Freitag, 31. März 2017

Berlinleben 035

Kiezgeschichten

Der Winskiez

Gestern war ich mal wieder im Sorsi e Morsi im Winskiez und jedesmal denke ich, wie dumm, dass ich immer in weiblicher Begleitung dort war bis jetzt, was für viele schöne und interessante Frauen sind bei diesem wunderbar chaotischen Italiener immer, wieviel Sex liegt da schon in der Luft - es ist la dolce vita direkt an der Marie und das mit viel Stil, Geschmack, Liebe und dazu noch, wie aus einer anderen Zeit völlig verraucht.

Die Begleitung war sehr nett und auch nicht hässlich, fand es nicht schlimm, mich ihr zuzuwenden, wie es für einen Gentleman geboten ist, doch eigentlich würde ich in diesem Meer für Augen und Sinne lieber frei schwimmen, statt besetzt anzukommen, dachte ich wieder und sollte es vielleicht endlich mal einfach tun, gehe ja auch in alle anderen Bars oder Kneipen gern alleine als Flaneur, setze mich in eine Ecke, beobachte, schreibe und freue mich an dem, was dort passiert und im Sorsi passiert viel, eigentlich ständig was, um was sonst sollte es auch gehen?

Auch wir sprachen natürlich über Sex. So erzählte meine Begleitung, die ursprünglich aus Brandenburg kommt, wofür ja keiner was kann und schließlich liegt auch Berlin mittendrin, eigentlich, von ihrem letzten Sexabenteuer, diesem etwas dicklichen Typen, der sie drei Monate angemacht hätte und dann als sie ihn endlich rangelassen hat, nicht besonders scharf wohl aber doch in der Hoffnung auf mal wieder guten Sex zumindest, hätte er sich, mitten dabei beleidigt verzogen, weil - sie wusste es auch nicht so genau, fragte mich nach meiner Meinung und ich konnte nur sagen, so ein Idiot, wäre ihr mit mir nicht passiert, was ein Mann dann halt so sagt, damit Frau sich wieder gut fühlt und meint, sie könne es sich aussuchen. Vielleicht hat er mehr erwartet, ekelte sich vor sich selber, kam nicht mit ihr klar - wer schaut schon so tief in die Herzen fremder Männer, noch dazu dicker Typen? - egal, meinte ich ihren letzten Lover betreffend, vergiss ihn und das Paradies ist dazu da, bewohnt zu werden, für alle, die es genießen können.

Wir erzählten uns auch noch andere nette Geschichten über Sex und Liebe und weniger von Kultur, Literatur, Geschichte, Philosophie und all dem, was mich sonst so umtreibt, was nett war und zu der Leichtigkeit der Atmosphäre passte, die Gianni dort kongenial kreiert. Schickes Ambiente, bis zum stapeln voll, gute Weine und eben völlig verraucht. Er umarmt alle Damen, die immer gerne wiederkommen, weil er meist sogar ihre Namen noch weiß, ihnen das Gefühl gibt, etwas ganz besonderes zu sein, wie es nur Italiener können voller Pathos und Hingabe in einer Umarmung, die er vermutlich mit hunderten Damen am Abend so vollzieht, zumindest tat er es immer mit allen, mit denen ich dort war, was aber keine hundert waren.

Zuerst war ich dort mit meiner zweiten Verlobten, die den Laden liebte und mir davon immer wieder vorschwärmte. Recht hatte sie, nur ist es nicht der Laden, in den ich mit meiner Frau gehe - die sehr lange und sehr italienisch herzliche Umarmung mit meiner Verlobten konnte ich noch tolerieren, dachte beim ersten mal, sie kennen sich wohl näher, aber irgendwie hatte ich das Gefühl, nicht dazu zu gehören und mied den Laden mit ihr, obwohl sie immer hin wollte und die Atmosphäre dort, sie wirklich heiß machte, was bei dieser eher mehr als gelassenen Frau schon Grund genug gewesen wäre, täglich hinzugehen. Tat es nicht, wollte ihre Lust lieber mit Worten wecken oder der Kombination aus Technik und Erfahrung, gepaart mit vernünftigen Argumenten und so wurde es dann auch.

Später war ich mit meiner liebsten Geliebten, der Ärztin und ihrer Freundin, die ich gestern dort ohne die Ärztin traf, die gerade mal irgendwie mehr oder weniger glücklich bemannt ja ist und wieder erlebte ich diesen umarmenden Gianni, den die Damen so lieben und diese Atmosphäre voll italienischer Lust, in der spürbar der Sex knistert und das nicht nur auf dem Ledersofa oder wo Paare zusammenstehen, sondern überall - auch auf den kleinen Tellern mit Antipasti, die jeder Gast erstmal bekommt und die ich rauchend gestern gar nicht genug zu meinem Weißwein genoss. Könnte schwärmen über die vielen schönen Frauen mit den teilweise wirklich spannenden und intelligenten Gesichtern, die gut angezogen sind, zumindest im Verhältnis zu dem, was hier sonst so in Leggings; Jogginghosen und ähnlich grässlichen Dingen, die nur den totalen Kontrollverlust beweisen, herumlungert. Es war ein kleiner Ausflug nach Italien und das ist so wunderbar, hat so viel Leichtigkeit und eben Sex, dass ich inzwischen sogar meiner zweiten Verlobten voll zustimmen würde, es ist der beste Laden, mit der tollsten Stimmung am ganzen Berg, den ich kenne, alles andere ist nur manchmal so, wie ich es dort immer erlebe.

Als ich im Winskiez wohnte, es war nach dem Gesundbrunnen die zweite Wohnung, aber die erste, die ich mir mit Wissen gesucht hatte, gab es das Sorsi noch nicht und ich hätte es vermutlich auch nicht entdeckt, wie ich die ganze Schönheit dieses Viertels erst entdeckte, nachdem ich von dort zu meiner liebsten A in den benachbarten Kollwitzkiez gezogen war. Naiv und dumm eigentlich, denke ich heute, wenn ich an die Frauen dort denke und die Stimmung, die dieser glücklich verheiratete Vater von Töchtern in seinem Laden verbreiten kann, wie alternativ schick dieses Viertel geworden ist, das zwischen Prenzlauer Allee und Greifswalder Straße liegt, begrenzt durch die Danziger Straße im Norden und die Mollstraße im Süden, auch wenn es eigentlich im Friedhof schon endet und die Straße Prenzlauer Berg irgendwie niemand mehr zu diesem Kiez dazu zählen würde, zu dem sie doch gehört, wie die Platten jenseits, die aus einer anderen Welt noch stammen.

Wohnte in einer Altbauwohnung im Ersten Stock in der Jablonskistraße direkt über der Haustür, großer Fehler, wie ich spätestens nach den ersten Nächten merkte, wenn die Müllabfuhr die Tonnen unter mir mit viel Schwung entlang rollte, aber davon hatte ich, als ich aus der kurpfälzischen Provinz in die Großstadt zog, noch keine Ahnung. Schöne Stuckdecken und hohe Räume, einen Balkon vor meinem Wohnzimmer, eine Küche nach hinten und ein kleines schon saniertes Badezimmer. War alles prima, sehe ich davon ab, dass ich nicht bedacht hatte, wie laut die Autos auf dem Kopfsteinpflaster beim ein- und ausparken waren, wie deutlich ich die an der unweit gelegenen Prenzlauer verkehrende Straßenbahn hörte und ähnliches Gejammer von Dorfbewohnern, die in die Großstadt ziehen.

Die Wohnung war perfekt und lag perfekt, in einem der schönsten Kieze des Prenzlauer Berg, nur ich wusste sie nicht immer wirklich zu würdigen. Mal nervten mich die zu laut vögelnden Nachbarn, die ich mindestens jede Nacht durch die Wand zu meinem Lesesessel hörte, als könnte es bei so etwas schönem je ein zu sehr geben, dabei hatte ich sogar gelegentlich Sonne im Zimmer und auf dem Balkon, den ich nur selten nutzte, außer die male mit Damenbesuch im Januar und zu meiner einzigen Fete dort. Von dem Kiez unter mir, erfuhr ich nicht viel. Die ersten Monate ging ich sehr früh ins Büro in der Schönhauser Allee und kehrte sehr spät zurück. Wenn ich ausging, dann auf dem Weg vom Büro zu mir im Kollwitzkiez bei meinem Griechen oder den eigentlich langweilig touristischen Cafés am Platz dort, meinen Kiez erkundete ich weder, noch interessierte er mich näher.

Den tollen Kaisers in der Winsstraße Ecke Marienburger Straße stellte mir erst die liebste A vor, die dort zu gern einkaufte, weil sie ihn so gut sortiert und freundlich fand, wie immer nun der heute Rewe dort sein mag. Von sonst etwas dort habe ich nicht viel mitbekommen, bis unsere Tochter in den Kinderladen im Kiez ging, der wiederum in der Christburger Straße lag, einer Parallelstraße zur Jablonskistraße, die zwischen dieser und der Marienburger Straße lag, an welcher letzterer mit der Marie, die große Grünanlage des Kiezes liegt, sehen wir mal von dem Friedhof, der ihn abschließt ab und der doch eigentlich viel grüner und voller atmender Bäume ist. Vielleicht ist es dieser mit schönsten Bäumen und einigen netten Gräbern versehene Friedhof, der dem Viertel um die Winsstraße seinen besonderen Flair gibt - irgendwie Großstadt und irgendwie zugleich sehr grün und auch schick.

Als A und ich aus ihrer wunderbaren aber eben nur 3-Zimmer-Wohnung am Kollwitzplatz mit Kind ausziehen wollten, suchten wir auch dort und sie sagte immer wieder, sie wäre gerne dorthin gezogen, mochte den Kiez und ich war damals relativ teilnahmslos, was die Wahl des richtigen Platzes anging, dachte ich könnte überall, solange es Altbau und irgendwie nett saniert war. Die anderen Kieze in denen ich hier in Prenzlauer Berg wohnte, der Kollwitzkiez, der Teutoburger Platz und schließlich bis jetzt der Helmholtzkiez sind alle um Plätze mit Grünanlagen entstandene Lebensräume. Im Winskiez gab es den Friedhof am Anfang und die irgendwie Marie in der Mitte, die aber kein Platz sondern eher ein freies Grundstück war, auch wenn dieses heute sehr belebt ist und durch viele Initiativen bespielt und immer weiter gestaltet wird.

Zentrum des Winskiezes ist die Winsstraße, die nach dem ehemalige Bürgermeister von Berlin und Gutsbesitzer Thomas Wins benannt wurde, der von 1389 bis 1465 lebte, also ein Mensch der beginnenden Renaissance und des ausgehenden Mittelalters war. Die Familie Wins war adeligen Ursprungs und ist seit dem 14. Jahrhundert in der Mark Brandenburg nachweisbar. Angeblich sind sie aus ursprünglich Frankfurt Oder irgendwann nach Alt-Berlin und Cölln umgesiedelt. Einige meinen auch die Familie käme, anderen Quellen zufolge und namentlich nahe liegend, aus Winsen an der Luhe. Ab 1426 dann, also noch 69 Jahre vor der Entdeckung Amerikas von dem Italiener, der nach Indien eigentlich wollte, um das Heilige Land mit viel Gold wieder zu erobern, war Wins dann zehn Perioden lang mit Unterbrechungen Bürgermeister von Berlin.

Nach 1448 musste er sich wegen Beteiligung an einem Aufruhr gegen den Hohenzollern Kurfürsten Friedrich II, genannt der Eiserne oder Eisenzahn, ohne dass eine Verbindung nun zu Union Berlin hergestellt werden müsste, in Spandau vor Gericht verantworten und er und seine Söhne verloren infolge ihre Lehen. Zum größten Teil erhielten sie diese aber schon ein Jahr später wieder zurück ohne dass ich wüsste, ob durch Gnade, höhere Instanz oder Aufklärung. Thomas Wins musste bis dahin zumindest auch eine Geldstrafe zahlen für seine revolutionäre Gesinnung und sein Bürgermeisteramt endgültig abgeben - doch schon in der folgenden Generation bekleideten wieder Mitglieder der Familie das Amt. Ob die Bewohner  eine höhere Identität mit Pankow und dem Umfeld empfinden, weil zwei der fünf Kinder von Thomas Wins später mit von Blankenfels verheiratet waren, entzieht sich meiner Kenntnis. Was die Ehre begründet eine Straße nach ihm zu benennen und mit einen ganzen Kiez auch eher aber ich muss ja auch nicht alles wissen und amüsiere mich einfach gern über die Dinge, wie sie sind.

Die Marie, der grüne irgendwie Platz inmitten, wurde erst, was er wurde, nachdem auf Initiative der Anwohner hin 1995 das vorher dort angesiedelte Rettungsamt abgebrochen wurde. Es ist kein Platz wie die anderen von Hobrecht in Prenzlauer Berg so genial angelegten, um die sich die Besiedlung gruppiert sondern eben ein freies Grundstück auf der Nordseite der Marienburger Straße, das auf der anderen Seite durch die Hinterhöfe der Häuser der parallel verlaufenden Christburger Straße begrenzt wird. Ein Schulhof dazu, eine Turnhalle versteckt am Rand, ein Neubau mit viel Glas, der Innen schöner ist, als er Außen unpassend bleibt, ein irgendwie verwachsenes eingezäuntes Biotop in einer Ecke, Tischtennisplatten, Grünfläche und natürlich noch keine alten Bäume und so wirkt die Marie wie ein leeres Grundstück mit etwas Grün und noch immer eher bemüht aber doch sehr nett.

Das Sorsi e Morsi liegt übrigens direkt gegenüber der Marie an ihrem unteren Rand und in der Straße finden sich noch einige schöne Läden inzwischen, zumindest Richtung Prenzlauer Allee, wo sich an der Ecke das große Postamt befindet, vor dem sich nicht nur zur Weihnachtszeit noch ewige Schlangen bilden, als wäre die DDR nie untergegangen auch an den zu langen Schlangen, die Menschen warten statt handeln ließ.

Das Viertel besteht aus zwei Teilen, die eigentlich nichts miteinander zu tun haben und durch die Straße Prenzlauer Berg separiert werden, wie durch eine Zonengrenze, was ein sehr passender Ausdruck auch hinsichtlich der Bewohner in diesem Fall ist. Nördlich dieser Straße stehen die Gründerzeitbauten, mit ihren wundervollen Altbauwohnungen, von denen ich auch eine bewohnte als ich ganz neu in Berlin war und südlich davon entstand, entlang der Otto-Braun-Straße, die eine Verlängerung der Greifswalder ist und an den großen Ministerpräsidenten Preußens erinnert bevor die Nazis kamen, der sicher einer der größten Sozialdemokraten der Geschichte war, was im Vergleich zum aktuellen Vorsitzenden besonders deutlich wird und das nicht nur weil Hindenburg gerne mit dem Ostpreußen auf die Jagd ging, als Ergebnis des DDR-Wohnbauprogramms ein Neubauviertel mit WBS 70/11. WBS 70 ist eine der DDR typischen Abkürzungen für ein einheitliches Wohnhaus in Plattenbauweise, wie sie sich im ganzen Land fanden. Dazu kommen noch zwei Punkthochhäuser mit jeweils 20  Stockwerken über die vom Prenzlauer Berg aus, zu dem sie seltsam fremd ja gehören, nur dank seines Ansteigens hinweg gesehen werden kann.

Dies südliche Gebiet war früher als Teil der Königsstadt ebenfalls dicht bebaut gewesen, jedoch wurde die alte Bebauung während des Krieges größtenteils zerstört. Das Ergebnis dieser Flächenbombardements ist der Berliner Alexanderplatz, der wohl grässlichste Platz mitten im Zentrum einer Weltstadt überhaupt, aber in vielem sozialistischen Träumen wohl genügend und diese spiegelnd. So schützt der Denkmalschutz heute auch viele einst sozialistische Bausünden, deren Ästhetik sich wohl nur mit viel Abstand und abstrakt begreifen lässt, was Berlin zumindest an manchen Orten noch den Ruf nicht schön aber sexy zu sein wahrt, wie immer dies zustande kommen soll. Finde nichts weniger sexy als den grässlichen Alex mit seiner billig kapitalistisch überklebten Erinnerung an das sozialistische Grauen einförmiger Menschenmassen.

Zu den bekanntesten Bewohnern des Kiezes gehören neben Hans Rosenthal, dem Quizmaster von Dalli Dalli, an dessen Sprünge, für das was Spitze war, ich mich noch aus der Kindheit erinnern kann, Thomas Gottschalk, Benno Führmann, Knut Elstermann und Helga Paris. Ob daraus geschlossen werden kann, die Gegend um die heute Marie verführe viele dazu zu Schwätzern zu werden, weiß ich nicht, hielte ich für sehr weit hergeholt eher. Zumindest lädt das Sorsi e Morsi immer zu einem gemütlichen Schwätzchen und ich sollte mir endlich angewöhnen dort auch ohne Begleitung hinzugehen, insofern das Publikum dort interessant genug ist, jede auch noch so verdiente Aufmerksamkeit für die Dame an meiner Seite wieder als vergebene Liebesmüh zu sehen, bedenke ich, wen ich dadurch alles nicht kennengelernt habe auf diesem immer vollen Laufsteg von Liebe und Lust voller Menschen, den der Wirt Gianni auf seine unnachahmlich italienische Art zu einer südlichen Insel mitten im Winskiez macht, wie es wenige in dieser Stadt wohl gibt.

Überlege ja aus Gründen der Vernunft immer wieder, endlich das Rauchen aufzuhören, wieder mit dem Laufen zu beginnen, wie es meine in dieser Hinsicht so vorbildliche zweite Verlobte tat oder auch die dritte Verlobte und ich beide mit ihren schönen trainierten Körpern, wenn auch im Ergebnis völlig lustlosen Körpern, in guter ästhetischer Erinnerung habe, aber denke ich an Abende oder besser Nächte bei Gianni, verwerfe ich solche Gedanken lieber - zum Sterben ist noch Zeit genug, so südlich leben wie dort ist einfach ein Glück und wenn ich alt bin, kann ich immer noch gesund leben oder nicht mehr und dann war das vorher zumindest gut so und nicht lustlos, wenn auch dort Rauchverbot gilt, kann ich mir das ganze ja nochmal überlegen, bis dahin genieße ich la dolce vita im Winskiez. Auch wenn gestern,  wie es meist so ist, mehr über Sex geredet wurde, als wer solche hätte, war es sexy auf italienische Art.
jens tuengerthal 31.3.2017

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