als berechnend und kalt, die Verbindung als weniger Wert, auch wenn sie, vernünftig abgewogen, vielleicht viel bessere Gründe für ihre Haltbarkeit hat als die übliche Liebesheirat.
Verliere mich gerade etwas in den Exkurs zur Ehe und ihren besten Grundlagen, was scheinbar vom Thema wegführt. Das aber täuscht, denn im Kern ist das Zusammenziehen und ein gemeinsames Leben führen, ob es nun mit staatlich beglaubigten Trauschein geschieht oder, wie heute eher üblich, bereits vorher ohne, genau das, was das vorige Verliebtsein von der Ehe unterscheidet. Es geht nicht mehr nur um das schöne Wunder der Liebe und den hoffentlich wunderbaren Sex, den aber vermutlich auch viel weniger Menschen, die dennoch Zusammenziehen, je miteinander genossen haben, als sich darin von der Natur begabte glückliche Menschen vorstellen können, sondern um das neue Ding des gemeinsamen Alltags, der uns aber auch schnell an unsere Grenzen führt.
Dem Zusammenleben geht meist ein Umzug voran, der, wenn die Beteiligten nicht bereits finanziell so gut gestellt sind, dies alles von anderen erledigen zu lassen, eine enorme Kraftprobe und damit auch der erste große Praxistest für die Haltbarkeit einer Beziehung ist.
Umzüge sind anstrengend und beschäftigen uns völlig, lassen kaum Zeit zum Nachdenken oder kritischen Hinterfragen und vielleicht ist es von daher mit diesen wie mit Beerdigungen, die auch mit hohem organisatorischen Aufwand betrieben werden und von daher die Trauernden völlig binden und ihnen keine Zeit zum Nachdenken lassen während der erste Schmerz des Verlustes noch so groß ist.
Habe mich die ganze letzte Woche mehr als Handwerker, denn als Autor betätigt, nur wenig Zeit zwischendurch mir zum Lesen und Schreiben genommen, weil einfach zu viel zu erledigen war. Wie wir es geschafft haben die Sachen meiner Liebsten in ihrem schwäbischen Studienort alle allein einzuladen, ist mir, betrachtete ich es objektiv nüchtern und mit Abstand, ein Rätsel. Dass ich danach noch diesen zu großen Transporter über 12h aus dem tiefen Südwesten heil bis Berlin fuhr, scheint mir ein ähnliches Wunder.
Bedenke ich wie hoch das Risiko ist als ungeübter, halbblinder Fahrer mit einem Auto, das ich noch nie zuvor fuhr, auf dieser Strecke zu verunglücken oder liegenzubleiben, könnte sogar ich Atheist angesichts des heilen Ankommens fast vor Dankbarkeit gläubig werden, zumal sich das Wetter noch alle Mühe gab seinen Beitrag dazu zu leisten, dass wir nicht am Ziel ankämen, was dann doch wider Erwarten und mit nur fünf Stunden Verspätung geschah.
Wie wir dann nach nur zwei Stunden Schlaf am nächsten Morgen um sechs Uhr den Wagen in rasender Geschwindigkeit wieder ausluden und ich diesen tatsächlich pünktlichst und ohne eine Beule oder sonstige Schäden abgeben konnte, erstaunt mich immer noch und macht mich so glücklich, dass mir die Aufgabe, den gesamten Inhalt des Wagens noch bis in meinen Dritten Stock zu bekommen, fast klein erschien.
Mit Hilfe von lieben Freunden gelang es dann doch und so langsam sind wir am Ende des Chaos angelangt, beginnen uns einzurichten, werden die letzten Kartons wieder ausgepackt, ist endlich wieder Land und Ruhe in Sicht. Auch wenn wir uns beide nun immer wieder schwören, nie wieder umzuziehen, neige ich schon fast dazu, das ganze als halb so dramatisch zu sehen, wie es mir in der Sorge zuvor schien.
Der Mensch scheint weniger Schlaf zu brauchen, als wir sonst so meinen und ist in Extremsituationen zu außergewöhnlichem fähig. Natürlich ist ein Umzug an sich nichts besonderes und zum Glück zog ich nicht um - wo außer in Berlin sollte ich jetzt auch leben wollen? - musste nicht meine weit über sechzig Kisten voller Bücher schleppen, allein der Gedanke lähmte mich schon, aber vermutlich ginge es doch irgendwie, wenn es halt sein müsste.
Ist es die Liebe, die uns die Kraft gab, diesen Wahnsinn zu überstehen, ganz gegen die sonstigen Gewohnheiten von beiden, die wir eher mit dem Kopf arbeiten und uns lieber weniger vom Fleck bewegen, tagelang mehr als Handwerker zu vegetieren zwischen erschöpftem Einschlafen nach immer noch nicht getaner Arbeit und einfach weiter machen im ständigen Chaos, ständig etwas suchend, was nicht zu finden war?
Irgendwie fand sich dann doch alles wieder, wurde es schöner als erwartet oder geplant, taten sich neue Wege auf, zeigten beide Qualitäten, die sie sich selbst kaum zugetraut hatten, löste ich handwerkliche Probleme der Stabilität, so kreativ und überraschend erfolgreicher, als ich es mir theoretisch je zugetraut hätte. So wuchsen wir beide über uns hinaus und machten völlig überraschende Erfahrungen - blieb in Situationen ruhig, die mich sonst vermutlich explodieren ließen und weiß nicht mal, ob es nur an der Erschöpfung lag, die für solche Aktionen schlicht nicht genug Energie übrig ließ, meine Liebste trug schwerer und mehr, als sie von sich gedacht und ich je gewollt hätte und besiegte ihre anfliegende Migräne selbst, als ihr ein Brett auf den Kopf fiel und dann einfach alles wieder gut war.
Ob dies alles am Wunder der Liebe liegt, das uns mehr Energie gab, als wir uns je zutrauten, weiß ich nicht. Da ich es nicht ausschließen kann, fühlt es sich zumindest gut an, dies anzunehmen. Wäre ich weniger verliebt gewesen, hätte ich vermutlich alles genauer geplant, möglichst perfekt organisiert und wäre dafür in ständiger Unruhe gewesen, wenn etwas vom vorigen Plan abwich. So aber war ich dabei einfach verliebt, relativ planlos und ließ die Dinge einfach laufen.
Es klappte trotzdem vielleicht besser als top organisiert und auch wenn manches wie das Suchen der passenden Schrauben oder Teile viel länger dauerte, als wenn es meinem sonst perfekten Plan gemäß gelaufen wäre, es klappte und das Lachen über die zwischenzeitliche Verwirrung, ließ alles viel besser ertragen. Nüchtern dem perfekten Umzugsplan zu folgen, hätte vermutlich enorm Zeit gespart, nur was gewinnen wir mit eingesparter Zeit wirklich, frage ich mich, während ich mir zwischendurch die Zeit nehme, einfach mal darüber zu schreiben.
Nichts denke ich mit Momo und den Grauen Herren im Hinterkopf - gesparte Zeit ist verlorene Zeit und so dauert eben manches etwas länger, ist nicht alles ganz vernünftig, streiten wir uns auch mal stundenlang über unwichtige Dinge, weil eigentlich beide längst völlig erschöpft sind. Vielleicht wäre es weniger konfliktträchtig, perfekt organisiert zu sein, denke ich für Momente - aber der Versöhnungssex lässt alle Effektivität unwichtig erscheinen und voller Erstaunen stelle ich fest, wie viele treue Leser ich habe, auch wenn ich mal tagelang nichts schreibe.
Nun sitze ich hier und betrachte meine Wohnung, die sich immer mehr verändert. Sie wird weiblicher, nicht nur ihre vielen Schuhe, die sich schon länger im Flur reihen und mich so entzücken, wenn ich ihre dazu passenden, damenhaft kleinen Füße vor mir sehe, auch nicht nur ihre Jacken und Mäntel an meiner Garderobe, sondern die vielen kleinen Dinge, die aus ihrem Leben stammen und die wir nun teilen, die irgendwie schwedisch anmutenden weißen Schafsfelle aus den Korbsesseln in der Küche, die rosa Lampe hier, der Kerzenleuchter im Bad, ihr Geschirr in meinem Küchenregal, wenn sich ihre Sachen auf meinen stapeln und die penible Ordnung in ihrem Schrank, die plötzlich aus dem vorher noch Chaos wie ein Leuchtturm der Ordnung wächst, ihr liebstes Bild am Eingang der Küche oder das Mädchenzimmer, das plötzlich ganz hell mit weißen Möbeln in der Mitte wächst, ihre E-Gitarre und ihr Verstärker zwischen meinen Schränken, ihre grüne Fee und ihr Whisky, die plötzlich in der vorher mit überflüssigem verstopften Ecke in der Küche stehen.
Manches bleibt und doch ist irgendwie alles anders und während ich mich noch frage, wie ich diese neue weibliche Linie finde in meiner alten Wohnung, die meinen Bücherturm verändert, wo ich doch alle Veränderungen möglichst vermeide, da sie die Gedanken ablenken und es schwerer machen, sich nur auf die Worte zu konzentrieren, der ich jeden Kitsch aus meinen Regalen verbannte, die Bücher ganz nach vorne rückte, um sie in den Mittelpunkt zu stellen, in einer Bibliothek nur mit meinen paar Büchern zu leben, stelle ich fest, wie wohl ich mich nach der Verweiblichung meines gewohnten Lebensraumes fühle, weil ich plötzlich merke, was hier fehlte, wie warm und schön die weibliche Hand wirkt.
Hat Frau eine befriedende Wirkung auf Mann?
Auch das weiß ich nicht so genau. Angesichts all der drohenden und bestimmt noch auftretenden Konflikte, der erwartbaren wie der überraschenden, des manchmal völligen Unverständnisses füreinander, was noch überflüssigere Ersatzgefechte kämpfen lässt, schiene es wohl etwas verfehlt und anmaßend solches generell anzunehmen und dennoch spüre ich eine tiefe Harmonie, genieße trotz des immer noch etwas Chaos die neue Reinlichkeit. mit der sie Stück für Stück auch Besitz von nun unserer Wohnung ergreift, freue mich an Kitsch und Kleinigkeiten aus ihrem Leben, der die Räume mit ihrer Liebe erfüllt - auch wenn das weder aufgeklärt noch vernünftig klingt.
Mehr Weiblichkeit um mich zu zulassen, sie zu genießen, mich an ihr sinnlich zu erfreuen, wie ich lustvoll längst auch mal ihre schöne Wäsche hier auf die Leine hängte, scheint den Verlust der Einsamkeit und der eigenen nur durch mich geprägten Räume nicht nur zu kompensieren sondern gibt mir ein Gefühl der Vollständigkeit. Lebe nicht mehr nur für mich, sondern teile ein Leben, das durch eine Frau weiblicher in vielen wird. Auch wenn ich schon ahne, wie wir uns über bestimmte Punkte der Haltung zu Ordnung und Sauberkeit vermutlich irgendwann auch noch streiten werden, genieße ich die Verweiblichung gerade viel mehr, als ich erwartbare Konflikte fürchte
Das Land wird von einer Kanzlerin regiert, die Bundeswehr von einer Verteidigungsministerin neu aufgestellt, immer mehr Frauen überall werden immer selbstverständlicher. Manche fürchten den Verlust ihrer Männlichkeit oder die Schrumpfung typisch männlicher Tugenden in einer immer mehr gegenderten Welt, die sich dabei noch um möglichst große politische Korrektheit bemüht.
Sehe die Gefahren sicher auch und bemühe mich darum, auch diese Sorgen zu verstehen, während ich gerade genieße, wie meine Wohnung weiblicher wird und mir die Verweiblichung der Welt nicht als Bedrohung sondern als Verschönerung erscheint. Freue mich an der sinnlichen Schönheit der Weiblichkeit, die nun ein Teil meines Lebens wird. Genieße die Gegenwart der schönen Zartheit voller Lust und entdecke Seiten an mir, die ich lange nicht kultivierte, weil sie auch nicht zu meiner Rolle als Mann nicht passten. So werden andere Seiten aktiviert und ich genieße es, wie es kommt, vielleicht weil ich vom Gefühl geblendet bin und darum mir alles schön scheint, vielleicht aber auch, weil die Erfahrung lehrt, es ist gut so und tut Mann und Frau gut, sich so zu ergänzen und gemeinsame Wege zu suchen, um von jeder Seite mal dies mal jenes mehr leben zu lassen, damit alle dabei glücklich sind.
Nicht sicher bin ich mir dabei, ob dieses angenehme Wohlgefühl aufgeräumter und wohlgeordneter Weiblichkeit nun meine männliche Seite verdrängt oder meine weibliche Seite weckt, da wir wohl alle immer mehr als eine Seite in uns tragen und die äußere Geschlechtlichkeit nur einen kleinen Teil unseres ganzen Wesens ausmachen. Als schon immer leseverrücktes Muttersöhnchen, habe ich zwar lange alle Rituale sozialer Männlichkeit gepflegt und mich gelegentlich dabei auch als Held gefühlt und doch im Kern mich immer bei einer guten Tasse Tee mit einem feinen Buch in der Hand am wohlsten gefühlt und so im Laufe der Jahre immer mehr der üblichen Rituale hinter mit gelassen, um das zu tun, was ich wirklich liebe und womit ich glücklich bin - Bücher, Schreiben, Liebe in natürlich vertauschbarer Reihenfolge und Bedeutung, da ohnehin immer die Letzten die Ersten sein werden und so sehe ich der Verweiblichung meiner Wohnung gelassen entgegen, es geht ja nichts von mir verloren, vielleicht ist nur mehr Platz für andere Seiten von mir, die ich vorher nicht so pflegte.
jens tuengerthal 9.8.2017
Freitag, 4. August 2017
Spannungsreich
Keine Entspannung je
Ohne vorher Anspannung
Was wohl mehr wert ist
jens tuengerthal 4.8.2017
Nichtstun
Nichtstun wird schöner
Wenn vorher noch zuviel war
Als Kontrapunkt quasi
jens tuengerthal 4.8.2017
Donnerstag, 3. August 2017
Herztruck
Das Herz heimholen
Ist der Hertztruck ideal
Es schlägt schon höher
jens tuengerthal 3.8.2017
Zusammenziehen
Liebe will ein Heim
Warum zwei zusammenziehen
Zur großen Probe
jens tuengerthal 3.8.2017
Umzugstage
Schleppen und Schwitzen
Treppe hoch Treppe runter
Alles verstauen
jens tuengerthal 3.8.2017
Mittwoch, 2. August 2017
Todesumgang
Wie wir mit dem Tod umgehen und ob er uns etwas angeht
Epikur der alte Grieche lehrte um 300 vor Christus, dass uns der Tod nichts angeht. Er meinte, solange er lebe, sei der Tod nicht da und wenn er tot sei, sei er nicht mehr da, warum ihn dann nichts mehr anginge. Ein Jenseits interessierte ihn so wenig wie die in Griechenland sonst omnipräsenten Götter, deren Existenz er zwar auch aus rechtlichen Gründen nicht infrage stellte, von denen er aber meinte, sie würden sich, wenn es sie gibt, sicher nicht um uns kümmern, sondern ungestört in ihrer himmlischen Sphäre leben, was allerdings einen großen Teil der griechischen Sagenwelt ganz grundsätzlich verleugnete, ihn aber nicht sonderlich tangierte.
Als Begründer der hedonistischen Lehre sah er das Ziel menschlichen Lebens im Streben nach Lust und unsere Aufgabe sei es, alles, was dieser Lust abträglich sei, zu vermeiden. Diese Lehre ist immer wieder bekämpft und verhöhnt worden, warum den Epikuräern ein wollüstiges Leben gern unterstellt wurde, auch wenn sich gerade Epikur für das genaue Gegenteil aussprach und Mäßigung eher als Lut ansah, denn das Streben nach Extremen.
Epikur lebte mit seinem Kreis von Freunden in seinem Garten und war bis in die Neuzeit der einzige Philosoph, sehen wir von seinen Nachfolgern wie Lukrez ab, die sich aber als Epikuräer sahen, der Frauen gleichberechtigt im Kreis der Philosophen aufnahm. Diese Tatsache beförderte natürlich noch die Gerüchte, dass Epikur und die Seinen noch dazu mit Frauen ein lustvolles Leben im Garten führten, auch wenn für ihn alles Glück nach eigener Aussage ein Brot, ein Käse und ein Wein oder Wasser waren, die er im Garten mit den Freunden teilte.
Diese Lehre passte natürlich nicht zu den monotheistischen Religionen wie Christentum, Islam oder Judentum, die auf ein Jenseits hoffen, das Wohlverhalten und den Gehorsam auf Erden mit jenseitigen Heilsversprechen zu erreichen hoffen. Damit war all ihre geaberglaubte göttliche Autorität, die Menschen das Fürchten lehren sollte, wie ein großer Teil der alten Geschichten von Noah bis Babylon hinfällig. Auch Propheten, die zur Erde hinab stiegen, wirken im Geiste Epikurs eher absurd, wie ein eben Aberglauben ängstlicher Menschen, die nicht darüber reflektieren wollen, dass ihre Angst erst aus dem Aberglauben entstand, den sie nur ablegen müssten, um frei davon zu sein.
Epikur schenkte Freiheit und versprach nichts als die Natur, über und außer der nichts sei, warum es diese so ausgiebig wie möglich zu genießen gelte. Wo nichts danach oder daneben erwartet wird, geht es um das Leben und seinen Genuss.
Dagegen wurde vor allem von christlicher aber auch von islamischer Seite immer wieder eingewandt, dass solch eine Lehre nur zum Egoismus verführe und die Menschen davon abhalte, die Schöpfung zu ehren, der gegenüber der Glaube zu Respekt auffordere.
Wie erfolgreich die monotheistischen Religionen zum Erhalt der Schöpfung aufforderten, können wir überall auf dem Planeten besichtigen. Der nur noch von vorgestrigen Kreationisten, die nicht in der Gegenwart ankamen und ihren Aberglauben dogmatisch weiter verbreiten wollen, geaberglaubte und konsequent vertretene Schöpfungsgedanke - auch Rom hat inzwischen die Evolution und die daraus resultierende Theorie zur Entstehung der Arten anerkannt - spielt in der Gegenwart keine Rolle mehr und wird außer von Sekten nicht mehr ernsthaft vertreten.
Eigentlich wäre es nun an der Zeit, Epikur endlich ohne Vorurteile zu betrachten, den Hedonismus nicht länger als rücksichtslos zu verdammen, sondern ihn als ein der Natur entsprechendes Menschenbild zu sehen, dessen sozialer oder asozialer Charakter allein am Verhalten des Einzelnen und nicht an der Lehre an sich liegt, die nirgendwo verkündet, sei asozial, um glücklich zu sein.
Wenn sich auf den Hedonismus als Ganzes eine nüchternere Sicht empfiehlt, stellt sich die Frage, ob dies nicht auch dringend für dessen Sicht auf den Tod gilt, der für keinen der bekannten Epikuräer ein Grauen darstellt, was sie fürchten müssten, weil sie nichts als ihr Leben haben und kein Jenseits kennen.
Auch Michel de Montaigne, der sich lange und sehr intensiv mit dem Tod auseinandersetzte, fand in Epikur und Lukrez, der kurz zuvor erst wiederentdeckt worden war und mit Beginn der Renaissance von Florenz aus zirkulierte, einen stärkeren Trost als in seinem katholischen Glauben, den er zwar nach eigener Aussage aus Tradition immer beibehielt und auch hochhielt, was Rom nicht hinderte, seine Schriften später lange Zeit auf den Index zu setzen, weil seine Philosophie, die eklektizistisch aus dem Besten der Antike sich nahm, was ihr gefiel, wie der Vatikan richtig erkannte eigentlich hedonistisch war und den Glauben zu einem bloßen Privatvergnügen machte, was Ende des 16. Jahrhunderts noch tödliche Folgen für die Betreffenden haben konne.
Michel war mehrfach mit dem Tod konfrontiert und diese Erlebnisse haben ihn eigentlich erst zum Schreiben gebracht, wie er selbst in seinen Essays erzählt. Zuerst war es der Tod seines Bruders, der beim Paume Spiel, einem damals verbreiteten Ballsport plötzlich tot umfiel, weil ihn ein unerwarteter Hirnschlag traf. Als nächstes war es der Tod seines besten und liebsten Freundes, Étienne de La Boétie, mit dem ihn auch die Liebe zur Literatur innig verband und dessen poetische Werke er nach seinem Tode herausgab. Der Freund starb an der Pest und Michel scheute sich nicht, bis zur letzten Minute bei ihm zu sitzen. Ganz anders etwa als Goethe, der den kranken Schiller und Sterbende überhaupt lieber mied. Schließlich wurde er Opfer eines Reitunfalls bei dem wohl ein Bedienter von ihm, an einer zu engen Stelle des Weges überholte, woraufhin das Pferd des Herrn von Montaigne durchging, den Herren abwarf, der sich schon tot wähnte und plötzlich eine große Leichtigkeit verspürte.
Er starb dann doch nicht, wie sich schon aus der Tatsache ergibt, dass er in seinen Essays ausführlich darüber schrieb, wurde von seinen Leuten halb bewußtlos ins Schloß getragen, litt länger an den Verletzungen, gesundete aber schließlich doch wieder ganz und klagte im weiteren Leben nur immer wieder auch schriftlich über die Qual seiner Gallensteine, die ihm dauerhaft zu setzten. Doch das Erlebnis des Todes hatte ihn von seiner Angst vor dem Tod geheilt.
Hatte seltsamerweise nie größere Angst vor dem Tod, was mich von Michel unterscheidet, weshalb ich höchstens literarisch von einem ähnlichen Läuterungsereignis berichten könnte. Mit 16 verunglückte ich mal tödlich auf der Straße, hatte aber das Glück nach nur wenigen Minuten von einem zufällig um die Ecke arbeitenden Notarzt wieder reanimiert zu werden, warum sich angeblich die Hirnschäden in überschaubaren Grenzen hielten.
An die Zeit ohne Herzschlag habe ich so wenig Erinnerung wie an die folgende Bewusstlosigkeit, wie es der Name ja schon nahe legt. Es war einfach nichts und so gibt es für mich auch nichts, was ich an diesem Nichts fürchten könnte oder sollte. Wer tot ist, muss nie wieder zum Zahnarzt oder Seekrankheit erleiden, was mir, wie schon andernorts geschildert, manchmal verlockender erschien als dies leidende Weiterleben.
Auch Liebeskummer legte nicht nur mir manches mal den Tod nahe und ließ das Nichts verlockender erscheinen als dies bloße Existieren - glücklicherweise, war bisher die Anziehungskraft des Todes weder bei Seekrankheit noch bei Liebeskummer je groß genug, dem nachzugeben und so bin ich noch und kann mir immer wieder ex post die Relativität aller Todesgründe vor Augen führen und mit zunehmendem Alter werden wir, zumindest ich, ohnehin bockiger, warum sich Gründe für das Nichts relativieren, ohne es zu fürchten.
Was sich nun leicht für mich sagen lässt, könnte anders sein, sofern es um den Tod mir naher Menschen oder Wesen geht. So mancher trauerte auch schon um den Tod eines Tieres mehr als um den vieler Menschen. Auch der Alte Fritz, ließ seine Windspiele im Garten von Sanssouci beerdigen, wo er auch nach über 200 Jahren auf Kohls Initiative hin, seine letzte Ruhe endlich fand, wie er es sich erbeten hatte, neben seinen Hunden.
Kann es nicht wirklich beurteilen, meine Eltern leben noch, meine Frau wird mich aller Vermutung nach lange überleben und auch meine Tochter ist zum Glück guter Dinge und so spreche ich zum Thema vermutlich ahnungslos, zumindest wie Betroffene es sagen, die meinen, das Einmalige des Verlustes müsste erlitten werden, um es nachempfinden zu können.
Einer meiner früher besten Freunde starb 6 Jahre nachdem ich aus seiner Nachbarschaft weggezogen und der Kontakt abgebrochen war an Drogen, wohl ohne die Absicht dazu - Gerüchte besagen die Söhne des örtlichen Pfarrers hätte ihm unreinen Stoff angedreht, um mehr zu verdienen und so seinen Tod verursacht. Was daran war, habe ich nie weiter verfolgt, obwohl ich die Söhne des damaligen Pfarrers auch relativ gut noch kannte. Gab mich auf der Beerdigung pflichtschuldigst betroffen, schüttelte seiner Mutter die Hand und drückte seine zugegeben sehr zarte und süße Freundin. Ansonsten tangierte mich dieser Todesfall nicht sonderlich, der mitten in mein schriftliches Abitur fiel.
Glaube meine Mutter, die ja nur wenige Jahre davor beinah ihren Sohn auf der Straße verloren hatte, nahm sich die Sache mehr zu Herzen als ich, dessen früher bester Freund nun nicht mehr war.
War ich herzlos, weil mich der Tod nicht tangierte, ich dachte, er hat sich dafür entschieden und also ist es seine Sache?
Hatte zu diesem Zeitpunkt schon viele Menschen sterben sehen - zuerst bei der Freiwilligen Feuerwehr und beim Rettungsdienst, meist auf der Straße aber auch kilometerlang Leichenteile von den Schienen gesammelt oder einen Bekannten mit gespaltenem Schädel an einer Hauswand verenden sehen, nachdem er ohne Helm durch die Hauptstraße meines Wohnorts mit seinem bekanntermaßen verrückt frisierten Moped gerast war, tote Kinder, leicht angekohlt liegen sehen, die gerade die Kollegen mit Atemschutz aus dem brennenden Haus geholt hatten, später auch in der Krebsbaracke, in der ich arbeitete und in der eben die Raucher irgendwann starben, wenn nichts mehr ging, was meist nur eine Frage der Zeit war.
Der Tod war für mich normal und den Toten wurde eben der Kiefer hochgebunden und um den Rest kümmerten sich Bestatter. Nach meinem Gefühl könnten Tote auch wie Restmüll entsorgt werden, nachdem die Medizin das ihrerseits noch mögliche oder nötige mit ihnen gemacht hat - von der Entnahme von Organen aus dem noch warmen Körper bis zur Verwendung des Leichnams für anatomische Schulungen.
Mag dennoch Beerdigungen und die Stimmung auf Friedhöfen, finde ich herrlich ruhig und besinnlich aber das ist eine rein ästhetische Bemerkung ohne jeden philosophischen Bezug. Sehe es eher als einen feierlichen Abschied, der den würdigt, der war und nicht mehr ist.
Es mag so etwas jeder so ausgestalten, wie es ihm gefällt aber nach meiner Überzeugung ist die Organisation von Beerdigungen und der ganze damit verbundene Aufwand noch die beste Ablenkung für Trauernde und da wir uns mit dem Nichts ohnehin nicht auseinandersetzen können, weil es nicht mehr ist, aber viele Gewohnheiten sonst zur hemmungslosen Trauer verführen, ist die Ablenkung womöglich das Beste, was uns in diesem Moment passieren kann. Sie beschäftigt mit überflüssigen Dingen und Organisation und wir haben wenig Zeit, uns der Trauer und Einsamkeit hinzugeben, die Menschen nur schnell auf zu dumme Gedanken bringt.
Diese rein praktische Erwägung, die für die Beibehaltung der nervigen Organisation und der Gewohnheiten spricht, statt Leichen einfach wie Restmüll zu entsorgen, wofür mehr spricht als sie in der Erde langsam verfaulen zu lassen, ändert nichts an der Frage, ob Trauer überhaupt eine angemessene Reaktion auf den Tod ist.
Sicher fehlt etwas, wenn ein naher Mensch plötzlich nicht mehr da ist. Fraglich nur, ob sich durch Trauer daran etwas ändert und Leiden in so einer Situation irgendetwas bringt.
Viele Menschen, mit denen ich darüber sprach, meinten es sei eine ganz natürliche Reaktion, zu trauern und wer dies nicht tue, habe eben kein Gefühl, sei kalt und eher unmenschlich.
Fand mich nie kalt oder gefühllos, eher im Gegenteil neige ich mehr zum Überschwang des Gefühls und großer Euphorie. Dennoch fand ich den Tod nie schlimm als solches und plädierte schon immer eher für Ablenkung, um sich nicht mit Dingen aueinandersetzen zu müssen, die wir nicht ändern können.
Was nicht mehr ist, geht uns nichts mehr an und hedonistisch betrachtet geht es darum, sein Leben so gut und schön wie möglich zu verbringen. Finde es gut, Menschen, mit denen wir ein Leben teilten und die uns wichtig waren, zu würdigen, wie ich es mit meiner Familie immer mehr in Worten auch versuche. Damit freue ich mich, über das was war und gedenke den bereits Verstorbenen auf konstruktive Art und Weise, schreibe ihre Geschichte in meinen Geschichten fort. Was von uns bleibt, ist die Erinnerung derer, die uns kannten und irgendwann vielleicht derer, die uns lesen werden, mehr ist es nicht und das gibt auch eine gewisse Leichtigkeit, die geradezu fliegen lässt.
Das Nichts wiegt nichts und auch das lässt mich sorglos mit dem umgehen, was kommt - von nichts kommt nichts und so geht es mich eben auch nichts an - insofern hatte Epikur völlig Recht und nicht Trauer ist unsere Natur sondern auch das ist nur eine Konvention, der wir uns mehr oder weniger bereitwillig hingeben. Meine Natur strebt nach Lust und Befriedigung und zwar mag es Menschen geben, denen Leid eine solche verschafft, die mögen sich daran nach ihrem Gefühl ergötzen, ich persönlich, ziehe es vor, nicht zu leiden und strebe danach und so halte ich es auch mit dem Tod und dem Andenken Verstorbener, die ich gerne mit Worten voller Freude ehre.
jens tuengerthal 3.8.2017
Epikur der alte Grieche lehrte um 300 vor Christus, dass uns der Tod nichts angeht. Er meinte, solange er lebe, sei der Tod nicht da und wenn er tot sei, sei er nicht mehr da, warum ihn dann nichts mehr anginge. Ein Jenseits interessierte ihn so wenig wie die in Griechenland sonst omnipräsenten Götter, deren Existenz er zwar auch aus rechtlichen Gründen nicht infrage stellte, von denen er aber meinte, sie würden sich, wenn es sie gibt, sicher nicht um uns kümmern, sondern ungestört in ihrer himmlischen Sphäre leben, was allerdings einen großen Teil der griechischen Sagenwelt ganz grundsätzlich verleugnete, ihn aber nicht sonderlich tangierte.
Als Begründer der hedonistischen Lehre sah er das Ziel menschlichen Lebens im Streben nach Lust und unsere Aufgabe sei es, alles, was dieser Lust abträglich sei, zu vermeiden. Diese Lehre ist immer wieder bekämpft und verhöhnt worden, warum den Epikuräern ein wollüstiges Leben gern unterstellt wurde, auch wenn sich gerade Epikur für das genaue Gegenteil aussprach und Mäßigung eher als Lut ansah, denn das Streben nach Extremen.
Epikur lebte mit seinem Kreis von Freunden in seinem Garten und war bis in die Neuzeit der einzige Philosoph, sehen wir von seinen Nachfolgern wie Lukrez ab, die sich aber als Epikuräer sahen, der Frauen gleichberechtigt im Kreis der Philosophen aufnahm. Diese Tatsache beförderte natürlich noch die Gerüchte, dass Epikur und die Seinen noch dazu mit Frauen ein lustvolles Leben im Garten führten, auch wenn für ihn alles Glück nach eigener Aussage ein Brot, ein Käse und ein Wein oder Wasser waren, die er im Garten mit den Freunden teilte.
Diese Lehre passte natürlich nicht zu den monotheistischen Religionen wie Christentum, Islam oder Judentum, die auf ein Jenseits hoffen, das Wohlverhalten und den Gehorsam auf Erden mit jenseitigen Heilsversprechen zu erreichen hoffen. Damit war all ihre geaberglaubte göttliche Autorität, die Menschen das Fürchten lehren sollte, wie ein großer Teil der alten Geschichten von Noah bis Babylon hinfällig. Auch Propheten, die zur Erde hinab stiegen, wirken im Geiste Epikurs eher absurd, wie ein eben Aberglauben ängstlicher Menschen, die nicht darüber reflektieren wollen, dass ihre Angst erst aus dem Aberglauben entstand, den sie nur ablegen müssten, um frei davon zu sein.
Epikur schenkte Freiheit und versprach nichts als die Natur, über und außer der nichts sei, warum es diese so ausgiebig wie möglich zu genießen gelte. Wo nichts danach oder daneben erwartet wird, geht es um das Leben und seinen Genuss.
Dagegen wurde vor allem von christlicher aber auch von islamischer Seite immer wieder eingewandt, dass solch eine Lehre nur zum Egoismus verführe und die Menschen davon abhalte, die Schöpfung zu ehren, der gegenüber der Glaube zu Respekt auffordere.
Wie erfolgreich die monotheistischen Religionen zum Erhalt der Schöpfung aufforderten, können wir überall auf dem Planeten besichtigen. Der nur noch von vorgestrigen Kreationisten, die nicht in der Gegenwart ankamen und ihren Aberglauben dogmatisch weiter verbreiten wollen, geaberglaubte und konsequent vertretene Schöpfungsgedanke - auch Rom hat inzwischen die Evolution und die daraus resultierende Theorie zur Entstehung der Arten anerkannt - spielt in der Gegenwart keine Rolle mehr und wird außer von Sekten nicht mehr ernsthaft vertreten.
Eigentlich wäre es nun an der Zeit, Epikur endlich ohne Vorurteile zu betrachten, den Hedonismus nicht länger als rücksichtslos zu verdammen, sondern ihn als ein der Natur entsprechendes Menschenbild zu sehen, dessen sozialer oder asozialer Charakter allein am Verhalten des Einzelnen und nicht an der Lehre an sich liegt, die nirgendwo verkündet, sei asozial, um glücklich zu sein.
Wenn sich auf den Hedonismus als Ganzes eine nüchternere Sicht empfiehlt, stellt sich die Frage, ob dies nicht auch dringend für dessen Sicht auf den Tod gilt, der für keinen der bekannten Epikuräer ein Grauen darstellt, was sie fürchten müssten, weil sie nichts als ihr Leben haben und kein Jenseits kennen.
Auch Michel de Montaigne, der sich lange und sehr intensiv mit dem Tod auseinandersetzte, fand in Epikur und Lukrez, der kurz zuvor erst wiederentdeckt worden war und mit Beginn der Renaissance von Florenz aus zirkulierte, einen stärkeren Trost als in seinem katholischen Glauben, den er zwar nach eigener Aussage aus Tradition immer beibehielt und auch hochhielt, was Rom nicht hinderte, seine Schriften später lange Zeit auf den Index zu setzen, weil seine Philosophie, die eklektizistisch aus dem Besten der Antike sich nahm, was ihr gefiel, wie der Vatikan richtig erkannte eigentlich hedonistisch war und den Glauben zu einem bloßen Privatvergnügen machte, was Ende des 16. Jahrhunderts noch tödliche Folgen für die Betreffenden haben konne.
Michel war mehrfach mit dem Tod konfrontiert und diese Erlebnisse haben ihn eigentlich erst zum Schreiben gebracht, wie er selbst in seinen Essays erzählt. Zuerst war es der Tod seines Bruders, der beim Paume Spiel, einem damals verbreiteten Ballsport plötzlich tot umfiel, weil ihn ein unerwarteter Hirnschlag traf. Als nächstes war es der Tod seines besten und liebsten Freundes, Étienne de La Boétie, mit dem ihn auch die Liebe zur Literatur innig verband und dessen poetische Werke er nach seinem Tode herausgab. Der Freund starb an der Pest und Michel scheute sich nicht, bis zur letzten Minute bei ihm zu sitzen. Ganz anders etwa als Goethe, der den kranken Schiller und Sterbende überhaupt lieber mied. Schließlich wurde er Opfer eines Reitunfalls bei dem wohl ein Bedienter von ihm, an einer zu engen Stelle des Weges überholte, woraufhin das Pferd des Herrn von Montaigne durchging, den Herren abwarf, der sich schon tot wähnte und plötzlich eine große Leichtigkeit verspürte.
Er starb dann doch nicht, wie sich schon aus der Tatsache ergibt, dass er in seinen Essays ausführlich darüber schrieb, wurde von seinen Leuten halb bewußtlos ins Schloß getragen, litt länger an den Verletzungen, gesundete aber schließlich doch wieder ganz und klagte im weiteren Leben nur immer wieder auch schriftlich über die Qual seiner Gallensteine, die ihm dauerhaft zu setzten. Doch das Erlebnis des Todes hatte ihn von seiner Angst vor dem Tod geheilt.
Hatte seltsamerweise nie größere Angst vor dem Tod, was mich von Michel unterscheidet, weshalb ich höchstens literarisch von einem ähnlichen Läuterungsereignis berichten könnte. Mit 16 verunglückte ich mal tödlich auf der Straße, hatte aber das Glück nach nur wenigen Minuten von einem zufällig um die Ecke arbeitenden Notarzt wieder reanimiert zu werden, warum sich angeblich die Hirnschäden in überschaubaren Grenzen hielten.
An die Zeit ohne Herzschlag habe ich so wenig Erinnerung wie an die folgende Bewusstlosigkeit, wie es der Name ja schon nahe legt. Es war einfach nichts und so gibt es für mich auch nichts, was ich an diesem Nichts fürchten könnte oder sollte. Wer tot ist, muss nie wieder zum Zahnarzt oder Seekrankheit erleiden, was mir, wie schon andernorts geschildert, manchmal verlockender erschien als dies leidende Weiterleben.
Auch Liebeskummer legte nicht nur mir manches mal den Tod nahe und ließ das Nichts verlockender erscheinen als dies bloße Existieren - glücklicherweise, war bisher die Anziehungskraft des Todes weder bei Seekrankheit noch bei Liebeskummer je groß genug, dem nachzugeben und so bin ich noch und kann mir immer wieder ex post die Relativität aller Todesgründe vor Augen führen und mit zunehmendem Alter werden wir, zumindest ich, ohnehin bockiger, warum sich Gründe für das Nichts relativieren, ohne es zu fürchten.
Was sich nun leicht für mich sagen lässt, könnte anders sein, sofern es um den Tod mir naher Menschen oder Wesen geht. So mancher trauerte auch schon um den Tod eines Tieres mehr als um den vieler Menschen. Auch der Alte Fritz, ließ seine Windspiele im Garten von Sanssouci beerdigen, wo er auch nach über 200 Jahren auf Kohls Initiative hin, seine letzte Ruhe endlich fand, wie er es sich erbeten hatte, neben seinen Hunden.
Kann es nicht wirklich beurteilen, meine Eltern leben noch, meine Frau wird mich aller Vermutung nach lange überleben und auch meine Tochter ist zum Glück guter Dinge und so spreche ich zum Thema vermutlich ahnungslos, zumindest wie Betroffene es sagen, die meinen, das Einmalige des Verlustes müsste erlitten werden, um es nachempfinden zu können.
Einer meiner früher besten Freunde starb 6 Jahre nachdem ich aus seiner Nachbarschaft weggezogen und der Kontakt abgebrochen war an Drogen, wohl ohne die Absicht dazu - Gerüchte besagen die Söhne des örtlichen Pfarrers hätte ihm unreinen Stoff angedreht, um mehr zu verdienen und so seinen Tod verursacht. Was daran war, habe ich nie weiter verfolgt, obwohl ich die Söhne des damaligen Pfarrers auch relativ gut noch kannte. Gab mich auf der Beerdigung pflichtschuldigst betroffen, schüttelte seiner Mutter die Hand und drückte seine zugegeben sehr zarte und süße Freundin. Ansonsten tangierte mich dieser Todesfall nicht sonderlich, der mitten in mein schriftliches Abitur fiel.
Glaube meine Mutter, die ja nur wenige Jahre davor beinah ihren Sohn auf der Straße verloren hatte, nahm sich die Sache mehr zu Herzen als ich, dessen früher bester Freund nun nicht mehr war.
War ich herzlos, weil mich der Tod nicht tangierte, ich dachte, er hat sich dafür entschieden und also ist es seine Sache?
Hatte zu diesem Zeitpunkt schon viele Menschen sterben sehen - zuerst bei der Freiwilligen Feuerwehr und beim Rettungsdienst, meist auf der Straße aber auch kilometerlang Leichenteile von den Schienen gesammelt oder einen Bekannten mit gespaltenem Schädel an einer Hauswand verenden sehen, nachdem er ohne Helm durch die Hauptstraße meines Wohnorts mit seinem bekanntermaßen verrückt frisierten Moped gerast war, tote Kinder, leicht angekohlt liegen sehen, die gerade die Kollegen mit Atemschutz aus dem brennenden Haus geholt hatten, später auch in der Krebsbaracke, in der ich arbeitete und in der eben die Raucher irgendwann starben, wenn nichts mehr ging, was meist nur eine Frage der Zeit war.
Der Tod war für mich normal und den Toten wurde eben der Kiefer hochgebunden und um den Rest kümmerten sich Bestatter. Nach meinem Gefühl könnten Tote auch wie Restmüll entsorgt werden, nachdem die Medizin das ihrerseits noch mögliche oder nötige mit ihnen gemacht hat - von der Entnahme von Organen aus dem noch warmen Körper bis zur Verwendung des Leichnams für anatomische Schulungen.
Mag dennoch Beerdigungen und die Stimmung auf Friedhöfen, finde ich herrlich ruhig und besinnlich aber das ist eine rein ästhetische Bemerkung ohne jeden philosophischen Bezug. Sehe es eher als einen feierlichen Abschied, der den würdigt, der war und nicht mehr ist.
Es mag so etwas jeder so ausgestalten, wie es ihm gefällt aber nach meiner Überzeugung ist die Organisation von Beerdigungen und der ganze damit verbundene Aufwand noch die beste Ablenkung für Trauernde und da wir uns mit dem Nichts ohnehin nicht auseinandersetzen können, weil es nicht mehr ist, aber viele Gewohnheiten sonst zur hemmungslosen Trauer verführen, ist die Ablenkung womöglich das Beste, was uns in diesem Moment passieren kann. Sie beschäftigt mit überflüssigen Dingen und Organisation und wir haben wenig Zeit, uns der Trauer und Einsamkeit hinzugeben, die Menschen nur schnell auf zu dumme Gedanken bringt.
Diese rein praktische Erwägung, die für die Beibehaltung der nervigen Organisation und der Gewohnheiten spricht, statt Leichen einfach wie Restmüll zu entsorgen, wofür mehr spricht als sie in der Erde langsam verfaulen zu lassen, ändert nichts an der Frage, ob Trauer überhaupt eine angemessene Reaktion auf den Tod ist.
Sicher fehlt etwas, wenn ein naher Mensch plötzlich nicht mehr da ist. Fraglich nur, ob sich durch Trauer daran etwas ändert und Leiden in so einer Situation irgendetwas bringt.
Viele Menschen, mit denen ich darüber sprach, meinten es sei eine ganz natürliche Reaktion, zu trauern und wer dies nicht tue, habe eben kein Gefühl, sei kalt und eher unmenschlich.
Fand mich nie kalt oder gefühllos, eher im Gegenteil neige ich mehr zum Überschwang des Gefühls und großer Euphorie. Dennoch fand ich den Tod nie schlimm als solches und plädierte schon immer eher für Ablenkung, um sich nicht mit Dingen aueinandersetzen zu müssen, die wir nicht ändern können.
Was nicht mehr ist, geht uns nichts mehr an und hedonistisch betrachtet geht es darum, sein Leben so gut und schön wie möglich zu verbringen. Finde es gut, Menschen, mit denen wir ein Leben teilten und die uns wichtig waren, zu würdigen, wie ich es mit meiner Familie immer mehr in Worten auch versuche. Damit freue ich mich, über das was war und gedenke den bereits Verstorbenen auf konstruktive Art und Weise, schreibe ihre Geschichte in meinen Geschichten fort. Was von uns bleibt, ist die Erinnerung derer, die uns kannten und irgendwann vielleicht derer, die uns lesen werden, mehr ist es nicht und das gibt auch eine gewisse Leichtigkeit, die geradezu fliegen lässt.
Das Nichts wiegt nichts und auch das lässt mich sorglos mit dem umgehen, was kommt - von nichts kommt nichts und so geht es mich eben auch nichts an - insofern hatte Epikur völlig Recht und nicht Trauer ist unsere Natur sondern auch das ist nur eine Konvention, der wir uns mehr oder weniger bereitwillig hingeben. Meine Natur strebt nach Lust und Befriedigung und zwar mag es Menschen geben, denen Leid eine solche verschafft, die mögen sich daran nach ihrem Gefühl ergötzen, ich persönlich, ziehe es vor, nicht zu leiden und strebe danach und so halte ich es auch mit dem Tod und dem Andenken Verstorbener, die ich gerne mit Worten voller Freude ehre.
jens tuengerthal 3.8.2017
Lesereisen
Reisen oder Lesen - ist das eine Alternative und worauf kommt es an?
Früher las ich von den Reisen und Abenteuern anderer, um sie später einmal selbst zu erleben - träumte davon durch die Welt zu ziehen, hatte eine Weltkarte an der Welt hängen, die mir mein Patenonkel mit den Worten, die sei sein Lieblingsbuch, geschenkt hatte. Wenn ich groß war, wollte ich die Welt erobern und mehr noch als meine Onkels alle, die schon viele Orte der Welt kannten und wilde Abenteuer erlebten - von der beinahe Erschießung des einen im revolutionären Nordafrika auf seiner Fahrradtour dort, bis zur abgefrorenen Fingerkuppe des anderen auf dem Mount McKinley in Alaska.
Natürlich würde ich auch den Kilimanjaro besteigen wie einer von ihnen auf den Spuren Hemingways, demgemäß er auch irgendein gehörntes Tier in Afrika schoss, was nun sein Treppenhaus ziert, auch wenn ich das innerlich schon irgendwie bedenklich fand, schienen diese Beweise seiner Männlichkeit und Potenz, ihn glücklich zu machen. Bevorzugte da schon immer andere. Wollte auch wie mein Vater nach Machu Picchu reisen durch den Urwald und im Roten Meer tauchen wie er, aber noch größere Abenteuer als alle erleben - etwa die alte Seidenstraße ganz mit dem Fahrrad abfahren oder von Pol zu Pol wandern und ich las die entsprechenden Reiseberichte vom Dach der Welt, bis in tiefste Höhlen, von Humboldt über Harrer bis Hedin und auch Forster begeisterte mich auf seiner großen Seereise mit Cook.
Wusste zwar, dass ich dabei seekrank vermutlich würde, der Genuss eher bescheiden wäre, warum ich irgendwann statt der großen Seereise und dem Abenteuer auf dem Meer mir die Radtour oder die mit dem Camper auf der Seidenstraße und durch den Hindukusch nach Indien vornahm, dennoch schien mir die Lust auf Abenteuer und Reise ganz natürlich und ein Bedürfnis meines Daseins als Mann. Was wäre ich auch für ein Weichei, wenn ich nicht den Onkels und dem Vater nacheiferte und sie zumindest in dem, was sie schon taten, übertraf.
Die Arktis und ihr Gegenpol sowie Grönland oder die Nordwestpassage waren noch unberührt von der Familie und so fand ich dort das Ziel meiner Träume - dort war es ziemlich kühl und ich müsste nicht ständig schwitzen, was schon eine sehr angenehme Vorstellung für den künftigen Abenteurer war. Nansens Reiseberichte lasen sich gut, lassen wir mal beiseite, dass er sich mit einem Segelboot, dem eisigen Norden näherte, um sich dort einfrieren zu lassen. Aber eingefroren, also still liegend, mochte ich Schiffe auch gern - vorher überließ ich sie lieber anderen oder las nur davon, wie auf Travens Totenschiff, was mich an jegliche meiner Schiffserfahrungen erinnerte. Was mir meine Liebe zur einer Seefrau, die als Kapitänin und Offizierin die Weltmeere befuhr, noch bestätigte. Es lohne sich nicht, sich den Unbill des Meeres auszusetzen, es war unbequem, unnötig gefährlich und hatte keinen Gewinn als die unbequeme Zeit überstanden zu haben - verständlicherweise, verstand ich mich mit der Kapitänin, wenn sie an Land war nie wirklich und so ließ ich das Kapitel bald glücklich befreit hinter mir. Sie war eine ewig Reisende, ich wollte es nie sein.
Eigentlich, wenn ich ganz ehrlich war, wäre ich lieber untergegangen, als länger auf einem schaukelnden Schiff mit der ständigen Übelkeit zu leben. War ich nun ein Weichei, das nicht zum Abenteuer taugte?
Die Onkels kletterten noch mit über 70 auf die hohen Masten der Segelschiffe auf denen sie ihre Touren buchten, während ich eigentlich genau wusste, bevor ich einen Cent für eine solche Reise ausgab, investierte ich lieber alles Geld in Bücher, die mich vollkommen glücklich machten, die ich auf einem bequemen Stuhl im Café lesen konnte, oder auch bei feinstem Tee in meinem Lesesessel, vollkommen glücklich und relativ ungestört.
Es dauerte lange, bis ich mir eingestand - Reisen ist nicht meins und interessiert mich nicht, wird aus meiner Sicht völlig überschätzt und sollte besser von allen, die das Leben genießen wollen, gemieden werden. Erst schob ich ökologische Gründe vor, die gegen Flugreisen sprachen und überhaupt sei der Massentourismus eher schädlich als lohnend. Wollte nirgendwo hinfahren, sondern war in meinem Berlin mit seinen vielen Dörfern und Museen eigentlich vollkommen glücklich, erwartete nichts anderes mehr vom Leben als schöne Bücher und das immer wieder Abenteuer, sie zu lesen, lebte eher in geistigen Welten, als das mich reale Abenteuer, sehen wir von denen in Lust und Liebe mal ab, für die aber keiner Berlin verlassen muss, noch irgend reizen konnten.
Sicher genoss ich es mal am Meer oder einem schönen See zu sitzen, sehe ich von den lästigen Mücken oder Ameisen ab und ignoriere ich die vielen anderen, die es an schönen Stränden eben auch schön finden. Aber der Gipfel des Genusses blieb doch immer mein Lesesessel, die heimische Bibliothek oder das Café um die Ecke und all dies war ohne Aufwand zu erreichen.
Kalkulierte ich kurz, was mir die Weigerung zu Reisen ersparte, wie minimal mein Aufwand zum vollkommenen Glück war, fragte ich mich ernsthaft, warum Menschen es sich antaten, in und durch die Welt zu reisen, sich mit seltsamem Essen, den Magen zu verderben, statt ruhig zu genießen, wo sie waren.
Das Bedürfnis in die Heimat zu reisen, ist mir relativ fremd, da ich eine solche nicht habe - fühle, wenn ich in Bremen bin, wo ich ja nur mein erstes Jahr verbrachte, etwas, was andere wohl heimatlich nennen - aber solange ich dort nur zu Besuch bin, frage ich mich, wozu ich mich abhetzen soll, um eine Reise dorthin zu unternehmen. Mit dem Wohnort meiner Eltern in der sonnigen Kurpfalz verbinde ich inzwischen eine hohe Vertrautheit, leben sie doch schon seit über 30 Jahren dort, habe ich da auch einen Teil meiner Jugend verbracht, in der Nähe studiert und doch blieb es mir immer auch fremd, klingt der dortige Dialekt für mich eher unbeholfen und amüsant als schön, was ich, seltsam genug, bei der vertrauten norddeutschen Aussprache empfinde, die mir Vertrauen einflößt und ohne Gründe Seriosität vermittelt, was an meiner Mutter und ihrer Herkunft von da wohl liegen kann, wozu Thomas Mann in den Buddenbrooks seinen Teil beitrug.
Für Frankfurt am Main, wo ich 15 Jahre lang lebte und aufwuchs, wie Goethe es einst tat, ohne mich dem Meister durch die zufällige lokale Nähe hier vergleichen zu wollen, empfinde ich mehr Heimatgefühl etwa als für Heidelberg, dieses museale von Touristen durchströmte Kaff am Neckar, auch wenn mich die Erinnerung mit vielen meiner frühen Lieben dort und auch mit dem romantischen Schlosspark verbindet - vielleicht ist Heidelberg auch ein wenig zuviel - nett, traditionell aber nicht meine Welt, obwohl sie eine wunderbare Universitätsbibliothek mit zahlreichen bibliophilen Schätzen haben, fremdle ich dort mehr als in Weimar, wo ich nie lebte, aber mich sofort zuhause fühlte und mich auch relativ blind orientieren kann wie in Bremen, was allerdings in dem thüringischen Kleinstädtchen auch relativ leicht ist.
Reisen nach Weimar und Bremen, nötige Verwandtenbesuche im Süden oder Norden, vielleicht nochmal Frankfurt, um das mit heimatlichen Gefühlen verbundene Städel zu besuchen - ansonsten meide ich heute jede Reise und was für viele Menschen die schönste Zeit im Jahr ist, in der sie unter südlichen Sternbildern sich die Sonne auf die Haut brennen lassen oder vermeintlich wichtige Dinge anschauen, um die absoluten “musts” in ihrem Lebenskatalog abzuhaken, wäre für mich eher ein peinliches Grauen.
Früher gab es auf den Jahrmärkten Buden in denen sonderbare Menschen gezeigt wurden, häufig mit körperlichen und geistigen Behinderungen oder anderen Besonderheiten. An den Höfen gab es Narren, die sich in Schalknarren und Stocknarren teilten, erstere waren eigentlich klug, machten aber sich und die anderen humorvoll zum Narren, letztere dagegen waren Behinderte, deren außergewöhnliches Verhalten den anderen zum Amusement und Spott diente.
Schon Thomas Morus regte sich in einem Brief an Erasmus von Rotterdam über diese Form der Unterhaltung auf und beschrieb sein ideales Land Utopia so, dass diejenigen, die mit so niedriger Gesinnung andere verspotteten zum Gespött der Gesellschaft würden - sich böser Hohn nicht lohnte sondern verkehrte.
Zwar sind wir heute etwas politisch korrekter geworden, auch im Umgang mit Behinderten und anderen vom Durchschnitt abweichenden Eigenschaften oder Gewohnheiten, doch die Freude an der Schadenfreude ist auch medial noch weit verbreitet, wie etwa der früher Erfolg der üblen Sendung “Die versteckte Kamera” mit Kurt Felix und Paola belegen und bis heute aktuelle vergleichbare Sendungen im Unterklassenfernsehen.
Warum meine Großeltern, eigentlich gebildete Bremer Bürger, die auf ihre hanseatische Art und ihren großbürgerlichen Hintergrund viel mehr Wert legten als da war, sich an solchem Spott so erfreuen konnten und es nicht eher mit der vornehmeren Vision des Thomas Morus von Utopia hielten, ist mir bis heute ein Rätsel. Wer sich schadenfroh amüsiert, scheint mir immer eher unfein - wie es auch Kurfürst Georg Friedrich von Sachsen war, genannt der Weise, der Luther rettete und förderte, und der Karl V. einst unterlag, von dessen Hofnarr ich jüngst las, der obwohl ein Stocknarr in manchem weiser mir schien als seine seltsamen Herren, die sich auf Kosten anderer nur amüsierten.
Zurück in die Gegenwart - viel des heutigen Tourismus, der eine ganze Industrie am Laufen hält, scheint mir eine Popularisierung der früheren Idee vom Narren zu sein. Die Reisenden machen sich selbst zum Narren, nehmen Dinge auf sich, um etwas zu sehen, was sie bequem via Google von ihrem Sessel anschauen können, ohne die Unbill des Reisens zu erleiden, sich den Gefahren auszusetzen, die keinen Gewinn versprechen, als eitel darüber berichten zu können, was eher gegen den Charakter der Betreffenden spricht, als sie interessant zu machen, wie ich finde.
Höre ich, wenn der Sommer zu Ende geht, den Besuchern im Café länger zu und ihre Berichte über ihre Urlaubsabenteuer, fühle ich mich immer bestätigt, auf keinen Fall mehr wegzufahren, jedenfalls nicht mehr als unvermeidbar. An mir ginge die Tourismusindustrie sofort konkurs, während Verlage und feine Buchkunst expandierten.
Frage ich mich am Ende meines Lebens, was ich wovon hatte, kann ich zumindest sicher sagen, dass ich mehr zufriedene und ruhige Lebenszeit hatte als all die Reisenden, die mehr oder weniger hektisch durch die Welt eilen, um dagewesen zu sein und wieder weg zu gehen, statt irgendwo anzukommen und glücklich zu sein.
Kenne die Welt aus Büchern besser als von den Reisen, die ich früher leichtsinnig unternahm und mehr als zwischen zwei Buchdeckel passt, interessiert mich selten oder eher nie. So bin ich mit weniger zufrieden und glücklich, schade der Umwelt definitiv weniger als all die unsinnig Reisenden und fühle mich viel reicher dabei. Warum sollte ich an diese glücklichen Leben noch je etwas ändern und wofür?
jens tuengerthal 2.8.2017
Früher las ich von den Reisen und Abenteuern anderer, um sie später einmal selbst zu erleben - träumte davon durch die Welt zu ziehen, hatte eine Weltkarte an der Welt hängen, die mir mein Patenonkel mit den Worten, die sei sein Lieblingsbuch, geschenkt hatte. Wenn ich groß war, wollte ich die Welt erobern und mehr noch als meine Onkels alle, die schon viele Orte der Welt kannten und wilde Abenteuer erlebten - von der beinahe Erschießung des einen im revolutionären Nordafrika auf seiner Fahrradtour dort, bis zur abgefrorenen Fingerkuppe des anderen auf dem Mount McKinley in Alaska.
Natürlich würde ich auch den Kilimanjaro besteigen wie einer von ihnen auf den Spuren Hemingways, demgemäß er auch irgendein gehörntes Tier in Afrika schoss, was nun sein Treppenhaus ziert, auch wenn ich das innerlich schon irgendwie bedenklich fand, schienen diese Beweise seiner Männlichkeit und Potenz, ihn glücklich zu machen. Bevorzugte da schon immer andere. Wollte auch wie mein Vater nach Machu Picchu reisen durch den Urwald und im Roten Meer tauchen wie er, aber noch größere Abenteuer als alle erleben - etwa die alte Seidenstraße ganz mit dem Fahrrad abfahren oder von Pol zu Pol wandern und ich las die entsprechenden Reiseberichte vom Dach der Welt, bis in tiefste Höhlen, von Humboldt über Harrer bis Hedin und auch Forster begeisterte mich auf seiner großen Seereise mit Cook.
Wusste zwar, dass ich dabei seekrank vermutlich würde, der Genuss eher bescheiden wäre, warum ich irgendwann statt der großen Seereise und dem Abenteuer auf dem Meer mir die Radtour oder die mit dem Camper auf der Seidenstraße und durch den Hindukusch nach Indien vornahm, dennoch schien mir die Lust auf Abenteuer und Reise ganz natürlich und ein Bedürfnis meines Daseins als Mann. Was wäre ich auch für ein Weichei, wenn ich nicht den Onkels und dem Vater nacheiferte und sie zumindest in dem, was sie schon taten, übertraf.
Die Arktis und ihr Gegenpol sowie Grönland oder die Nordwestpassage waren noch unberührt von der Familie und so fand ich dort das Ziel meiner Träume - dort war es ziemlich kühl und ich müsste nicht ständig schwitzen, was schon eine sehr angenehme Vorstellung für den künftigen Abenteurer war. Nansens Reiseberichte lasen sich gut, lassen wir mal beiseite, dass er sich mit einem Segelboot, dem eisigen Norden näherte, um sich dort einfrieren zu lassen. Aber eingefroren, also still liegend, mochte ich Schiffe auch gern - vorher überließ ich sie lieber anderen oder las nur davon, wie auf Travens Totenschiff, was mich an jegliche meiner Schiffserfahrungen erinnerte. Was mir meine Liebe zur einer Seefrau, die als Kapitänin und Offizierin die Weltmeere befuhr, noch bestätigte. Es lohne sich nicht, sich den Unbill des Meeres auszusetzen, es war unbequem, unnötig gefährlich und hatte keinen Gewinn als die unbequeme Zeit überstanden zu haben - verständlicherweise, verstand ich mich mit der Kapitänin, wenn sie an Land war nie wirklich und so ließ ich das Kapitel bald glücklich befreit hinter mir. Sie war eine ewig Reisende, ich wollte es nie sein.
Eigentlich, wenn ich ganz ehrlich war, wäre ich lieber untergegangen, als länger auf einem schaukelnden Schiff mit der ständigen Übelkeit zu leben. War ich nun ein Weichei, das nicht zum Abenteuer taugte?
Die Onkels kletterten noch mit über 70 auf die hohen Masten der Segelschiffe auf denen sie ihre Touren buchten, während ich eigentlich genau wusste, bevor ich einen Cent für eine solche Reise ausgab, investierte ich lieber alles Geld in Bücher, die mich vollkommen glücklich machten, die ich auf einem bequemen Stuhl im Café lesen konnte, oder auch bei feinstem Tee in meinem Lesesessel, vollkommen glücklich und relativ ungestört.
Es dauerte lange, bis ich mir eingestand - Reisen ist nicht meins und interessiert mich nicht, wird aus meiner Sicht völlig überschätzt und sollte besser von allen, die das Leben genießen wollen, gemieden werden. Erst schob ich ökologische Gründe vor, die gegen Flugreisen sprachen und überhaupt sei der Massentourismus eher schädlich als lohnend. Wollte nirgendwo hinfahren, sondern war in meinem Berlin mit seinen vielen Dörfern und Museen eigentlich vollkommen glücklich, erwartete nichts anderes mehr vom Leben als schöne Bücher und das immer wieder Abenteuer, sie zu lesen, lebte eher in geistigen Welten, als das mich reale Abenteuer, sehen wir von denen in Lust und Liebe mal ab, für die aber keiner Berlin verlassen muss, noch irgend reizen konnten.
Sicher genoss ich es mal am Meer oder einem schönen See zu sitzen, sehe ich von den lästigen Mücken oder Ameisen ab und ignoriere ich die vielen anderen, die es an schönen Stränden eben auch schön finden. Aber der Gipfel des Genusses blieb doch immer mein Lesesessel, die heimische Bibliothek oder das Café um die Ecke und all dies war ohne Aufwand zu erreichen.
Kalkulierte ich kurz, was mir die Weigerung zu Reisen ersparte, wie minimal mein Aufwand zum vollkommenen Glück war, fragte ich mich ernsthaft, warum Menschen es sich antaten, in und durch die Welt zu reisen, sich mit seltsamem Essen, den Magen zu verderben, statt ruhig zu genießen, wo sie waren.
Das Bedürfnis in die Heimat zu reisen, ist mir relativ fremd, da ich eine solche nicht habe - fühle, wenn ich in Bremen bin, wo ich ja nur mein erstes Jahr verbrachte, etwas, was andere wohl heimatlich nennen - aber solange ich dort nur zu Besuch bin, frage ich mich, wozu ich mich abhetzen soll, um eine Reise dorthin zu unternehmen. Mit dem Wohnort meiner Eltern in der sonnigen Kurpfalz verbinde ich inzwischen eine hohe Vertrautheit, leben sie doch schon seit über 30 Jahren dort, habe ich da auch einen Teil meiner Jugend verbracht, in der Nähe studiert und doch blieb es mir immer auch fremd, klingt der dortige Dialekt für mich eher unbeholfen und amüsant als schön, was ich, seltsam genug, bei der vertrauten norddeutschen Aussprache empfinde, die mir Vertrauen einflößt und ohne Gründe Seriosität vermittelt, was an meiner Mutter und ihrer Herkunft von da wohl liegen kann, wozu Thomas Mann in den Buddenbrooks seinen Teil beitrug.
Für Frankfurt am Main, wo ich 15 Jahre lang lebte und aufwuchs, wie Goethe es einst tat, ohne mich dem Meister durch die zufällige lokale Nähe hier vergleichen zu wollen, empfinde ich mehr Heimatgefühl etwa als für Heidelberg, dieses museale von Touristen durchströmte Kaff am Neckar, auch wenn mich die Erinnerung mit vielen meiner frühen Lieben dort und auch mit dem romantischen Schlosspark verbindet - vielleicht ist Heidelberg auch ein wenig zuviel - nett, traditionell aber nicht meine Welt, obwohl sie eine wunderbare Universitätsbibliothek mit zahlreichen bibliophilen Schätzen haben, fremdle ich dort mehr als in Weimar, wo ich nie lebte, aber mich sofort zuhause fühlte und mich auch relativ blind orientieren kann wie in Bremen, was allerdings in dem thüringischen Kleinstädtchen auch relativ leicht ist.
Reisen nach Weimar und Bremen, nötige Verwandtenbesuche im Süden oder Norden, vielleicht nochmal Frankfurt, um das mit heimatlichen Gefühlen verbundene Städel zu besuchen - ansonsten meide ich heute jede Reise und was für viele Menschen die schönste Zeit im Jahr ist, in der sie unter südlichen Sternbildern sich die Sonne auf die Haut brennen lassen oder vermeintlich wichtige Dinge anschauen, um die absoluten “musts” in ihrem Lebenskatalog abzuhaken, wäre für mich eher ein peinliches Grauen.
Früher gab es auf den Jahrmärkten Buden in denen sonderbare Menschen gezeigt wurden, häufig mit körperlichen und geistigen Behinderungen oder anderen Besonderheiten. An den Höfen gab es Narren, die sich in Schalknarren und Stocknarren teilten, erstere waren eigentlich klug, machten aber sich und die anderen humorvoll zum Narren, letztere dagegen waren Behinderte, deren außergewöhnliches Verhalten den anderen zum Amusement und Spott diente.
Schon Thomas Morus regte sich in einem Brief an Erasmus von Rotterdam über diese Form der Unterhaltung auf und beschrieb sein ideales Land Utopia so, dass diejenigen, die mit so niedriger Gesinnung andere verspotteten zum Gespött der Gesellschaft würden - sich böser Hohn nicht lohnte sondern verkehrte.
Zwar sind wir heute etwas politisch korrekter geworden, auch im Umgang mit Behinderten und anderen vom Durchschnitt abweichenden Eigenschaften oder Gewohnheiten, doch die Freude an der Schadenfreude ist auch medial noch weit verbreitet, wie etwa der früher Erfolg der üblen Sendung “Die versteckte Kamera” mit Kurt Felix und Paola belegen und bis heute aktuelle vergleichbare Sendungen im Unterklassenfernsehen.
Warum meine Großeltern, eigentlich gebildete Bremer Bürger, die auf ihre hanseatische Art und ihren großbürgerlichen Hintergrund viel mehr Wert legten als da war, sich an solchem Spott so erfreuen konnten und es nicht eher mit der vornehmeren Vision des Thomas Morus von Utopia hielten, ist mir bis heute ein Rätsel. Wer sich schadenfroh amüsiert, scheint mir immer eher unfein - wie es auch Kurfürst Georg Friedrich von Sachsen war, genannt der Weise, der Luther rettete und förderte, und der Karl V. einst unterlag, von dessen Hofnarr ich jüngst las, der obwohl ein Stocknarr in manchem weiser mir schien als seine seltsamen Herren, die sich auf Kosten anderer nur amüsierten.
Zurück in die Gegenwart - viel des heutigen Tourismus, der eine ganze Industrie am Laufen hält, scheint mir eine Popularisierung der früheren Idee vom Narren zu sein. Die Reisenden machen sich selbst zum Narren, nehmen Dinge auf sich, um etwas zu sehen, was sie bequem via Google von ihrem Sessel anschauen können, ohne die Unbill des Reisens zu erleiden, sich den Gefahren auszusetzen, die keinen Gewinn versprechen, als eitel darüber berichten zu können, was eher gegen den Charakter der Betreffenden spricht, als sie interessant zu machen, wie ich finde.
Höre ich, wenn der Sommer zu Ende geht, den Besuchern im Café länger zu und ihre Berichte über ihre Urlaubsabenteuer, fühle ich mich immer bestätigt, auf keinen Fall mehr wegzufahren, jedenfalls nicht mehr als unvermeidbar. An mir ginge die Tourismusindustrie sofort konkurs, während Verlage und feine Buchkunst expandierten.
Frage ich mich am Ende meines Lebens, was ich wovon hatte, kann ich zumindest sicher sagen, dass ich mehr zufriedene und ruhige Lebenszeit hatte als all die Reisenden, die mehr oder weniger hektisch durch die Welt eilen, um dagewesen zu sein und wieder weg zu gehen, statt irgendwo anzukommen und glücklich zu sein.
Kenne die Welt aus Büchern besser als von den Reisen, die ich früher leichtsinnig unternahm und mehr als zwischen zwei Buchdeckel passt, interessiert mich selten oder eher nie. So bin ich mit weniger zufrieden und glücklich, schade der Umwelt definitiv weniger als all die unsinnig Reisenden und fühle mich viel reicher dabei. Warum sollte ich an diese glücklichen Leben noch je etwas ändern und wofür?
jens tuengerthal 2.8.2017
Dienstag, 1. August 2017
Lesekult
Warum Lesen Kult ist und die Kultur trägt
Lesen ist wunderbar und der vielleicht wichtigste Teil unserer Kultur, jedenfalls derjenige, der unser Wissen weitergibt und seit Generationen trägt. Dies beginnt in der Kindheit, in der wir hoffentlich das Glück haben, vorgelesen zu bekommen, geht mit den ersten eigenen Leseabenteuern weiter, die uns an fremde oder phantastische Orte führen können oder uns auch bei der langen Reise zu uns selbst helfen.
Ist es wichtig, was wir lesen oder genügt, dass wir lesen?
Über Jahrhunderte ist eine literarische Kultur gewachsen, in der Autoren Bücher für verschiedenste Leser produzierten und auch wenn mir die allermeisten Bestseller eher fern liegen, meine Leidenschaft eher bei Geschichte, Thomas Mann oder der Weimarer Klassik liegt, würde ich mir nie ein Urteil über die Konsumenten der Massenprodukte erlauben, sehe ich uns Leser vielmehr durch das unsichtbare Band der geistigen Welten verbunden. Menschen, die lesen, leben in der Welt der Buchstaben und lassen sich von Geschichten fesseln.
Bin noch mit Büchern aufgewachsen, hatte keine elektronischen Spielzeuge, sehen wir von meiner elektrischen Eisenbahn einmal ab und auch wenn mich das in meiner Kindheit manchmal nervte, ich neidvoll auf meine Freunde schaute, die sagenhafte Commodore Computer zum Spielen hatten, auf denen wir pubertären Knaben dann so aufregende Dinge wie Strippoker spielten, in einer Zeit als noch keiner ans Internet dachte, bin ich froh, mit Büchern aufgewachsen zu sein, sie früh lieben gelernt zu haben.
Heute, wo ich eine bescheidene, kleine Bibliothek mein eigen nennen kann, habe ich damit die ganze Welt an einem Ort, muss nirgendwo hin, um als Leser glücklich zu sein. Weniger große Reisen reizen mich heute, als Zeit und Muße zum Lesen zu haben, mir Lesezeit zu nehmen, neben dem ganzen Schreiben.
Frage mich manchmal, ob es nicht wichtiger wäre und viel schöner, sich mehr Zeit zum Lesen zu nehmen, statt selbst noch zur Flut des Geschriebenen beizutragen, um Leser am Markt zu buhlen, und habe keine vernünftige Antwort darauf gefunden. Die Vorstellung nur zu lesen, ist einfach herrlich. Beim Tee in meinem Sessel oder im Café um die Ecke, hätte ich dann alles, was ich bräuchte und könnte damit vollkommen glücklich leben in literarischen Welten.
Wird es mir zu warm, besuche ich Manns Hans Castorp auf dem Zauberberg oder reise mit Nansen zum Pol. Ist es mir zu kalt und grau, lese ich ein wenig Humboldt oder Forster aus Südamerika und Südsee. Bin ich traurig, lese ich heiteres oder, immer beruhigend, historisches. Es gibt Bücher für jede Stimmung und sollte mir weniger nach schwerer Lektüre sein, sind auch Comics ein schöner Trost mit ihren reichen Bilderwelten.
Es gibt, völlig unterschiedliche Arten zu lesen, ist mir aufgefallen. Einer meiner literarischen Freunde, der selbst sehr belesen ist, auch seine Leidenschaft gilt neben den nackten Frauen der schöngeistigen Literatur, die er gerne im Café pflegt, liest stets mit einem Stift in der Hand, um die Bücher zu kommentieren oder zu exzerpieren. Wenn er sie dann einmal gelesen hat, muss er sich künftig nur noch durch seine Randbemerkungen und Kommentare lesen, um schnell zum Kern zu finden.
Es läge mir fern und täte mir fast körperlich weh in meine geliebten Bücher zu schreiben, ich fände den Vorgang des Lesens durch seine Kommentierungen und Zusammenfassungen ärgerlich gestört. Eigentlich nie, lese ich mit einem Stift in der Hand, außer ich muss ein Buch rezensieren und auch dann tippe ich meine Gedanken lieber gleich ein, den Vorgang des Lesens kurz unterbrechend. Liebe schöne und seltene Ausgaben besonders bibliophiler Bücher, auch wenn ich gelegentlich nichts gegen die elektronische Lektüre habe, die es mir zumindest ermöglicht, eine große Bibliothek stets bei mir zu tragen.
Andere verschlingen ausschließlich Romane, tauchen in deren Welten glücklich ein und erst nach der letzten Seite wieder auf, um sie dann mit dem nächsten Buch, wieder zu vergessen, weil sie ein neues Leseabenteuer erwartet. Ihre Ansprüche sind oft niedriger und sie können mit vielem glücklich sein.
So hatte ich einmal eine Geliebte, die sogar die literarisch grauenvollen Shades of Grey von der ersten bis zur letzten Seite voller Begeisterung verschlang, aber auch im gleichen Moment und auf gleicher Ebene für Goethe, E.T.A. Hoffmann oder Rilke schwärmen konnte oder Karl May, sogar meine Lyrik liebte, weil sie eben nicht wählerisch war. Sie liebte es, zu lesen und verschlang die Bücher förmlich, betrachtete meine Bücher mit viel Zärtlichkeit aber vermutlich hätte sie diese genauso angeschaut, wenn dort Fantasy Romane oder schwülstige Erotikgeschichten gestanden hätten. Sie musste nicht differenzieren, um glücklich zu sein und war literarisch leicht zu befriedigen.
Eigentlich ein glücklicheres Leben als meines oder das meines Freundes, die wir uns nie unter ein bestimmtes literarisches Niveau begeben wollen, denke ich inzwischen manchmal und beneide sie dennoch nicht, weil ich gerne auf meinem Niveau glücklich bin und weiß, es gibt auch dort noch unendlich große Welten zu entdecken.
Wäre es arrogant, sich so über die eine oder ander Literatur oder Leidenschaft zu erheben oder gilt auch hier das berühmte suum cuique?
Wer sich erhaben fühlt, nur weil er Bücher liest, die bloß ein kleineres Publikum begeistern, tut mir eher leid. Andererseits ertappe ich mich oft genug selbst bei diesem Denken, wie bei der obigen Bemerkung zu der von vielen Frauen geliebten Erotik-Trilogie Shades of Grey, die ich schlicht unlesbar fand. Nicht aus moralischen Gründen, sondern weil sie so durchschaubar flach und schlecht ist. Zumindest auf den wenigen Seiten, die ich las und nach denen klar war, ich würde nie Zeit aufwenden, dieses Zeug zu lesen, oder gar darüber zu schreiben, außer um darüber zu lästern, was auch schon zuviel des Guten ist.
Ähnlich geht es mir mit den meisten Fantasy Büchern oder Krimis und ich wüsste nicht, warum ich solchen Werken Platz in meiner Bibliothek einräumen sollte. Was nicht heißen soll, dass all diese Bücher gleich schlecht sind - aber ich habe auch den Herren der Ringe irgendwann einfach weggelegt, weil ich ihn literarisch zu langweilig und durchschaubar fand, er mich anödete. In Jugendzeiten noch, als die meisten meiner Freunde dies Werk lasen und davon schwärmten, konnte ich mich nicht dafür erwärmen, es überhaupt zu versuchen. Als ich später mal irgendwo günstig eine gebundene Ausgabe dieses Klassikers erstand, dachte ich, nun wäre es an der Zeit und ich wollte mich von diesem viel umschwärmten Werk gut unterhalten lassen, was aber irgendwann zwischen verschiedenen Kämpfen scheiterte.
Nicht mehr aufhören konnte ich dagegen mit den Buddenbrooks oder dem Zauberberg, die mich völlig in ihre vertraute Welt hineinzogen, was ich bei Tolstoi ähnlich empfand, während mich Dostojewski eher befremdete in Teilen, ganz anders als ein Michel de Montaigne, der so viel älter schon ist und doch so nah und vertraut mir bei jeder Lektüre klingt, dass ich mich dadurch so bereichert fühlte, als müsste es nichts als eine Welt aus Büchern geben und wollte ich mich auch in meinen Turm zurückziehen.
Kant, den ich zwischen all seinem philosophischen Formalismus immer grinsen sehe, weil er seiner Gesellschaft den Spiegel vorhielt, alles was sie ausmachte grundsätzlich in Frage stellte in seinen Kritiken, die kaum einer, mich eingeschlossen, vermutlich ganz verstand und die doch so menschlich anarchisch hinter allem Formalismus sind. Wie ein preußischer Philosophieprofessor in seinem Kopf die Welt verkehrte, Moral umkehrte, die vorher immer autoritär durch höhere Gesetze begründet wurde und nun plötzlich im Gewissen des Einzelnen allein sitzen sollte, amüsierte mich sofort.
Habe vermutlich weniger von Kant gelesen, als ich sollte, wenn ich so über ihn schreibe und doch habe ich das Gefühl der Sicherheit bei ihm und sehe immer auch den Schalk, der ihn trieb, mit dem er auf seine Art alles infrage stellte, worüber sich nur keiner erregte, weil kaum einer ihm ganz folgte und seine Gedanken konsequent zu Ende dachte und wenn es doch einer tat, berief sich der Königsberger darauf, er sei doch ein treuer preußischer Beamter und habe sich nichts vorzuwerfen, und rein logisch hat ihn bis heute keiner korrigieren, verbessern oder erweitern können - die Anmaßung des Schwaben Hegel brachte nur mehr Formalismus hervor, zeugte aber nur davon, wie wenig er Kant im Kern verstand, würde ich sagen, ohne mir eigentlich ein Urteil erlauben zu können.
Habe die vielleicht schlechte Angewohnheit immer stapelweise Bücher auf einmal zu lesen und immer dasjenige von demjenigen Stapel zu nehmen, was mir gerade emotional am nächsten liegt. Lese dennoch die meisten Bücher irgendwann zu Ende, nur habe ich keine Eile damit. Wozu auch?
Ist ein Buch ausgelesen, ist es ausgelesen und zu Ende, gibt es kein zweites erstes mal mehr, nur schöne Momente wiederholter Lektüre falls es sich lohnt - doch außer im Zauberberg und den Buddenbrooks sowie Montaignes Essays, lese ich sehr, sehr wenig noch mal. Habe Bücher, die ich einmal las, im Kopf und so wie ich Bücher auch monate- oder jahrelang zwischenparken kann, bis ich sie weiterlese und dann sofort wieder in die Geschichte hineinfinde oder das Buch besser vergesse, so muss ich eher nichts wiederholen, weil sich das Erlebnis der literarischen Defloration nicht wiederholen lässt.
Bücher wie der Zauberberg, die Buddenbrooks oder der Wilhelm Meister auch, die Welten schaffen, in sie mitnehmen, gleichen bei erneuter Lektüre eher dem Besuch bei alten Bekannten. Manchmal entdecke ich dann sogar eine Eigenschaft, die ich vorher noch nicht kannte, sehe mit neuem, erweiterten Blick auch Dinge, die mir nie aufgefallen waren, doch wie beim Besuch bei Freunden, die wir ja auch darum eigentlich wählen, schätze ich nur die Wiederholung an sich, geht es um nichts neues sondern eher das Eintauchen in eine vertraute Welt, in der ich mich durch die Gewohnheit Zuhause fühle - nur gibt es außer Mann und Goethe sehr, sehr wenige, die mich dazu bisher verführen könnten, doch habe ich Hoffnung, sollte ich so lange leben, dass mein Gedächtnis irgendwann nachlässt wie bei meinen Großeltern und mir eigentlich bekanntes plötzlich ganz neu vorkommt und ich so alles noch einmal lesen kann.
Sollte es so kommen, bestätigte es meine Vermutung, dass wir, je älter wir werden, desto weniger brauchen und auch mit längst bekanntem, zufrieden und glücklich sein können. Einzig die parallele Lektüre so vieler Bücher muss ich mir dann im Alter wohl abgewöhnen, weil ich sonst mit jedem stets wieder von vorne beginnen müsste und nie zu einem Ende käme, was angesichts der natürlichen Endlichkeit unseres Lebens ein relativ unbefriedigendes Leseergebnis haben könnte, wenn es um Ergebnisse ginge und ich Bücher abhaken wollte wie Aufgaben, um auch das einmal gelesen zu haben.
Da mir jedoch nichts ferner liegt, ich mich eher daran freue, mir Zeit zu lassen und in Ruhe zu genießen, finde ich die Vorstellung mich erwartender Vergesslichkeit nicht schlimm sondern freue mich dann noch mehr am täglich wieder neuen, was ich erleben darf. Bin neugierig, wie weit das gehen wird und was es aus mir als Leser macht, sollte mir ein so hohes Alter tatsächlich vergönnt sein, könnte es auch wunderbar sein, sich jeden Tag an wenigen, hundertmal gelesenen Seiten, aus dem Zauberberg oder den Buddenbrooks zu erfreuen.
Ist Lesen Kult, weil es uns in andere Welten jenseits der nur Wirklichkeit holt?
Dann wäre Lesen nur eine Art Flucht vor der Wirklichkeit, für die es sicher der Gründe genug gibt. Frage mich jedoch, ob es wirklich um Flucht dabei geht oder nicht vielmehr das Streben nach einer schöneren parallelen Realität, die für jeden Leser sehr viel wirklicher ist als die graue Wirklichkeit jenseits der Lektüre.
Genieße Lust und Liebe in der Realität mit meiner wunderbaren Liebsten sehr und doch würde ich die literarische Parallelwelt nie für egal was oder wen aufgeben, sondern genieße beide eben parallel oder noch besser kombiniert, sich austauschend. Glücklich wer sich auf geistiger und körperlicher Ebene findet und austauschen kann und so eine Art Multikulti der Parallelwelten miteinander teilen kann und so nenne ich mich glücklich in allem.
Parallelwelten werden im üblichen, politischen Sprachgebrauch eher abwertend verstanden und meinen dort die Problematik, die sich ergibt, wenn Migranten wie abgeschlossen in ihrer eigenen Kultur in einer eben Parallelwelt leben, die neben der Kultur der Mehrheit existiert und mit dieser in manchem schwer kompatibel scheint. Diese Folge fehlender Integration ist in der Bundesrepublik in manchem sichtbar. Weniger jedoch als in den USA wo sich ebenfalls ganze Kulturen ihre eigenen Stadtbereiche gestaltet haben, die sich von der herrschenden in vielem unterscheiden und wo diese Orte eher als einheimische Folklore wahrgenommen werden, aber auch engstirnige Menschen immer wieder in Angst und Schrecken versetzen.
Wenn ich nur eine Straße von meinem Bezirk Prenzlauer Berg überquere, lande ich in der Parallelwelt des Wedding und genieße das andere. In Berlin funktioniert gut, was andere Teile des Landes, um ihre homogenen Gewohnheiten fürchtend, als politischen Schrecken an die Wand malen, doch sind diese politischen Messerstechereien von der rechten Seite in diesem Fall kein Thema, wo es um die jedem Leser bekannten literarischen Parallelwelten geht.
Diese schaffen einen Kulturraum, der für den Leser real ist und in dem wir Leser oftmals glücklicher leben als in der nur Realität, die viele für die einzige Wirklichkeit halten, doch wie wirklich die Wirklichkeit ist, fragte schon Watzlawick einst, um uns auf die Relativität der Wahrnehmung aufmerksam zu machen, die ein toleranteres Miteinander ermöglicht. Wer selbst merkt, wie er lesend immer wieder in Parallelwelten eintaucht, wird auch in der Realität mit diesem Nebeneinander weniger Probleme haben und glücklich mit dem sein, was alles sein kann.
So gesehen hat es auch mit der politischen Kultur der Toleranz zu tun, Lesen zum Kult zu erheben und so nicht nur die eigene Kultur weiterzugeben, sondern auch viel über andere zu lernen, für die offen zu sein, einfach schön sein kann, literarisch betrachtet und gelebt. Als Bewohner der literarischen Parallelwelt, der sich in der realen nur manchmal mehr oder weniger gut zurecht findet, schlechter jedenfalls als bei der parallelen Lektüre, kann ich diesen Weg nur empfehlen, um sich überall in seinen Büchern zuhause zu fühlen.
Die Weitergabe der Kultur erfolgt beim Lesen von allein und es ist dabei erstmal egal, was lesen lässt, solange überhaupt gelesen wird - Niveau und Geist muss jeder für sich und seiner Art entsprechend entdecken - Hauptsache es wird mit Lust und Leidenschaft mit dem Lesen begonnen, statt sich nur berieseln zu lassen, etwa vom Fernsehen oder an Rechnern, wie es die werten Leser wohl gerade tun, sich in sozialen Netzwerken zu verlieren.
Es spricht nichts gegen elektronische Lektüre und der Kindle am Strand leidet weniger als viele Bücher - wer wie ich gerne besonders schöne Bücher liest, wird sich an den unempfindlichen elektronischen Lesegeräten sehr freuen können - so habe ich auf meinem Telefon, egal wo ich gerade bin, immer eine ganze Bibliothek dabei von Fontane bis zu Kesslers Tagebüchern und kann dies bei jedem Licht lesen, was in Sommern vorm Café oder an der See nicht zu unterschätzen ist.
Solange wir lesen, ist alles gut und wir können uns je nach Wunsch und Lektüre jederzeit in die beste aller Parallelwelten begeben, um es zu genießen und um was als Genuss sollte es sonst in unserem je nach Betrachtung kurzen oder langen Leben gehen?
Habe Mut zu genießen und in deiner Parallelwelt glücklich zu leben, wenn du es kannst - falls nicht, suche danach, was die richtige Lektüre ist, die mitnimmt und entführt - was schöneres könnte es geben?
jens tuengerthal 1.8.2017
Lesen ist wunderbar und der vielleicht wichtigste Teil unserer Kultur, jedenfalls derjenige, der unser Wissen weitergibt und seit Generationen trägt. Dies beginnt in der Kindheit, in der wir hoffentlich das Glück haben, vorgelesen zu bekommen, geht mit den ersten eigenen Leseabenteuern weiter, die uns an fremde oder phantastische Orte führen können oder uns auch bei der langen Reise zu uns selbst helfen.
Ist es wichtig, was wir lesen oder genügt, dass wir lesen?
Über Jahrhunderte ist eine literarische Kultur gewachsen, in der Autoren Bücher für verschiedenste Leser produzierten und auch wenn mir die allermeisten Bestseller eher fern liegen, meine Leidenschaft eher bei Geschichte, Thomas Mann oder der Weimarer Klassik liegt, würde ich mir nie ein Urteil über die Konsumenten der Massenprodukte erlauben, sehe ich uns Leser vielmehr durch das unsichtbare Band der geistigen Welten verbunden. Menschen, die lesen, leben in der Welt der Buchstaben und lassen sich von Geschichten fesseln.
Bin noch mit Büchern aufgewachsen, hatte keine elektronischen Spielzeuge, sehen wir von meiner elektrischen Eisenbahn einmal ab und auch wenn mich das in meiner Kindheit manchmal nervte, ich neidvoll auf meine Freunde schaute, die sagenhafte Commodore Computer zum Spielen hatten, auf denen wir pubertären Knaben dann so aufregende Dinge wie Strippoker spielten, in einer Zeit als noch keiner ans Internet dachte, bin ich froh, mit Büchern aufgewachsen zu sein, sie früh lieben gelernt zu haben.
Heute, wo ich eine bescheidene, kleine Bibliothek mein eigen nennen kann, habe ich damit die ganze Welt an einem Ort, muss nirgendwo hin, um als Leser glücklich zu sein. Weniger große Reisen reizen mich heute, als Zeit und Muße zum Lesen zu haben, mir Lesezeit zu nehmen, neben dem ganzen Schreiben.
Frage mich manchmal, ob es nicht wichtiger wäre und viel schöner, sich mehr Zeit zum Lesen zu nehmen, statt selbst noch zur Flut des Geschriebenen beizutragen, um Leser am Markt zu buhlen, und habe keine vernünftige Antwort darauf gefunden. Die Vorstellung nur zu lesen, ist einfach herrlich. Beim Tee in meinem Sessel oder im Café um die Ecke, hätte ich dann alles, was ich bräuchte und könnte damit vollkommen glücklich leben in literarischen Welten.
Wird es mir zu warm, besuche ich Manns Hans Castorp auf dem Zauberberg oder reise mit Nansen zum Pol. Ist es mir zu kalt und grau, lese ich ein wenig Humboldt oder Forster aus Südamerika und Südsee. Bin ich traurig, lese ich heiteres oder, immer beruhigend, historisches. Es gibt Bücher für jede Stimmung und sollte mir weniger nach schwerer Lektüre sein, sind auch Comics ein schöner Trost mit ihren reichen Bilderwelten.
Es gibt, völlig unterschiedliche Arten zu lesen, ist mir aufgefallen. Einer meiner literarischen Freunde, der selbst sehr belesen ist, auch seine Leidenschaft gilt neben den nackten Frauen der schöngeistigen Literatur, die er gerne im Café pflegt, liest stets mit einem Stift in der Hand, um die Bücher zu kommentieren oder zu exzerpieren. Wenn er sie dann einmal gelesen hat, muss er sich künftig nur noch durch seine Randbemerkungen und Kommentare lesen, um schnell zum Kern zu finden.
Es läge mir fern und täte mir fast körperlich weh in meine geliebten Bücher zu schreiben, ich fände den Vorgang des Lesens durch seine Kommentierungen und Zusammenfassungen ärgerlich gestört. Eigentlich nie, lese ich mit einem Stift in der Hand, außer ich muss ein Buch rezensieren und auch dann tippe ich meine Gedanken lieber gleich ein, den Vorgang des Lesens kurz unterbrechend. Liebe schöne und seltene Ausgaben besonders bibliophiler Bücher, auch wenn ich gelegentlich nichts gegen die elektronische Lektüre habe, die es mir zumindest ermöglicht, eine große Bibliothek stets bei mir zu tragen.
Andere verschlingen ausschließlich Romane, tauchen in deren Welten glücklich ein und erst nach der letzten Seite wieder auf, um sie dann mit dem nächsten Buch, wieder zu vergessen, weil sie ein neues Leseabenteuer erwartet. Ihre Ansprüche sind oft niedriger und sie können mit vielem glücklich sein.
So hatte ich einmal eine Geliebte, die sogar die literarisch grauenvollen Shades of Grey von der ersten bis zur letzten Seite voller Begeisterung verschlang, aber auch im gleichen Moment und auf gleicher Ebene für Goethe, E.T.A. Hoffmann oder Rilke schwärmen konnte oder Karl May, sogar meine Lyrik liebte, weil sie eben nicht wählerisch war. Sie liebte es, zu lesen und verschlang die Bücher förmlich, betrachtete meine Bücher mit viel Zärtlichkeit aber vermutlich hätte sie diese genauso angeschaut, wenn dort Fantasy Romane oder schwülstige Erotikgeschichten gestanden hätten. Sie musste nicht differenzieren, um glücklich zu sein und war literarisch leicht zu befriedigen.
Eigentlich ein glücklicheres Leben als meines oder das meines Freundes, die wir uns nie unter ein bestimmtes literarisches Niveau begeben wollen, denke ich inzwischen manchmal und beneide sie dennoch nicht, weil ich gerne auf meinem Niveau glücklich bin und weiß, es gibt auch dort noch unendlich große Welten zu entdecken.
Wäre es arrogant, sich so über die eine oder ander Literatur oder Leidenschaft zu erheben oder gilt auch hier das berühmte suum cuique?
Wer sich erhaben fühlt, nur weil er Bücher liest, die bloß ein kleineres Publikum begeistern, tut mir eher leid. Andererseits ertappe ich mich oft genug selbst bei diesem Denken, wie bei der obigen Bemerkung zu der von vielen Frauen geliebten Erotik-Trilogie Shades of Grey, die ich schlicht unlesbar fand. Nicht aus moralischen Gründen, sondern weil sie so durchschaubar flach und schlecht ist. Zumindest auf den wenigen Seiten, die ich las und nach denen klar war, ich würde nie Zeit aufwenden, dieses Zeug zu lesen, oder gar darüber zu schreiben, außer um darüber zu lästern, was auch schon zuviel des Guten ist.
Ähnlich geht es mir mit den meisten Fantasy Büchern oder Krimis und ich wüsste nicht, warum ich solchen Werken Platz in meiner Bibliothek einräumen sollte. Was nicht heißen soll, dass all diese Bücher gleich schlecht sind - aber ich habe auch den Herren der Ringe irgendwann einfach weggelegt, weil ich ihn literarisch zu langweilig und durchschaubar fand, er mich anödete. In Jugendzeiten noch, als die meisten meiner Freunde dies Werk lasen und davon schwärmten, konnte ich mich nicht dafür erwärmen, es überhaupt zu versuchen. Als ich später mal irgendwo günstig eine gebundene Ausgabe dieses Klassikers erstand, dachte ich, nun wäre es an der Zeit und ich wollte mich von diesem viel umschwärmten Werk gut unterhalten lassen, was aber irgendwann zwischen verschiedenen Kämpfen scheiterte.
Nicht mehr aufhören konnte ich dagegen mit den Buddenbrooks oder dem Zauberberg, die mich völlig in ihre vertraute Welt hineinzogen, was ich bei Tolstoi ähnlich empfand, während mich Dostojewski eher befremdete in Teilen, ganz anders als ein Michel de Montaigne, der so viel älter schon ist und doch so nah und vertraut mir bei jeder Lektüre klingt, dass ich mich dadurch so bereichert fühlte, als müsste es nichts als eine Welt aus Büchern geben und wollte ich mich auch in meinen Turm zurückziehen.
Kant, den ich zwischen all seinem philosophischen Formalismus immer grinsen sehe, weil er seiner Gesellschaft den Spiegel vorhielt, alles was sie ausmachte grundsätzlich in Frage stellte in seinen Kritiken, die kaum einer, mich eingeschlossen, vermutlich ganz verstand und die doch so menschlich anarchisch hinter allem Formalismus sind. Wie ein preußischer Philosophieprofessor in seinem Kopf die Welt verkehrte, Moral umkehrte, die vorher immer autoritär durch höhere Gesetze begründet wurde und nun plötzlich im Gewissen des Einzelnen allein sitzen sollte, amüsierte mich sofort.
Habe vermutlich weniger von Kant gelesen, als ich sollte, wenn ich so über ihn schreibe und doch habe ich das Gefühl der Sicherheit bei ihm und sehe immer auch den Schalk, der ihn trieb, mit dem er auf seine Art alles infrage stellte, worüber sich nur keiner erregte, weil kaum einer ihm ganz folgte und seine Gedanken konsequent zu Ende dachte und wenn es doch einer tat, berief sich der Königsberger darauf, er sei doch ein treuer preußischer Beamter und habe sich nichts vorzuwerfen, und rein logisch hat ihn bis heute keiner korrigieren, verbessern oder erweitern können - die Anmaßung des Schwaben Hegel brachte nur mehr Formalismus hervor, zeugte aber nur davon, wie wenig er Kant im Kern verstand, würde ich sagen, ohne mir eigentlich ein Urteil erlauben zu können.
Habe die vielleicht schlechte Angewohnheit immer stapelweise Bücher auf einmal zu lesen und immer dasjenige von demjenigen Stapel zu nehmen, was mir gerade emotional am nächsten liegt. Lese dennoch die meisten Bücher irgendwann zu Ende, nur habe ich keine Eile damit. Wozu auch?
Ist ein Buch ausgelesen, ist es ausgelesen und zu Ende, gibt es kein zweites erstes mal mehr, nur schöne Momente wiederholter Lektüre falls es sich lohnt - doch außer im Zauberberg und den Buddenbrooks sowie Montaignes Essays, lese ich sehr, sehr wenig noch mal. Habe Bücher, die ich einmal las, im Kopf und so wie ich Bücher auch monate- oder jahrelang zwischenparken kann, bis ich sie weiterlese und dann sofort wieder in die Geschichte hineinfinde oder das Buch besser vergesse, so muss ich eher nichts wiederholen, weil sich das Erlebnis der literarischen Defloration nicht wiederholen lässt.
Bücher wie der Zauberberg, die Buddenbrooks oder der Wilhelm Meister auch, die Welten schaffen, in sie mitnehmen, gleichen bei erneuter Lektüre eher dem Besuch bei alten Bekannten. Manchmal entdecke ich dann sogar eine Eigenschaft, die ich vorher noch nicht kannte, sehe mit neuem, erweiterten Blick auch Dinge, die mir nie aufgefallen waren, doch wie beim Besuch bei Freunden, die wir ja auch darum eigentlich wählen, schätze ich nur die Wiederholung an sich, geht es um nichts neues sondern eher das Eintauchen in eine vertraute Welt, in der ich mich durch die Gewohnheit Zuhause fühle - nur gibt es außer Mann und Goethe sehr, sehr wenige, die mich dazu bisher verführen könnten, doch habe ich Hoffnung, sollte ich so lange leben, dass mein Gedächtnis irgendwann nachlässt wie bei meinen Großeltern und mir eigentlich bekanntes plötzlich ganz neu vorkommt und ich so alles noch einmal lesen kann.
Sollte es so kommen, bestätigte es meine Vermutung, dass wir, je älter wir werden, desto weniger brauchen und auch mit längst bekanntem, zufrieden und glücklich sein können. Einzig die parallele Lektüre so vieler Bücher muss ich mir dann im Alter wohl abgewöhnen, weil ich sonst mit jedem stets wieder von vorne beginnen müsste und nie zu einem Ende käme, was angesichts der natürlichen Endlichkeit unseres Lebens ein relativ unbefriedigendes Leseergebnis haben könnte, wenn es um Ergebnisse ginge und ich Bücher abhaken wollte wie Aufgaben, um auch das einmal gelesen zu haben.
Da mir jedoch nichts ferner liegt, ich mich eher daran freue, mir Zeit zu lassen und in Ruhe zu genießen, finde ich die Vorstellung mich erwartender Vergesslichkeit nicht schlimm sondern freue mich dann noch mehr am täglich wieder neuen, was ich erleben darf. Bin neugierig, wie weit das gehen wird und was es aus mir als Leser macht, sollte mir ein so hohes Alter tatsächlich vergönnt sein, könnte es auch wunderbar sein, sich jeden Tag an wenigen, hundertmal gelesenen Seiten, aus dem Zauberberg oder den Buddenbrooks zu erfreuen.
Ist Lesen Kult, weil es uns in andere Welten jenseits der nur Wirklichkeit holt?
Dann wäre Lesen nur eine Art Flucht vor der Wirklichkeit, für die es sicher der Gründe genug gibt. Frage mich jedoch, ob es wirklich um Flucht dabei geht oder nicht vielmehr das Streben nach einer schöneren parallelen Realität, die für jeden Leser sehr viel wirklicher ist als die graue Wirklichkeit jenseits der Lektüre.
Genieße Lust und Liebe in der Realität mit meiner wunderbaren Liebsten sehr und doch würde ich die literarische Parallelwelt nie für egal was oder wen aufgeben, sondern genieße beide eben parallel oder noch besser kombiniert, sich austauschend. Glücklich wer sich auf geistiger und körperlicher Ebene findet und austauschen kann und so eine Art Multikulti der Parallelwelten miteinander teilen kann und so nenne ich mich glücklich in allem.
Parallelwelten werden im üblichen, politischen Sprachgebrauch eher abwertend verstanden und meinen dort die Problematik, die sich ergibt, wenn Migranten wie abgeschlossen in ihrer eigenen Kultur in einer eben Parallelwelt leben, die neben der Kultur der Mehrheit existiert und mit dieser in manchem schwer kompatibel scheint. Diese Folge fehlender Integration ist in der Bundesrepublik in manchem sichtbar. Weniger jedoch als in den USA wo sich ebenfalls ganze Kulturen ihre eigenen Stadtbereiche gestaltet haben, die sich von der herrschenden in vielem unterscheiden und wo diese Orte eher als einheimische Folklore wahrgenommen werden, aber auch engstirnige Menschen immer wieder in Angst und Schrecken versetzen.
Wenn ich nur eine Straße von meinem Bezirk Prenzlauer Berg überquere, lande ich in der Parallelwelt des Wedding und genieße das andere. In Berlin funktioniert gut, was andere Teile des Landes, um ihre homogenen Gewohnheiten fürchtend, als politischen Schrecken an die Wand malen, doch sind diese politischen Messerstechereien von der rechten Seite in diesem Fall kein Thema, wo es um die jedem Leser bekannten literarischen Parallelwelten geht.
Diese schaffen einen Kulturraum, der für den Leser real ist und in dem wir Leser oftmals glücklicher leben als in der nur Realität, die viele für die einzige Wirklichkeit halten, doch wie wirklich die Wirklichkeit ist, fragte schon Watzlawick einst, um uns auf die Relativität der Wahrnehmung aufmerksam zu machen, die ein toleranteres Miteinander ermöglicht. Wer selbst merkt, wie er lesend immer wieder in Parallelwelten eintaucht, wird auch in der Realität mit diesem Nebeneinander weniger Probleme haben und glücklich mit dem sein, was alles sein kann.
So gesehen hat es auch mit der politischen Kultur der Toleranz zu tun, Lesen zum Kult zu erheben und so nicht nur die eigene Kultur weiterzugeben, sondern auch viel über andere zu lernen, für die offen zu sein, einfach schön sein kann, literarisch betrachtet und gelebt. Als Bewohner der literarischen Parallelwelt, der sich in der realen nur manchmal mehr oder weniger gut zurecht findet, schlechter jedenfalls als bei der parallelen Lektüre, kann ich diesen Weg nur empfehlen, um sich überall in seinen Büchern zuhause zu fühlen.
Die Weitergabe der Kultur erfolgt beim Lesen von allein und es ist dabei erstmal egal, was lesen lässt, solange überhaupt gelesen wird - Niveau und Geist muss jeder für sich und seiner Art entsprechend entdecken - Hauptsache es wird mit Lust und Leidenschaft mit dem Lesen begonnen, statt sich nur berieseln zu lassen, etwa vom Fernsehen oder an Rechnern, wie es die werten Leser wohl gerade tun, sich in sozialen Netzwerken zu verlieren.
Es spricht nichts gegen elektronische Lektüre und der Kindle am Strand leidet weniger als viele Bücher - wer wie ich gerne besonders schöne Bücher liest, wird sich an den unempfindlichen elektronischen Lesegeräten sehr freuen können - so habe ich auf meinem Telefon, egal wo ich gerade bin, immer eine ganze Bibliothek dabei von Fontane bis zu Kesslers Tagebüchern und kann dies bei jedem Licht lesen, was in Sommern vorm Café oder an der See nicht zu unterschätzen ist.
Solange wir lesen, ist alles gut und wir können uns je nach Wunsch und Lektüre jederzeit in die beste aller Parallelwelten begeben, um es zu genießen und um was als Genuss sollte es sonst in unserem je nach Betrachtung kurzen oder langen Leben gehen?
Habe Mut zu genießen und in deiner Parallelwelt glücklich zu leben, wenn du es kannst - falls nicht, suche danach, was die richtige Lektüre ist, die mitnimmt und entführt - was schöneres könnte es geben?
jens tuengerthal 1.8.2017
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