Kiezgeschichten
Am Teute
Mit dem Teutoburger Wald werden gerne martialisch nationalistische Geschichten um den Helden Hermann verbunden, der die Römer unter Varus dort schlug und auf die sich nationale Kräfte meist ohne Ahnung berufen, um den Widerstandsgeist zu wecken. Als ist meine liebste A kennenlernte hatte sie ein großes Plakat der Inszenierung von Kleists Hermannsschlacht in Bochum noch unter Peymann in der Küche hängen. Dies war eher gegen den Krieg gerichtet und so gab es zumindest in der Erinnerung unserer Liebe eine Brücke zum Teutoburger Wald.
Als wir uns für die Wohnung am Teutoburger Platz entschieden und auch die Zusage bekamen, sprachen wir nie darüber aber nirgendwo, so scheint es mir heute, hätte dies Plakat passender gehangen als dort. Selig waren wir nach langer Suche, endlich eine 4-Zimmer Wohnung gefunden zu haben, noch dazu so eine helle, gegenüber der Schule und um die Ecke von der besten Kinderladenfreundin meiner Tochter - alles schien gut so.
Unsere Vormieter waren Amerikaner, die dringend zurück nach New York mussten aus wohl familiären Gründen, obwohl sie sich gerade erst mit allem eingerichtet hatten und so übernahmen wir einiges gern, was uns zumindest den Transport der Waschmaschine abnahm, denn zu schleppen war dennoch genug. Doch die Vorfreude überwog deutlich. Seinen schicken Eames Sessel, den meine Liebste immer den schönsten fand und mit dem mein bevorzugter Poäng Sessel von IKEA auch in der inzwischen Lederausführung in schwarzem Holz nur schwer konkurrieren könnte, wollte der Vormieter dann leider doch mitnehmen - dafür blieben uns Lampen, Trockner und manches mehr, was nichts mit dem hier beschriebenen Platz zu tun hat und darum nicht weiter interessiert.
Unsere neue Wohnung lag nicht nur unweit des Platzes am Ende einer nicht ganz Sackgasse sondern hatte auch einen Balkon und meine glückliche Liebste konnte endlich wieder ihren grünen Daumen pflegen, die Hände in die Erde stecken und sich um Pflanzen bemühen, was mir bisher völlig abging, trotz des großen gärtnerischen Vorbild meines Vaters, fand ich Grünzeug, wenn ich etwas dafür tun musste eher lästig. Betrachten war ok, ein Picknick im schönen Park etwas wunderbares, aber mehr musste ich nicht haben und wie meine Palmen oder manchmal Kräuter bisher bei mir überlebten, ist mir relativ rätselhaft aber Natur scheint doch robuster zu sein, als ich nachlässig sein könnte.
Alles schien schön, bis zum nächsten Morgen, als die Laster aus der Kohlenhandlung nebenan aufbrachen, mehrmals rangieren mussten, damit sie noch um die zu enge Ecke kamen. Sie taten das typisch für den Osten unmenschlich früh gegen 5.15h, jeden Morgen, bis irgendwann die Anzahl der Öfen soweit abnahm, dass auch dieser kleine Betrieb schließen musste und stattdessen die FIT, die Freie Internationale Tankstelle als Kulturort dort einzog, wo früher eine Tankstelle war und den Hinterhof irgendwann zur Aufstellung einer Jurte nutzte. Die Tankstelle, die schon nicht mehr im Betrieb waren, als wir an den Teute zogen, wie der Platz im Volksmund heißt, lag an der Schwedter Straße. Jener langen Straße, die früher durch die Anlage der Mauer unterbrochen wurde und heute ein Stück Mauerpark inmitten hat, zu dem sieführt, beginnt an der Schönhauser Allee und geht bis zu den Bahngleisen, die das Gebiet zum Wedding abgrenzen.
Der Teutoburger Platz liegt zwischen der Christinen Straße und der Templiner Straße, wird nördlich von der Zionskirchstraße begrenzt, die teilweise parallel zur Schwedter Straße läuft, bis sie auf die namensgebende Zionskirche trifft, die obwohl schon in Mitte gelegen und dort einem ganz anderen Kiez zugehörig hier noch Thema sein wird, weil wir auf dem Weg zum Kinderladen täglich an ihr vorbei liefen. Südlich wird der Platz durch die Fehrbelliner Straße begrenzt, die von der Schönhauser Allee bis zur Anklamer Straße führt und in manchem auf und ab den Charakter des Berges zeigt. Für die Bewohner wirklich bergiger Regionen eher ein Witz, aber verglichen mit Hamburg und Amsterdam doch spürbar.
An der Ecke in unserer Templiner Straße gegenüber lag früher das Café Maurer, von der gleichnamigen Familie betrieben, deren Tochter wiederum mit meiner Tochter am gleichen Tag Geburtstag hat und die wir aus der PEKiP Gruppe kannten. So war der Umzug weg vom Kollwitzplatz hin zum Teute, obwohl ganz neu dort dennoch ein wenig wie heimkommen oder ankommen - war doch auch diese Krabbelgruppe in überheizten Räumen, die Wert auf die Nacktheit der Babys legt, leider nicht der Eltern, direkt am Platz in der Fehrbelliner Straße. Eigentlich war der Kiez umme Ecke von unserem alten Wohngebiet am Kolle und doch war es ganz anders.
Unsere Wohnung war einerseits stärker saniert, was schnell alles vorige ersticken kann und andererseits liebevoller gestaltet, wie die zwei Oberlichter im eingebauten Bad zeigten. Die Einbauküche war nett und praktisch, der von der Küche erreichbare bei der Sanierung ans Haus geklatschte Balkon bot noch einen zusätzlichen quasi überdachten Rückzugsraum auch für Raucher, die wir damals, meine ich, gerade wieder mal wieder waren. Der Balkon ging auf den Hinterhof von dem aus wir in die Büros der benachbarten schön sanierten Industrieanlage schauen konnten, die mit unserem und dem Nachbarhaus einen quasi großen Hof bildeten, auch wenn dieser ordnungsgemäß voneinander abgegrenzt war, damit keiner dort schnüffelte, wo es ihn nichts anging.
Zu verbergen gab es in der kleinen Hausgemeinschaft ohnehin wenig. Der Leiter der Hausverwaltung, der nicht der Eigentümer sondern nur ein alter Freund der beiden Eigentümer war, die sich inzwischen wohl zerstritten und trennten, wohnte mit Frau und Töchtern in der größten Wohnung im Hochparterre. Die Ex-Frau eines der Eigentümer wohnte damals mit ihrem Geliebten und den Kindern vom Vorgänger auf der anderen Seite des Flurs über uns und neben ihr die Tochter eines Vorstands der Deutschen Bank von Familie. Dann gab es noch eine Pilotin mit ihrem russischen Mann und den seltsamen Typen in der Wohnung neben uns, der selten kam, keinen Balkon hatte, weil er nicht kooperativ war, der irgendwann einmal unter seltsamen Umständen tot aufgefunden wurde, zum Glück aber nicht im Haus und noch den sehr schwulen jungen Mann aus der Modebranche, der so gern rauchend auf dem Balkon mit seinen Liebsten telefonierte, auf der Etage des Hausverwalters, dessen Töchter viel musizierten, wie er im übrigen gelegentlich auch.
All diese Geschichten hatte uns der sehr gesprächige Hausverwalter, den ich gleich mochte, schon bei der Vertragsunterzeichung erzählt. Fand es beruhigend und dachte, prima, wenn er selbst da wohnt, wird er auch auf die Leute im Haus achten. Dagegen fand es meine Liebste schon etwas verdächtig, wie genau er bescheid wusste und was er uns alles erzählte. Hatte kein Misstrauen, dachte nichts böses und habe erst nachdem ich auszog und seine Nummer im Netz suchte, bemerkt, dass er als ehemaliger Oberstleutnant der Stasi zu irgendeinem Thema in einem Prozess befragt wurde und sein früherer Beruf zu DDR-Zeiten nichts mit Hausverwaltung zu tun hatte. Der große Wagner Fan und Büchersammler, den ich spannend im Gespräch schon fand, nicht umsonst auf dem Balkon noch immer Sonntags im Kaftan das Neue Deutschland las, dem alten Glauben treu anhing.
Wie fand ich das, fragte ich mich, was hielt ich nun von ihm, wo ich wusste, was er für einer früher war und wie wenig sich für ihn geändert hatte, weil Freunde ihn auffingen. Hatte immer gedacht, er wäre in Leipzig im Museum oder in irgendeiner historischen Kommission tätig gewesen, mir im übrigen nicht so viele Gedanken über das Leben unseres Hausverwalters gemacht und seiner sehr blonden Ehefrau. Unsere Gespräche kreisten hauptsächlich über Wagner und Bayreuth, seinem großen Traum, den ich schon kannte und schöne Buchausgaben. Eigentlich spielte keine Rolle für mich, was er früher mal gemacht hat, dass er unbelehrbar blieb, vermutlich innerlich immer noch das System der BRD verachtete, auch wenn er ordnungsgemäß seine Arbeit als Hausverwalter machte, wie dies im Kapitalismus erforderlich war.
Aber irgendwie komisch war das Gefühl schon einen ehemaligen Stasi Offizier unter sich wohnen zu haben, mit dem du einen Vertrag hast. Andererseits, früher war ja angeblich jeder zehnte hier bei der Stasi irgendwie, also kein Wunder und besser ich wusste das über ihn als nicht. Sein Unternehmen gab es nicht mehr, sein Land auch nicht, die Demokratie war die Siegerin der Geschichte - er ein Verlierer, der Glück mit seinen Freunden hatte und sonst ein netter Kerl war, wenn auch manchmal noch wie ein Hauswart wirkend, könnte ich nichts schlechtes über den Mann sagen und lasse ihm darum seine Geschichte, betrachte ihn nur mit dem nötigen Misstrauen und einer gewissen Vorsicht, was nie schaden kann.
All dies erfuhr ich aber erst viele Jahre nachdem ich in diesen Kiez zog, schon wieder weg war und so spielt es für mich keine Rolle, wäre es nicht ein typisches Beispiel für das Aufeinandertreffen auch gebrochener Biografien hier in der Gegend immer wieder. Als ich meinem Freund M entsetzt davon erzählte, zuckte er nur mit den Schultern, na da gab es so einige, damit musst du leben lernen, auch der neue Bürgermeister von Pankow aus der Linken, die eine Mehrheit in der BVV hat, machte nie ein Hehl daraus oder zumindest für das Verständnis in seinem Umfeld. War eben normal für viele.
Wohl fühlte ich mich in der Ecke mit diesem Wissen hinterher genau wie vorher ohne. Es machte also eigentlich nichts und darum plaudere ich mit ihm wie immer, wenn ich ihn mal sehe, was geht mich auch seine Geschichte an und frage mich nur, ob ich es genauso gemacht hätte, wenn er bei der SS oder GeStaPo Mann gewesen wäre und hoffe immer noch, dass die Normalität des Alltag nicht alles glatt bügelt.
Denke ich an meinen einen Großonkel, den kleinen Bruder meines Großvaters, mit dem diesen wenig oder nichts verband nach dem Krieg wie mir schien, der auch ein überzeugter Nazi Funktionär war und dann kurz vor Kriegsende wieder bei der Kirche untertauchen wollte, die ihn, da belastet nicht einfach als Pastor einsetzen konnte, dafür aber in der Jugendarbeit in Wilhelmshaven einsetzte, wo er bekannt war. Daher kannte den Namen auch der Vater von der Freundin meiner Tochter aus der PEKiP Gruppe, der gegenüber mit seiner Frau das Café betrieb und mir war es wichtig, mich von diesem Vorfahren wie auch mein Großvater es mir gegenüber von seinem eigenen Bruder tat, zu distanzieren, der war mir peinlich und mancher seiner Söhne hat dieses Talent zur öffentlichen Peinlichkeit geerbt, wenn auch mit weniger dramatischen politischen Folgen.
Teutoburg und Deutschnational das passte ja schon irgendwie, auch wenn nichts dem heutigen Platz mitten in Prenzlauer Berg ferner lag. Dieser ist rund 8250m² groß, von Hecken und Büschen umgeben, hat einen Wiesenbereich und einen Spielplatz von 2000m², der also rund ¼ der Fläche dort einnimmt, auch wenn er größer wirkt, was daran liegen könnte, dass der ihn querende Weg mehr auf der Spielplatzseite entlangläuft und so das Gefühl gibt, es handele sich dabei fast um den halben Platz.
Als das Viertel um den Teutoburger Platz zwischen 1860 und 1875 bebaut wurde, zählte es zu den am dichtesten besiedelten Gebieten der Stadt und wies durchschnittlich 12 Einwohner auf 100m² auf. Der nach der Varusschlacht im nationalen Taumel nach dem Krieg gegen Frankreich benannte Platz wurde bereits um 1880 mit Bäumen bepflanzt. Heute finden sich dort vor allem Robinien, Birken und Ebereschen. Der Bereich nördlich des Platzes wurde etwa ab 1900 bebaut, also in der Zionskirchstraße und dem Stück der Templiner zwischen Platz und Schwedter Straße. Der erste Spielplatz wurde bereits 1910 auf dem Platz errichtet und so war die Gegend regelrecht innovativ für ihre Zeit.
In den späten Zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts wurde der Platz noch nach den Plänen des Berliner Gartenbaumeisters Erwin Barth umgestaltet, der seine Karriere in Charlottenburg begann, wo er alle maßgeblichen Parks und Grünanlagen umgestaltete. Er zeichnete für den Teute den Gartenplan und den für das Schutzhaus, was heute Platzhaus genannt wird. Die stark gegliederte Fassade des Gebäudes öffnete sich um drei rundbogenförmige Eingänge. Dahinter verbarg sich damals ein Aufenthaltsraum mit Sitzgelegenheiten. Das Walmdach des Hauses hatte noch eine eigene Laterne, die zusätzlich Licht ins Innere bringen sollte. Nach 1945 wurde das Platzhaus mit einem Flachdach versehen und diente funktional als Tranformatorenhaus. Sieben Jahre nach der Wende wurde dann das Walmdach in vereinfachter Form wieder aufgebaut. Das Gebäude dient heute als Platzhaus zu verschiedenen Zwecken - vom Kindergeburtstag bis zur Ausstellung oder Party und wird vom Verein Leute am Teute betrieben. Auch wir konnten es mal für unsere Tochter und ihre Klassenkameradinnen für einen Kindergeburtstag nutzen.
Die große Rasenfläche wird heute in der wärmeren Zeit als Liegewiese, Picknickareal und manchmal auch als Bolzplatz genutzt. Das Zusammenspiel der Bewohner mit den teilweise Platzbewohnern, die mehr oder weniger viel Alkohol dort konsumieren läuft ähnlich harmonisch wie am Helmholtzplatz. Sie gehören halt dazu und sie halten sich dafür meist mit Sprüchen gegenüber Kindern zurück. Am Rand der Grünfläche genannten Wiese befindet sich eine ebenfalls grüne, gusseiserne, historische Handpumpe, die sich gerade bei Kindern großer Beliebtheit erfreut, während sich die Begeisterung der Mütter meist in engeren Grenzen hält. Allerdings ist die Zahl der Kinder in Designermode am Teute niedriger als am Kolle und so sind auch die Sorgen der Mütter überschaubarer, was gut so ist.
Am südlichen Rand des Platzes befindet sich seit 1989 die Sandsteingruppe Froschkönig des Bildhauers Stephan Horota, dessen Werke mit teils märchenhaften Bezügen sich auch noch an anderen Orten der Stadt befinden. Die Figurengruppe hat einen auch bei den Kindern sehr beliebten Tröpfelbrunnen, bei dem auf dem Sockel, aus dem das Wasser austritt, ein steinerner Frosch sitzt. Leicht versetzt befindet sich ein Auffangbecken für das Wasser und davon wiederum versetzt ein Sockel mit einem hockenden Mädchen.
Neben dem Tröpfelbrunnen gibt es für die etwas größeren Kinder ein Basketballfeld in Miniaturausgabe mit weichem Kunststoffboden und einem Korb aus Metall.
Am Platz selbst lebte lange Jahre auch die Bürgerrechtlerin und Gründerin des Neuen Forums Bärbel Bohley, die nach zwölf Jahren Tätigkeit in Bosnien 2008 in ihre alte Wohnung zurückkehrte, in der sie zwei Jahre später mit 65 am Bronchialkarzinom starb. Ob dies wie viele frühe Todesfälle unter DDR Oppositionellen an einer Bestrahlung mit radioaktiven Substanzen durch die Stasi lag, wie auch die Stasi-Akten nahelegten, wird wohl nicht mehr zu klären sein. Sicher könnte solch eine Bestrahlung das Risiko erhöht haben, wie weit sie selbst dieses noch zusätzlich durch Rauch oder Asbest in Wohnräumen oder sonstige Luftbelastung erhöhte, ist nicht zu klären, auch inwieweit es eine genetische Disposition für diese Erkrankung gab. Jedenfalls lässt auch der Tod dieser engagierten Malerin, die an der Kunsthochschule Weißensee studierte und viel für die Demokratie in der ehemaligen DDR riskierte, mit noch mehr Misstrauen an einen Typen wie meinen früheren Hausverwalter denken, der vielleicht angeordnet hat, Menschen radioaktiv zu bestrahlen, um sie aus dem Weg zu räumen.
Bohley saß auch gemeinsam mit Ulrike Poppe in Hohenschönhausen im Stasi-Knast in Untersuchungshaft, wo genau dies regelmäßig praktiziert wurde und denke ich an die vielen Geschichten, die ich dazu mittlerweile von ehemaligen Häftlingen gehört habe, wie dort Menschen mit Licht, Strahlung und Psychoterror gefoltert und in den Wahnsinn getrieben wurden, finde ich es noch erschreckender, dass Prenzlauer Berg als Teil von Pankow nun von einem Politiker aus der SED Nachfolgeorganisation Linke regiert wird, der auch zur Relativierung der Stasi neigt. Und wie gut, dass Bohley noch 1989 die Stasi-Zentrale in der Normannenstraße besetzte und mit einem Hungerstreik und anderen drastischen Maßnahmen die Öffnung der Stasi-Akten zur persönlichen und öffentlichen Aufarbeitung erstritt. Ob dies langfristig glücklicher macht oder wir erst ein Volk werden können, wenn wir auch erfahren, wie sehr der BND im Osten und der Verfassungsschutz im Innern der BRD spionierte, weiß ich nicht.
Weder sollte das Unrecht der DDR relativiert werden, noch bringt es einem Land dauerhaft Frieden die gegenseitigen Aktionen im eben Kalten Krieg sich weiter vorzuhalten. Hier ist eine Gratwanderung nötig, die viel Feingefühl auch in der Erinnerung erforderlich macht und als ein geborener Wessi, der nun 17 Jahre bald im wilden Osten lebt, weiß ich auch keine einfachen Antworten oder Musterlösungen. Was ist mit der oppositionellen Familie von Künstlern, deren einer Sohn sich plötzlich als Künstler zur Linken hingezogen fühlt und damit die Gegner der Eltern zu seinen Parteifreunden macht - was keineswegs selten ist, im Gegenteil durch den Versuch der Linken sich als Geldverteiler im kulturellen Sektor zu profilieren, sind sie dort zumindest in Berlin eine gewisse Macht geworden und wer da von Geschichte und Stasi anfängt, gar die moderne Linke als SED Nachfolgeorganisation bezeichnet, ist schnell allein und erntet nur Unverständnis, weil die es doch so gut meinen, mancher von ihnen wieder lebt, auch durch die geretteten SED-Gelder.
Zu diesem Thema gibt es am Platz auch eine Säule, die an die Geschichte von 89 erinnert, den Umsturz und wer wo dort beteiligt war. Gilt für die Verbrechen der SED, was für die Nazi-Zeit gilt, verzeihen kann nur ein Opfer, vergessen dürfen wir aber nie?
Weiß es nicht und traue mir als nur zugezogener Wessi, der keine Verfolgung durch die Stasi je erlitt und wenn wäre es mir im goldenen Westen völlig egal gewesen, kein Urteil zu. Gefährlich nur finde ich es, zu verharmlosen, oder so zu tun, als sei die DDR auch das sozialere Deutschland gewesen und nicht einfach eine totalitäre Diktatur mit vielen menschenverachtenden Prinzipien, die keinesfalls relativiert werden dürfen. Dennoch hat jeder Mensch, der dort aufwuchs auch das Recht auf schöne Erinnerungen, die natürlich manches verklären und dazwischen liegt vermutlich irgendwo die historische Wirklichkeit, die sich von Kompromiss zu Kompromiss windet. Verurteilen sollten Richter, verzeihen können nur die Betroffenen und ich, der ich weder noch bin, kann zwar versuchen, das Unrecht wach zu halten, wie das NS-Unrecht und auf die Nähe von Linker und NPD wie AfD hinweisen, ob ich damit die innere Einheit fördere oder mit hier je Freunde mache, ist eine andere Frage.
Wende ich mich nun vom Teute nach Osten, überquere die Christinenstraße, gelange ich auf das Gelände der ehemaligen Brauerei Pfefferberg. Dieses heute Industriedenkmal wird inzwischen vielfältig von Künstlern, Hotellerie und Gastronomie genutzt. Das Grundstück befindet sich zwischen Schönhauser Allee und Christinenstraße, liegt an der Barnimkante und weist daher selbst einige Meter Geländeunterschied auf. Benannt ist es nach dem bayerischen Braumeister Joseph Pfeffer, der hier 1841 die nach ihm benannte Brauerei gründete. Die große alte Schankhalle wird mit teils selbstgebrauten Bier heute von der VIA betrieben, die als ursprünglich Unternehmen für betreutes Wohnen und Menschen mit Behinderung zu einem großen Investor im Bezirk wurde, der eine bedeutende Rolle bei einigen auch kulturellen Projekten spielt.
Der Pfefferberg war die erste Brauerei in der untergärig gebraut wurde. Nach mehreren Eigentümerwechseln übernahmen 1861 Schneider & Hillig die Brauerei und firmierten künftig unter ihrem Namen mit dem Zusatz Brauerei Pfefferberg, um nicht den schon gewonnenen Ruhm zu verspielen. Da die zunehmende Besiedlung des Geländes um die Brauerei bald deren eigentlich nötige weitere Ausdehnung verhinderte, endete die Expansion auf dem Pfefferberg auf einem Gelände von damals 1,35 Hektar. Nach dem 1. Weltkrieg kaufte Schultheiß die Brauerei auf, die vorher in der nahen heutigen Kulturbrauerei angefangen hatten und stellten aber die Bierproduktion dort bald wieder ein, die VIA in seiner Schankhalle in der Pfefferbergtradition inzwischen wieder aufnahm. Bis zum Zweiten Weltkrieg waren dort noch verschiedene Nutzer ansässig wie etwa eine Schokoladen- und eine Brotfabrik. Im Pfefferberggarten, dem vorderen mit Bäumen bestandenen Bereich, fanden volkstümliche Musikveranstaltungen statt, wie sie sich heute, wenn auch weniger volksmusikhaft meist in den Clubs unter dem Pfefferberg finden. Zu DDR Zeiten nutzten zunächst Druckereien und der Verlag des Staatsblattes der Diktatur, Neues Deutschland, das Gelände. Nach entschädigungsloser Enteignung der Vorbesitzer 1949 durch die DDR lag das Eigentum am Gelände nach 1990 bei der Bundesrepublik und dem Land Berlin zu gleichen Teilen.
Seit 1990 bemüht sich eine Initiative von Anwohnern und Interessierten um eine Nutzung für soziale und kulturelle Zwecke, wofür sie den Pfefferwerk Verein zur Förderung der Stadtkultur gründeten, weil seit Bismarck alles im Land seinen Verein braucht. Der Verein machte in den folgenden Jahren den Pfefferberg als Veranstaltungsort und Kulturstandort in ganz Berlin bekannt. Über verschiedene rechtliche Konstruktionen an denen sich auch Senat und Land beteiligten wurde das Pfefferwerk Eigentümer. Heute gibt es zwei Restaurants um den Biergarten, den sie sich teilen, die eine Seite ein irgendwie Steakhaus, was mich noch nie interessierte näher kennenzulernen, das andere die Via-Schankhalle, die selber brauen und schöne deftige Sachen im Angebot haben. Angrenzend haben noch die Woessner Brüder ihr Pfefferberg Theater mit denen von ihnen zum größten Teil selbst geschriebenen Komödien in Zusammenarbeit mit VIA realisiert.
Kenne die Woessner Brüder noch aus ihrer Anfangsphase, als sie unter freiem Himmel auf dem Gelände des Abenteuerspielplatzes in der Kollwitzstraße Theater machten. Hoffe sie werden mit ihrem Projekt dort Erfolg haben und halte sie für sehr engagierte und gute Künstler auch wenn die Komödie im kulturellen Bereich, da komisch, selten ernst genommen wird, haben die beiden sich so ein wunderbares Theater erspielt, dass die Kultur am Berg hoffentlich noch lange weiter um eine komische Note bereichert.
Im Quergebäude am Ende des Biergartens befindet sich noch eine Kochschule, die teilweise hochinteressante kulinarische Menüs zu sehr vertretbaren Preisen anbietet. Im hinteren Hofbereich gibt es ein von auch von VIA betriebenes Hostel mit vielfältigem jungen Publikum, das Pfefferberg und Teute neu belebt. In einem der alten Industriegebäude hat der bekannte und wohl erfolgreiche Künstler Olafur Eliasson aus Island mit seinen Mitarbeiterinnen heute ein Atelier, dazu kenne ich auch nur die Gerüchte von einer Mutti, die gelegentlich für ihn kocht und zu Ausstellungen die Bewirtung organisiert. Die mit physikalischen Phänomen experimentell arbeitenden Kunstwerke machten den isländischen Künstler, der in Kopenhagen und Berlin arbeitet, weltweit bekannt. Die Einnahmen der Stiftung Pfefferwerk aus den Erbbauzinsen fließen in Projekte gemeinnütziger Träger in Berlin und so ist der Pfefferberg weiter, egal, was er nun tut, auch sozial tätig, was gut so ist.
Im Juni/Juli 2012 fand das Guggenheim Lab im Pfefferberg seinen Berliner Standort nachdem die Kreuzberger vermutlich wieder wegen irgendwelcher Widerstände absagen mussten.
In der Christinenstraße 18a, direkt am Eingang des Geländes, befindet sich heute das Museum für Architekturzeichnung des deutschen Architekten russischer Abstammung Sergei Tchoban. Es ist ein von außen beeindruckender Bau, in dem einiges an Etagen verschoben scheint und er sieht aus wie ein aus Bauklötzen von Kindern gebauter Turm. Es ist ein privates Museum, das von der Tchoban Foundation getragen wird und jährlich drei bis vier Ausstellungen zeigt. Es soll dort der Architekturnachwuchs in der klassischen Kunst der Zeichnung gefördert werden. Dazu wird die Sammlung des Gründers zu Studienzwecken zur Verfügung gestellt. Den Grundstock bildet die Sammlung der Zeichungen von Pietro di Gottardo Gonzaga aus dem 18. Jahrhundert, der zuerst an der Mailänder Scala und später in Russland arbeitete. Die Fassade der gestapelten Klötze ist mit Fragmenten architektonischer Zeichnungen in Reliefform dekoriert. Aus konservatorischen Gründen wurde auf Fensteröffnungen verzichtet. In dem gläsernen Staffelgeschoss, das den Bau nach oben abschließt, befindet sich das Büro der Stiftung. Von den knapp 450 Quadratmetern Fläche im Gebäude umfasst die Ausstellungsfläche etwa 200m².
Für den Bau hatte ein Schuppen weichen müssen, in dem vorher die Woessner Brüder das Winterquartier für ihre Komödie hatten, um auch in der dunklen Jahreszeit das Publikum am Berg mit ihren Stücken erheitern zu können, der aber durch das nun Theater mehr als gut ersetzt wurde.
Vom Museum zurück, quer über dem Platz findet sich nun ein Neubau an der Ecke Templiner Straße zur Fehrbelliner Straße. Dort war zu DDR Zeiten auf einer Kriegsbrache eine Kaufhalle errichtet worden, die nach der Wende als Filiale von Kaisers/Tengelmann diente und der Laden am Platz war. Es soll auf dem von der Treuhand für 17 Millionen an den US Investor Lone Star verkauften Grundstück nun ein Wohnkomplex entstehen für dessen Erdgeschoss jedoch wieder ein Supermarkt vorgesehen sein soll. Bis dahin müssen die Anwohner nun auf den Lidl Markt in der Schwedter oder einen der vielen Spätis ausweichen, wenn sie nicht den Kiez in Richtung Schönhauser Allee verlassen wollen, wo es weitere Einkaufsmöglichkeiten gibt. In der Schwedter Straße befinden sich auch einige Restaurants, ein sehr guter Italiener an der Ecke Choriner Straße, ein sehr netter Italiener gegenüber der Einmündung der Templiner Straße und ein Asiate über dessen Qualität ich lieber nicht viel sage. Das frühere Café Maurer ist nun eine Pizzeria in der man Pizza essen kann, jedoch sei dem anspruchsvolleren Pizza Essern eher empfohlen noch die Schönhauser Allee auf Höhe des Pfefferbergs zu überqueren, um in der dortigen Villa richtig gute Pizza zu genießen.
In der Zionskirchstraße findet sich an der Ecke Choriner Straße das Cafe, das nächtlich als Bar fungiert und den schönen Namen “Lass uns Freunde bleiben” trägt. Gerüchteweise gibt es dort den besten Kaffee im ganzen Viertel, hervorragende Backwaren und was ich bestätigen kann, ausnehmend freundliche Betreiber. Es befindet sich an der Stelle, an der die Choriner Straße den Berg hinunter nach Mitte geht und so mancher sucht vor der Abfahrt oder nach dem Aufstieg erschöpft diesen Ort auf, auch gerne um davor schön in der Sonne zu sitzen. Um die Ecke neben dem Café befindet sich der netteste leicht alternative Späti des Kiezes, in dem du nahezu alles findest und wann immer du es gerade brauchst auch kaufen kannst. Zwei meiner Liebsten lieben das “Lass uns Freunde bleiben” sehr, auch zum Frühstück vor dem Weg ins Büro und so lernte ich ihn auch schätzen, mich auf ihren guten Geschmack verlassend, für den ja viel spricht.
Folge ich vom “Lass uns Freunde bleiben” aus der Zionskirchstraße und überquere noch die von Straßenbahnen durchfahrene Kastanienallee, die auch den Spitznamen Castingallee trägt, der vielen Medienleute wegen, die hier auf dies und das mehr oder weniger wichtigtuerisch noch lauern, komme ich zur Zionskirche. Sie gehört nicht mehr zum Teute-Kiez sondern zur Rosenthaler Vorstadt und also nach Mitte, da sie aber lange auch mein täglicher Weg in den Kindergarten war und dort auch ein kleiner Öko-Wochenmarkt stattfand, spielte sie im kulturellen Leben eine Rolle dort und Dietrich Bonnhoeffer da als junger Pastor noch Jugendlichen aus dem Wedding den Konfirmandenunterricht erteilte, an den ein Denkmal Torso darum erinnert.
Die Kirche wurde von Kaiser Wilhelm I gestiftet und 1873 eingeweiht. Sie steht in der Mitte des Zionskirchplatzes und wurde auf einer 52m hohen Anhöhe errichtet, damals einer der höchsten Punkte des alten Berlin. Der 67m hohe Turm steht exakt im Schnittpunkt von Zionskirch- und Griebenowstraße und dient aufgrund seiner Höhe auch als Aussichts- und Orientierungspunkt in der Gegend. Liebte es von meinem Schreibtisch aus noch die Kirchturmspitze zu sehen, die für den direkten Anblick der Schulplatte nach DDR-Norm gegenüber ein wenig entschädigte. Dem Architekten Orth war die städtebauliche Funktion der Straße im Schnittpunkt dreier Straßen so wichtig, dass die Kirche nicht wie üblich geostet, also nach Osten ausgerichtet wurde, sondern nach Norden weist.
Knapp in Baden Baden noch einem Attentat entgangen, spendete der dankbare Kaiser Wilhelm I 1861, damals war er noch allein König von Preußen, 10.000 Reichstaler für den Bau einer Kirche. Der Bau wurde 1866 begonnen jedoch ruhten schon ab 1868 wegen Geldmangel die Bauarbeiten wieder. Eine weitere Stiftung des inzwischen Kaisers ermöglichte dann 1872 die Fertigstellung. Ob das bei heutigen Bauten in Berlin auch eine schnellere Fertigstellung garantieren würde, scheint allerdings fraglich, liegt es doch oft weniger am Geld als an der Planung. Der Backstein-Terrakotta Bau ist im Stil der Neoromanik errichtet, bei dem der Berliner Historismus noch mitwirkte und Schinkel leider nicht mehr. Sie hatte 1424 Sitzplätze, von denen 562 sich auf der Empore befanden. Nach der Einweihung in Anwesenheit des Kaisers kam es zum “Kampf in Zion”, was den Konflikt zwischen dem liberalen Gemeinderat und dem sehr konservativen Pfarrer Julius Kraft meint.
Im Zweiten Weltkrieg wurde das Dach, die Orgel der Altar und alle Kirchenfenster zerstört. Zur weiteren Zerstörung trugen nach dem Krieg auch die Anwohner bei, die auf der Suche nach Feuerholz die Kirchenbänke in der allgemeinen Not lieber verheizten. Bis 1953 wurde die Kirche dann notdürftig wiederhergestellt und 1960 im, freundlich gesagt, kargen Stil der Zeit mit Latexfarbe renoviert und umgebaut. Der Verfall ging jedoch weiter, als in den 70ern die Heizung kaputt ging und nicht repariert werden konnte.
Erst 1988 begann die so nötige Sanierung ganz langsam, dann kam die Wiedervereinigung und mit ihr kam nun die vollständige denkmalgerechte Sanierung, bis 2011 wurden dafür bereits drei Millionen Euro ausgegeben, eine Ende war noch nicht absehbar und weiter wird der untragbar schlechte Zustand im Innenraum bemängelt, welcher der historischen Bedeutung des Baus nicht gerecht würde. Warten wir ab, es wird gebaut.
Mit nur 25 Jahren übernahm 1931 Dietrich Bonhoeffer eine als schwierig geltende Konfirmandengruppe. Die Arbeit mit den aus schlechten sozialen Verhältnissen kommenden Jugendlichen sollen den aus sehr guten Verhältnissen stammenden Bonhoeffer sehr geprägt haben. Dessen wissenschaftliche Arbeit und seine Tätigkeit in der Bekennenden Kirche wurden nach dem Krieg für die evangelische Kirche sehr wichtig und der noch 1945 im KZ Flossenbürg hingerichtete Bonhoeffer wurde posthum zur prägenden Gestalt der evangelischen Kirche in Deutschland. Ein wirklich großer Mann mit geistiger Weite und Offenheit, einer der wenigen Gründe warum ich auch, ihm zu Ehren, als Atheist noch in diesem seltsamen Verein bin. Seit 1997 befindet sich ein bronzenes Denkmal für Bonhoeffer vor der Westseite der Kirche. Ein zweite Fassung davon steht vor der Elisabethkirche in Breslau, der Geburtsstadt Bonhoeffers. Er war übrigens Klassenkamerad der späteren Marion Gräfin Yorck, die durch ihre Heirat mit Peter Yorck auch dem Kreisauer Kreis auf dem Gut Kreisau des Grafen Helmuth James von Moltke, einem Nachfahren des großen Feldmarschalls, in Schlesien näher kam und der ich mit ihren über hundert noch begegnen durfte.
Seit 1986 bot die Zionsgemeinde in der DDR oppositionellen Gruppen eine Heimat. Unter Pfarrer Hans Simon wurden die Umweltblätter herausgegeben und fand die kritische Umweltbibliothek eine Heimat. Nach Festnahmen und einer Hausdurchsuchung in der Bibliothek am 25. November 1987 wurde der kirchliche Widerstand gegen das DDR-Regime auch im Westen bekannt.
Einen Monat vorher, am 17. Oktober 1987, war es während eines Konzerts der West-Berliner Band Element of Crime, in der Sven Regener, der als Autor von Herrn Lehmann bundesweit bekannt wurde, eine tragende Rolle spielte, wie dem Konzert der Vorband Die Firma, einer DDR-Punkband, zu einem Überfall von Skinheads gekommen, welche die etwa 2000 Besucher teilweise schwer verletzten. Der Überfall fand unter den Augen der das Konzert bewachenden Volkspolizei statt, die nicht eingriff. Nach anfänglicher Leugnung kam es doch noch zu Schauprozessen, bei denen die DDR wieder ihren antifaschistischen Charakter im totalitären Gewand betonen wollte. Folge war unter anderem, dass die Stasi beauftragt wurde auch die Rechten stärker zu überwachen und dort einige IMs eingeschleust wurden. Die Zionskirche kann inzwischen das ganze Jahr besichtigt werden und Sonntags können Verwegene auch den Turm besteigen, um über den Kiez zu schauen.
Der Teute-Kiez ist eine wirklich schöne Ecke Berlins, durch meine zweite Verlobte landete ich eine zeitlang wieder häufiger da und so kann schon manchmal bloße lokale Vertrautheit mehr Nähe schaffen, als real je da war. Das Viertel grenzt über die Straße hinweg an vielen Ecken an den Bezirk Mitte, was im Rahmen der dort früheren Einführung der Parkraumbewirtschaftung zu reichlich Chaos und Kampf um den verbliebenen Parkraum führte, der sich inzwischen wohl entspannt hat und wer klug ist, spart sich in der Stadt ohnehin lieber den Wagen, was die Berliner-Luft, die nach Rückbau der Kohleöfen schon viel besser wurde, noch ein wenig angenehmer machte. Im übrigen ist der Kiez in der Schönhauser Allee am Senefelder Platz an die U-Bah und von der Kastanienallee aus gut an die Straßenbahn angebunden. Ein schöner Kiez zum wohnen und leben.
jens tuengerthal 3.4.2017
Dienstag, 4. April 2017
Montag, 3. April 2017
Freimut
Wo Angst herrscht bleibt nichts
Frei ist wer keinen fürchtet
Mut macht es leichter
Tun besiegt die Furcht
Flucht macht immer nur schwächer
Wer handelt gewann
Der Wille kann mehr sein
Als Glaube an Wirklichkeit
Wo er frei Mut macht
jens tuengerthal 2.4.2017
Frei ist wer keinen fürchtet
Mut macht es leichter
Tun besiegt die Furcht
Flucht macht immer nur schwächer
Wer handelt gewann
Der Wille kann mehr sein
Als Glaube an Wirklichkeit
Wo er frei Mut macht
jens tuengerthal 2.4.2017
Schlafesglück
Höchstes Glück danach
Ist zusammen einschlafen
Wenig braucht es mehr
jens tuengerthal 2.4.2017
Ist zusammen einschlafen
Wenig braucht es mehr
jens tuengerthal 2.4.2017
Sonntag, 2. April 2017
Berlinleben 037
Kiezgeschichten
Am Kolle
War lange nicht mehr da, denke ich und frage mich, welchen Grund ich hätte, dort hin zu gehen, was mich anzöge und das ist immer schon ein schlechter Anfang, wenn ich überlegen muss, was mich da noch hin zöge.
Als ich hin zog, zog mich die Liebe, war es für mich noch der schönste Platz in Prenzlauer Berg und ich konnte mir nicht vorstellen irgendwo besser und eleganter zu wohnen als dort. Kannte zwar die anderen nicht wirklich, schloss mich aber der Meinung dort gern an. Kam aus dem benachbarten Winskiez, in dem ich nie ankam und dessen Reize ich erst viel später entdeckte, als ich nicht mal mehr direkt benachbart wohnte und über die ich ja schon schrieb.
Der Kollwitzplatz war die erste Adresse für alle, die neu auf den Berg kamen. Hier gab es Cafés und Kneipen, der Platz hatte den Flair von Paris nur irgendwie schöner und ruhiger. Hier wohnte der damals Bundestagspräsident Wolfgang Thierse und ging Gerd Schröder mit Bill Clinton beim Elsässer anner Ecke essen, den auch der Bundespräsident Rau mit Staatsgästen noch häufiger besuchte, auch wenn die Frage nahe liegt, ob dies eine Form des preußischen Masochismus war, in Erinnerung der verlorenen Provinzen, stellte sie sich bei dem Wuppertaler Bundespräsidenten so wenig wie bei dem Hannoveraner Kanzler, der auch nicht für sein besonderes historisches Bewusstsein bekannt war. Von der eher preußischen Kanzlerin wird nicht berichtet, dass sie die Vorlieben ihrer Vorgänger teilt. Immerhin waren die Straßen, bevor sie in der DDR nach Kollwitz genannt wurden schon namentlich in Beziehung zur ehemaligen Reichsprovinz Elsass-Lothringen.
Hier lag der Grieche, bei dem ich meine große und längste Liebe kennenlernte und hier lebten die Freunde, die ich von dort kannte. Eigentlich hatte ich mich dort, gleich zuhause gefühlt und die mehr als schicke Wohnung von A mit einer Traumküche im Berliner Zimmer und dem Schlafzimmer zum jüdischen Friedhof tat ein übriges, mich für den Kiez zu begeistern. Helle hohe Räume in der Wörther Straße gelegen in einem Haus mit teilweise relativ nobler, zumindest meist spannender Nachbarschaft lebte es sich gut, der zwar schwäbisch anmutende Aufzug tat ein übriges auch den vierten Stock locker erträglich zu finden. Es war dies die Wohnung, in der wir unsere Tochter zeugten, in eben jenem Schlafzimmer zum jüdischen Friedhof und so lebt die Erinnerung an diese Zeit weiter und wächst sogar noch immer mehr in meiner Tochter.
Der Kollwitzkiez ist das Viertel um den zentral gelegenen Kollwitzplatz, der nach der Malerin und Bildhauerin Käthe Kollwitz 1947 benannt wurde. Sie hat dort mit ihrem Mann, dem Arzt Karl Kollwitz zusammen gelebt. Ihr Wohnhaus steht nicht mehr, wurde ein Opfer des Krieges, aber ein dekoratives Schild und eine künstlerische Lichtanlage davor erinnern an das außergewöhnliche Ehepaar, das sich so vielfältig um Berlin verdient machte. Wobei die Lichtanlage meine ich irgendwie nach Charlottenburg ins Kollwitzmuseum gewandert ist. Bis dahin hieß der noch von natürlich Hobrecht angelegte Platz Wörtherplatz und erinnerte damit an die Gemeinde Woerth im damaligen Elsass-Lothringen, wovon zumindest die Straße blieb. Die heutige Kollwitzstraße, die bei Immobilien höchste Preise erzielt, hieß damals noch Weißenburger Straße hieß und meinte damit das heutige Wissembourg im auch Elsass. Das Viertel war 1875 also wenige Jahre nach dem von Moltke siegreich geführten deutsch-französischen Krieg errichtet wurden und so war die Benennung Ausdruck des neuen Patriotismus, jener seltsamen Pflanze, die so oft tödliche Blüten hervorbringt, wie sie viele zu begeistern beginnt.
Der Platz um den das Kollwitzviertel entstand, das weiter reicht als der Platz, sich im Osten bis zur Prenzlauer Allee erstreckt, an den Winskiez dort grenzend und im Norden erst an der Danziger Straße endet, auf der die Straßenbahnen heute vom Hauptbahnhof bis tief in den Friedrichshain quer durch die östliche Stadt fahren, ist rund 6000m² groß, baumbestanden mit Wiesen und Sandkisten zeitgemäß versehen und einem Denkmal der berühmten namensgebenden Anwohnerin Käthe Kollwitz von Gustav Seitz in seiner Mitte. Das Denkmal erfreut sich auch bei den zahlreichen Kindern der vielfältig berühmten Mütter vom Kollwitzplatz zunehmender Beliebtheit und wird ständig beklettert und begrapscht, warum es viele goldig glänzende Stellen aufweist. Es wurde vom Künstler nach einem Selbstportrait von Käthe Kollwitz geschaffen und die daraus entstandene Bronzeplastik wurde schließlich 1961 in der Mitte des Platzes aufgestellt, wo sie immer noch steht nur ohne sozialistischen Lametta.
Im Krieg blieb das Viertel bis auf drei Eckgrundstücke, auf denen viel später zeitgemäß hässliche Neubauten entstanden, weitestgehend von Schäden verschont und weist so eine immerhin noch relativ geschlossene schöne Architektur der Gründerzeit auf, zwar weniger als der größere und geschlossener erhaltene Helmholtzplatz, der aber ja gerade nicht Thema ist und also schon netter als andernorts. Dadurch wurde in dem Viertel wenig saniert oder im DDR-Stil neu gebaut, es blieb alles so ähnlich, wie es auch schon vor dem Krieg war - vom Außen- oder Etagenklo bis zur Ofenheizung. Erst zur 750 Jahr-Feier-Berlins wurden einige der anliegenden Straßen, besonders etwa die Husemannstraße, historisch nachempfunden und rekonstruiert.
Am 3. Oktober 1990 wurde am Kollwitzplatz für diese eine Nacht die Autonome Republik Utopia ausgerufen, die als Mikronation galt. Bis heute wurde der schon länger auch mehr in schwäbischer Hand befindliche Kollwitzkiez, der früher schlicht Kolle hieß, zur teuersten Wohngegend des Prenzlauer Berg, weil sich Geld scheinbar gern gesellt und weniger weil es dort noch interessanter oder schöner als andernorts wäre. Dass eine Schwäbische Fraktion einmal das Käthe Denkmal mit einem Spätzle Anschlag verunstaltete war zum Glück so folgenlos wie die gute Käthe dort ungerührt immer sitzt.
Käthe Kollwitz selbst lebte dort von 1891 bis 1943. Auch ihr Mann hatte bis zu seinem Tod seine Praxis dort, in der er viele gerade arme Menschen aus dem Arbeiterviertel auch kostenlos behandelte. So ist das Gedenken an zwei vom humanistischen Geist geprägte Anwohner dieses Platzes ein doppeltes, auch wenn die Bildhauerin heute die berühmtere fraglos ist, wird im Viertel auch noch vom Arzt gesprochen, zumindest von historisch halb gebildeten Menschen und immerhin weist das Schild an der Stelle ihres Hauses noch deutlich auf beide hin.
Der Kollwitzplatz selbst liegt in dem Dreieck, in dem sich die drei Straßen Wörther, Kollwitz und Knaack schneiden und bildet so eine kleine grüne Spitze inmitten. Interessant ist, dass dieses Dreieck von oben betrachtet aussieht, als sei es die Spitze des durch die Knaackstraße abgeflachten größeren grünen Dreiecks, das der jüdische Friedhof in Prenzlauer Berg ist, an dessen Seite sich wiederum der vor einigen Jahren sanierte Judengang befindet, durch den die jüdische Gemeinde von ihrer Synagoge in der Ryckestraße aus zum Eingang des Friedhofs in der Schönhauser Allee ging.
Diese Synagoge, die während der Nazizeit unter anderem deshalb nicht zerstört oder angesteckt wurde, weil sie zwischen den Häusern lag, steht zwischen Kollwitz- und Rykestraße, in der sich der Eingang befindet und ist mit den 2000 Plätzen die größte des Landes. Das in den Hinterhöfen gelegene Gebäude wurde 1903/04 im neo-romanischen Stil errichtet. Im Vorderhaus zur Straßenseite wurde schon im Jahr der Einweihung eine Religionsschule für bis zu 500 Schüler eingerichtet. Heute sitzt dort die Lauder Foundation, des bekannten Kosmetikunternehmens, die orthodoxe Rabbiner für Osteuropa ausbildet, was zur gelegentlichen Begegnung mit orthodoxen Juden, ihren Frauen und Kindern führt, was im Gegensatz zu Amsterdam oder Berlin in Deutschland doch eher selten wurde.
Bis zum nationalsozialistischen Terrorregime galt Prenzlauer Berg als Zentrum des jüdischen Lebens. In der Pogromnacht wurde die Synagoge zum Schutz der Nachbarhäuser zwar verschont, aber ihr Rabbiner und zahlreiche Gemeindemitglieder wurden ins KZ Sachsenhausen deportiert. Der letzte Gottesdienst fand dort 1940 statt. Danach wurde die Synagoge von der Heeresstandortverwaltung konfisziert und als Pferdestall und Depot missbraucht. Nach dem Krieg wurde sie von den Alliierten der Gemeinde zurückgegeben und bereits im Juli 1945 konnte Rabbiner Riesenburger dort die erste jüdische Trauung vollziehen. Sie wurde damals vielfach von Juden aus Osteuropa genutzt, die als displaced persons kamen. Die Synagoge wurde vor einigen Jahren auch mit Bundesmitteln aufwendig saniert und ist wieder ein wieder ein wichtiges Zentrum des jüdischen Lebens in Berlin geworden, was sicher auch dem Engagement des, ich meine zumindest, langjährigen Vorstehers der Gemeinde Dr. Hermann Simon zu verdanken ist, dem früheren Leiter des Centrum Judaicum in der Neuen Synagoge in der Oranienburger Straße.
Durch Simon, den ich über eine Kranzniederlegung für die gefallenen jüdischen Soldaten des 1. Weltkrieges kennenlernte, hatte ich auch das Glück an der privaten Feier einer wohlhabenden New Yorker Familie teilzunehmen, welche die Bar Mizwa ihrer Tochter in der alten Heimat feiern wollte und dafür die ganze Familie eingeflogen hatte. So hatte ich das Glück diese auch sakralen Räume nicht nur wie vorher als Besucher der jüdischen Kulturtage kennenzulernen, sondern auch ihren religiösen Zweck beobachten zu können, zu dem ich aber, wie üblich bei diesem mir eher fernen Thema lieber wenig sage. In vielem erinnerte die Bar Mizwa mich auch an eine Jugendweihe oder Konfirmation - eben ein Fest, bei dem Jugendliche neu in die Gemeinschaft aufgenommen werden und sich dabei mit eigenen Worten vor der Gemeinschaft bewähren müssen, wofür sie dann zur Begrüßung reich beschenkt werden. Eine Art Gipfelfest für einen Lebensabschnitt, wenn ich es richtig verstanden habe.
Von der Synagoge in der Rykestraße führt, wie schon, erwähnt der Judengang zum Eingang des Jüdischen Friedhofs in der Schönhauser Allee, der auch der vielen berühmter Berliner wegen, die hier ihre letzte Ruhe fanden, einen Besuch wert ist, wäre dieser teils uralte Friedhof mit seinem wunderbaren Baumbestand als Insel der Ruhe nicht schon bezaubernd genug. Einige Gerüchte sagen, der Gang musste angelegt werden, weil König Friedrich Wilhelm III. auf seinen Fahrten zum Lustschloss Schönhausen in Niederschönhausen, was heute auch zu Pankow alles gehört, keine Leichenzüge sehen wollte. Andere leiten die Existenzs des Gangs aus der Halacha her, den religiösen Richtlinien des Judentums, von denen ich noch weniger Ahnung habe als von den Sonderwünschen preußischer Könige, die aber nicht stimmig für den Witwer der Königin Luise wäre, der im Gegenteil die Emanzipation der Juden auch durch die in seiner Zeit wirkenden preußischen Reformer weit voranbrachte. Im Jahre 2003 wurde dieser Weg als Gartendenkmal wieder errichtet und steht den unmittelbaren Anwohnern als halbprivater Grünraum zur Verfügung, was sich gruselig beamtisch anhört, jenen aber, der den Blick auf dies Stück Weg von der Knaackstraße aus riskiert, schnell begeistert.
Der jüdische Friedhof liegt in der Schönhauser Allee 23-25, nördlich des Senefelderplatzes und wurde hauptsächlich zwischen 1827 und 1880 als solcher genutzt. Das Grundstück lag bei der Errichtung des Friedhofs an der Straße zum Dorf Pankow, noch vor der die Innenstadt umgebenden Akzisenmauer, die auf Höhe des Schönhauser Tores begann, was etwa dort stand, wo heute die Torstraße auf die Schönhauser Allee trifft und wo der Aufstieg zum Prenzlauer Berg ganz klassisch beginnt. Die jüdische Gemeinde hatte das 5 Hektar große Grundstück 1824 vom Meierei Besitzer Büttner erworben. Bis 1880 wurden dann auf diesem Friedhof alle in Berlin verstorbenen Juden beigesetzt. Der Friedhof hat 22.800 Einzelgräber und 750 Erbbegräbnisse und bis in die 70er Jahren fanden dort noch Beisetzungen auf lange reservierten Flächen statt. Als 1880 klar wurde, dass der Friedhof langfristig nicht ausreichen würde, wurde der Friedhof in Weißensee angelegt, der heute noch in Betrieb ist. Abweichend von orthodoxen Dogmen waren auf diesem Friedhof auch Feuerbestattungen möglich.
Auf dem Friedhof wird die zunehmende Integration und Emanzipation der Juden sichtbar, die sich immer mehr den Gewohnheiten ihrer Umgebung ästhetisch anpassten, keine Sonderrolle mehr spielen wollten. So wurden deutsche Inschriften neben den hebräischen Lettern normal, ersetzten sie sogar ganz. Bald war nur noch der Davidstern ein Hinweis auf die Religion der Verstorbenen. Einige berühmtere Gräber sind etwa das von Gerson von Bleichröder, dem Hofbankier und preußischen Regierungs- und Finanzberaters Bismarcks, Salomon Haberland und seine Frau wurden als Erbauer des bayerischen Viertels bekannt, Max Liebermann wurde im freistehenden Familienbegräbnis der großbürgerlichen Familie Liebermann beigesetzt, der Fabrikant Ludwig Loewe hat für seine jung verstorbene Frau auch ein besonderes Grabmal schaffen lasse, dass mit aller jüdischer Tradition brach, Hermann Markower war als Anwalt der Hohenzollern noch bekannter denn als Autor, das Eheppar Moritz Mannheimer, das weit sozial wirkte, hat sich auch ein besonderes Grab geschaffen, der Komponist und Generalmusikdirektor der königlichen Oper zu Berlin, Giacomo Meyerbeer, liegt im Erbbegräbnis der Familie Beer, wie er ursprünglich auch hieß, James Simon, der erfolgreiche Kaufmann und kenntnisreiche Kunstsammler, vermachte seiner Heimatstadt nicht nur viele soziale Stiftungen sondern auch die berühmte Büste der Nofretete, die heute im Neuen Museum steht, liegt dort neben seiner Frau.
Im Krieg wurde die ursprüngliche Eingangshalle zerstört und heute durch ein gläsernes Lapidarium ersetzt, in dem nicht mehr zuzuordnende Steine stehen. Nach 1988 kam es mehrfach zu Vandalismus auf dem Friedhof, bei dem einige Gräber zerstört oder umgeworfen wurden. Nach Angaben der Polizei gäbe es keine Hinweise auf eine antisemitische Tat, dass gebe ich mal einfach so weiter, möge sich jeder kritisch seinen Teil dabei denken.
Folge ich aber nun von der Knaackstraße aus, nicht dem Judengang sondern der Straße weiter, komme ich nach Überquerung der Wörther Straße und der Sredzkistraße zum Gelände der Kulturbrauerei, das ich auch von der anderen Seite erreiche, wenn ich aus dem Friedhof tretend der Schönhauser Allee folge, bis von dieser die Sredzkistraße abgeht. Folge ich der Allee, sehe ich, wenn ich zur Kulturbrauerei abbiege noch in der Mitte der Straße die U-Bahn aus dem Untergrund auftauchen und zur O-Bahn werden. Das große von Franz Schwechten geschaffene Gebäudeensemble der Brauerei gehörte ehemals zur Schultheiß Brauerei. Überhaupt sind die zahlreichen Brauereien und ihre Überbleibsel ein typisches Merkmal des Prenzlauer Berges. Auch das direkt am Volkspark Friedrichshain gelegene Bötzow Viertel setzt diese Tradition fort, in dem es den Namen einer großen Brauerfamilie wach hält.
Die heutige Kulturbrauerei steht auf einem Gelände von 25.000m² und gehört zu den wenigen gut erhaltenen Industriedenkmälern Berlins aus der Zeit des 19. Jahrhunderts. Die Treuhand Liegenschaft TLG betrieb die Kulturbrauerei lange kommerziell als Kulturzentrum im Kollwitzkiez. Seit dem Verkauf der TLG an den US-Investor Lone 2012 gehört diesem auch die Kulturbrauerei. Dort gibt es neben Kinos, Theater, Konzertsäle Discos, Läden, Supermärkte und sogar Verlage oder die Lyrikwerkstatt.
Das ganze Ensemble wurde dem Geschmack der Zeit entsprechend von dem Architekten Franz Schwechten im Stil einer mittelalterlichen Burganlage gestaltet. Zumindest für die jährlichen Weihnachstmärkte gibt dies die romantischst mögliche Atmosphäre, übersehen wir den immer Kitschfaktor. In der Zeit des Nationalsozialismus wurde die durch mehrere Fusionen inzwischen größte Brauerei Deutschlands Schultheiß zum nationalsozialistischen Musterbetrieb erklärt. Dies führte zu einer privilegierten Produktion auch in Kriegszeiten. In den alten Kellern produzierten währenddessen ukrainische Zwangsarbeiterinnen kriegswichtige Nachrichtengeräte für die Wehrmacht im Auftrag der Telefunken. Während der Schlacht um Berlin verschanzte sich ein Stab der Festung Berlin in einem der Tiefkeller, was dazu führte, dass zahlreiche Anwohner, welche die weiße Fahne hissten und auch Deserteure, von dort aussofort erschossen wurden. Dennoch überstanden die Gebäude den Krieg relativ unbeschadet und am 30.10.1945 eröffneten sie schon wieder als VEB Schultheiss-Brauerei Schönhauser Allee.
Unter Mitwirkung des Bundestagspräsidenten und Anwohners Wolfgang Thierse wurden die Verträge zur Sanierung des Geländes als Kulturstandort geschlossen. Bei der Sanierung ab 1998 wurde darauf geachtet den ursprünglichen Charakter des Geländes zu erhalten und überall erkennbar zu machen, was auch ziemlich gut gelungen ist. Die Kulturbrauerei ist heute ein wichtiger Kulturstandort - hier finden Konzerte so sehr wie Märkte und sonstige Happenings statt. Der Ort wird das ganze Jahr mit verschiedenen Angeboten bespielt, in dem sich einerseits in den Nachtstunden jüngeres Publikum um die Discos und Clubs schart, einmal sogar ein Türsteher im Rockerstreit wohl erschossen wurde, andererseits auch Hochkultur und Theater neben großem Kino steht und immer wieder Sonntags nun die Streetfood Märkte stattfinden. Die Kulturbrauerei liegt eben im Zentrum der Weltstadt Berlin und nicht irgendwo im Vorort Pankow.
Märkte spielen eine große Rolle im Kollwitzkiez und haben den Ruf des Viertels in der Stadt mitbegründet. Der größte und wichtigste ist mittlerweile der Samstagsmarkt, der im Stil eines Wochenmarktes mit auch Feinkost und Nippes Ständen Touristen und Besuche aus der ganzen Stadt anzieht und die Bewohner zeitweise bis zum abwinken nervte, so dass diese alles versuchten, den Markt wieder vor ihrer Tür los zu werden. Was in der Wörther Straße begann, verlagerte sich teilweise in die Knaak Straße und hat nun seine vernünftigste Heimat in der Kollwitzstraße in der er problemlos noch nach vorne und hinten wachsen könnte, aber auch das wird vermutlich wieder viele Kämpfe und großes Engagement bedeuten. Jedenfalls ist der Markt sehr beliebt. Zu Zeiten von Rot-Grün traf ich dort eigentlich jeden Samstag Außenminister Fischer wichtig telefonierend über den Markt eilen oder verliebt später wieder mit junger Begleitung und Bodyguards schlendernd und Umweltminister Trittin, der sich gerne am Kaffeestand inmitten aufhielt, weniger wichtig tun musste. Es war ein Ort, um da zu sein und gesehen zu werden, es war schick dort zu sein und ich fand es nett da zu wohnen, bis die Austern- und Krabbenbräter ihre Ausdünstungen zeitweise zu sehr in unsere Richtung schickten und ich den Widerstand mancher Anwohner plötzlich verstand.
An Donnerstagen findet noch der Öko-Markt am Kollwitzplatz statt, auf einem Stück der Wörther Straße zwischen Knaak Straße und Kollwitz Straße, auf dem einige Bauern, Antiquare, Käseläden, Metzger, Crépe, Waffel und Weinverkäufer ihre Waren an die Mütter vom Kollwitzplatz und ander ökologisch bewusste Anwohner verkaufen. Auch dieser Markt ist ein beliebter Treffpunkt der typischen Kollwitz-Schickeria zwischen Schwanger, Kinderwagen und Eigentumswohnung geworden, die viele der Ureinwohner schon vergraulte, weil das “Platz da, ich bin Mutter” in Anbetracht der Menge und Häufigkeit langsam lästig wurde. Ansonsten ist es eben ein Platz im Wandel, der sich den Anforderungen und Bedingungen der neuen Zeit anpasst und der vom ursprünglichen Kiez zu einer Gegend für Wohlhabende wurde, die ihre Kinder zum schicken Zahnarzt mit der top designten Praxis direkt am Platz schicken.
An der Ecke Kollwitzstraße Wörther Straße wurde vor einige Jahren noch die auch von Touristen hoch frequentierte längste Bank der Stadt, am Rande des dort freien Eckgründstückes eingerichtet, das auch als kleine Parkanlage eingerichtet wurde und auf der sich am Wochenende gern auch die erschöpften Marktbesucher erholen, ihre Einkäufe bestaunen und sich mit Leckereien von nebenan abfüllen. Eine auch soziale Ecke, in der sich manch überraschende Gespräche mit den dort immer wieder anwesenden Promis finden, wenn sie gerade mal wieder Aufmerksamkeit benötigen.
In der Knaak Straße befindet sich auf der rechten Seite hinter der Wörther Straße noch eine große Kita-Anlage mit Spielflächen zur Wörther Straße und dahinter Richtung Kulturbrauerei noch eine Grundschule. DDR Platten nach dem Standard Modell, wie sie überall im Osten zu finden sind eine zumindest stete Erinnerung, wir sind hier im alten Osten, so schick er sich auch wieder macht.
Folge ich auf Höhe der Kulturbrauerei der Sredzkistraße, warten wiederum zahllose Bars auf mich, die allerdings mehr von Touristen und den Bewohnern anderer Vororte Berlins frequentiert werden. Gehe ich dann aber in der schon zu DDR Zeiten sanierten Husemannstraße nach rechts wieder in Richtung Kollwitzplatz, dort wo an der Ecke das schon traditionelle Café Oktober steht, komme ich auf der anderen Straßenseite bei Flo vorbei, dem französischen Feinkostladen mit sehr feinen Weinen und besten Pasteten vor allem früher den besten Baguette im Kiez, der einst mit einem Stand am Samstagsmarkt sein Dasein als Geheimtipp für Feinschmecker begann und den ich auch noch aus der Zeit kenne und so ist zumindest einiges weniges noch vertraut in diesem Kiez. Gleiches gilt auch für den dahinter gelegenen Eisladen von Maria, der zierlichen Italienerin, die das beste Eis im ganzen Kiez verkauft und wer nicht bis zum besten Eisladen Berlins im Helmholtzkiez laufen will, findet auch dort gute Qualität.
Gehe ich statt rechts in die Husemannstraße einzubiegen geradeaus die Sredzkistraße weiter, komme ich noch an einige immer nobleren Boutiquen vorbei, um an der Ecke auf das sehr beliebte Café Anna Blume zu stoßen, das die Ecke Kollwitzstraße auch für viele Touristen bewirtschaftet, gutes Essen und vor allem gute Backwaren bietet, die auf der gegenüberliegenden Straßenseite im älteren Sowohl als Auch mit seiner angeschlossenen Bäckerei schon lange produziert werden. Beide sind gut besucht, die Anwohner treffen sich eher im älteren Sowohl als Auch, die Gäste auf der schöneren Seite gegenüber im literarisch benannten Anna Blume, die allerdings nur an Kurt Schwitters und nicht an Erich Fried erinnern, der den Dada-Dichter noch genial fortsetzte.
Biege ich dann von der Sredzkistraße in die Rykestraße ein, führt mich der Weg wieder vorbei an zahlreichen schicken Boutiquen voller Schnickschnack und einigen gastronomischen Betrieben zu denen ich nicht wirklich eine glaubwürdige Aussage machen kann. Nach der Kollwitzstraße findet sich in einem Hinterhof eine der schönsten Saunen in Prenzlauer Berg, in der die Mütter und Väter vom Kollwitzplatz auch mal ohne alles betrachtet werden können, was nur gelegentlich noch lohnt, dafür ist der erholsame Sauna Besuch um so erquicklicher.
Die Rykestraße führt direkt auf den Wasserturm an ihrem Ende zu, den erreicht, wer auch noch das fast traditionelle russische Café und Restaurant Pasternak an der Ecke Knaackstraße hinter sich ließ, was schon länger nach meinen wenigen kulinarischen Informationen besser so ist.
Der Namensgeber der Straße Bernhard Ryke war übrigens von 1447-1448 Bürgermeister von Berlin und maßgeblich am Berliner Unwillen beteiligt, der auch den benachbarten Thomas Wins sein Amt kostete. Die Familie Ryke oder Reiche war eine weitverzweigte märkische Patrizierfamilie, die im 14. und 15. Jahrhundert mehrfach kommunale Ämter in Berlin und Cölln innehatte. Der Berliner Unwille ist die Auseinandersetzung der Berliner und Cöllner Stadtbürger mit dem Landesherren Friedrich II. Kurfürst aus dem Hause Hohenzollern, um den Bau einer Burg auf der Spreeinsel, dem späteren Schloss der Hohenzollern und der dafür nötigen Verpflichtung zur Abgabe von Land. Es ging dabei um die Autonomie der Stadtbürger gegenüber ihrem Landesherren und um diese zu erkämpfen wurde unter anderem die Baustelle der Burg zwischenzeitlich unter Wasser gesetzt. Der 1448 gefundene Kompromiss bedeutete de facto einen Verlust der städtischen Freiheiten. Gegen Friedrich lehnten sich neben Ryke auch von Blankenfelde und Wins auf.
In de Rykestraße gibt es auch noch zwei Gedenktafeln für antifaschistische Widerstandskämpfer, die in der DDR besonders geehrt wurden. Es sind der Kommunist Franz Huth und der Widerstandskämpfer Johannes Wolf. Der Ton der Tafeln erinnert an die Wurzeln der Verehrung des antifaschistischen Widerstandes und mahnt den Wessi, daran zu denken, wo er sich hier befindet.
Am südlichen Ende der Rykestraße aber befindet sich die Grünanlage um den seit den 70er Jahren nicht mehr genutzten Wasserturm Prenzlauer Berg. Das von 1853 bis 1877 errichtete Gebäude hieß bei den Berlinern Dicker Hermann und war das Wasserreservoir für die neuen Wohngegenden im Berliner Nordosten. Im Turm existieren heute Wohnungen in sechs Stockwerken, die früher als Werkswohnungen der Wasserarbeiter dienten und heute sehr beliebt sind. Unter dem erhöhten Gelände hinter dem Wasserturm befindet sich ein unterirdischer Tiefspeicher, der heute teilweise für kulturelle Happenings genutzt wird. Die Wasserturmanlage steht heute natürlich unter Denkmalschutz und der Turm war Teil des Wappen von Prenzlauer Berg, bis dieses mit Pankow zusammengelegt wurde und zwangsweise sich nach der östlichen Provinz benannte.
Die SA hat bereits im Frühjahr 1933 im Maschinenhaus I das KZ Wasserturm errichtet. Angeblich wurde in den unterirdischen Kellern gefoltert und es spricht angesichts der sonstigen Grausamkeit des Regimes wenig dagegen, dass dem so war. Habe dafür allerdings noch keine historisch glaubwürdigen Belege gefunden.
Wenden wir uns vom wunderschönen Wasserturm, zu dessen Fuß sich zwei schöne Spielplätze mit wunderbar Schatten gebenden großen Bäumen befinden, was Eltern aus Erfahrung zu schätzen wissen, nach rechts und überqueren die dort Kolmarer Straße kommen wir auf dem Gelände mit der Adresse Prenzlauer Allee 227/228 zum Kultur und Bildungszentrum Sebastian Haffner. Diese ehemalige Schule, deren Direktor der Vater des Autors und Journalisten Sebastian Haffner war, ist auch durch auch das verdienstvolle Engagement des Kulturforums Nordos und meines Freundes M geworden, was sie ist und beherbergt das 1992 entstandene Prenzlauer Berg Museum.
Sebastian Haffner, der eigentlich Raimund Pretzel hieß, war Publizist, Journalist, Historiker, Schriftsteller, Korrespondent und Kolumnist. Er wurde 1907 in Berlin geboren und verstarb 1999 auch dort, hatte aber dazwischen einiges erlebt und verfasst. Der Jurist war nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten zu dem Schluss gekommen, dass der Rechtsstaat dort verloren hatte und entschied sich 1938 ins englische Exil zu gehen, von wo er 1954 als Korrespondent des Observer nach Berlin zurückkehrte. Haffner ist keinem politischen Lager klar zuzuordnen, vertrat in der 68er Zeit auch linke Positionen oder verteidigte die Freiheit des Journalismus in der Spiegel-Affäre. Bekannt wurde er besonders durch seine Anmerkungen zu Hitler. Seine besondere Fähigkeit war, komplexe historische Zusammenhänge für ein breites Publikum verständlich einfach darzustellen.
Das Prenzlauer Berg Museum heißt natürlich in seinem Museumsverbund im Bezirk heute Museum Pankow, erzählt dennoch für alle interessierten sehr gut die Geschichte des Berges und in der gegenüber im alten Schulgebäude gelegenen Bibliothek am Wasserturm können Neugierige manchmal noch mehr Informationen finden und den dortigen Räumen der Volkshochschule wird zumindest wieder irgendwas gelernt, auch wenn das Museum Pankow heißt so mitten in Prenzlauer Berg und unter seinem alten Wahrzeichen.
Folge ich nun wieder der Knaackstraße vorm Wasserturm komme ich wieder zum Kollwitzplatz, an der Ecke zur Kollwitzstraße befindet sich der Gugelhof, ein immer noch guter Elsässer, wobei ich nicht weiß, ob der neue Bundespräsident dort wieder verkehren wird. Der Kollwitzkiez hat nicht nur dem Namen nach viel Geschichte, er ist auch der berühmteste Kiez bisher, was mit an der Kolumne über die Mütter vom Kollwitzplatz aus dem Tagesspiegel liegt, die zum Kultstatus beitrug. Es ist schön da, zum anschauen aber für meinen Geschmack inzwischen viel zu viele Touristen und zu wenig echtes Caféhausleben, wofür sich der Platz eigentlich wunderbar anböte, stattdessen zocken Asiaten die Touristen mit Sonderangeboten ab, schließt nun auch das traditionelle Restaurant 1900 an der Ecke Husemannstraße zur Wörther Straße und der Rest ist kaum mehr der Rede wert, aber scheinbar für viele sehr anziehend und gut besucht.
Erzählen könnte ich noch vom Bücherbaum in der Sredzkistraße kurz vor der Kollwitzstraße, in dem Bücher getauscht oder mitgenommen werden können und in dem sich manchmal überraschend schöne Sachen finden, vom Badeladen, mit den netten Damen, der mit dem schicken Küchenladen in der Wörther Straße zusammen zum neuen Stil der Gegend passt. Der sehr schön ohne Frage ist und doch für manche ein touristischer Fremdkörper blieb, der für die Veränderung des Viertels steht, bei dem noch unklar ist, was aus ihm wird. Schön ist auch der Abenteuerspielplatz am Anfang der Kollwitzstraße mit Gelegenheiten zum Hüttenbau oder Schweißen, der nunmehr im Schatten eines sehr gelben Neubaus steht, statt hinter einer freien Wiese auf der, als ich her zog noch ein Bauwagen als freie Bar stand und der inzwischen, wie wunderbar passend mit der LPG über zwei Etagen Europas angeblich größten Bio-Markt beheimatet, der boomt und vor dem sich die Muttis in ihren Geländewagen um die wenigen Parkplätze streiten, ob auf schwäbisch oder sonst zugezogen. Das Viertel hat viele liebenswerte Ecken aber ich weiß nicht mehr, was es ist und was in ihm lebt. Nun werde ich bald meinen Freund J, den ich vom Griechen am Platz noch kenne hier am Helmholtzplatz treffen, obwohl er ja direkt am Kollwitzplatz lebt, weil auch ihn scheinbar nur noch wenig dort hält. Es ist schön da, lohnt sich anzuschauen, wer in Immobilien investiert, schafft vermutlich eine gute Wertanlage, ansonsten naja.
Der Kolle ist wohl nicht mehr, was er mal war, aber was bleibt schon, wie es ist und so ist in Berlin vieles in Veränderung und wer weiß wohin es geht.
jens tuengerthal 2.4.2017
Am Kolle
War lange nicht mehr da, denke ich und frage mich, welchen Grund ich hätte, dort hin zu gehen, was mich anzöge und das ist immer schon ein schlechter Anfang, wenn ich überlegen muss, was mich da noch hin zöge.
Als ich hin zog, zog mich die Liebe, war es für mich noch der schönste Platz in Prenzlauer Berg und ich konnte mir nicht vorstellen irgendwo besser und eleganter zu wohnen als dort. Kannte zwar die anderen nicht wirklich, schloss mich aber der Meinung dort gern an. Kam aus dem benachbarten Winskiez, in dem ich nie ankam und dessen Reize ich erst viel später entdeckte, als ich nicht mal mehr direkt benachbart wohnte und über die ich ja schon schrieb.
Der Kollwitzplatz war die erste Adresse für alle, die neu auf den Berg kamen. Hier gab es Cafés und Kneipen, der Platz hatte den Flair von Paris nur irgendwie schöner und ruhiger. Hier wohnte der damals Bundestagspräsident Wolfgang Thierse und ging Gerd Schröder mit Bill Clinton beim Elsässer anner Ecke essen, den auch der Bundespräsident Rau mit Staatsgästen noch häufiger besuchte, auch wenn die Frage nahe liegt, ob dies eine Form des preußischen Masochismus war, in Erinnerung der verlorenen Provinzen, stellte sie sich bei dem Wuppertaler Bundespräsidenten so wenig wie bei dem Hannoveraner Kanzler, der auch nicht für sein besonderes historisches Bewusstsein bekannt war. Von der eher preußischen Kanzlerin wird nicht berichtet, dass sie die Vorlieben ihrer Vorgänger teilt. Immerhin waren die Straßen, bevor sie in der DDR nach Kollwitz genannt wurden schon namentlich in Beziehung zur ehemaligen Reichsprovinz Elsass-Lothringen.
Hier lag der Grieche, bei dem ich meine große und längste Liebe kennenlernte und hier lebten die Freunde, die ich von dort kannte. Eigentlich hatte ich mich dort, gleich zuhause gefühlt und die mehr als schicke Wohnung von A mit einer Traumküche im Berliner Zimmer und dem Schlafzimmer zum jüdischen Friedhof tat ein übriges, mich für den Kiez zu begeistern. Helle hohe Räume in der Wörther Straße gelegen in einem Haus mit teilweise relativ nobler, zumindest meist spannender Nachbarschaft lebte es sich gut, der zwar schwäbisch anmutende Aufzug tat ein übriges auch den vierten Stock locker erträglich zu finden. Es war dies die Wohnung, in der wir unsere Tochter zeugten, in eben jenem Schlafzimmer zum jüdischen Friedhof und so lebt die Erinnerung an diese Zeit weiter und wächst sogar noch immer mehr in meiner Tochter.
Der Kollwitzkiez ist das Viertel um den zentral gelegenen Kollwitzplatz, der nach der Malerin und Bildhauerin Käthe Kollwitz 1947 benannt wurde. Sie hat dort mit ihrem Mann, dem Arzt Karl Kollwitz zusammen gelebt. Ihr Wohnhaus steht nicht mehr, wurde ein Opfer des Krieges, aber ein dekoratives Schild und eine künstlerische Lichtanlage davor erinnern an das außergewöhnliche Ehepaar, das sich so vielfältig um Berlin verdient machte. Wobei die Lichtanlage meine ich irgendwie nach Charlottenburg ins Kollwitzmuseum gewandert ist. Bis dahin hieß der noch von natürlich Hobrecht angelegte Platz Wörtherplatz und erinnerte damit an die Gemeinde Woerth im damaligen Elsass-Lothringen, wovon zumindest die Straße blieb. Die heutige Kollwitzstraße, die bei Immobilien höchste Preise erzielt, hieß damals noch Weißenburger Straße hieß und meinte damit das heutige Wissembourg im auch Elsass. Das Viertel war 1875 also wenige Jahre nach dem von Moltke siegreich geführten deutsch-französischen Krieg errichtet wurden und so war die Benennung Ausdruck des neuen Patriotismus, jener seltsamen Pflanze, die so oft tödliche Blüten hervorbringt, wie sie viele zu begeistern beginnt.
Der Platz um den das Kollwitzviertel entstand, das weiter reicht als der Platz, sich im Osten bis zur Prenzlauer Allee erstreckt, an den Winskiez dort grenzend und im Norden erst an der Danziger Straße endet, auf der die Straßenbahnen heute vom Hauptbahnhof bis tief in den Friedrichshain quer durch die östliche Stadt fahren, ist rund 6000m² groß, baumbestanden mit Wiesen und Sandkisten zeitgemäß versehen und einem Denkmal der berühmten namensgebenden Anwohnerin Käthe Kollwitz von Gustav Seitz in seiner Mitte. Das Denkmal erfreut sich auch bei den zahlreichen Kindern der vielfältig berühmten Mütter vom Kollwitzplatz zunehmender Beliebtheit und wird ständig beklettert und begrapscht, warum es viele goldig glänzende Stellen aufweist. Es wurde vom Künstler nach einem Selbstportrait von Käthe Kollwitz geschaffen und die daraus entstandene Bronzeplastik wurde schließlich 1961 in der Mitte des Platzes aufgestellt, wo sie immer noch steht nur ohne sozialistischen Lametta.
Im Krieg blieb das Viertel bis auf drei Eckgrundstücke, auf denen viel später zeitgemäß hässliche Neubauten entstanden, weitestgehend von Schäden verschont und weist so eine immerhin noch relativ geschlossene schöne Architektur der Gründerzeit auf, zwar weniger als der größere und geschlossener erhaltene Helmholtzplatz, der aber ja gerade nicht Thema ist und also schon netter als andernorts. Dadurch wurde in dem Viertel wenig saniert oder im DDR-Stil neu gebaut, es blieb alles so ähnlich, wie es auch schon vor dem Krieg war - vom Außen- oder Etagenklo bis zur Ofenheizung. Erst zur 750 Jahr-Feier-Berlins wurden einige der anliegenden Straßen, besonders etwa die Husemannstraße, historisch nachempfunden und rekonstruiert.
Am 3. Oktober 1990 wurde am Kollwitzplatz für diese eine Nacht die Autonome Republik Utopia ausgerufen, die als Mikronation galt. Bis heute wurde der schon länger auch mehr in schwäbischer Hand befindliche Kollwitzkiez, der früher schlicht Kolle hieß, zur teuersten Wohngegend des Prenzlauer Berg, weil sich Geld scheinbar gern gesellt und weniger weil es dort noch interessanter oder schöner als andernorts wäre. Dass eine Schwäbische Fraktion einmal das Käthe Denkmal mit einem Spätzle Anschlag verunstaltete war zum Glück so folgenlos wie die gute Käthe dort ungerührt immer sitzt.
Käthe Kollwitz selbst lebte dort von 1891 bis 1943. Auch ihr Mann hatte bis zu seinem Tod seine Praxis dort, in der er viele gerade arme Menschen aus dem Arbeiterviertel auch kostenlos behandelte. So ist das Gedenken an zwei vom humanistischen Geist geprägte Anwohner dieses Platzes ein doppeltes, auch wenn die Bildhauerin heute die berühmtere fraglos ist, wird im Viertel auch noch vom Arzt gesprochen, zumindest von historisch halb gebildeten Menschen und immerhin weist das Schild an der Stelle ihres Hauses noch deutlich auf beide hin.
Der Kollwitzplatz selbst liegt in dem Dreieck, in dem sich die drei Straßen Wörther, Kollwitz und Knaack schneiden und bildet so eine kleine grüne Spitze inmitten. Interessant ist, dass dieses Dreieck von oben betrachtet aussieht, als sei es die Spitze des durch die Knaackstraße abgeflachten größeren grünen Dreiecks, das der jüdische Friedhof in Prenzlauer Berg ist, an dessen Seite sich wiederum der vor einigen Jahren sanierte Judengang befindet, durch den die jüdische Gemeinde von ihrer Synagoge in der Ryckestraße aus zum Eingang des Friedhofs in der Schönhauser Allee ging.
Diese Synagoge, die während der Nazizeit unter anderem deshalb nicht zerstört oder angesteckt wurde, weil sie zwischen den Häusern lag, steht zwischen Kollwitz- und Rykestraße, in der sich der Eingang befindet und ist mit den 2000 Plätzen die größte des Landes. Das in den Hinterhöfen gelegene Gebäude wurde 1903/04 im neo-romanischen Stil errichtet. Im Vorderhaus zur Straßenseite wurde schon im Jahr der Einweihung eine Religionsschule für bis zu 500 Schüler eingerichtet. Heute sitzt dort die Lauder Foundation, des bekannten Kosmetikunternehmens, die orthodoxe Rabbiner für Osteuropa ausbildet, was zur gelegentlichen Begegnung mit orthodoxen Juden, ihren Frauen und Kindern führt, was im Gegensatz zu Amsterdam oder Berlin in Deutschland doch eher selten wurde.
Bis zum nationalsozialistischen Terrorregime galt Prenzlauer Berg als Zentrum des jüdischen Lebens. In der Pogromnacht wurde die Synagoge zum Schutz der Nachbarhäuser zwar verschont, aber ihr Rabbiner und zahlreiche Gemeindemitglieder wurden ins KZ Sachsenhausen deportiert. Der letzte Gottesdienst fand dort 1940 statt. Danach wurde die Synagoge von der Heeresstandortverwaltung konfisziert und als Pferdestall und Depot missbraucht. Nach dem Krieg wurde sie von den Alliierten der Gemeinde zurückgegeben und bereits im Juli 1945 konnte Rabbiner Riesenburger dort die erste jüdische Trauung vollziehen. Sie wurde damals vielfach von Juden aus Osteuropa genutzt, die als displaced persons kamen. Die Synagoge wurde vor einigen Jahren auch mit Bundesmitteln aufwendig saniert und ist wieder ein wieder ein wichtiges Zentrum des jüdischen Lebens in Berlin geworden, was sicher auch dem Engagement des, ich meine zumindest, langjährigen Vorstehers der Gemeinde Dr. Hermann Simon zu verdanken ist, dem früheren Leiter des Centrum Judaicum in der Neuen Synagoge in der Oranienburger Straße.
Durch Simon, den ich über eine Kranzniederlegung für die gefallenen jüdischen Soldaten des 1. Weltkrieges kennenlernte, hatte ich auch das Glück an der privaten Feier einer wohlhabenden New Yorker Familie teilzunehmen, welche die Bar Mizwa ihrer Tochter in der alten Heimat feiern wollte und dafür die ganze Familie eingeflogen hatte. So hatte ich das Glück diese auch sakralen Räume nicht nur wie vorher als Besucher der jüdischen Kulturtage kennenzulernen, sondern auch ihren religiösen Zweck beobachten zu können, zu dem ich aber, wie üblich bei diesem mir eher fernen Thema lieber wenig sage. In vielem erinnerte die Bar Mizwa mich auch an eine Jugendweihe oder Konfirmation - eben ein Fest, bei dem Jugendliche neu in die Gemeinschaft aufgenommen werden und sich dabei mit eigenen Worten vor der Gemeinschaft bewähren müssen, wofür sie dann zur Begrüßung reich beschenkt werden. Eine Art Gipfelfest für einen Lebensabschnitt, wenn ich es richtig verstanden habe.
Von der Synagoge in der Rykestraße führt, wie schon, erwähnt der Judengang zum Eingang des Jüdischen Friedhofs in der Schönhauser Allee, der auch der vielen berühmter Berliner wegen, die hier ihre letzte Ruhe fanden, einen Besuch wert ist, wäre dieser teils uralte Friedhof mit seinem wunderbaren Baumbestand als Insel der Ruhe nicht schon bezaubernd genug. Einige Gerüchte sagen, der Gang musste angelegt werden, weil König Friedrich Wilhelm III. auf seinen Fahrten zum Lustschloss Schönhausen in Niederschönhausen, was heute auch zu Pankow alles gehört, keine Leichenzüge sehen wollte. Andere leiten die Existenzs des Gangs aus der Halacha her, den religiösen Richtlinien des Judentums, von denen ich noch weniger Ahnung habe als von den Sonderwünschen preußischer Könige, die aber nicht stimmig für den Witwer der Königin Luise wäre, der im Gegenteil die Emanzipation der Juden auch durch die in seiner Zeit wirkenden preußischen Reformer weit voranbrachte. Im Jahre 2003 wurde dieser Weg als Gartendenkmal wieder errichtet und steht den unmittelbaren Anwohnern als halbprivater Grünraum zur Verfügung, was sich gruselig beamtisch anhört, jenen aber, der den Blick auf dies Stück Weg von der Knaackstraße aus riskiert, schnell begeistert.
Der jüdische Friedhof liegt in der Schönhauser Allee 23-25, nördlich des Senefelderplatzes und wurde hauptsächlich zwischen 1827 und 1880 als solcher genutzt. Das Grundstück lag bei der Errichtung des Friedhofs an der Straße zum Dorf Pankow, noch vor der die Innenstadt umgebenden Akzisenmauer, die auf Höhe des Schönhauser Tores begann, was etwa dort stand, wo heute die Torstraße auf die Schönhauser Allee trifft und wo der Aufstieg zum Prenzlauer Berg ganz klassisch beginnt. Die jüdische Gemeinde hatte das 5 Hektar große Grundstück 1824 vom Meierei Besitzer Büttner erworben. Bis 1880 wurden dann auf diesem Friedhof alle in Berlin verstorbenen Juden beigesetzt. Der Friedhof hat 22.800 Einzelgräber und 750 Erbbegräbnisse und bis in die 70er Jahren fanden dort noch Beisetzungen auf lange reservierten Flächen statt. Als 1880 klar wurde, dass der Friedhof langfristig nicht ausreichen würde, wurde der Friedhof in Weißensee angelegt, der heute noch in Betrieb ist. Abweichend von orthodoxen Dogmen waren auf diesem Friedhof auch Feuerbestattungen möglich.
Auf dem Friedhof wird die zunehmende Integration und Emanzipation der Juden sichtbar, die sich immer mehr den Gewohnheiten ihrer Umgebung ästhetisch anpassten, keine Sonderrolle mehr spielen wollten. So wurden deutsche Inschriften neben den hebräischen Lettern normal, ersetzten sie sogar ganz. Bald war nur noch der Davidstern ein Hinweis auf die Religion der Verstorbenen. Einige berühmtere Gräber sind etwa das von Gerson von Bleichröder, dem Hofbankier und preußischen Regierungs- und Finanzberaters Bismarcks, Salomon Haberland und seine Frau wurden als Erbauer des bayerischen Viertels bekannt, Max Liebermann wurde im freistehenden Familienbegräbnis der großbürgerlichen Familie Liebermann beigesetzt, der Fabrikant Ludwig Loewe hat für seine jung verstorbene Frau auch ein besonderes Grabmal schaffen lasse, dass mit aller jüdischer Tradition brach, Hermann Markower war als Anwalt der Hohenzollern noch bekannter denn als Autor, das Eheppar Moritz Mannheimer, das weit sozial wirkte, hat sich auch ein besonderes Grab geschaffen, der Komponist und Generalmusikdirektor der königlichen Oper zu Berlin, Giacomo Meyerbeer, liegt im Erbbegräbnis der Familie Beer, wie er ursprünglich auch hieß, James Simon, der erfolgreiche Kaufmann und kenntnisreiche Kunstsammler, vermachte seiner Heimatstadt nicht nur viele soziale Stiftungen sondern auch die berühmte Büste der Nofretete, die heute im Neuen Museum steht, liegt dort neben seiner Frau.
Im Krieg wurde die ursprüngliche Eingangshalle zerstört und heute durch ein gläsernes Lapidarium ersetzt, in dem nicht mehr zuzuordnende Steine stehen. Nach 1988 kam es mehrfach zu Vandalismus auf dem Friedhof, bei dem einige Gräber zerstört oder umgeworfen wurden. Nach Angaben der Polizei gäbe es keine Hinweise auf eine antisemitische Tat, dass gebe ich mal einfach so weiter, möge sich jeder kritisch seinen Teil dabei denken.
Folge ich aber nun von der Knaackstraße aus, nicht dem Judengang sondern der Straße weiter, komme ich nach Überquerung der Wörther Straße und der Sredzkistraße zum Gelände der Kulturbrauerei, das ich auch von der anderen Seite erreiche, wenn ich aus dem Friedhof tretend der Schönhauser Allee folge, bis von dieser die Sredzkistraße abgeht. Folge ich der Allee, sehe ich, wenn ich zur Kulturbrauerei abbiege noch in der Mitte der Straße die U-Bahn aus dem Untergrund auftauchen und zur O-Bahn werden. Das große von Franz Schwechten geschaffene Gebäudeensemble der Brauerei gehörte ehemals zur Schultheiß Brauerei. Überhaupt sind die zahlreichen Brauereien und ihre Überbleibsel ein typisches Merkmal des Prenzlauer Berges. Auch das direkt am Volkspark Friedrichshain gelegene Bötzow Viertel setzt diese Tradition fort, in dem es den Namen einer großen Brauerfamilie wach hält.
Die heutige Kulturbrauerei steht auf einem Gelände von 25.000m² und gehört zu den wenigen gut erhaltenen Industriedenkmälern Berlins aus der Zeit des 19. Jahrhunderts. Die Treuhand Liegenschaft TLG betrieb die Kulturbrauerei lange kommerziell als Kulturzentrum im Kollwitzkiez. Seit dem Verkauf der TLG an den US-Investor Lone 2012 gehört diesem auch die Kulturbrauerei. Dort gibt es neben Kinos, Theater, Konzertsäle Discos, Läden, Supermärkte und sogar Verlage oder die Lyrikwerkstatt.
Das ganze Ensemble wurde dem Geschmack der Zeit entsprechend von dem Architekten Franz Schwechten im Stil einer mittelalterlichen Burganlage gestaltet. Zumindest für die jährlichen Weihnachstmärkte gibt dies die romantischst mögliche Atmosphäre, übersehen wir den immer Kitschfaktor. In der Zeit des Nationalsozialismus wurde die durch mehrere Fusionen inzwischen größte Brauerei Deutschlands Schultheiß zum nationalsozialistischen Musterbetrieb erklärt. Dies führte zu einer privilegierten Produktion auch in Kriegszeiten. In den alten Kellern produzierten währenddessen ukrainische Zwangsarbeiterinnen kriegswichtige Nachrichtengeräte für die Wehrmacht im Auftrag der Telefunken. Während der Schlacht um Berlin verschanzte sich ein Stab der Festung Berlin in einem der Tiefkeller, was dazu führte, dass zahlreiche Anwohner, welche die weiße Fahne hissten und auch Deserteure, von dort aussofort erschossen wurden. Dennoch überstanden die Gebäude den Krieg relativ unbeschadet und am 30.10.1945 eröffneten sie schon wieder als VEB Schultheiss-Brauerei Schönhauser Allee.
Unter Mitwirkung des Bundestagspräsidenten und Anwohners Wolfgang Thierse wurden die Verträge zur Sanierung des Geländes als Kulturstandort geschlossen. Bei der Sanierung ab 1998 wurde darauf geachtet den ursprünglichen Charakter des Geländes zu erhalten und überall erkennbar zu machen, was auch ziemlich gut gelungen ist. Die Kulturbrauerei ist heute ein wichtiger Kulturstandort - hier finden Konzerte so sehr wie Märkte und sonstige Happenings statt. Der Ort wird das ganze Jahr mit verschiedenen Angeboten bespielt, in dem sich einerseits in den Nachtstunden jüngeres Publikum um die Discos und Clubs schart, einmal sogar ein Türsteher im Rockerstreit wohl erschossen wurde, andererseits auch Hochkultur und Theater neben großem Kino steht und immer wieder Sonntags nun die Streetfood Märkte stattfinden. Die Kulturbrauerei liegt eben im Zentrum der Weltstadt Berlin und nicht irgendwo im Vorort Pankow.
Märkte spielen eine große Rolle im Kollwitzkiez und haben den Ruf des Viertels in der Stadt mitbegründet. Der größte und wichtigste ist mittlerweile der Samstagsmarkt, der im Stil eines Wochenmarktes mit auch Feinkost und Nippes Ständen Touristen und Besuche aus der ganzen Stadt anzieht und die Bewohner zeitweise bis zum abwinken nervte, so dass diese alles versuchten, den Markt wieder vor ihrer Tür los zu werden. Was in der Wörther Straße begann, verlagerte sich teilweise in die Knaak Straße und hat nun seine vernünftigste Heimat in der Kollwitzstraße in der er problemlos noch nach vorne und hinten wachsen könnte, aber auch das wird vermutlich wieder viele Kämpfe und großes Engagement bedeuten. Jedenfalls ist der Markt sehr beliebt. Zu Zeiten von Rot-Grün traf ich dort eigentlich jeden Samstag Außenminister Fischer wichtig telefonierend über den Markt eilen oder verliebt später wieder mit junger Begleitung und Bodyguards schlendernd und Umweltminister Trittin, der sich gerne am Kaffeestand inmitten aufhielt, weniger wichtig tun musste. Es war ein Ort, um da zu sein und gesehen zu werden, es war schick dort zu sein und ich fand es nett da zu wohnen, bis die Austern- und Krabbenbräter ihre Ausdünstungen zeitweise zu sehr in unsere Richtung schickten und ich den Widerstand mancher Anwohner plötzlich verstand.
An Donnerstagen findet noch der Öko-Markt am Kollwitzplatz statt, auf einem Stück der Wörther Straße zwischen Knaak Straße und Kollwitz Straße, auf dem einige Bauern, Antiquare, Käseläden, Metzger, Crépe, Waffel und Weinverkäufer ihre Waren an die Mütter vom Kollwitzplatz und ander ökologisch bewusste Anwohner verkaufen. Auch dieser Markt ist ein beliebter Treffpunkt der typischen Kollwitz-Schickeria zwischen Schwanger, Kinderwagen und Eigentumswohnung geworden, die viele der Ureinwohner schon vergraulte, weil das “Platz da, ich bin Mutter” in Anbetracht der Menge und Häufigkeit langsam lästig wurde. Ansonsten ist es eben ein Platz im Wandel, der sich den Anforderungen und Bedingungen der neuen Zeit anpasst und der vom ursprünglichen Kiez zu einer Gegend für Wohlhabende wurde, die ihre Kinder zum schicken Zahnarzt mit der top designten Praxis direkt am Platz schicken.
An der Ecke Kollwitzstraße Wörther Straße wurde vor einige Jahren noch die auch von Touristen hoch frequentierte längste Bank der Stadt, am Rande des dort freien Eckgründstückes eingerichtet, das auch als kleine Parkanlage eingerichtet wurde und auf der sich am Wochenende gern auch die erschöpften Marktbesucher erholen, ihre Einkäufe bestaunen und sich mit Leckereien von nebenan abfüllen. Eine auch soziale Ecke, in der sich manch überraschende Gespräche mit den dort immer wieder anwesenden Promis finden, wenn sie gerade mal wieder Aufmerksamkeit benötigen.
In der Knaak Straße befindet sich auf der rechten Seite hinter der Wörther Straße noch eine große Kita-Anlage mit Spielflächen zur Wörther Straße und dahinter Richtung Kulturbrauerei noch eine Grundschule. DDR Platten nach dem Standard Modell, wie sie überall im Osten zu finden sind eine zumindest stete Erinnerung, wir sind hier im alten Osten, so schick er sich auch wieder macht.
Folge ich auf Höhe der Kulturbrauerei der Sredzkistraße, warten wiederum zahllose Bars auf mich, die allerdings mehr von Touristen und den Bewohnern anderer Vororte Berlins frequentiert werden. Gehe ich dann aber in der schon zu DDR Zeiten sanierten Husemannstraße nach rechts wieder in Richtung Kollwitzplatz, dort wo an der Ecke das schon traditionelle Café Oktober steht, komme ich auf der anderen Straßenseite bei Flo vorbei, dem französischen Feinkostladen mit sehr feinen Weinen und besten Pasteten vor allem früher den besten Baguette im Kiez, der einst mit einem Stand am Samstagsmarkt sein Dasein als Geheimtipp für Feinschmecker begann und den ich auch noch aus der Zeit kenne und so ist zumindest einiges weniges noch vertraut in diesem Kiez. Gleiches gilt auch für den dahinter gelegenen Eisladen von Maria, der zierlichen Italienerin, die das beste Eis im ganzen Kiez verkauft und wer nicht bis zum besten Eisladen Berlins im Helmholtzkiez laufen will, findet auch dort gute Qualität.
Gehe ich statt rechts in die Husemannstraße einzubiegen geradeaus die Sredzkistraße weiter, komme ich noch an einige immer nobleren Boutiquen vorbei, um an der Ecke auf das sehr beliebte Café Anna Blume zu stoßen, das die Ecke Kollwitzstraße auch für viele Touristen bewirtschaftet, gutes Essen und vor allem gute Backwaren bietet, die auf der gegenüberliegenden Straßenseite im älteren Sowohl als Auch mit seiner angeschlossenen Bäckerei schon lange produziert werden. Beide sind gut besucht, die Anwohner treffen sich eher im älteren Sowohl als Auch, die Gäste auf der schöneren Seite gegenüber im literarisch benannten Anna Blume, die allerdings nur an Kurt Schwitters und nicht an Erich Fried erinnern, der den Dada-Dichter noch genial fortsetzte.
Biege ich dann von der Sredzkistraße in die Rykestraße ein, führt mich der Weg wieder vorbei an zahlreichen schicken Boutiquen voller Schnickschnack und einigen gastronomischen Betrieben zu denen ich nicht wirklich eine glaubwürdige Aussage machen kann. Nach der Kollwitzstraße findet sich in einem Hinterhof eine der schönsten Saunen in Prenzlauer Berg, in der die Mütter und Väter vom Kollwitzplatz auch mal ohne alles betrachtet werden können, was nur gelegentlich noch lohnt, dafür ist der erholsame Sauna Besuch um so erquicklicher.
Die Rykestraße führt direkt auf den Wasserturm an ihrem Ende zu, den erreicht, wer auch noch das fast traditionelle russische Café und Restaurant Pasternak an der Ecke Knaackstraße hinter sich ließ, was schon länger nach meinen wenigen kulinarischen Informationen besser so ist.
Der Namensgeber der Straße Bernhard Ryke war übrigens von 1447-1448 Bürgermeister von Berlin und maßgeblich am Berliner Unwillen beteiligt, der auch den benachbarten Thomas Wins sein Amt kostete. Die Familie Ryke oder Reiche war eine weitverzweigte märkische Patrizierfamilie, die im 14. und 15. Jahrhundert mehrfach kommunale Ämter in Berlin und Cölln innehatte. Der Berliner Unwille ist die Auseinandersetzung der Berliner und Cöllner Stadtbürger mit dem Landesherren Friedrich II. Kurfürst aus dem Hause Hohenzollern, um den Bau einer Burg auf der Spreeinsel, dem späteren Schloss der Hohenzollern und der dafür nötigen Verpflichtung zur Abgabe von Land. Es ging dabei um die Autonomie der Stadtbürger gegenüber ihrem Landesherren und um diese zu erkämpfen wurde unter anderem die Baustelle der Burg zwischenzeitlich unter Wasser gesetzt. Der 1448 gefundene Kompromiss bedeutete de facto einen Verlust der städtischen Freiheiten. Gegen Friedrich lehnten sich neben Ryke auch von Blankenfelde und Wins auf.
In de Rykestraße gibt es auch noch zwei Gedenktafeln für antifaschistische Widerstandskämpfer, die in der DDR besonders geehrt wurden. Es sind der Kommunist Franz Huth und der Widerstandskämpfer Johannes Wolf. Der Ton der Tafeln erinnert an die Wurzeln der Verehrung des antifaschistischen Widerstandes und mahnt den Wessi, daran zu denken, wo er sich hier befindet.
Am südlichen Ende der Rykestraße aber befindet sich die Grünanlage um den seit den 70er Jahren nicht mehr genutzten Wasserturm Prenzlauer Berg. Das von 1853 bis 1877 errichtete Gebäude hieß bei den Berlinern Dicker Hermann und war das Wasserreservoir für die neuen Wohngegenden im Berliner Nordosten. Im Turm existieren heute Wohnungen in sechs Stockwerken, die früher als Werkswohnungen der Wasserarbeiter dienten und heute sehr beliebt sind. Unter dem erhöhten Gelände hinter dem Wasserturm befindet sich ein unterirdischer Tiefspeicher, der heute teilweise für kulturelle Happenings genutzt wird. Die Wasserturmanlage steht heute natürlich unter Denkmalschutz und der Turm war Teil des Wappen von Prenzlauer Berg, bis dieses mit Pankow zusammengelegt wurde und zwangsweise sich nach der östlichen Provinz benannte.
Die SA hat bereits im Frühjahr 1933 im Maschinenhaus I das KZ Wasserturm errichtet. Angeblich wurde in den unterirdischen Kellern gefoltert und es spricht angesichts der sonstigen Grausamkeit des Regimes wenig dagegen, dass dem so war. Habe dafür allerdings noch keine historisch glaubwürdigen Belege gefunden.
Wenden wir uns vom wunderschönen Wasserturm, zu dessen Fuß sich zwei schöne Spielplätze mit wunderbar Schatten gebenden großen Bäumen befinden, was Eltern aus Erfahrung zu schätzen wissen, nach rechts und überqueren die dort Kolmarer Straße kommen wir auf dem Gelände mit der Adresse Prenzlauer Allee 227/228 zum Kultur und Bildungszentrum Sebastian Haffner. Diese ehemalige Schule, deren Direktor der Vater des Autors und Journalisten Sebastian Haffner war, ist auch durch auch das verdienstvolle Engagement des Kulturforums Nordos und meines Freundes M geworden, was sie ist und beherbergt das 1992 entstandene Prenzlauer Berg Museum.
Sebastian Haffner, der eigentlich Raimund Pretzel hieß, war Publizist, Journalist, Historiker, Schriftsteller, Korrespondent und Kolumnist. Er wurde 1907 in Berlin geboren und verstarb 1999 auch dort, hatte aber dazwischen einiges erlebt und verfasst. Der Jurist war nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten zu dem Schluss gekommen, dass der Rechtsstaat dort verloren hatte und entschied sich 1938 ins englische Exil zu gehen, von wo er 1954 als Korrespondent des Observer nach Berlin zurückkehrte. Haffner ist keinem politischen Lager klar zuzuordnen, vertrat in der 68er Zeit auch linke Positionen oder verteidigte die Freiheit des Journalismus in der Spiegel-Affäre. Bekannt wurde er besonders durch seine Anmerkungen zu Hitler. Seine besondere Fähigkeit war, komplexe historische Zusammenhänge für ein breites Publikum verständlich einfach darzustellen.
Das Prenzlauer Berg Museum heißt natürlich in seinem Museumsverbund im Bezirk heute Museum Pankow, erzählt dennoch für alle interessierten sehr gut die Geschichte des Berges und in der gegenüber im alten Schulgebäude gelegenen Bibliothek am Wasserturm können Neugierige manchmal noch mehr Informationen finden und den dortigen Räumen der Volkshochschule wird zumindest wieder irgendwas gelernt, auch wenn das Museum Pankow heißt so mitten in Prenzlauer Berg und unter seinem alten Wahrzeichen.
Folge ich nun wieder der Knaackstraße vorm Wasserturm komme ich wieder zum Kollwitzplatz, an der Ecke zur Kollwitzstraße befindet sich der Gugelhof, ein immer noch guter Elsässer, wobei ich nicht weiß, ob der neue Bundespräsident dort wieder verkehren wird. Der Kollwitzkiez hat nicht nur dem Namen nach viel Geschichte, er ist auch der berühmteste Kiez bisher, was mit an der Kolumne über die Mütter vom Kollwitzplatz aus dem Tagesspiegel liegt, die zum Kultstatus beitrug. Es ist schön da, zum anschauen aber für meinen Geschmack inzwischen viel zu viele Touristen und zu wenig echtes Caféhausleben, wofür sich der Platz eigentlich wunderbar anböte, stattdessen zocken Asiaten die Touristen mit Sonderangeboten ab, schließt nun auch das traditionelle Restaurant 1900 an der Ecke Husemannstraße zur Wörther Straße und der Rest ist kaum mehr der Rede wert, aber scheinbar für viele sehr anziehend und gut besucht.
Erzählen könnte ich noch vom Bücherbaum in der Sredzkistraße kurz vor der Kollwitzstraße, in dem Bücher getauscht oder mitgenommen werden können und in dem sich manchmal überraschend schöne Sachen finden, vom Badeladen, mit den netten Damen, der mit dem schicken Küchenladen in der Wörther Straße zusammen zum neuen Stil der Gegend passt. Der sehr schön ohne Frage ist und doch für manche ein touristischer Fremdkörper blieb, der für die Veränderung des Viertels steht, bei dem noch unklar ist, was aus ihm wird. Schön ist auch der Abenteuerspielplatz am Anfang der Kollwitzstraße mit Gelegenheiten zum Hüttenbau oder Schweißen, der nunmehr im Schatten eines sehr gelben Neubaus steht, statt hinter einer freien Wiese auf der, als ich her zog noch ein Bauwagen als freie Bar stand und der inzwischen, wie wunderbar passend mit der LPG über zwei Etagen Europas angeblich größten Bio-Markt beheimatet, der boomt und vor dem sich die Muttis in ihren Geländewagen um die wenigen Parkplätze streiten, ob auf schwäbisch oder sonst zugezogen. Das Viertel hat viele liebenswerte Ecken aber ich weiß nicht mehr, was es ist und was in ihm lebt. Nun werde ich bald meinen Freund J, den ich vom Griechen am Platz noch kenne hier am Helmholtzplatz treffen, obwohl er ja direkt am Kollwitzplatz lebt, weil auch ihn scheinbar nur noch wenig dort hält. Es ist schön da, lohnt sich anzuschauen, wer in Immobilien investiert, schafft vermutlich eine gute Wertanlage, ansonsten naja.
Der Kolle ist wohl nicht mehr, was er mal war, aber was bleibt schon, wie es ist und so ist in Berlin vieles in Veränderung und wer weiß wohin es geht.
jens tuengerthal 2.4.2017
Erwartungslust
Erwartung ist stets
Der Tod der Lust weil sie
Niemals erfüllt wird
Keine Lust kann noch
Immer übertroffen werden
Ist darum mehr wert
Lustlos wird alles
Was kommt zu etwas Großem
Weniger wird etwas
jens tuengerthal 1,4,2017
Der Tod der Lust weil sie
Niemals erfüllt wird
Keine Lust kann noch
Immer übertroffen werden
Ist darum mehr wert
Lustlos wird alles
Was kommt zu etwas Großem
Weniger wird etwas
jens tuengerthal 1,4,2017
Samstag, 1. April 2017
Gewohnheit
Sieht Gewohnheit mehr
Oder lässt uns sie erst sehen
Was wir so wollen
Sollen wir lassen
Oder besser es ändern
Um zu erkennen
Ist was war drum gut
Oder weiß keiner noch mit
Was nötig wäre
jens tuengerthal 1.4.2017
Oder lässt uns sie erst sehen
Was wir so wollen
Sollen wir lassen
Oder besser es ändern
Um zu erkennen
Ist was war drum gut
Oder weiß keiner noch mit
Was nötig wäre
jens tuengerthal 1.4.2017
Berlinleben 036
Altes neues Museum
Es ist der erste warme Frühlingstag und ich geh ins Museum - fast paradox scheint mir der Versuch wie jeden Samstag auch am zauberhaften heutigen Tag über eines der Museen zu schreiben, auch wenn ich diese noch so sehr liebe. Doch kann schon die Gewohnheit ein Wert an sich sein, um es sittlich zu begründen und abgesehen davon, kann der Autor über diesen wunderbaren Bau schreibend genauso in der Sonne im Park vor seiner Haustür sitzen und sich von den immer mehr Pollen dort ärgern lassen oder alternativ das warme Licht genießen.
Bei dem Wetter musst du doch doch rausgehen, schrieb mir heute Morgen eine und genau das wäre für mich schon fast Grund genug, es nie zu tun, wäre es nicht zu schön draußen und der bloße Widerstand gegen die Konventionen nicht zu lächerlich pubertär - wenn es schön ist, kann es ja auch schön draußen sein - auch im Museum übrigens kann es dann besonders schön und der Weg mit dem Rad von mir zum Museum ist ja auch ganz schön - wenn ich nicht nur die Prenzlauer Allee herunter düse, um schnell da zu sein, sondern in Ruhe durch die verwinkelte Mitte tingle.
Aber hier ist ja nicht der Weg das Ziel sondern soll vom eigentlich Ziel erzählt werden, auch wenn es beim schönsten Frühlingssonnenschein absurd scheint, sich mit der Antike und ihrem architektonischen Verehrer Schinkel, der das Haus am Lustgarten baute, zu beschäftigen. Lustgarten ist ein guter Ansatz, denn sich dort vor oder nach dem Besuch noch in der Sonne voller Lust zu lümmeln, dürfte wohl auch denen zusagen, die einen Museumsbesuch bei diesem Wetter absurd finden. Solange sie den Blick mit oder gegen den Strom lenken und nicht auf den gräßlichen Dom schauen, dieser wilhelminischen Berliner Peinlichkeit, die das Kulturerbe Museumsinsel eigentlich fragwürdig machen müsste in ihrer unproportionierten Gräßlichkeit, die so sehr aus der Zeit und dem Ensemble fällt, dass mich wundert, warum es noch steht. Der von Raschdorff im wilhelminischen Rausch errichtete Neubau des Doms störte das von Schinkel geplante Ensemble der Insel empfindlich und gehörte darum aus kulturhistorischer Sicht endlich abgerissen oder gesprengt und wenn überhaupt durch einen Nachbau, der dem gerade Vorgänger Schinkels entspricht, ersetzt.
Hier hätte die DDR ganze Arbeit leisten können, statt an der klassisch schönen Schlossfassade, dort hätte ich mich immer dafür ausgesprochen Erichs hässlichen Lampenladen doch stehen zu lassen, besser als der Berliner Dom passte alles dort hin, sei es auch eine ostige Platte. Doch es passt, wenn ich mir anschaue, was sie aus dem Alex machten, dass sie auch dies unförmige Ei noch sanierten, statt es gut sozialistisch atheistisch zu sprengen, weil sie kein Gefühl für Proportionen hatten und eben unter der Diktatur des Proletariats eher für Größenwahn standen, auch wenn es gelegentliche Ausnahmen gibt.
Wenn ich es aber schaffe dies unförmige Ding im Lustgarten lustvoll auszublenden, schlicht geradeaus schaue von den Linden aus, wie es die königliche Familie und, um politisch korrekt zu sein, natürlich auch ihre nichtadeligen Bedienten, aus dem Schloss einst taten, dann sehe ich eine klassische Schönheit vor mir, die auch ohne alle von außen sichtbare Rundung für das Ideal wahrer Größe steht und es säulenumrahmt realisiert hat. Schönste Rundung offenbart sich dem Besucher erst beim Näherkommen, wenn es sozusagen intimer wird, der Gast in den Heiligen Hallen schon weilt und die schönste Rotunde sieht, bei der Schinkel nochmal das griechische Ideal der deutschen Klassik in Form goss, wie Goethe und Schiller schrieben, Voss übersetzte, baute er in Preußen.
Das Alte Museum hieß, als es noch neu war, Neues Museum wie jetzt das nach ihm gebaute Neue Museum, was auch nett ist, gerade in seiner achtsamen Sanierung nach den Bombenschäden, dem aber die klassische Größe fehlt. Später hieß es dann Königliches Museum, was sich ja 1918 oder spätestens doch 1945 völlig erledigt hatte, als die Alliierten in vorauseilendem Gehorsam und großer Sorge sogar den Staat auflösten, für dessen Könige es einst königliches Museum war und Preußen nicht mehr war, als Sündenbock der Geschichte, die Deutschland sich selbst, einem Österreicher folgend, eingebrockt hatte.
Der von 1825 bis 1830 von Karl Friedrich Schinkel im Stil des Klassizismus errichtete Bau beherbergt heute große Teile der Antikensammlung der Staatlichen Museen zu Berlin. Das natürlich denkmalgeschützte Gebäude gilt als Höhepunkt von Schinkels Schaffen wie des Klassizismus überhaupt, ist nicht ohne Grund der Eingang zum Weltkulturerbe der Museumsinsel. Sein Bau ist auch Zeichen für ein selbstbewusster gewordenes Bürgertum, das dem Ideal einer umfassenden kulturellen Bildung folgte. Der preußische König Friedrich Wilhelm III. teilte dies humboldtsche Bildungsideal und förderte es nach Möglichkeit. So kaufte er 1815 und 1821 die Sammlungen Gustiniani und Edward Solly und entwickelte erste Ideen für den Umbau des Marstalls oder der Kunstakademie Unter den Linden.
Der Marstall wurde heute zum Deutschen Historischen Museum, DHM, was wohl neben dem Euro zu den bleibendste und größten Verdiensten des früheren Kanzlers Kohl gehört. Der König beauftragte schließlich seinen Schinkel mit der Planung des Museumsneubau für die königlichen Kunstsammlungen.
Der König setzte für die Planung zuerst eine Kommission ein, bei der sich Schinkel, der präferierte Architekt mit dem Leiter über die Umsetzung zerstritt und dann eine zweite Kommission unter Wilhelm von Humboldt, der als versierter Diplomat mit beiden gut konnte. Diese Kommission entschied zunächst nur hohe Kunst dort auszustellen, was immer das wem war, schloss es jedenfalls nach dem damaligen nicht nur leicht rassistischen Verständnis von Kunst und Kultur alle Ethnografica, Prähistorica und im Nahen Osten ausgegrabenen Kulturschätze aus. Diese wohl niedere Kunst aus niederen Kulturen blieb vorerst im Schloss Monbijou auf der anderen Seite der Spree, wo heute eigentlich der Neubau für die “hohe Kunst” der Gemäldegalerie entstehen sollte, woran wir merken hoch und tief vertauschen sich manchmal mit recht willkürlichen Ergebnis.
Das klassisch schöne Museum wurde in der Zeit des Nationalsozialismus zum Zentrum von Propaganda Veranstaltungen und wie unter dem Soldatenkönig war der Lustgarten wieder ein Aufmarschplatz für die entfesselten NS-Rigen im Gleichschritt. Warum den Deutschen diese Peinlichkeit nicht gleich übel aufstieß, ist mir bis heute ein Rätsel, aber vermutlich gäbe es auch heute wieder Anhänger von Fackelzügen, die den guten Liebermann am Brandenburger Tor nur zum Erbrechen reizten.
Durch Sprengbomben wurde das Museum im Zweiten Weltkrieg stark beschädigt und brannte am 8. Mai 1945 völlig aus. Zu dieser Zeit waren die Schätze glücklicherweise ausgelagert und das Museum diente nur als Möbellager. Dabei gingen die von Schinkel entworfenen und von Cornelius ausgeführten Fresken im Vestibül und an der Rückwand der Säulenhalle weitgehend verloren. Nach dem Krieg wurde es im großen und ganzen originalgetreu wiederhergestellt. Die farbige Ausmalung der Rotunde wurde nach Schinkels Entwürfen 1982 wiederhergestellt.
Den Planungen Schinkels lagen auch Entwürfe des Kronprinzen und späteren Königs Friedrich Wilhelm IV. zugrunde, der eine antikisierende akropolisartige Bebauung der Museumsinsel wünschte. Im vom Schinkel geplanten gesamten Ensemble der Insel, das sich sehr harmonisch ergänzte, bis der Berliner Dom unförmig lange nach seinem Tod von unfähigen Stümpern hineingesetzt wurde, sollte das Museum der Volksbildung dienen und stand in engem Zusammenhang zu den anderen dort repräsentierten Mächten. Der Bau stand damit für Wissenschaft und das neue Selbstbewusstsein eines erstarkten Bürgertums, was seine Heimat auch lange in der Singakademie fand, die in der mit demokratischen Traditionen weniger vertrauten DDR zum ortsfremden Gorki-Theater wurde, auch wenn dieser russische Dichter sicher nicht schlecht ist, fehlt ihm jeder Bezug zum Ort. Das idiotische Gegenstück dazu im Westen ist die Umbenennung der traditionsreichen Straße In den Zelten zur General Clay Allee im Tiergarten, geschichtsvergessen, hörig und etwas blind, als wiege die Berlin-Blockade je die März-Revolution der Bürger auf.
Bevor Schinkel das Museum als Abschluss schuf, hatte er den barocken Berliner Dom dem klassizistischen Ideal folgend umgestaltet und so eine in sich harmonische Bebauung geschaffen, die sich ideal ergänzte und durch die Umgestaltung des Lustgartens durch den großen Lenné noch verstärkt wurde. In seiner klaren Form folgt das Museum dem Gestaltungskanon der Antike und verkörpert zugleich, die in der Aufklärung wurzelnde Idee des Museums als Bildungseinrichtung für das Bürgertum. Die Rotunde als Herz des Baus gleicht dem römischen Pantheon und unterstreicht damit den sakralen Charakter des Kunsttempels, baute den Bürgern ein Schloss.
Der Bau wurde dann, wie immer in Berlin, doch komplizierter als gedacht, weil an dieser Stelle der nur Insel auf märkischem Sand ein Verbindungskanal zwischen Kupfergraben und Spree verlief. Für ein stabiles Fundament wurden rund 3000 Kiefernholzpfähle in den Boden getrieben. So zog sich der Beginn der Bauarbeiten bis 1825 hin. Auf einem dann Sockel stehend hat das Gebäude eine Länge von 87 Metern und eine Breite von 55 Metern, wobei es aus einem flach gedeckten, kubischen Baukörper besteht, der nach außen durch achtzehn ionische Säulen abgeschlossen wird. Die Halle selbst öffnet sich passend und lustvoll zum Lustgarten hin und auf dem Gebälk der Halle sitzen über den Säulen noch 18 sandsteinerne Adler, was nicht gleich sandige Steinadler sind, sondern Preußens Anspruch demonstrieren sollte im Reich.
An der Frontseite hat das Gebäude eine natürliche lateinische Weihinschrift, die besagt, Friedrich Wilhelm III. hat zum Studium der Altertümer jeder Art und der freien Künste dies Museum 1828 gestiftet. Schinkel hatte auch noch geplant, große Reiterstandbilder auf den Seiten der Freitreppe aufzustellen, was der Monumentalität wenig preußische Bescheidenheit gegeben hätte - aber, lieber beim Museum protzen als bei den Soldaten. Das eine und zuerst fertiggestellte Standbild zeigt eine Amazone zu Pferde, die gerade mit einer Lanze den Angriff eines Panthers abwehrt und vielleicht ist es bezeichnend für Berlin, dass die kämpferischen Mädels zuerst da standen, wo sie heute noch thronen. Der Löwenkämpfer auf der linken Seite brauchte noch 20 Jahre bis er fertig wurde und zeigt hochdramatisch einen Kämpfer, der gerade vom Pferd aus einen Löwen mit dem Speer durchbohrt. War halt Zeitgeschmack und wirkt heute eher etwas bemüht und bombastisch.
Die Ausstellungsräume gruppierten sich einst um zwei Innenhöfe in deren Mitte die über zwei Geschosse reichende und mit einem Oberlicht versehene Rotunde steht, als quasi Herz des Baus. In der Rotunde sollte auch die von Cantian gestaltete 6,91m durchmessende Granitschale ihren Platz finden. Am Ende war sie doch zu groß, passte nicht mehr rein und liegt nun dekorativ davor im Lustgarten rum. Von der Rotunde aus fällt der Blick auf den betenden Knaben aus dem Besitz Friedrichs des Großen, den er in Sanssouci aufstellte und den er von seiner Bibliothek und dem Arbeitszimmer aus sehen konnte. Die Knabenliebe des künstlerisch begabten Königs. Friedrich hatte mit dem Erwerb der Sammlung des Kardinals Melchior de Polignac schon 1742 die größte private Antikensammlung des 18. Jahrhunderts erworben und nach Berlin bringen lassen. Sie bildete den Grundstock der späteren Berliner Antikensammlung, die nur durch den Zugriff der Russen etwas geschmälert wurde, die durch Raub zu eigener Kultur in Petersburg finden wollten.
Bei der Wiederherstellung bis 1966 wurde allein die Rotunde in der alten Form rekonstruiert. Der kreisrunde Kuppelraum, der wirklich beeindruckend schön ist, wird von zwanzig korinthischen Säulen umgeben, die oben eine Galerie tragen. Der Rückgriff aufs römische Pantheon und die der Halle vorgesetzte Freitreppe war bisher eigentlich Herrschaftsbauten vorbehalten und zeigen damit die Bedeutung, die Bildung und Kultur hier zugewiesen wurde. Das besonders reizvolle an der zweiarmigen Treppe ist, dass sie zugleich Innen- und Außenraum ist, da sie nur durch die Säulen nach außen abgeschlossen wird. Im Freskenzyklus der Vorhalle fand sich das Hauptwerk von Schinkel als Maler. Von dem monumentalen Bilderzyklus sind leider nur noch zwei Entwürfe Schinkels im Berliner Kupferstichkabinett erhalten geblieben. Er zählte dem Anspruch nach zu den bedeutendsten Werken der Malerei des 19. Jahrhunderts. Sie waren für das Museum von größter Bedeutung, da Schinkel in ihnen die Funktion und den Anspruch des Museums erläuterte.
Ursprünglich für alle Werke der hohen Kunst geschaffen, war es ab 1904 nur noch Heimat der Antikensammlung, da für mehr der Raum nicht genügte. Bis zur Wiedereröffnung des Neuen Museums zeigte auch das Ägyptische Museum dort seine Exponate. Seit 2010 findet sich im Obergeschoss die etruskische und römische Sammlung während das Hauptgeschoss weiterhin die Sammlung der griechischen Antiken ausstellt.
Der Gang durch die Sammlung ist schön und in vielem historisch auch beeindruckend, den größten Eindruck auf den Besucher aber hinterlässt immer wieder doch die geniale Architektur mit der wunderschönen Rotunde inmitten und der großartigen Treppe, die auch Schinkel schon als Ort des Gesprächs und der Belehrung angedacht hatte. Das Bauwerk bleibt so stärker in Erinnerung als das in ihm ausgestellte, was ihm nichts von seiner Schönheit nimmt, nur deutlich macht, welch bedeutende Rolle Architektur in der Wahrnehmung spielen kann. Von den vielen malen, die ich durch diese Hallen wandelte, ist mir wenig in Erinnerung geblieben, dafür umso eindrucksvoller eben Rotunde und Freitreppe, mit denen Schinkel aber wiederum den Objekten angemessen, den Geist der Antike wecken wollte und so im besten Sinne aufklärerisch handelte, den Besuchern durch den Bau ein stärkeres Gefühl für die Zeit und die Liebe zu ihr vermittelt, als es alle dort ausgestellten Objekte je könnten.
Ob dies den Objekten gerecht wird oder doch eher ein Denkmal für den Geist des Klassizismus im 19. Jahrhundert ist, wäre wohl der Frage wert. Sofern aber unser Denken über die Antike auch durch diese Zeit und ihre Verehrung der schlichten Größe geprägt ist, passt es schon. Vielleicht macht diese Vorstellungswelt des 19. Jahrhunderts, die für uns nur noch museal ist, aber viel stärker die Bedeutung der Sagenwelt der alten Griechen deutlich, reizt den einen oder anderen darum mal wieder zur Lektüre, was eine Brücke in die Zeit schlüge, ob wir nun Homer lesen oder andere Schreiber der Antike, mit Herodot auf Reisen gehen oder uns an die Philosophen heranwagen, ist es wunderbar passend danach debattierend sich in den Lustgarten davor zu setzen, der manche Orte der Ruhe trotz hoher Besucherzahlen noch bietet und dann weckt das Erlebnis vielleicht am besten den Geist der Antike, an den Schinkel mit seinem genialen Bau in aufklärerischer Absicht erinnern wollte und so ist dies Prunkstück ein Glück für Berlin, ganz egal was noch in ihm an Antiken und sonstigen steht und mehr oder weniger Beachtung findet.
jens tuengerthal 1.4.2017
Es ist der erste warme Frühlingstag und ich geh ins Museum - fast paradox scheint mir der Versuch wie jeden Samstag auch am zauberhaften heutigen Tag über eines der Museen zu schreiben, auch wenn ich diese noch so sehr liebe. Doch kann schon die Gewohnheit ein Wert an sich sein, um es sittlich zu begründen und abgesehen davon, kann der Autor über diesen wunderbaren Bau schreibend genauso in der Sonne im Park vor seiner Haustür sitzen und sich von den immer mehr Pollen dort ärgern lassen oder alternativ das warme Licht genießen.
Bei dem Wetter musst du doch doch rausgehen, schrieb mir heute Morgen eine und genau das wäre für mich schon fast Grund genug, es nie zu tun, wäre es nicht zu schön draußen und der bloße Widerstand gegen die Konventionen nicht zu lächerlich pubertär - wenn es schön ist, kann es ja auch schön draußen sein - auch im Museum übrigens kann es dann besonders schön und der Weg mit dem Rad von mir zum Museum ist ja auch ganz schön - wenn ich nicht nur die Prenzlauer Allee herunter düse, um schnell da zu sein, sondern in Ruhe durch die verwinkelte Mitte tingle.
Aber hier ist ja nicht der Weg das Ziel sondern soll vom eigentlich Ziel erzählt werden, auch wenn es beim schönsten Frühlingssonnenschein absurd scheint, sich mit der Antike und ihrem architektonischen Verehrer Schinkel, der das Haus am Lustgarten baute, zu beschäftigen. Lustgarten ist ein guter Ansatz, denn sich dort vor oder nach dem Besuch noch in der Sonne voller Lust zu lümmeln, dürfte wohl auch denen zusagen, die einen Museumsbesuch bei diesem Wetter absurd finden. Solange sie den Blick mit oder gegen den Strom lenken und nicht auf den gräßlichen Dom schauen, dieser wilhelminischen Berliner Peinlichkeit, die das Kulturerbe Museumsinsel eigentlich fragwürdig machen müsste in ihrer unproportionierten Gräßlichkeit, die so sehr aus der Zeit und dem Ensemble fällt, dass mich wundert, warum es noch steht. Der von Raschdorff im wilhelminischen Rausch errichtete Neubau des Doms störte das von Schinkel geplante Ensemble der Insel empfindlich und gehörte darum aus kulturhistorischer Sicht endlich abgerissen oder gesprengt und wenn überhaupt durch einen Nachbau, der dem gerade Vorgänger Schinkels entspricht, ersetzt.
Hier hätte die DDR ganze Arbeit leisten können, statt an der klassisch schönen Schlossfassade, dort hätte ich mich immer dafür ausgesprochen Erichs hässlichen Lampenladen doch stehen zu lassen, besser als der Berliner Dom passte alles dort hin, sei es auch eine ostige Platte. Doch es passt, wenn ich mir anschaue, was sie aus dem Alex machten, dass sie auch dies unförmige Ei noch sanierten, statt es gut sozialistisch atheistisch zu sprengen, weil sie kein Gefühl für Proportionen hatten und eben unter der Diktatur des Proletariats eher für Größenwahn standen, auch wenn es gelegentliche Ausnahmen gibt.
Wenn ich es aber schaffe dies unförmige Ding im Lustgarten lustvoll auszublenden, schlicht geradeaus schaue von den Linden aus, wie es die königliche Familie und, um politisch korrekt zu sein, natürlich auch ihre nichtadeligen Bedienten, aus dem Schloss einst taten, dann sehe ich eine klassische Schönheit vor mir, die auch ohne alle von außen sichtbare Rundung für das Ideal wahrer Größe steht und es säulenumrahmt realisiert hat. Schönste Rundung offenbart sich dem Besucher erst beim Näherkommen, wenn es sozusagen intimer wird, der Gast in den Heiligen Hallen schon weilt und die schönste Rotunde sieht, bei der Schinkel nochmal das griechische Ideal der deutschen Klassik in Form goss, wie Goethe und Schiller schrieben, Voss übersetzte, baute er in Preußen.
Das Alte Museum hieß, als es noch neu war, Neues Museum wie jetzt das nach ihm gebaute Neue Museum, was auch nett ist, gerade in seiner achtsamen Sanierung nach den Bombenschäden, dem aber die klassische Größe fehlt. Später hieß es dann Königliches Museum, was sich ja 1918 oder spätestens doch 1945 völlig erledigt hatte, als die Alliierten in vorauseilendem Gehorsam und großer Sorge sogar den Staat auflösten, für dessen Könige es einst königliches Museum war und Preußen nicht mehr war, als Sündenbock der Geschichte, die Deutschland sich selbst, einem Österreicher folgend, eingebrockt hatte.
Der von 1825 bis 1830 von Karl Friedrich Schinkel im Stil des Klassizismus errichtete Bau beherbergt heute große Teile der Antikensammlung der Staatlichen Museen zu Berlin. Das natürlich denkmalgeschützte Gebäude gilt als Höhepunkt von Schinkels Schaffen wie des Klassizismus überhaupt, ist nicht ohne Grund der Eingang zum Weltkulturerbe der Museumsinsel. Sein Bau ist auch Zeichen für ein selbstbewusster gewordenes Bürgertum, das dem Ideal einer umfassenden kulturellen Bildung folgte. Der preußische König Friedrich Wilhelm III. teilte dies humboldtsche Bildungsideal und förderte es nach Möglichkeit. So kaufte er 1815 und 1821 die Sammlungen Gustiniani und Edward Solly und entwickelte erste Ideen für den Umbau des Marstalls oder der Kunstakademie Unter den Linden.
Der Marstall wurde heute zum Deutschen Historischen Museum, DHM, was wohl neben dem Euro zu den bleibendste und größten Verdiensten des früheren Kanzlers Kohl gehört. Der König beauftragte schließlich seinen Schinkel mit der Planung des Museumsneubau für die königlichen Kunstsammlungen.
Der König setzte für die Planung zuerst eine Kommission ein, bei der sich Schinkel, der präferierte Architekt mit dem Leiter über die Umsetzung zerstritt und dann eine zweite Kommission unter Wilhelm von Humboldt, der als versierter Diplomat mit beiden gut konnte. Diese Kommission entschied zunächst nur hohe Kunst dort auszustellen, was immer das wem war, schloss es jedenfalls nach dem damaligen nicht nur leicht rassistischen Verständnis von Kunst und Kultur alle Ethnografica, Prähistorica und im Nahen Osten ausgegrabenen Kulturschätze aus. Diese wohl niedere Kunst aus niederen Kulturen blieb vorerst im Schloss Monbijou auf der anderen Seite der Spree, wo heute eigentlich der Neubau für die “hohe Kunst” der Gemäldegalerie entstehen sollte, woran wir merken hoch und tief vertauschen sich manchmal mit recht willkürlichen Ergebnis.
Das klassisch schöne Museum wurde in der Zeit des Nationalsozialismus zum Zentrum von Propaganda Veranstaltungen und wie unter dem Soldatenkönig war der Lustgarten wieder ein Aufmarschplatz für die entfesselten NS-Rigen im Gleichschritt. Warum den Deutschen diese Peinlichkeit nicht gleich übel aufstieß, ist mir bis heute ein Rätsel, aber vermutlich gäbe es auch heute wieder Anhänger von Fackelzügen, die den guten Liebermann am Brandenburger Tor nur zum Erbrechen reizten.
Durch Sprengbomben wurde das Museum im Zweiten Weltkrieg stark beschädigt und brannte am 8. Mai 1945 völlig aus. Zu dieser Zeit waren die Schätze glücklicherweise ausgelagert und das Museum diente nur als Möbellager. Dabei gingen die von Schinkel entworfenen und von Cornelius ausgeführten Fresken im Vestibül und an der Rückwand der Säulenhalle weitgehend verloren. Nach dem Krieg wurde es im großen und ganzen originalgetreu wiederhergestellt. Die farbige Ausmalung der Rotunde wurde nach Schinkels Entwürfen 1982 wiederhergestellt.
Den Planungen Schinkels lagen auch Entwürfe des Kronprinzen und späteren Königs Friedrich Wilhelm IV. zugrunde, der eine antikisierende akropolisartige Bebauung der Museumsinsel wünschte. Im vom Schinkel geplanten gesamten Ensemble der Insel, das sich sehr harmonisch ergänzte, bis der Berliner Dom unförmig lange nach seinem Tod von unfähigen Stümpern hineingesetzt wurde, sollte das Museum der Volksbildung dienen und stand in engem Zusammenhang zu den anderen dort repräsentierten Mächten. Der Bau stand damit für Wissenschaft und das neue Selbstbewusstsein eines erstarkten Bürgertums, was seine Heimat auch lange in der Singakademie fand, die in der mit demokratischen Traditionen weniger vertrauten DDR zum ortsfremden Gorki-Theater wurde, auch wenn dieser russische Dichter sicher nicht schlecht ist, fehlt ihm jeder Bezug zum Ort. Das idiotische Gegenstück dazu im Westen ist die Umbenennung der traditionsreichen Straße In den Zelten zur General Clay Allee im Tiergarten, geschichtsvergessen, hörig und etwas blind, als wiege die Berlin-Blockade je die März-Revolution der Bürger auf.
Bevor Schinkel das Museum als Abschluss schuf, hatte er den barocken Berliner Dom dem klassizistischen Ideal folgend umgestaltet und so eine in sich harmonische Bebauung geschaffen, die sich ideal ergänzte und durch die Umgestaltung des Lustgartens durch den großen Lenné noch verstärkt wurde. In seiner klaren Form folgt das Museum dem Gestaltungskanon der Antike und verkörpert zugleich, die in der Aufklärung wurzelnde Idee des Museums als Bildungseinrichtung für das Bürgertum. Die Rotunde als Herz des Baus gleicht dem römischen Pantheon und unterstreicht damit den sakralen Charakter des Kunsttempels, baute den Bürgern ein Schloss.
Der Bau wurde dann, wie immer in Berlin, doch komplizierter als gedacht, weil an dieser Stelle der nur Insel auf märkischem Sand ein Verbindungskanal zwischen Kupfergraben und Spree verlief. Für ein stabiles Fundament wurden rund 3000 Kiefernholzpfähle in den Boden getrieben. So zog sich der Beginn der Bauarbeiten bis 1825 hin. Auf einem dann Sockel stehend hat das Gebäude eine Länge von 87 Metern und eine Breite von 55 Metern, wobei es aus einem flach gedeckten, kubischen Baukörper besteht, der nach außen durch achtzehn ionische Säulen abgeschlossen wird. Die Halle selbst öffnet sich passend und lustvoll zum Lustgarten hin und auf dem Gebälk der Halle sitzen über den Säulen noch 18 sandsteinerne Adler, was nicht gleich sandige Steinadler sind, sondern Preußens Anspruch demonstrieren sollte im Reich.
An der Frontseite hat das Gebäude eine natürliche lateinische Weihinschrift, die besagt, Friedrich Wilhelm III. hat zum Studium der Altertümer jeder Art und der freien Künste dies Museum 1828 gestiftet. Schinkel hatte auch noch geplant, große Reiterstandbilder auf den Seiten der Freitreppe aufzustellen, was der Monumentalität wenig preußische Bescheidenheit gegeben hätte - aber, lieber beim Museum protzen als bei den Soldaten. Das eine und zuerst fertiggestellte Standbild zeigt eine Amazone zu Pferde, die gerade mit einer Lanze den Angriff eines Panthers abwehrt und vielleicht ist es bezeichnend für Berlin, dass die kämpferischen Mädels zuerst da standen, wo sie heute noch thronen. Der Löwenkämpfer auf der linken Seite brauchte noch 20 Jahre bis er fertig wurde und zeigt hochdramatisch einen Kämpfer, der gerade vom Pferd aus einen Löwen mit dem Speer durchbohrt. War halt Zeitgeschmack und wirkt heute eher etwas bemüht und bombastisch.
Die Ausstellungsräume gruppierten sich einst um zwei Innenhöfe in deren Mitte die über zwei Geschosse reichende und mit einem Oberlicht versehene Rotunde steht, als quasi Herz des Baus. In der Rotunde sollte auch die von Cantian gestaltete 6,91m durchmessende Granitschale ihren Platz finden. Am Ende war sie doch zu groß, passte nicht mehr rein und liegt nun dekorativ davor im Lustgarten rum. Von der Rotunde aus fällt der Blick auf den betenden Knaben aus dem Besitz Friedrichs des Großen, den er in Sanssouci aufstellte und den er von seiner Bibliothek und dem Arbeitszimmer aus sehen konnte. Die Knabenliebe des künstlerisch begabten Königs. Friedrich hatte mit dem Erwerb der Sammlung des Kardinals Melchior de Polignac schon 1742 die größte private Antikensammlung des 18. Jahrhunderts erworben und nach Berlin bringen lassen. Sie bildete den Grundstock der späteren Berliner Antikensammlung, die nur durch den Zugriff der Russen etwas geschmälert wurde, die durch Raub zu eigener Kultur in Petersburg finden wollten.
Bei der Wiederherstellung bis 1966 wurde allein die Rotunde in der alten Form rekonstruiert. Der kreisrunde Kuppelraum, der wirklich beeindruckend schön ist, wird von zwanzig korinthischen Säulen umgeben, die oben eine Galerie tragen. Der Rückgriff aufs römische Pantheon und die der Halle vorgesetzte Freitreppe war bisher eigentlich Herrschaftsbauten vorbehalten und zeigen damit die Bedeutung, die Bildung und Kultur hier zugewiesen wurde. Das besonders reizvolle an der zweiarmigen Treppe ist, dass sie zugleich Innen- und Außenraum ist, da sie nur durch die Säulen nach außen abgeschlossen wird. Im Freskenzyklus der Vorhalle fand sich das Hauptwerk von Schinkel als Maler. Von dem monumentalen Bilderzyklus sind leider nur noch zwei Entwürfe Schinkels im Berliner Kupferstichkabinett erhalten geblieben. Er zählte dem Anspruch nach zu den bedeutendsten Werken der Malerei des 19. Jahrhunderts. Sie waren für das Museum von größter Bedeutung, da Schinkel in ihnen die Funktion und den Anspruch des Museums erläuterte.
Ursprünglich für alle Werke der hohen Kunst geschaffen, war es ab 1904 nur noch Heimat der Antikensammlung, da für mehr der Raum nicht genügte. Bis zur Wiedereröffnung des Neuen Museums zeigte auch das Ägyptische Museum dort seine Exponate. Seit 2010 findet sich im Obergeschoss die etruskische und römische Sammlung während das Hauptgeschoss weiterhin die Sammlung der griechischen Antiken ausstellt.
Der Gang durch die Sammlung ist schön und in vielem historisch auch beeindruckend, den größten Eindruck auf den Besucher aber hinterlässt immer wieder doch die geniale Architektur mit der wunderschönen Rotunde inmitten und der großartigen Treppe, die auch Schinkel schon als Ort des Gesprächs und der Belehrung angedacht hatte. Das Bauwerk bleibt so stärker in Erinnerung als das in ihm ausgestellte, was ihm nichts von seiner Schönheit nimmt, nur deutlich macht, welch bedeutende Rolle Architektur in der Wahrnehmung spielen kann. Von den vielen malen, die ich durch diese Hallen wandelte, ist mir wenig in Erinnerung geblieben, dafür umso eindrucksvoller eben Rotunde und Freitreppe, mit denen Schinkel aber wiederum den Objekten angemessen, den Geist der Antike wecken wollte und so im besten Sinne aufklärerisch handelte, den Besuchern durch den Bau ein stärkeres Gefühl für die Zeit und die Liebe zu ihr vermittelt, als es alle dort ausgestellten Objekte je könnten.
Ob dies den Objekten gerecht wird oder doch eher ein Denkmal für den Geist des Klassizismus im 19. Jahrhundert ist, wäre wohl der Frage wert. Sofern aber unser Denken über die Antike auch durch diese Zeit und ihre Verehrung der schlichten Größe geprägt ist, passt es schon. Vielleicht macht diese Vorstellungswelt des 19. Jahrhunderts, die für uns nur noch museal ist, aber viel stärker die Bedeutung der Sagenwelt der alten Griechen deutlich, reizt den einen oder anderen darum mal wieder zur Lektüre, was eine Brücke in die Zeit schlüge, ob wir nun Homer lesen oder andere Schreiber der Antike, mit Herodot auf Reisen gehen oder uns an die Philosophen heranwagen, ist es wunderbar passend danach debattierend sich in den Lustgarten davor zu setzen, der manche Orte der Ruhe trotz hoher Besucherzahlen noch bietet und dann weckt das Erlebnis vielleicht am besten den Geist der Antike, an den Schinkel mit seinem genialen Bau in aufklärerischer Absicht erinnern wollte und so ist dies Prunkstück ein Glück für Berlin, ganz egal was noch in ihm an Antiken und sonstigen steht und mehr oder weniger Beachtung findet.
jens tuengerthal 1.4.2017
Freitag, 31. März 2017
Frühlingslust
Ein warmer Tag geht
Lust ist sichtbar vorm Café
Leicht bekleidet lächelnd
jens tuengerthal 31.3.2017
Berlinleben 035
Kiezgeschichten
Der Winskiez
Gestern war ich mal wieder im Sorsi e Morsi im Winskiez und jedesmal denke ich, wie dumm, dass ich immer in weiblicher Begleitung dort war bis jetzt, was für viele schöne und interessante Frauen sind bei diesem wunderbar chaotischen Italiener immer, wieviel Sex liegt da schon in der Luft - es ist la dolce vita direkt an der Marie und das mit viel Stil, Geschmack, Liebe und dazu noch, wie aus einer anderen Zeit völlig verraucht.
Die Begleitung war sehr nett und auch nicht hässlich, fand es nicht schlimm, mich ihr zuzuwenden, wie es für einen Gentleman geboten ist, doch eigentlich würde ich in diesem Meer für Augen und Sinne lieber frei schwimmen, statt besetzt anzukommen, dachte ich wieder und sollte es vielleicht endlich mal einfach tun, gehe ja auch in alle anderen Bars oder Kneipen gern alleine als Flaneur, setze mich in eine Ecke, beobachte, schreibe und freue mich an dem, was dort passiert und im Sorsi passiert viel, eigentlich ständig was, um was sonst sollte es auch gehen?
Auch wir sprachen natürlich über Sex. So erzählte meine Begleitung, die ursprünglich aus Brandenburg kommt, wofür ja keiner was kann und schließlich liegt auch Berlin mittendrin, eigentlich, von ihrem letzten Sexabenteuer, diesem etwas dicklichen Typen, der sie drei Monate angemacht hätte und dann als sie ihn endlich rangelassen hat, nicht besonders scharf wohl aber doch in der Hoffnung auf mal wieder guten Sex zumindest, hätte er sich, mitten dabei beleidigt verzogen, weil - sie wusste es auch nicht so genau, fragte mich nach meiner Meinung und ich konnte nur sagen, so ein Idiot, wäre ihr mit mir nicht passiert, was ein Mann dann halt so sagt, damit Frau sich wieder gut fühlt und meint, sie könne es sich aussuchen. Vielleicht hat er mehr erwartet, ekelte sich vor sich selber, kam nicht mit ihr klar - wer schaut schon so tief in die Herzen fremder Männer, noch dazu dicker Typen? - egal, meinte ich ihren letzten Lover betreffend, vergiss ihn und das Paradies ist dazu da, bewohnt zu werden, für alle, die es genießen können.
Wir erzählten uns auch noch andere nette Geschichten über Sex und Liebe und weniger von Kultur, Literatur, Geschichte, Philosophie und all dem, was mich sonst so umtreibt, was nett war und zu der Leichtigkeit der Atmosphäre passte, die Gianni dort kongenial kreiert. Schickes Ambiente, bis zum stapeln voll, gute Weine und eben völlig verraucht. Er umarmt alle Damen, die immer gerne wiederkommen, weil er meist sogar ihre Namen noch weiß, ihnen das Gefühl gibt, etwas ganz besonderes zu sein, wie es nur Italiener können voller Pathos und Hingabe in einer Umarmung, die er vermutlich mit hunderten Damen am Abend so vollzieht, zumindest tat er es immer mit allen, mit denen ich dort war, was aber keine hundert waren.
Zuerst war ich dort mit meiner zweiten Verlobten, die den Laden liebte und mir davon immer wieder vorschwärmte. Recht hatte sie, nur ist es nicht der Laden, in den ich mit meiner Frau gehe - die sehr lange und sehr italienisch herzliche Umarmung mit meiner Verlobten konnte ich noch tolerieren, dachte beim ersten mal, sie kennen sich wohl näher, aber irgendwie hatte ich das Gefühl, nicht dazu zu gehören und mied den Laden mit ihr, obwohl sie immer hin wollte und die Atmosphäre dort, sie wirklich heiß machte, was bei dieser eher mehr als gelassenen Frau schon Grund genug gewesen wäre, täglich hinzugehen. Tat es nicht, wollte ihre Lust lieber mit Worten wecken oder der Kombination aus Technik und Erfahrung, gepaart mit vernünftigen Argumenten und so wurde es dann auch.
Später war ich mit meiner liebsten Geliebten, der Ärztin und ihrer Freundin, die ich gestern dort ohne die Ärztin traf, die gerade mal irgendwie mehr oder weniger glücklich bemannt ja ist und wieder erlebte ich diesen umarmenden Gianni, den die Damen so lieben und diese Atmosphäre voll italienischer Lust, in der spürbar der Sex knistert und das nicht nur auf dem Ledersofa oder wo Paare zusammenstehen, sondern überall - auch auf den kleinen Tellern mit Antipasti, die jeder Gast erstmal bekommt und die ich rauchend gestern gar nicht genug zu meinem Weißwein genoss. Könnte schwärmen über die vielen schönen Frauen mit den teilweise wirklich spannenden und intelligenten Gesichtern, die gut angezogen sind, zumindest im Verhältnis zu dem, was hier sonst so in Leggings; Jogginghosen und ähnlich grässlichen Dingen, die nur den totalen Kontrollverlust beweisen, herumlungert. Es war ein kleiner Ausflug nach Italien und das ist so wunderbar, hat so viel Leichtigkeit und eben Sex, dass ich inzwischen sogar meiner zweiten Verlobten voll zustimmen würde, es ist der beste Laden, mit der tollsten Stimmung am ganzen Berg, den ich kenne, alles andere ist nur manchmal so, wie ich es dort immer erlebe.
Als ich im Winskiez wohnte, es war nach dem Gesundbrunnen die zweite Wohnung, aber die erste, die ich mir mit Wissen gesucht hatte, gab es das Sorsi noch nicht und ich hätte es vermutlich auch nicht entdeckt, wie ich die ganze Schönheit dieses Viertels erst entdeckte, nachdem ich von dort zu meiner liebsten A in den benachbarten Kollwitzkiez gezogen war. Naiv und dumm eigentlich, denke ich heute, wenn ich an die Frauen dort denke und die Stimmung, die dieser glücklich verheiratete Vater von Töchtern in seinem Laden verbreiten kann, wie alternativ schick dieses Viertel geworden ist, das zwischen Prenzlauer Allee und Greifswalder Straße liegt, begrenzt durch die Danziger Straße im Norden und die Mollstraße im Süden, auch wenn es eigentlich im Friedhof schon endet und die Straße Prenzlauer Berg irgendwie niemand mehr zu diesem Kiez dazu zählen würde, zu dem sie doch gehört, wie die Platten jenseits, die aus einer anderen Welt noch stammen.
Wohnte in einer Altbauwohnung im Ersten Stock in der Jablonskistraße direkt über der Haustür, großer Fehler, wie ich spätestens nach den ersten Nächten merkte, wenn die Müllabfuhr die Tonnen unter mir mit viel Schwung entlang rollte, aber davon hatte ich, als ich aus der kurpfälzischen Provinz in die Großstadt zog, noch keine Ahnung. Schöne Stuckdecken und hohe Räume, einen Balkon vor meinem Wohnzimmer, eine Küche nach hinten und ein kleines schon saniertes Badezimmer. War alles prima, sehe ich davon ab, dass ich nicht bedacht hatte, wie laut die Autos auf dem Kopfsteinpflaster beim ein- und ausparken waren, wie deutlich ich die an der unweit gelegenen Prenzlauer verkehrende Straßenbahn hörte und ähnliches Gejammer von Dorfbewohnern, die in die Großstadt ziehen.
Die Wohnung war perfekt und lag perfekt, in einem der schönsten Kieze des Prenzlauer Berg, nur ich wusste sie nicht immer wirklich zu würdigen. Mal nervten mich die zu laut vögelnden Nachbarn, die ich mindestens jede Nacht durch die Wand zu meinem Lesesessel hörte, als könnte es bei so etwas schönem je ein zu sehr geben, dabei hatte ich sogar gelegentlich Sonne im Zimmer und auf dem Balkon, den ich nur selten nutzte, außer die male mit Damenbesuch im Januar und zu meiner einzigen Fete dort. Von dem Kiez unter mir, erfuhr ich nicht viel. Die ersten Monate ging ich sehr früh ins Büro in der Schönhauser Allee und kehrte sehr spät zurück. Wenn ich ausging, dann auf dem Weg vom Büro zu mir im Kollwitzkiez bei meinem Griechen oder den eigentlich langweilig touristischen Cafés am Platz dort, meinen Kiez erkundete ich weder, noch interessierte er mich näher.
Den tollen Kaisers in der Winsstraße Ecke Marienburger Straße stellte mir erst die liebste A vor, die dort zu gern einkaufte, weil sie ihn so gut sortiert und freundlich fand, wie immer nun der heute Rewe dort sein mag. Von sonst etwas dort habe ich nicht viel mitbekommen, bis unsere Tochter in den Kinderladen im Kiez ging, der wiederum in der Christburger Straße lag, einer Parallelstraße zur Jablonskistraße, die zwischen dieser und der Marienburger Straße lag, an welcher letzterer mit der Marie, die große Grünanlage des Kiezes liegt, sehen wir mal von dem Friedhof, der ihn abschließt ab und der doch eigentlich viel grüner und voller atmender Bäume ist. Vielleicht ist es dieser mit schönsten Bäumen und einigen netten Gräbern versehene Friedhof, der dem Viertel um die Winsstraße seinen besonderen Flair gibt - irgendwie Großstadt und irgendwie zugleich sehr grün und auch schick.
Als A und ich aus ihrer wunderbaren aber eben nur 3-Zimmer-Wohnung am Kollwitzplatz mit Kind ausziehen wollten, suchten wir auch dort und sie sagte immer wieder, sie wäre gerne dorthin gezogen, mochte den Kiez und ich war damals relativ teilnahmslos, was die Wahl des richtigen Platzes anging, dachte ich könnte überall, solange es Altbau und irgendwie nett saniert war. Die anderen Kieze in denen ich hier in Prenzlauer Berg wohnte, der Kollwitzkiez, der Teutoburger Platz und schließlich bis jetzt der Helmholtzkiez sind alle um Plätze mit Grünanlagen entstandene Lebensräume. Im Winskiez gab es den Friedhof am Anfang und die irgendwie Marie in der Mitte, die aber kein Platz sondern eher ein freies Grundstück war, auch wenn dieses heute sehr belebt ist und durch viele Initiativen bespielt und immer weiter gestaltet wird.
Zentrum des Winskiezes ist die Winsstraße, die nach dem ehemalige Bürgermeister von Berlin und Gutsbesitzer Thomas Wins benannt wurde, der von 1389 bis 1465 lebte, also ein Mensch der beginnenden Renaissance und des ausgehenden Mittelalters war. Die Familie Wins war adeligen Ursprungs und ist seit dem 14. Jahrhundert in der Mark Brandenburg nachweisbar. Angeblich sind sie aus ursprünglich Frankfurt Oder irgendwann nach Alt-Berlin und Cölln umgesiedelt. Einige meinen auch die Familie käme, anderen Quellen zufolge und namentlich nahe liegend, aus Winsen an der Luhe. Ab 1426 dann, also noch 69 Jahre vor der Entdeckung Amerikas von dem Italiener, der nach Indien eigentlich wollte, um das Heilige Land mit viel Gold wieder zu erobern, war Wins dann zehn Perioden lang mit Unterbrechungen Bürgermeister von Berlin.
Nach 1448 musste er sich wegen Beteiligung an einem Aufruhr gegen den Hohenzollern Kurfürsten Friedrich II, genannt der Eiserne oder Eisenzahn, ohne dass eine Verbindung nun zu Union Berlin hergestellt werden müsste, in Spandau vor Gericht verantworten und er und seine Söhne verloren infolge ihre Lehen. Zum größten Teil erhielten sie diese aber schon ein Jahr später wieder zurück ohne dass ich wüsste, ob durch Gnade, höhere Instanz oder Aufklärung. Thomas Wins musste bis dahin zumindest auch eine Geldstrafe zahlen für seine revolutionäre Gesinnung und sein Bürgermeisteramt endgültig abgeben - doch schon in der folgenden Generation bekleideten wieder Mitglieder der Familie das Amt. Ob die Bewohner eine höhere Identität mit Pankow und dem Umfeld empfinden, weil zwei der fünf Kinder von Thomas Wins später mit von Blankenfels verheiratet waren, entzieht sich meiner Kenntnis. Was die Ehre begründet eine Straße nach ihm zu benennen und mit einen ganzen Kiez auch eher aber ich muss ja auch nicht alles wissen und amüsiere mich einfach gern über die Dinge, wie sie sind.
Die Marie, der grüne irgendwie Platz inmitten, wurde erst, was er wurde, nachdem auf Initiative der Anwohner hin 1995 das vorher dort angesiedelte Rettungsamt abgebrochen wurde. Es ist kein Platz wie die anderen von Hobrecht in Prenzlauer Berg so genial angelegten, um die sich die Besiedlung gruppiert sondern eben ein freies Grundstück auf der Nordseite der Marienburger Straße, das auf der anderen Seite durch die Hinterhöfe der Häuser der parallel verlaufenden Christburger Straße begrenzt wird. Ein Schulhof dazu, eine Turnhalle versteckt am Rand, ein Neubau mit viel Glas, der Innen schöner ist, als er Außen unpassend bleibt, ein irgendwie verwachsenes eingezäuntes Biotop in einer Ecke, Tischtennisplatten, Grünfläche und natürlich noch keine alten Bäume und so wirkt die Marie wie ein leeres Grundstück mit etwas Grün und noch immer eher bemüht aber doch sehr nett.
Das Sorsi e Morsi liegt übrigens direkt gegenüber der Marie an ihrem unteren Rand und in der Straße finden sich noch einige schöne Läden inzwischen, zumindest Richtung Prenzlauer Allee, wo sich an der Ecke das große Postamt befindet, vor dem sich nicht nur zur Weihnachtszeit noch ewige Schlangen bilden, als wäre die DDR nie untergegangen auch an den zu langen Schlangen, die Menschen warten statt handeln ließ.
Das Viertel besteht aus zwei Teilen, die eigentlich nichts miteinander zu tun haben und durch die Straße Prenzlauer Berg separiert werden, wie durch eine Zonengrenze, was ein sehr passender Ausdruck auch hinsichtlich der Bewohner in diesem Fall ist. Nördlich dieser Straße stehen die Gründerzeitbauten, mit ihren wundervollen Altbauwohnungen, von denen ich auch eine bewohnte als ich ganz neu in Berlin war und südlich davon entstand, entlang der Otto-Braun-Straße, die eine Verlängerung der Greifswalder ist und an den großen Ministerpräsidenten Preußens erinnert bevor die Nazis kamen, der sicher einer der größten Sozialdemokraten der Geschichte war, was im Vergleich zum aktuellen Vorsitzenden besonders deutlich wird und das nicht nur weil Hindenburg gerne mit dem Ostpreußen auf die Jagd ging, als Ergebnis des DDR-Wohnbauprogramms ein Neubauviertel mit WBS 70/11. WBS 70 ist eine der DDR typischen Abkürzungen für ein einheitliches Wohnhaus in Plattenbauweise, wie sie sich im ganzen Land fanden. Dazu kommen noch zwei Punkthochhäuser mit jeweils 20 Stockwerken über die vom Prenzlauer Berg aus, zu dem sie seltsam fremd ja gehören, nur dank seines Ansteigens hinweg gesehen werden kann.
Dies südliche Gebiet war früher als Teil der Königsstadt ebenfalls dicht bebaut gewesen, jedoch wurde die alte Bebauung während des Krieges größtenteils zerstört. Das Ergebnis dieser Flächenbombardements ist der Berliner Alexanderplatz, der wohl grässlichste Platz mitten im Zentrum einer Weltstadt überhaupt, aber in vielem sozialistischen Träumen wohl genügend und diese spiegelnd. So schützt der Denkmalschutz heute auch viele einst sozialistische Bausünden, deren Ästhetik sich wohl nur mit viel Abstand und abstrakt begreifen lässt, was Berlin zumindest an manchen Orten noch den Ruf nicht schön aber sexy zu sein wahrt, wie immer dies zustande kommen soll. Finde nichts weniger sexy als den grässlichen Alex mit seiner billig kapitalistisch überklebten Erinnerung an das sozialistische Grauen einförmiger Menschenmassen.
Zu den bekanntesten Bewohnern des Kiezes gehören neben Hans Rosenthal, dem Quizmaster von Dalli Dalli, an dessen Sprünge, für das was Spitze war, ich mich noch aus der Kindheit erinnern kann, Thomas Gottschalk, Benno Führmann, Knut Elstermann und Helga Paris. Ob daraus geschlossen werden kann, die Gegend um die heute Marie verführe viele dazu zu Schwätzern zu werden, weiß ich nicht, hielte ich für sehr weit hergeholt eher. Zumindest lädt das Sorsi e Morsi immer zu einem gemütlichen Schwätzchen und ich sollte mir endlich angewöhnen dort auch ohne Begleitung hinzugehen, insofern das Publikum dort interessant genug ist, jede auch noch so verdiente Aufmerksamkeit für die Dame an meiner Seite wieder als vergebene Liebesmüh zu sehen, bedenke ich, wen ich dadurch alles nicht kennengelernt habe auf diesem immer vollen Laufsteg von Liebe und Lust voller Menschen, den der Wirt Gianni auf seine unnachahmlich italienische Art zu einer südlichen Insel mitten im Winskiez macht, wie es wenige in dieser Stadt wohl gibt.
Überlege ja aus Gründen der Vernunft immer wieder, endlich das Rauchen aufzuhören, wieder mit dem Laufen zu beginnen, wie es meine in dieser Hinsicht so vorbildliche zweite Verlobte tat oder auch die dritte Verlobte und ich beide mit ihren schönen trainierten Körpern, wenn auch im Ergebnis völlig lustlosen Körpern, in guter ästhetischer Erinnerung habe, aber denke ich an Abende oder besser Nächte bei Gianni, verwerfe ich solche Gedanken lieber - zum Sterben ist noch Zeit genug, so südlich leben wie dort ist einfach ein Glück und wenn ich alt bin, kann ich immer noch gesund leben oder nicht mehr und dann war das vorher zumindest gut so und nicht lustlos, wenn auch dort Rauchverbot gilt, kann ich mir das ganze ja nochmal überlegen, bis dahin genieße ich la dolce vita im Winskiez. Auch wenn gestern, wie es meist so ist, mehr über Sex geredet wurde, als wer solche hätte, war es sexy auf italienische Art.
jens tuengerthal 31.3.2017
Der Winskiez
Gestern war ich mal wieder im Sorsi e Morsi im Winskiez und jedesmal denke ich, wie dumm, dass ich immer in weiblicher Begleitung dort war bis jetzt, was für viele schöne und interessante Frauen sind bei diesem wunderbar chaotischen Italiener immer, wieviel Sex liegt da schon in der Luft - es ist la dolce vita direkt an der Marie und das mit viel Stil, Geschmack, Liebe und dazu noch, wie aus einer anderen Zeit völlig verraucht.
Die Begleitung war sehr nett und auch nicht hässlich, fand es nicht schlimm, mich ihr zuzuwenden, wie es für einen Gentleman geboten ist, doch eigentlich würde ich in diesem Meer für Augen und Sinne lieber frei schwimmen, statt besetzt anzukommen, dachte ich wieder und sollte es vielleicht endlich mal einfach tun, gehe ja auch in alle anderen Bars oder Kneipen gern alleine als Flaneur, setze mich in eine Ecke, beobachte, schreibe und freue mich an dem, was dort passiert und im Sorsi passiert viel, eigentlich ständig was, um was sonst sollte es auch gehen?
Auch wir sprachen natürlich über Sex. So erzählte meine Begleitung, die ursprünglich aus Brandenburg kommt, wofür ja keiner was kann und schließlich liegt auch Berlin mittendrin, eigentlich, von ihrem letzten Sexabenteuer, diesem etwas dicklichen Typen, der sie drei Monate angemacht hätte und dann als sie ihn endlich rangelassen hat, nicht besonders scharf wohl aber doch in der Hoffnung auf mal wieder guten Sex zumindest, hätte er sich, mitten dabei beleidigt verzogen, weil - sie wusste es auch nicht so genau, fragte mich nach meiner Meinung und ich konnte nur sagen, so ein Idiot, wäre ihr mit mir nicht passiert, was ein Mann dann halt so sagt, damit Frau sich wieder gut fühlt und meint, sie könne es sich aussuchen. Vielleicht hat er mehr erwartet, ekelte sich vor sich selber, kam nicht mit ihr klar - wer schaut schon so tief in die Herzen fremder Männer, noch dazu dicker Typen? - egal, meinte ich ihren letzten Lover betreffend, vergiss ihn und das Paradies ist dazu da, bewohnt zu werden, für alle, die es genießen können.
Wir erzählten uns auch noch andere nette Geschichten über Sex und Liebe und weniger von Kultur, Literatur, Geschichte, Philosophie und all dem, was mich sonst so umtreibt, was nett war und zu der Leichtigkeit der Atmosphäre passte, die Gianni dort kongenial kreiert. Schickes Ambiente, bis zum stapeln voll, gute Weine und eben völlig verraucht. Er umarmt alle Damen, die immer gerne wiederkommen, weil er meist sogar ihre Namen noch weiß, ihnen das Gefühl gibt, etwas ganz besonderes zu sein, wie es nur Italiener können voller Pathos und Hingabe in einer Umarmung, die er vermutlich mit hunderten Damen am Abend so vollzieht, zumindest tat er es immer mit allen, mit denen ich dort war, was aber keine hundert waren.
Zuerst war ich dort mit meiner zweiten Verlobten, die den Laden liebte und mir davon immer wieder vorschwärmte. Recht hatte sie, nur ist es nicht der Laden, in den ich mit meiner Frau gehe - die sehr lange und sehr italienisch herzliche Umarmung mit meiner Verlobten konnte ich noch tolerieren, dachte beim ersten mal, sie kennen sich wohl näher, aber irgendwie hatte ich das Gefühl, nicht dazu zu gehören und mied den Laden mit ihr, obwohl sie immer hin wollte und die Atmosphäre dort, sie wirklich heiß machte, was bei dieser eher mehr als gelassenen Frau schon Grund genug gewesen wäre, täglich hinzugehen. Tat es nicht, wollte ihre Lust lieber mit Worten wecken oder der Kombination aus Technik und Erfahrung, gepaart mit vernünftigen Argumenten und so wurde es dann auch.
Später war ich mit meiner liebsten Geliebten, der Ärztin und ihrer Freundin, die ich gestern dort ohne die Ärztin traf, die gerade mal irgendwie mehr oder weniger glücklich bemannt ja ist und wieder erlebte ich diesen umarmenden Gianni, den die Damen so lieben und diese Atmosphäre voll italienischer Lust, in der spürbar der Sex knistert und das nicht nur auf dem Ledersofa oder wo Paare zusammenstehen, sondern überall - auch auf den kleinen Tellern mit Antipasti, die jeder Gast erstmal bekommt und die ich rauchend gestern gar nicht genug zu meinem Weißwein genoss. Könnte schwärmen über die vielen schönen Frauen mit den teilweise wirklich spannenden und intelligenten Gesichtern, die gut angezogen sind, zumindest im Verhältnis zu dem, was hier sonst so in Leggings; Jogginghosen und ähnlich grässlichen Dingen, die nur den totalen Kontrollverlust beweisen, herumlungert. Es war ein kleiner Ausflug nach Italien und das ist so wunderbar, hat so viel Leichtigkeit und eben Sex, dass ich inzwischen sogar meiner zweiten Verlobten voll zustimmen würde, es ist der beste Laden, mit der tollsten Stimmung am ganzen Berg, den ich kenne, alles andere ist nur manchmal so, wie ich es dort immer erlebe.
Als ich im Winskiez wohnte, es war nach dem Gesundbrunnen die zweite Wohnung, aber die erste, die ich mir mit Wissen gesucht hatte, gab es das Sorsi noch nicht und ich hätte es vermutlich auch nicht entdeckt, wie ich die ganze Schönheit dieses Viertels erst entdeckte, nachdem ich von dort zu meiner liebsten A in den benachbarten Kollwitzkiez gezogen war. Naiv und dumm eigentlich, denke ich heute, wenn ich an die Frauen dort denke und die Stimmung, die dieser glücklich verheiratete Vater von Töchtern in seinem Laden verbreiten kann, wie alternativ schick dieses Viertel geworden ist, das zwischen Prenzlauer Allee und Greifswalder Straße liegt, begrenzt durch die Danziger Straße im Norden und die Mollstraße im Süden, auch wenn es eigentlich im Friedhof schon endet und die Straße Prenzlauer Berg irgendwie niemand mehr zu diesem Kiez dazu zählen würde, zu dem sie doch gehört, wie die Platten jenseits, die aus einer anderen Welt noch stammen.
Wohnte in einer Altbauwohnung im Ersten Stock in der Jablonskistraße direkt über der Haustür, großer Fehler, wie ich spätestens nach den ersten Nächten merkte, wenn die Müllabfuhr die Tonnen unter mir mit viel Schwung entlang rollte, aber davon hatte ich, als ich aus der kurpfälzischen Provinz in die Großstadt zog, noch keine Ahnung. Schöne Stuckdecken und hohe Räume, einen Balkon vor meinem Wohnzimmer, eine Küche nach hinten und ein kleines schon saniertes Badezimmer. War alles prima, sehe ich davon ab, dass ich nicht bedacht hatte, wie laut die Autos auf dem Kopfsteinpflaster beim ein- und ausparken waren, wie deutlich ich die an der unweit gelegenen Prenzlauer verkehrende Straßenbahn hörte und ähnliches Gejammer von Dorfbewohnern, die in die Großstadt ziehen.
Die Wohnung war perfekt und lag perfekt, in einem der schönsten Kieze des Prenzlauer Berg, nur ich wusste sie nicht immer wirklich zu würdigen. Mal nervten mich die zu laut vögelnden Nachbarn, die ich mindestens jede Nacht durch die Wand zu meinem Lesesessel hörte, als könnte es bei so etwas schönem je ein zu sehr geben, dabei hatte ich sogar gelegentlich Sonne im Zimmer und auf dem Balkon, den ich nur selten nutzte, außer die male mit Damenbesuch im Januar und zu meiner einzigen Fete dort. Von dem Kiez unter mir, erfuhr ich nicht viel. Die ersten Monate ging ich sehr früh ins Büro in der Schönhauser Allee und kehrte sehr spät zurück. Wenn ich ausging, dann auf dem Weg vom Büro zu mir im Kollwitzkiez bei meinem Griechen oder den eigentlich langweilig touristischen Cafés am Platz dort, meinen Kiez erkundete ich weder, noch interessierte er mich näher.
Den tollen Kaisers in der Winsstraße Ecke Marienburger Straße stellte mir erst die liebste A vor, die dort zu gern einkaufte, weil sie ihn so gut sortiert und freundlich fand, wie immer nun der heute Rewe dort sein mag. Von sonst etwas dort habe ich nicht viel mitbekommen, bis unsere Tochter in den Kinderladen im Kiez ging, der wiederum in der Christburger Straße lag, einer Parallelstraße zur Jablonskistraße, die zwischen dieser und der Marienburger Straße lag, an welcher letzterer mit der Marie, die große Grünanlage des Kiezes liegt, sehen wir mal von dem Friedhof, der ihn abschließt ab und der doch eigentlich viel grüner und voller atmender Bäume ist. Vielleicht ist es dieser mit schönsten Bäumen und einigen netten Gräbern versehene Friedhof, der dem Viertel um die Winsstraße seinen besonderen Flair gibt - irgendwie Großstadt und irgendwie zugleich sehr grün und auch schick.
Als A und ich aus ihrer wunderbaren aber eben nur 3-Zimmer-Wohnung am Kollwitzplatz mit Kind ausziehen wollten, suchten wir auch dort und sie sagte immer wieder, sie wäre gerne dorthin gezogen, mochte den Kiez und ich war damals relativ teilnahmslos, was die Wahl des richtigen Platzes anging, dachte ich könnte überall, solange es Altbau und irgendwie nett saniert war. Die anderen Kieze in denen ich hier in Prenzlauer Berg wohnte, der Kollwitzkiez, der Teutoburger Platz und schließlich bis jetzt der Helmholtzkiez sind alle um Plätze mit Grünanlagen entstandene Lebensräume. Im Winskiez gab es den Friedhof am Anfang und die irgendwie Marie in der Mitte, die aber kein Platz sondern eher ein freies Grundstück war, auch wenn dieses heute sehr belebt ist und durch viele Initiativen bespielt und immer weiter gestaltet wird.
Zentrum des Winskiezes ist die Winsstraße, die nach dem ehemalige Bürgermeister von Berlin und Gutsbesitzer Thomas Wins benannt wurde, der von 1389 bis 1465 lebte, also ein Mensch der beginnenden Renaissance und des ausgehenden Mittelalters war. Die Familie Wins war adeligen Ursprungs und ist seit dem 14. Jahrhundert in der Mark Brandenburg nachweisbar. Angeblich sind sie aus ursprünglich Frankfurt Oder irgendwann nach Alt-Berlin und Cölln umgesiedelt. Einige meinen auch die Familie käme, anderen Quellen zufolge und namentlich nahe liegend, aus Winsen an der Luhe. Ab 1426 dann, also noch 69 Jahre vor der Entdeckung Amerikas von dem Italiener, der nach Indien eigentlich wollte, um das Heilige Land mit viel Gold wieder zu erobern, war Wins dann zehn Perioden lang mit Unterbrechungen Bürgermeister von Berlin.
Nach 1448 musste er sich wegen Beteiligung an einem Aufruhr gegen den Hohenzollern Kurfürsten Friedrich II, genannt der Eiserne oder Eisenzahn, ohne dass eine Verbindung nun zu Union Berlin hergestellt werden müsste, in Spandau vor Gericht verantworten und er und seine Söhne verloren infolge ihre Lehen. Zum größten Teil erhielten sie diese aber schon ein Jahr später wieder zurück ohne dass ich wüsste, ob durch Gnade, höhere Instanz oder Aufklärung. Thomas Wins musste bis dahin zumindest auch eine Geldstrafe zahlen für seine revolutionäre Gesinnung und sein Bürgermeisteramt endgültig abgeben - doch schon in der folgenden Generation bekleideten wieder Mitglieder der Familie das Amt. Ob die Bewohner eine höhere Identität mit Pankow und dem Umfeld empfinden, weil zwei der fünf Kinder von Thomas Wins später mit von Blankenfels verheiratet waren, entzieht sich meiner Kenntnis. Was die Ehre begründet eine Straße nach ihm zu benennen und mit einen ganzen Kiez auch eher aber ich muss ja auch nicht alles wissen und amüsiere mich einfach gern über die Dinge, wie sie sind.
Die Marie, der grüne irgendwie Platz inmitten, wurde erst, was er wurde, nachdem auf Initiative der Anwohner hin 1995 das vorher dort angesiedelte Rettungsamt abgebrochen wurde. Es ist kein Platz wie die anderen von Hobrecht in Prenzlauer Berg so genial angelegten, um die sich die Besiedlung gruppiert sondern eben ein freies Grundstück auf der Nordseite der Marienburger Straße, das auf der anderen Seite durch die Hinterhöfe der Häuser der parallel verlaufenden Christburger Straße begrenzt wird. Ein Schulhof dazu, eine Turnhalle versteckt am Rand, ein Neubau mit viel Glas, der Innen schöner ist, als er Außen unpassend bleibt, ein irgendwie verwachsenes eingezäuntes Biotop in einer Ecke, Tischtennisplatten, Grünfläche und natürlich noch keine alten Bäume und so wirkt die Marie wie ein leeres Grundstück mit etwas Grün und noch immer eher bemüht aber doch sehr nett.
Das Sorsi e Morsi liegt übrigens direkt gegenüber der Marie an ihrem unteren Rand und in der Straße finden sich noch einige schöne Läden inzwischen, zumindest Richtung Prenzlauer Allee, wo sich an der Ecke das große Postamt befindet, vor dem sich nicht nur zur Weihnachtszeit noch ewige Schlangen bilden, als wäre die DDR nie untergegangen auch an den zu langen Schlangen, die Menschen warten statt handeln ließ.
Das Viertel besteht aus zwei Teilen, die eigentlich nichts miteinander zu tun haben und durch die Straße Prenzlauer Berg separiert werden, wie durch eine Zonengrenze, was ein sehr passender Ausdruck auch hinsichtlich der Bewohner in diesem Fall ist. Nördlich dieser Straße stehen die Gründerzeitbauten, mit ihren wundervollen Altbauwohnungen, von denen ich auch eine bewohnte als ich ganz neu in Berlin war und südlich davon entstand, entlang der Otto-Braun-Straße, die eine Verlängerung der Greifswalder ist und an den großen Ministerpräsidenten Preußens erinnert bevor die Nazis kamen, der sicher einer der größten Sozialdemokraten der Geschichte war, was im Vergleich zum aktuellen Vorsitzenden besonders deutlich wird und das nicht nur weil Hindenburg gerne mit dem Ostpreußen auf die Jagd ging, als Ergebnis des DDR-Wohnbauprogramms ein Neubauviertel mit WBS 70/11. WBS 70 ist eine der DDR typischen Abkürzungen für ein einheitliches Wohnhaus in Plattenbauweise, wie sie sich im ganzen Land fanden. Dazu kommen noch zwei Punkthochhäuser mit jeweils 20 Stockwerken über die vom Prenzlauer Berg aus, zu dem sie seltsam fremd ja gehören, nur dank seines Ansteigens hinweg gesehen werden kann.
Dies südliche Gebiet war früher als Teil der Königsstadt ebenfalls dicht bebaut gewesen, jedoch wurde die alte Bebauung während des Krieges größtenteils zerstört. Das Ergebnis dieser Flächenbombardements ist der Berliner Alexanderplatz, der wohl grässlichste Platz mitten im Zentrum einer Weltstadt überhaupt, aber in vielem sozialistischen Träumen wohl genügend und diese spiegelnd. So schützt der Denkmalschutz heute auch viele einst sozialistische Bausünden, deren Ästhetik sich wohl nur mit viel Abstand und abstrakt begreifen lässt, was Berlin zumindest an manchen Orten noch den Ruf nicht schön aber sexy zu sein wahrt, wie immer dies zustande kommen soll. Finde nichts weniger sexy als den grässlichen Alex mit seiner billig kapitalistisch überklebten Erinnerung an das sozialistische Grauen einförmiger Menschenmassen.
Zu den bekanntesten Bewohnern des Kiezes gehören neben Hans Rosenthal, dem Quizmaster von Dalli Dalli, an dessen Sprünge, für das was Spitze war, ich mich noch aus der Kindheit erinnern kann, Thomas Gottschalk, Benno Führmann, Knut Elstermann und Helga Paris. Ob daraus geschlossen werden kann, die Gegend um die heute Marie verführe viele dazu zu Schwätzern zu werden, weiß ich nicht, hielte ich für sehr weit hergeholt eher. Zumindest lädt das Sorsi e Morsi immer zu einem gemütlichen Schwätzchen und ich sollte mir endlich angewöhnen dort auch ohne Begleitung hinzugehen, insofern das Publikum dort interessant genug ist, jede auch noch so verdiente Aufmerksamkeit für die Dame an meiner Seite wieder als vergebene Liebesmüh zu sehen, bedenke ich, wen ich dadurch alles nicht kennengelernt habe auf diesem immer vollen Laufsteg von Liebe und Lust voller Menschen, den der Wirt Gianni auf seine unnachahmlich italienische Art zu einer südlichen Insel mitten im Winskiez macht, wie es wenige in dieser Stadt wohl gibt.
Überlege ja aus Gründen der Vernunft immer wieder, endlich das Rauchen aufzuhören, wieder mit dem Laufen zu beginnen, wie es meine in dieser Hinsicht so vorbildliche zweite Verlobte tat oder auch die dritte Verlobte und ich beide mit ihren schönen trainierten Körpern, wenn auch im Ergebnis völlig lustlosen Körpern, in guter ästhetischer Erinnerung habe, aber denke ich an Abende oder besser Nächte bei Gianni, verwerfe ich solche Gedanken lieber - zum Sterben ist noch Zeit genug, so südlich leben wie dort ist einfach ein Glück und wenn ich alt bin, kann ich immer noch gesund leben oder nicht mehr und dann war das vorher zumindest gut so und nicht lustlos, wenn auch dort Rauchverbot gilt, kann ich mir das ganze ja nochmal überlegen, bis dahin genieße ich la dolce vita im Winskiez. Auch wenn gestern, wie es meist so ist, mehr über Sex geredet wurde, als wer solche hätte, war es sexy auf italienische Art.
jens tuengerthal 31.3.2017
Donnerstag, 30. März 2017
Potenzmittel
Am meisten stärkt die
Potenz noch die Phantasie
Warum nichts mehr wirkt
jens tuengerthal 30.3.2017
Potenz noch die Phantasie
Warum nichts mehr wirkt
jens tuengerthal 30.3.2017
Berlinleben 034
Kiezgeschichten
Im Gesundbrunnen
Gesundbrunnen hörte sich doch toll an, auch wenn es noch Wedding hieß, als ich hinzog und heute Mitte, klingt es erstmal nicht nach hoher Kriminalität sondern nach Kurort fast.
Werde nun in einigen Kiezgeschichten die Orte, an denen ich lebte in Berlin beschreiben. Angekommen bin ich an jenem 31. August 2000 im Wedding, durch den ich auch über die Brunnenstraße kam und das der Teil des einst roten Wedding noch Gesundbrunnen hieß, davon hatte ich mal irgendwie gehört aber dann doch keine Ahnung und sollte es auch erst erfahren, als ich längst im nächsten Kiez wohnte.
Vom Wedding hatte mir mein Freund A in Mainz schon erzählt, der da groß geworden war, direkt an der Mauer. Arbeiterkiez meinte er, viele Türken und Araber heute, etwas rauher, nix für mich, wie er meinte. Warum er mir nicht sagte, dass es eigentlich Gesundbrunnen war, weiß ich nicht, vielleicht weil er als Nachfahre einer Familie von Eisenbahnern so stolz auf den roten Wedding war, dass es auf die Unterscheidung keinen Wert legte. Ist ja auch vom Klientel und der Bebauung am Rand damals Berlins, auch wenn es heute zu Mitte gehört, noch immer relativ ähnlich. Von der Verwaltung her stimmte es ja auch. War Wedding zu der Zeit, noch bis 2001 als es dann Mitte wurde und ich nicht mehr die Bezirksgrenze überschritten hätte, wenn ich die ehemalige Mauer überquerte jeden Morgen auf dem Weg ins Büro, das dann aber doch in der ganz Prenzlauer Berg Straße Schönhauser Allee lag.
Der Freund hatte mir geraten, mal eine echte Berliner Eckkneipe im Wedding zu besuchen, mich aber nicht zu wundern, wenn ich da angeraunzt würde, so redeten die halt da. Hab darauf lange verzichtet, war ja nur zum Übergang da, wollte keine ethnologischen Studien an den Ureinwohnern betreiben und was ich so auf der Straße flanieren sah oder mit wummernden Bässen vorbeifahren hörte, machte mich nicht neugierig, sie näher kennenzulernen. Kampfhundbesitzer mit meist Jogginghosen, die in ihren Fenstern ihr Schönheitsideal glitzernd nicht nur an Weihnachten dekorierten. Wie sagte es einst Karl Lagerfeld so treffend? Wer Jogginghosen trägt, hat die Kontrolle über sein Leben verloren - so gesehen waren hier ziemlich viele außer Kontrolle und das war nicht meine Welt.
Warum es heute auch hier am Berg Mode wurde, aller Welt zu beweisen, die Kontrolle verloren zu haben und dies als bequemen Ausdruck widerständiger Freiheit sieht, ist mir bis heute ein Rätsel - auch die pubertierende Klasse meiner Tochter freut sich an dieser braven Form des zivilen Ungehorsams. Jogginghose und gemütlich machen als Form des Aufstandes deutet auf eine Verschiebung der Gewichte der neuen Generation hin. Viele der Musiker, die im Mauerpark oder am Abend im Al Hamra spielen, tragen auch schlabbrige Jogginghosen aus denen vielleicht noch das Designerlabel ihrer Unterhosen herausrutscht und wissen sich cool und bewundert dabei, finden junge strahlende Mädchen diese Typen so sexy, während mir eher so übel dabei wird, wie bei der Mode der Nylonkniestrümpfe zum Minirock in Farbe und Muster der Zeltvordächer der 70er. Vermutlich sollte ich daran merken, wie alt ich wurde, dass mir die meiste recycelte Mode, auch die jede weibliche Figur zerstörenden Schlaghosen so fremd sind, noch hoffe ich ja, es könnte auch an meinem erlesenen ästhetischen Empfinden liegen, doch fand sich noch keine, die sich dafür aussprach bis jetzt.
Ginge es nach mir, trügen wir noch immer die Mode aus dem Zauberberg oder den späten Buddenbrooks, warum mein Urteil vermutlich wenig Bedeutung für die meisten haben wird, die lieber modetechnisch gerade den bodenständigen Vorreitern aus den Vororten folgen, als sei dieses ästhetische Tiefstapeln Ausdruck einer besonders demokratischen Gesinnung. Für mich genügten ein Leben lang schwarze Rollis und schwarze Jeans eigentlich, bin vermutlich zu schlicht gestrickt. Auch die Körperbemalung eingeborener Völker oder der Matrosen wurde für viele gerade Mode, die vermutlich in einigen Jahren noch viel mehr Geld dafür ausgeben werden, ihre peinlichen verschrumpelten Arschgeweihe wieder verschwinden zu lassen. So gesehen wundert es auch nicht, dass Wedding und Gesundbrunnen, die heute ja auch in Verkennung der Realitäten Mitte heißen, wie Prenzlauer Berg nun Pankow heißt als sei es ferne östliche Provinz, zum Trendviertel wurde und den Künstlern, die zuerst kamen, immer mehr folgen, welche die billigen Mieten dort schätzen.
Die Siedlung nahe dem Mauerpark mit vielen eher Nachkriegsbauten in der ich zuerst lebte, war davon weniger betroffen. Hier lebte tatsächlich noch das alte Arbeiterklientel, was nur eben inzwischen zum größeren Teil auch durch Migranten gestellt wurde. So sitzen heute mehr die alten Männern mit den großen Schnurrbärten und die Frauen mit den Kopftüchern auf den Bänken in der Mitte der Siedlungen als zu der Zeit, in der mein Freund A hier laufen lernte, wie er mir erzählte und mein Freund M auf der anderen Seite der Mauer und beide sich nie sehen konnten, keine 100m voneinander aufgwachsen.
Der hohe migrantische Anteil unter den Bewohnern prägt auch den Einzelhandel dort immer mehr, hieße es wohl politisch korrekt. Es ist eine raue Ecke um die Brunnenstraße bis zum Gesundbrunnen, auch wenn das Viertel mit dem Humboldthain einen der schöneren Parks Berlins beherbergt, in dem viele seltene Bäume aus aller Welt wachsen, deren Samen der Forscher Alexander von Humboldt noch von seinen Reisen mitbrachte. Hier gibt es wunderschöne alte Industrieanlagen in Klinkerbauten, in denen die AEG produzierte und andere.
In dem kleinen Viertel Gesundbrunnen, dem früheren Teil des Wedding, dem heutigen Ortsteil von Mitte leben fast 93.000 Menschen auf einer Fläche von 6 km² - es ist also ziemlich verdichtet hier alles. Der Gesundbrunnen grenzt im Norden an Reinickendorf und Pankow, im Osten an Prenzlauer Berg, was ja auch Pankow heißt aber das kann ja keiner ernst nehmen und im Südosten an Mitte, womit für den namensgebenden Wedding noch Süden und Westen bleiben. Die Hauptverkehrsachsen dort sind, nomen est omen, die Bad- und die Brunnenstraße. Brunnenviertel wird dabei nur der südöstliche Teil des Stadteils Gesundbrunnen genannt, der um den Bahnhof Gesundbrunnen liegt. Durchflossen wird die Gegend mit dem trügerischen Namen von der Panke, die auch schon durch Pankow fließt und diesem den Namen gab und heute eher ein nettes Rinnsal meist ist, aus dem Barnim kommend und also ein Überbleibsel der Eiszeit.
Der Name Gesundbrunnen rührt tatsächlich von einer heilenden Quelle her, die in der Nähe des späteren Luisenbades lag, die mineralisch war und der jugenderhaltende Wirkung zugeschrieben wurde und was tun die Menschen dafür bis heute nicht alles. Würde den daran Interessierten heute eher empfehlen sich den cranachschen Jungbrunnen in der Gemäldegalerie anzusehen, als den jungen Wedding zu besuchen, der ist tatsächlich so alt, da fühlen sich auch faltige wieder jung und lächeln. So gesehen aber liegen die Wurzeln des wilden Gesundbrunnen in einer Beauty-Farm mit Wasser. Weil diese Sage immer mehr Menschen anzog, ob nun junggebliebene oder alt gewordene, ist nicht ganz gewiss, wuchs die Siedlung der Quellpilger bald zu einem eigenen Stadtteil heran. Die Berliner, die da wohnen, sagen, sie leben am oder in Gesundbrunnen. Auf berlinerisch wird der Brunnen von manchen noch liebevoll Pumpe genannt, auch wenn das nur noch weniger der verbliebenen Ureinwohner kennen. Seiner kulturellen Entwicklung wegen wurde so der Gesundbrunnen zur Quelle des Bezirks Wedding.
Der ehemals zusammengehörige Bezirk Wedding wurde mit der Bezirksreform von 2001, die eben alles Mitte nannte, was vorher noch eigenständig war, in die beiden Ortsteile Wedding und Gesundbrunnen getrennt, darum wird nun weiter über den Wedding berichtet, weil es dies ja auch nach dem Empfinden vieler Eingeborener war, wie meinem Freund A, dem Abkömmling vieler roter und toter Eisenbahner.
Der ersten Nachweis einer Besiedlung im damals noch Weddinge stammt aus dem Jahre 1251. Jedoch verschwand dies Dorf völlig ohne dass bekannt wäre warum und ob es eher im heutigen Wedding oder in Gesundbrunnen lag. Der erste noch bestehende Nachweis des Vorwerk Wedding stammt aus Informationen aus der Zeit um 1600. Dabei ging es um Streitigkeiten über Grundstücke, die im heutigen Stadtteil Gesundbrunnen liegen. Wir sehen, die Grenzen sind fließend und die Trennung doch nicht immer logisch. Unklar ist noch, inwieweit diese Siedlung mit dem Amt Mühlenhof verbunden war, das damals und lange danach für die Belieferung des Hofes mit Holz und Lebensmitteln zuständig war. Dies war, nur so ganz nebenbei, seit 1448 für die Hofbelieferung zuständig, als nach dem Berliner Unwillen über den Baus des Schlosses auf der Insel Cölln die Patrizier einige Mühlen und Ländereien an Kurfürst Friedrich II. zurückgeben mussten. Ein berühmter Bau im Stile der Renaissance aus dem Jahre 1510, der am Mühlendamm oder Molkenmarkt stand und den natürlich mal wieder der peinlich geschmacklose Wilhelm II. abreißen ließ nach 1888.
Die für Gesundbrunnen namensgebende eisenhaltige Quelle wurde übrigen 1748 erstmals erwähnt. Sie wurde untersucht und vom Chemiker Marggraf für heilkräftig befunden und schon 1751 erwarb der königliche Hof Apotheker Heinrich Behm das königliche Privileg, dort eine Heil- und Badeanstalt einzurichten. Dieser teilte dem König mit, der damals schon Friedrich II. hieß, dass die Wirkung der Quelle die in Bad Freienwalde und in Bad Pyrmont noch weit überträfe, was immer daran auch Wirkung sein soll, vermutlich wie bei jeder Kur oder der Homöopathie zählt hier die Psychosomatik für die Natur. Der König ließ den Brunnen fördern, der daraufhin erstmal naheliegend Friedrichs-Gesundbrunnen getauft wurde. Ab 1758 legte Behm die Brunnenanlage an und gab 1760 quasi als Marketingmaßnahme eine Werbeschrift unter dem Titel “Nachricht von dem Gesundbrunnen” heraus.
Für mehr als tausend Wannenbäder gab die Quelle jährlich Wasser und wurde darum auch gebührend in Backstein gefasst, mit einem sechseckigen Brunnenhäuschen mit großen Rundbogenfenstern versehen. Drumherum wurde eine ausgedehnte Gartenanlage errichtet mit den üblichen Bade- und Trinkhäusern sowie Logierhäuschen in denen bis zu 40 Kurgäste nächtigen konnten. Es sollte dort bei chronischen und rheumatischen Erkrankungen Linderung zumindest gesucht werden. Wer dächte heute noch daran, nach Gesundbrunnen zu gehen, damit es einem hinterher besser ginge?
Auch der König selbst logierte hier, wenn er von der Inspektion der nahegelegenen Artillerieübungsplätzen kam. Irgendwann war die heilsame Quelle vor den Toren der Stadt dann nicht mehr so in Mode und verfiel ein wenig, bis sie 1808 der erfolgreiche Medizinal Assessor und Buchhändler Flittner erwarb und wieder sanierte. Zugleich holte er sich über seine in besten Kreisen verkehrende Bethmann Kusine das Privileg die gerade in Königsberg weilende Königin Luise als Namenspatronin zu wählen, die ihm sogar noch persönlich auf bessere Zeiten hoffend die Genehmigung erteilte und schrieb. Gerade war Preußen noch Napoleon bei Jena und Auerstedt unterlegen, zuvor schied schon mit Preußen der Recke Prinz Louis Ferdinand dahin, der einst Geliebte von Prinzessin Friederike, der Schwester der Königin und so war die königliche Familie, zumindest was von ihr übrig noch war, nach Ostpreußen geflohen, von wo die später so hochverehrte Königin schrieb, die aber die Befreiung und den Untergang Napoleons nicht mehr erlebte, sondern ohne Heilwasser an einer Lungenentzündung starb.
Seitdem hieß der ehemalige Friedrichs-Gesundbrunnen nun Luisenbad, auch wenn bezweifelt werden muss, dass die Namensgeberin noch jemals tatsächlich da war. Der ehemalige Brunnen lag in der Nähe des heutigen U-Bahnhofs Pankstraße und stände heute im Hinterhof des Gebäudes Badstraße 38/39. Als aber die Berliner 1882 eine Kanalisation auch im Wedding bauten wurde der Brunnen, vor lauter Ordnung machen, versehentlich zugeschüttet, exisitiert also nicht mehr. Dafür gibt es an der Ecke Badstraße zur Travemünder Straße noch die verbliebenen Gebäude des ehemaligen Luisenbades. Heute, nach dem Umbau von 1995, ist dort die Bezirkszentralbibliothek am Luisenbad untergebracht.
Mit den Badegästen kamen auch die Schankwirte, die an der Badstraße Biergärten und Ausflugslokale errichteten, mit denen auch Glücksspiel und Prostitution im Gesundbrunnen Einzug hielt. Die Gegend wandelte sich zu einem Vergnügungsviertel. Als solches wurde es auch 1861 eingemeindet und bildete mit dem Wedding zusammen den Bezirk Wedding und Gesundbrunnen. Ab Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte sich der Bezirk infolge der anhaltenden Landflucht zu einem Arbeiterbezirk, in dem dichtgedrängt die Proletarier in Mietskasernen lebten. Als schlimmstes Beispiel für diesen gedrängten städtischen Moloch galten damals die Meyers Höfe in der Ackerstraße 132, wo extrem komprimiert und spekulativ gebaut wurde.
Der Umsteigebahnhof Gesundbrunnen wurde bereits um 1900 an der heutigen Stelle errichtet als Fern- Ring- und Vorortbahnhof und bekam wie damals üblich auch ein prächtiges Bahnhofsgebäude. Zur Überbrückung der Bahntrasse im Verlauf der Swinemünder Straße wurde die Millionenbrücke nahe des neuen Bahnhofs errichtet. Der Volksmund hatte die hängende Stahl-Fachwerkkonstruktion wegen der damals enormen Baukosten von rund einer Millionen Mark so genannt. Nachdem dann 1930 auch die U-Bahn dorthin fertiggestellt worden war, die heute die U8 ist, die durch den Wedding zum Alex führt, wurde der Bahnhof zum zentralen Umsteigebahnhof im Berliner S- und U-Bahn Netz.
Während der Weimarer Republik nun war der Wedding eine Hochburg der Arbeiterparteien und darum auch als roter Wedding bekannt. Dort kam es auch am 1. Mai 1929 zu schweren und blutigen Zusammenstößen, die als Blutmai in die Geschichte eingingen. Dabei starben an der Ecke Wiesen- zur Uferstraße allein 19 Menschen und weitere 250 wurden verletzt, an die heute ein Gedenkstein dort erinnert.
Der Berliner Fußballclub Hertha BSC hat hier seinen Ursprung genommen. Sie bezogen 1904 den Schebera Platz ihren ersten festen Platz mit Vereinsheim. Dort wurde 1923 das Stadion am Gesundbrunnen errichtet, in denen Hertha seine beiden deutschen Meisterschaften 1930 und 1931 feierte. Die drei Halbbrüder Boateng, die teilweise zu den erfolgreichsten Profis im deutschen Fußball zählen, zumindest Jeromè noch beim FC Bayern, wuchsen im Gesundbrunnenkiez in der Brunnenstraße auf und noch heute erinnert ein großes Graffiti an ihre Heimat.
Das Stadion, im Krieg durch Bomben weitgehend zerstört, hatte über 35.000 Plätze wurde aber 1974 doch abgerissen. An seiner Stelle entstand dann zwischen Behmstraße, Bahntrasse, Swinemünderstraße und Berliner Mauer eine der wenigen West-Berliner Plattenbausiedlungen mit Waschbetonfassade, heute so hässlich wie immer.
Während des Nationalsozialismus war der Wedding eine Quelle steten Widerstandes, der viele Menschen das Leben kostete. Bei der Reichstagswahl vom 5. März 1933 war der Wedding, derjenige Stadtteil von Berlin, in dem die Nationalsozialisten mit 25,9% die wenigsten Stimmen bekamen. Dafür bekam die KPD noch 39,2% und die SPD lag bei 22,8%. Am Rande des Volksparks Humboldthain hin zu den Gleisen des Bahnhofs wurde mit Zwangsarbeitern noch ein Flakturm mit Leitbunker errichtet, der so stabil war, dass er bis heute als nun Aussichtsturm steht nun mit obligatorischem Kunstwerk versehen. Während des Krieges wurden in Gesundbrunnen fast alle Kirchen und zahlreiche Wohnhäuser durch Bomben zerstört. Bis Ende Juni 1945 herrschten nach dem Krieg noch Soldaten der Roten Armee mit großer Brutalität im doch eigentlich roten Stadtteil, denen noch mehr der Überlebenden zum Opfer fielen.
Auf die Russen folgten die Briten und Franzosen als Besatzungsmacht. Die Badstraße entwickelte sich nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer der größten Einkaufsstraßen Berlins Am Gesundbrunnen stand mit der Lichtburg das größte Kino Berlins. Zahlreiche der ab 1961 von der Bundesrepublik in der Türkei angeworbenen Arbeiter fanden im Gesundbrunnen ein neues Zuhause, weil das Viertel direkt an der Mauer gelegen, ohne Perspektive besonders günstige Mieten bot. Bis heute hat der Stadtteil mit über 38% den höchsten Anteil von Migranten, die sonst bei durchschnittlich 18% liegen. Die größtenteils Türken im Wedding und Gesundbrunnen sind andere als in Kreuzberg oder Neukölln. Häufiger konservativ bis extrem religiös und wenn Erdogan irgendwo in Berlin Zustimmung erhält, dann dort, was zu einer seltsamen Verkehrung gegenüber den Verhältnissen des Nationalsozialismus seitens der heutigen Bewohner führt.
Beim Fall der Mauer und der Öffnung des Grenzübergangs an der Bösebrücke oder Bornholmer-Straße stand der Gesundbrunnen plötzlich im Mittelpunkt des weltweiten Interesses. Die Brücke verbindet Prenzlauer Berg mit dem Gesundbrunnen Wedding. Plötzlich lag der Wedding nicht mehr irgendwo am Rand der Mauer, hörte an der Bernauer Straße die Welt auf, sondern öffneten sich ganz neue Welten und dennoch blieben und entwickelten sich die beiden Bezirke relativ getrennt voneinander total unterschiedlich. Die Mieten in Prenzlauer Berg stiegen, sogar bis nach Pankow hinauf schon, wer immer da hin will, und so wichen immer mehr Künstler wieder in den Wedding aus mit seinem traditionell hohen Anteil an migrantischer Bevölkerung und teil sehr günstigen Altbauwohnungen, die dennoch einen schnellen Weg nach Mitte boten. So entstanden dort ganze Künstlerkolonien, die sich auch so nannten und im alten Stadtbad oder im Postfuhramt große Arbeits- und Atelierflächen fanden. So verändert sich dieser Bezirk gerade wieder und es bleibt spannend, welche angestammte Bevölkerung nun bleibt, wer wohin wandert und wie es in zehn Jahren um den Gesundbrunnen aussehen wird.
Gesundbrunnen und Wedding waren ein wichtiger Industriestandort, die AEG hatte dort ihr großes Werk, Telefunken gab es, Rotaprint, die Berliner Maschinenbau und Schering. Geblieben ist wenig aber viele schöne Gebäude aus der Frühgeschichte der Industrialisierung auch in der Ackerstraße, die vom Koppenplatz in der alten Mitte Berlins bis tief durch Gesundbrunnen zum Humboldthain reicht. Heute ist der Stadtteil eher durch extrem hohe Arbeitslosigkeit geprägt, zwischen 9% und 12% und bis zu 72% der unter 15 jährigen sind von staatlicher Hilfe abhängig, was der höchste Anteil der ganzen Stadt ist. Wo sich einige dieser perspektivlosen Jugendlichen Gangs anschließen und dabei stolz die 65 tragen oder als Graffiti verewigen, bezieht sich dies auf die alten Postbezirke wie in Kreuzberg die 36. Nur ist Kreuzberg durch einen stärkeren alternativen Anteil der Bevölkerung und das lange Bemühen um multikulturelle Durchmischung offener als Gesundbrunnen Wedding, in dem die jeweiligen Gruppen der Bevölkerung sehr für sich leben.
Eine Freundin von mir wurde als vorher Französischlehrerin für Leistungskurse mit einer sehr frankophilen Neigung im Berliner Stellenpool aus einem feinen bürgerlichen Viertel nach Gesundbrunnen versetzt, da sie weder Kinder hatte, noch verheiratet war oder andere Sozialkriterien erfüllte, die in dieser Stadt gerne und oft die Falschen privilegieren, die wissen wie, an eine Sekundarschule im Gesundbrunnen versetzt und überlegte aus Berlin weg gen Süden zu ziehen, weil sie es in der neuen Klasse mit keinem muttersprachlich deutschem Kind und der ständigen Angst vor Gewalt nicht mehr aushielt. Der Kontakt verlor sich leider, auch weil ihre verständlichen Klagen unerträglich wurden. Doch was sie auch aus den dort Parallelwelten erzählte und wie Berlin dort teilweise Lehrer verheizt ohne eine langfristige Perspektive, die eine Durchmischung nötig macht und eine massive Förderung, um langfristig Integration zu erreichen. Eine andere einmal Liebhaberin, die schon ewig in Kreuzberg lebte und dort voll in das multikulturelle Milieu eingebunden war, wurde als LER-Lehrerin auch in den Bereich Gesundbrunnen geschickt und sprach von ähnlichen Belastungen und Ängsten, denen sie sich ausgesetzt sah.
Es wird spannend, wie diese Konflikte langfristig und nachhaltig gelöst werden sollen, um ein dauerhaftes Miteinander zu ermöglichen. Auch meine Tochter war die ersten zwei Jahre im Gesundbrunnen in einer Schule, die in einem der berühmten alten AEG Gebäude hausierte. Allerdings war es eine englische Privatschule, deren Schüler von vielen wohlhabenden Eltern, also nicht solchen wie ich einer bin, direkt vor der Schule im noblen Wagen abgeliefert wurden. Auch wenn dies eine Ausnahmesituation am seltsamen Ort eine zeitlang war, wir wissen schon, warum wir diese Schule irgendwann wieder verließen, hat sie in diesen zwei Jahren interessante Erfahrungen gemacht und auch ich als ihr Vater, der sie meist mit dem Rad brachte, erlebte Berlin ganz anders als hinter der sozialen Mauer des Prenzlauer Berg in dem sich ein akademisch grünes Milieu seine Wohlfühlatmosphäre einrichtet und am liebsten schickes countrylife im aktuellen Stil mitten in der Großstadt spielt, mit der es wenig zu tun haben will.
Mit einem Schnitt unter 38 Jahren ist der Bereich Wedding Gesundbrunnen der jüngste Teil Berlins. Dabei haben über 62% der Einwohner im Ortsteil Gesundbrunnen einen irgendwie migrantischen Hintergrund, egal welchen Pass sie tragen oder wo sie geboren wurden, was zu dem hohen Anteil von fast 38% Migranten dort passt. Neben den Boatengs kam auch der bekannte Harald Juhnke aus dem auch für viele Drogenkonsumenten bekannten Gesundbrunnen und Cornelia Froboess, die einst sang, Pack die Badehose ein.
Die Zahl der architektonisch bedeutenden Gebäude ist relativ überschaubar. Es gibt das Amtsgericht Wedding, das nach dem Vorbild der sächsischen Albrechtsburg im Stile der Neogotik erbaut wurde, die nach Schinkels Plänen bis 1835 errichtete St-Pauls-Kirche, die in den 50ern nach Zerstörung im Krieg wiederhergestellt, im Inneren als Denkmal der Architektur der Nachkriegszeit gilt, was immer daran schön sein mag, auch die ehemalige Rotaprint Fabrik gilt als ein Klassiker der Moderne und wird denkmalgerecht nun zumindest vom Verein saniert, dahingestellt, was nun noch schön daran ist, schließlich noch die Peter-Behrens-Halle der AEG, die in ihrem Klinkerbau für die Architektur des Industriezeitalters steht.
Gesundbrunnen und Wedding tauchen in der Kriminalitätsstatistik von Berlin immer relativ weit oben auf. Es gibt hier weniger mafiöse Clans, wie sie sich lange gerade in Neukölln fanden, doch immer wieder Ausbrüche der Gewalt in einem Leben zwischen den Extremen. Die Brunnenstraße vom Brunnen-Center, dem großen Einkaufszentrum am Bahnhof Gesundbrunnen, aus nicht gen Mitte sondern hinein in die Welt der auch orientalischen Basare und Läden hier laufen, ist wie Urlaub in einem anderen Land. Nicht jede Erfahrung ist großartig, auch wenn manches dort ganz bezaubernd sein kann, aber es lohnt sich für jeden Besucher, der das Leben in der Stadt mitbekommen möchte und dies mehr als ein Gang über den Ku’Damm oder durch das KaDeWe, die dem größten Teil der Stadt fremd bleiben. Dit ist eben Berlin da, nicht schön, nicht schnieke, aber ziemlich echt und meist ehrlich. So gesehen passt es, dass der nur Vorort nun Mitte heißt, den ich nie kennenlernte als ich dort noch wohnte sondern erst viel später und ich mag die Ecke, mit Vorsicht.
jens tuengerthal 30.3.2017
Im Gesundbrunnen
Gesundbrunnen hörte sich doch toll an, auch wenn es noch Wedding hieß, als ich hinzog und heute Mitte, klingt es erstmal nicht nach hoher Kriminalität sondern nach Kurort fast.
Werde nun in einigen Kiezgeschichten die Orte, an denen ich lebte in Berlin beschreiben. Angekommen bin ich an jenem 31. August 2000 im Wedding, durch den ich auch über die Brunnenstraße kam und das der Teil des einst roten Wedding noch Gesundbrunnen hieß, davon hatte ich mal irgendwie gehört aber dann doch keine Ahnung und sollte es auch erst erfahren, als ich längst im nächsten Kiez wohnte.
Vom Wedding hatte mir mein Freund A in Mainz schon erzählt, der da groß geworden war, direkt an der Mauer. Arbeiterkiez meinte er, viele Türken und Araber heute, etwas rauher, nix für mich, wie er meinte. Warum er mir nicht sagte, dass es eigentlich Gesundbrunnen war, weiß ich nicht, vielleicht weil er als Nachfahre einer Familie von Eisenbahnern so stolz auf den roten Wedding war, dass es auf die Unterscheidung keinen Wert legte. Ist ja auch vom Klientel und der Bebauung am Rand damals Berlins, auch wenn es heute zu Mitte gehört, noch immer relativ ähnlich. Von der Verwaltung her stimmte es ja auch. War Wedding zu der Zeit, noch bis 2001 als es dann Mitte wurde und ich nicht mehr die Bezirksgrenze überschritten hätte, wenn ich die ehemalige Mauer überquerte jeden Morgen auf dem Weg ins Büro, das dann aber doch in der ganz Prenzlauer Berg Straße Schönhauser Allee lag.
Der Freund hatte mir geraten, mal eine echte Berliner Eckkneipe im Wedding zu besuchen, mich aber nicht zu wundern, wenn ich da angeraunzt würde, so redeten die halt da. Hab darauf lange verzichtet, war ja nur zum Übergang da, wollte keine ethnologischen Studien an den Ureinwohnern betreiben und was ich so auf der Straße flanieren sah oder mit wummernden Bässen vorbeifahren hörte, machte mich nicht neugierig, sie näher kennenzulernen. Kampfhundbesitzer mit meist Jogginghosen, die in ihren Fenstern ihr Schönheitsideal glitzernd nicht nur an Weihnachten dekorierten. Wie sagte es einst Karl Lagerfeld so treffend? Wer Jogginghosen trägt, hat die Kontrolle über sein Leben verloren - so gesehen waren hier ziemlich viele außer Kontrolle und das war nicht meine Welt.
Warum es heute auch hier am Berg Mode wurde, aller Welt zu beweisen, die Kontrolle verloren zu haben und dies als bequemen Ausdruck widerständiger Freiheit sieht, ist mir bis heute ein Rätsel - auch die pubertierende Klasse meiner Tochter freut sich an dieser braven Form des zivilen Ungehorsams. Jogginghose und gemütlich machen als Form des Aufstandes deutet auf eine Verschiebung der Gewichte der neuen Generation hin. Viele der Musiker, die im Mauerpark oder am Abend im Al Hamra spielen, tragen auch schlabbrige Jogginghosen aus denen vielleicht noch das Designerlabel ihrer Unterhosen herausrutscht und wissen sich cool und bewundert dabei, finden junge strahlende Mädchen diese Typen so sexy, während mir eher so übel dabei wird, wie bei der Mode der Nylonkniestrümpfe zum Minirock in Farbe und Muster der Zeltvordächer der 70er. Vermutlich sollte ich daran merken, wie alt ich wurde, dass mir die meiste recycelte Mode, auch die jede weibliche Figur zerstörenden Schlaghosen so fremd sind, noch hoffe ich ja, es könnte auch an meinem erlesenen ästhetischen Empfinden liegen, doch fand sich noch keine, die sich dafür aussprach bis jetzt.
Ginge es nach mir, trügen wir noch immer die Mode aus dem Zauberberg oder den späten Buddenbrooks, warum mein Urteil vermutlich wenig Bedeutung für die meisten haben wird, die lieber modetechnisch gerade den bodenständigen Vorreitern aus den Vororten folgen, als sei dieses ästhetische Tiefstapeln Ausdruck einer besonders demokratischen Gesinnung. Für mich genügten ein Leben lang schwarze Rollis und schwarze Jeans eigentlich, bin vermutlich zu schlicht gestrickt. Auch die Körperbemalung eingeborener Völker oder der Matrosen wurde für viele gerade Mode, die vermutlich in einigen Jahren noch viel mehr Geld dafür ausgeben werden, ihre peinlichen verschrumpelten Arschgeweihe wieder verschwinden zu lassen. So gesehen wundert es auch nicht, dass Wedding und Gesundbrunnen, die heute ja auch in Verkennung der Realitäten Mitte heißen, wie Prenzlauer Berg nun Pankow heißt als sei es ferne östliche Provinz, zum Trendviertel wurde und den Künstlern, die zuerst kamen, immer mehr folgen, welche die billigen Mieten dort schätzen.
Die Siedlung nahe dem Mauerpark mit vielen eher Nachkriegsbauten in der ich zuerst lebte, war davon weniger betroffen. Hier lebte tatsächlich noch das alte Arbeiterklientel, was nur eben inzwischen zum größeren Teil auch durch Migranten gestellt wurde. So sitzen heute mehr die alten Männern mit den großen Schnurrbärten und die Frauen mit den Kopftüchern auf den Bänken in der Mitte der Siedlungen als zu der Zeit, in der mein Freund A hier laufen lernte, wie er mir erzählte und mein Freund M auf der anderen Seite der Mauer und beide sich nie sehen konnten, keine 100m voneinander aufgwachsen.
Der hohe migrantische Anteil unter den Bewohnern prägt auch den Einzelhandel dort immer mehr, hieße es wohl politisch korrekt. Es ist eine raue Ecke um die Brunnenstraße bis zum Gesundbrunnen, auch wenn das Viertel mit dem Humboldthain einen der schöneren Parks Berlins beherbergt, in dem viele seltene Bäume aus aller Welt wachsen, deren Samen der Forscher Alexander von Humboldt noch von seinen Reisen mitbrachte. Hier gibt es wunderschöne alte Industrieanlagen in Klinkerbauten, in denen die AEG produzierte und andere.
In dem kleinen Viertel Gesundbrunnen, dem früheren Teil des Wedding, dem heutigen Ortsteil von Mitte leben fast 93.000 Menschen auf einer Fläche von 6 km² - es ist also ziemlich verdichtet hier alles. Der Gesundbrunnen grenzt im Norden an Reinickendorf und Pankow, im Osten an Prenzlauer Berg, was ja auch Pankow heißt aber das kann ja keiner ernst nehmen und im Südosten an Mitte, womit für den namensgebenden Wedding noch Süden und Westen bleiben. Die Hauptverkehrsachsen dort sind, nomen est omen, die Bad- und die Brunnenstraße. Brunnenviertel wird dabei nur der südöstliche Teil des Stadteils Gesundbrunnen genannt, der um den Bahnhof Gesundbrunnen liegt. Durchflossen wird die Gegend mit dem trügerischen Namen von der Panke, die auch schon durch Pankow fließt und diesem den Namen gab und heute eher ein nettes Rinnsal meist ist, aus dem Barnim kommend und also ein Überbleibsel der Eiszeit.
Der Name Gesundbrunnen rührt tatsächlich von einer heilenden Quelle her, die in der Nähe des späteren Luisenbades lag, die mineralisch war und der jugenderhaltende Wirkung zugeschrieben wurde und was tun die Menschen dafür bis heute nicht alles. Würde den daran Interessierten heute eher empfehlen sich den cranachschen Jungbrunnen in der Gemäldegalerie anzusehen, als den jungen Wedding zu besuchen, der ist tatsächlich so alt, da fühlen sich auch faltige wieder jung und lächeln. So gesehen aber liegen die Wurzeln des wilden Gesundbrunnen in einer Beauty-Farm mit Wasser. Weil diese Sage immer mehr Menschen anzog, ob nun junggebliebene oder alt gewordene, ist nicht ganz gewiss, wuchs die Siedlung der Quellpilger bald zu einem eigenen Stadtteil heran. Die Berliner, die da wohnen, sagen, sie leben am oder in Gesundbrunnen. Auf berlinerisch wird der Brunnen von manchen noch liebevoll Pumpe genannt, auch wenn das nur noch weniger der verbliebenen Ureinwohner kennen. Seiner kulturellen Entwicklung wegen wurde so der Gesundbrunnen zur Quelle des Bezirks Wedding.
Der ehemals zusammengehörige Bezirk Wedding wurde mit der Bezirksreform von 2001, die eben alles Mitte nannte, was vorher noch eigenständig war, in die beiden Ortsteile Wedding und Gesundbrunnen getrennt, darum wird nun weiter über den Wedding berichtet, weil es dies ja auch nach dem Empfinden vieler Eingeborener war, wie meinem Freund A, dem Abkömmling vieler roter und toter Eisenbahner.
Der ersten Nachweis einer Besiedlung im damals noch Weddinge stammt aus dem Jahre 1251. Jedoch verschwand dies Dorf völlig ohne dass bekannt wäre warum und ob es eher im heutigen Wedding oder in Gesundbrunnen lag. Der erste noch bestehende Nachweis des Vorwerk Wedding stammt aus Informationen aus der Zeit um 1600. Dabei ging es um Streitigkeiten über Grundstücke, die im heutigen Stadtteil Gesundbrunnen liegen. Wir sehen, die Grenzen sind fließend und die Trennung doch nicht immer logisch. Unklar ist noch, inwieweit diese Siedlung mit dem Amt Mühlenhof verbunden war, das damals und lange danach für die Belieferung des Hofes mit Holz und Lebensmitteln zuständig war. Dies war, nur so ganz nebenbei, seit 1448 für die Hofbelieferung zuständig, als nach dem Berliner Unwillen über den Baus des Schlosses auf der Insel Cölln die Patrizier einige Mühlen und Ländereien an Kurfürst Friedrich II. zurückgeben mussten. Ein berühmter Bau im Stile der Renaissance aus dem Jahre 1510, der am Mühlendamm oder Molkenmarkt stand und den natürlich mal wieder der peinlich geschmacklose Wilhelm II. abreißen ließ nach 1888.
Die für Gesundbrunnen namensgebende eisenhaltige Quelle wurde übrigen 1748 erstmals erwähnt. Sie wurde untersucht und vom Chemiker Marggraf für heilkräftig befunden und schon 1751 erwarb der königliche Hof Apotheker Heinrich Behm das königliche Privileg, dort eine Heil- und Badeanstalt einzurichten. Dieser teilte dem König mit, der damals schon Friedrich II. hieß, dass die Wirkung der Quelle die in Bad Freienwalde und in Bad Pyrmont noch weit überträfe, was immer daran auch Wirkung sein soll, vermutlich wie bei jeder Kur oder der Homöopathie zählt hier die Psychosomatik für die Natur. Der König ließ den Brunnen fördern, der daraufhin erstmal naheliegend Friedrichs-Gesundbrunnen getauft wurde. Ab 1758 legte Behm die Brunnenanlage an und gab 1760 quasi als Marketingmaßnahme eine Werbeschrift unter dem Titel “Nachricht von dem Gesundbrunnen” heraus.
Für mehr als tausend Wannenbäder gab die Quelle jährlich Wasser und wurde darum auch gebührend in Backstein gefasst, mit einem sechseckigen Brunnenhäuschen mit großen Rundbogenfenstern versehen. Drumherum wurde eine ausgedehnte Gartenanlage errichtet mit den üblichen Bade- und Trinkhäusern sowie Logierhäuschen in denen bis zu 40 Kurgäste nächtigen konnten. Es sollte dort bei chronischen und rheumatischen Erkrankungen Linderung zumindest gesucht werden. Wer dächte heute noch daran, nach Gesundbrunnen zu gehen, damit es einem hinterher besser ginge?
Auch der König selbst logierte hier, wenn er von der Inspektion der nahegelegenen Artillerieübungsplätzen kam. Irgendwann war die heilsame Quelle vor den Toren der Stadt dann nicht mehr so in Mode und verfiel ein wenig, bis sie 1808 der erfolgreiche Medizinal Assessor und Buchhändler Flittner erwarb und wieder sanierte. Zugleich holte er sich über seine in besten Kreisen verkehrende Bethmann Kusine das Privileg die gerade in Königsberg weilende Königin Luise als Namenspatronin zu wählen, die ihm sogar noch persönlich auf bessere Zeiten hoffend die Genehmigung erteilte und schrieb. Gerade war Preußen noch Napoleon bei Jena und Auerstedt unterlegen, zuvor schied schon mit Preußen der Recke Prinz Louis Ferdinand dahin, der einst Geliebte von Prinzessin Friederike, der Schwester der Königin und so war die königliche Familie, zumindest was von ihr übrig noch war, nach Ostpreußen geflohen, von wo die später so hochverehrte Königin schrieb, die aber die Befreiung und den Untergang Napoleons nicht mehr erlebte, sondern ohne Heilwasser an einer Lungenentzündung starb.
Seitdem hieß der ehemalige Friedrichs-Gesundbrunnen nun Luisenbad, auch wenn bezweifelt werden muss, dass die Namensgeberin noch jemals tatsächlich da war. Der ehemalige Brunnen lag in der Nähe des heutigen U-Bahnhofs Pankstraße und stände heute im Hinterhof des Gebäudes Badstraße 38/39. Als aber die Berliner 1882 eine Kanalisation auch im Wedding bauten wurde der Brunnen, vor lauter Ordnung machen, versehentlich zugeschüttet, exisitiert also nicht mehr. Dafür gibt es an der Ecke Badstraße zur Travemünder Straße noch die verbliebenen Gebäude des ehemaligen Luisenbades. Heute, nach dem Umbau von 1995, ist dort die Bezirkszentralbibliothek am Luisenbad untergebracht.
Mit den Badegästen kamen auch die Schankwirte, die an der Badstraße Biergärten und Ausflugslokale errichteten, mit denen auch Glücksspiel und Prostitution im Gesundbrunnen Einzug hielt. Die Gegend wandelte sich zu einem Vergnügungsviertel. Als solches wurde es auch 1861 eingemeindet und bildete mit dem Wedding zusammen den Bezirk Wedding und Gesundbrunnen. Ab Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte sich der Bezirk infolge der anhaltenden Landflucht zu einem Arbeiterbezirk, in dem dichtgedrängt die Proletarier in Mietskasernen lebten. Als schlimmstes Beispiel für diesen gedrängten städtischen Moloch galten damals die Meyers Höfe in der Ackerstraße 132, wo extrem komprimiert und spekulativ gebaut wurde.
Der Umsteigebahnhof Gesundbrunnen wurde bereits um 1900 an der heutigen Stelle errichtet als Fern- Ring- und Vorortbahnhof und bekam wie damals üblich auch ein prächtiges Bahnhofsgebäude. Zur Überbrückung der Bahntrasse im Verlauf der Swinemünder Straße wurde die Millionenbrücke nahe des neuen Bahnhofs errichtet. Der Volksmund hatte die hängende Stahl-Fachwerkkonstruktion wegen der damals enormen Baukosten von rund einer Millionen Mark so genannt. Nachdem dann 1930 auch die U-Bahn dorthin fertiggestellt worden war, die heute die U8 ist, die durch den Wedding zum Alex führt, wurde der Bahnhof zum zentralen Umsteigebahnhof im Berliner S- und U-Bahn Netz.
Während der Weimarer Republik nun war der Wedding eine Hochburg der Arbeiterparteien und darum auch als roter Wedding bekannt. Dort kam es auch am 1. Mai 1929 zu schweren und blutigen Zusammenstößen, die als Blutmai in die Geschichte eingingen. Dabei starben an der Ecke Wiesen- zur Uferstraße allein 19 Menschen und weitere 250 wurden verletzt, an die heute ein Gedenkstein dort erinnert.
Der Berliner Fußballclub Hertha BSC hat hier seinen Ursprung genommen. Sie bezogen 1904 den Schebera Platz ihren ersten festen Platz mit Vereinsheim. Dort wurde 1923 das Stadion am Gesundbrunnen errichtet, in denen Hertha seine beiden deutschen Meisterschaften 1930 und 1931 feierte. Die drei Halbbrüder Boateng, die teilweise zu den erfolgreichsten Profis im deutschen Fußball zählen, zumindest Jeromè noch beim FC Bayern, wuchsen im Gesundbrunnenkiez in der Brunnenstraße auf und noch heute erinnert ein großes Graffiti an ihre Heimat.
Das Stadion, im Krieg durch Bomben weitgehend zerstört, hatte über 35.000 Plätze wurde aber 1974 doch abgerissen. An seiner Stelle entstand dann zwischen Behmstraße, Bahntrasse, Swinemünderstraße und Berliner Mauer eine der wenigen West-Berliner Plattenbausiedlungen mit Waschbetonfassade, heute so hässlich wie immer.
Während des Nationalsozialismus war der Wedding eine Quelle steten Widerstandes, der viele Menschen das Leben kostete. Bei der Reichstagswahl vom 5. März 1933 war der Wedding, derjenige Stadtteil von Berlin, in dem die Nationalsozialisten mit 25,9% die wenigsten Stimmen bekamen. Dafür bekam die KPD noch 39,2% und die SPD lag bei 22,8%. Am Rande des Volksparks Humboldthain hin zu den Gleisen des Bahnhofs wurde mit Zwangsarbeitern noch ein Flakturm mit Leitbunker errichtet, der so stabil war, dass er bis heute als nun Aussichtsturm steht nun mit obligatorischem Kunstwerk versehen. Während des Krieges wurden in Gesundbrunnen fast alle Kirchen und zahlreiche Wohnhäuser durch Bomben zerstört. Bis Ende Juni 1945 herrschten nach dem Krieg noch Soldaten der Roten Armee mit großer Brutalität im doch eigentlich roten Stadtteil, denen noch mehr der Überlebenden zum Opfer fielen.
Auf die Russen folgten die Briten und Franzosen als Besatzungsmacht. Die Badstraße entwickelte sich nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer der größten Einkaufsstraßen Berlins Am Gesundbrunnen stand mit der Lichtburg das größte Kino Berlins. Zahlreiche der ab 1961 von der Bundesrepublik in der Türkei angeworbenen Arbeiter fanden im Gesundbrunnen ein neues Zuhause, weil das Viertel direkt an der Mauer gelegen, ohne Perspektive besonders günstige Mieten bot. Bis heute hat der Stadtteil mit über 38% den höchsten Anteil von Migranten, die sonst bei durchschnittlich 18% liegen. Die größtenteils Türken im Wedding und Gesundbrunnen sind andere als in Kreuzberg oder Neukölln. Häufiger konservativ bis extrem religiös und wenn Erdogan irgendwo in Berlin Zustimmung erhält, dann dort, was zu einer seltsamen Verkehrung gegenüber den Verhältnissen des Nationalsozialismus seitens der heutigen Bewohner führt.
Beim Fall der Mauer und der Öffnung des Grenzübergangs an der Bösebrücke oder Bornholmer-Straße stand der Gesundbrunnen plötzlich im Mittelpunkt des weltweiten Interesses. Die Brücke verbindet Prenzlauer Berg mit dem Gesundbrunnen Wedding. Plötzlich lag der Wedding nicht mehr irgendwo am Rand der Mauer, hörte an der Bernauer Straße die Welt auf, sondern öffneten sich ganz neue Welten und dennoch blieben und entwickelten sich die beiden Bezirke relativ getrennt voneinander total unterschiedlich. Die Mieten in Prenzlauer Berg stiegen, sogar bis nach Pankow hinauf schon, wer immer da hin will, und so wichen immer mehr Künstler wieder in den Wedding aus mit seinem traditionell hohen Anteil an migrantischer Bevölkerung und teil sehr günstigen Altbauwohnungen, die dennoch einen schnellen Weg nach Mitte boten. So entstanden dort ganze Künstlerkolonien, die sich auch so nannten und im alten Stadtbad oder im Postfuhramt große Arbeits- und Atelierflächen fanden. So verändert sich dieser Bezirk gerade wieder und es bleibt spannend, welche angestammte Bevölkerung nun bleibt, wer wohin wandert und wie es in zehn Jahren um den Gesundbrunnen aussehen wird.
Gesundbrunnen und Wedding waren ein wichtiger Industriestandort, die AEG hatte dort ihr großes Werk, Telefunken gab es, Rotaprint, die Berliner Maschinenbau und Schering. Geblieben ist wenig aber viele schöne Gebäude aus der Frühgeschichte der Industrialisierung auch in der Ackerstraße, die vom Koppenplatz in der alten Mitte Berlins bis tief durch Gesundbrunnen zum Humboldthain reicht. Heute ist der Stadtteil eher durch extrem hohe Arbeitslosigkeit geprägt, zwischen 9% und 12% und bis zu 72% der unter 15 jährigen sind von staatlicher Hilfe abhängig, was der höchste Anteil der ganzen Stadt ist. Wo sich einige dieser perspektivlosen Jugendlichen Gangs anschließen und dabei stolz die 65 tragen oder als Graffiti verewigen, bezieht sich dies auf die alten Postbezirke wie in Kreuzberg die 36. Nur ist Kreuzberg durch einen stärkeren alternativen Anteil der Bevölkerung und das lange Bemühen um multikulturelle Durchmischung offener als Gesundbrunnen Wedding, in dem die jeweiligen Gruppen der Bevölkerung sehr für sich leben.
Eine Freundin von mir wurde als vorher Französischlehrerin für Leistungskurse mit einer sehr frankophilen Neigung im Berliner Stellenpool aus einem feinen bürgerlichen Viertel nach Gesundbrunnen versetzt, da sie weder Kinder hatte, noch verheiratet war oder andere Sozialkriterien erfüllte, die in dieser Stadt gerne und oft die Falschen privilegieren, die wissen wie, an eine Sekundarschule im Gesundbrunnen versetzt und überlegte aus Berlin weg gen Süden zu ziehen, weil sie es in der neuen Klasse mit keinem muttersprachlich deutschem Kind und der ständigen Angst vor Gewalt nicht mehr aushielt. Der Kontakt verlor sich leider, auch weil ihre verständlichen Klagen unerträglich wurden. Doch was sie auch aus den dort Parallelwelten erzählte und wie Berlin dort teilweise Lehrer verheizt ohne eine langfristige Perspektive, die eine Durchmischung nötig macht und eine massive Förderung, um langfristig Integration zu erreichen. Eine andere einmal Liebhaberin, die schon ewig in Kreuzberg lebte und dort voll in das multikulturelle Milieu eingebunden war, wurde als LER-Lehrerin auch in den Bereich Gesundbrunnen geschickt und sprach von ähnlichen Belastungen und Ängsten, denen sie sich ausgesetzt sah.
Es wird spannend, wie diese Konflikte langfristig und nachhaltig gelöst werden sollen, um ein dauerhaftes Miteinander zu ermöglichen. Auch meine Tochter war die ersten zwei Jahre im Gesundbrunnen in einer Schule, die in einem der berühmten alten AEG Gebäude hausierte. Allerdings war es eine englische Privatschule, deren Schüler von vielen wohlhabenden Eltern, also nicht solchen wie ich einer bin, direkt vor der Schule im noblen Wagen abgeliefert wurden. Auch wenn dies eine Ausnahmesituation am seltsamen Ort eine zeitlang war, wir wissen schon, warum wir diese Schule irgendwann wieder verließen, hat sie in diesen zwei Jahren interessante Erfahrungen gemacht und auch ich als ihr Vater, der sie meist mit dem Rad brachte, erlebte Berlin ganz anders als hinter der sozialen Mauer des Prenzlauer Berg in dem sich ein akademisch grünes Milieu seine Wohlfühlatmosphäre einrichtet und am liebsten schickes countrylife im aktuellen Stil mitten in der Großstadt spielt, mit der es wenig zu tun haben will.
Mit einem Schnitt unter 38 Jahren ist der Bereich Wedding Gesundbrunnen der jüngste Teil Berlins. Dabei haben über 62% der Einwohner im Ortsteil Gesundbrunnen einen irgendwie migrantischen Hintergrund, egal welchen Pass sie tragen oder wo sie geboren wurden, was zu dem hohen Anteil von fast 38% Migranten dort passt. Neben den Boatengs kam auch der bekannte Harald Juhnke aus dem auch für viele Drogenkonsumenten bekannten Gesundbrunnen und Cornelia Froboess, die einst sang, Pack die Badehose ein.
Die Zahl der architektonisch bedeutenden Gebäude ist relativ überschaubar. Es gibt das Amtsgericht Wedding, das nach dem Vorbild der sächsischen Albrechtsburg im Stile der Neogotik erbaut wurde, die nach Schinkels Plänen bis 1835 errichtete St-Pauls-Kirche, die in den 50ern nach Zerstörung im Krieg wiederhergestellt, im Inneren als Denkmal der Architektur der Nachkriegszeit gilt, was immer daran schön sein mag, auch die ehemalige Rotaprint Fabrik gilt als ein Klassiker der Moderne und wird denkmalgerecht nun zumindest vom Verein saniert, dahingestellt, was nun noch schön daran ist, schließlich noch die Peter-Behrens-Halle der AEG, die in ihrem Klinkerbau für die Architektur des Industriezeitalters steht.
Gesundbrunnen und Wedding tauchen in der Kriminalitätsstatistik von Berlin immer relativ weit oben auf. Es gibt hier weniger mafiöse Clans, wie sie sich lange gerade in Neukölln fanden, doch immer wieder Ausbrüche der Gewalt in einem Leben zwischen den Extremen. Die Brunnenstraße vom Brunnen-Center, dem großen Einkaufszentrum am Bahnhof Gesundbrunnen, aus nicht gen Mitte sondern hinein in die Welt der auch orientalischen Basare und Läden hier laufen, ist wie Urlaub in einem anderen Land. Nicht jede Erfahrung ist großartig, auch wenn manches dort ganz bezaubernd sein kann, aber es lohnt sich für jeden Besucher, der das Leben in der Stadt mitbekommen möchte und dies mehr als ein Gang über den Ku’Damm oder durch das KaDeWe, die dem größten Teil der Stadt fremd bleiben. Dit ist eben Berlin da, nicht schön, nicht schnieke, aber ziemlich echt und meist ehrlich. So gesehen passt es, dass der nur Vorort nun Mitte heißt, den ich nie kennenlernte als ich dort noch wohnte sondern erst viel später und ich mag die Ecke, mit Vorsicht.
jens tuengerthal 30.3.2017
Mittwoch, 29. März 2017
Lustpotenz
Wo wollen und können
Nicht zusammen passt wird es
Selten mit der Lust was
Wer sich überschätzt
Verschießt sein Pulver allein
Blieb es dann besser
Wo Kraft und Saft eins
Steht von allein unser Held
Sonst hängt er als Clown
jens tuengerthal 29.3.2017
Nicht zusammen passt wird es
Selten mit der Lust was
Wer sich überschätzt
Verschießt sein Pulver allein
Blieb es dann besser
Wo Kraft und Saft eins
Steht von allein unser Held
Sonst hängt er als Clown
jens tuengerthal 29.3.2017
Lustgeist
Wo Natur uns treibt
Will die Lust zur Sinnlichkeit
Geistig wird sie ganz
jens tuengerthal 29.3.2017
Will die Lust zur Sinnlichkeit
Geistig wird sie ganz
jens tuengerthal 29.3.2017
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