Samstag, 11. Februar 2017

KMG 008

Zwergenordnung

Es war einmal eine Zwergenfamilie, die im Wald unter der großen Eiche, nahe der Schonung ihre Höhle gebaut hatte. Sie lebten dort noch nicht lange, vielleicht zweihundert oder dreihundert Jahre und erst in der dritten Generation, was ja für Zwergenfamilien, die sehr sesshaft sind, wenn sie sich irgendwo wohl fühlen, nichts ist.

In der geräumigen Höhle lebten Großeltern, Eltern und Kinder gemeinsam. Der älteste Sohn des alten Zwerg war in der Höhle geblieben, während seine Geschwister sich neue Höhlen suchten oder bauten, als sie heirateten, weil der alte Dachsbau, den der Urgroßvater ausgebaut hatte, nicht groß genug war, dass alle sechs Kinder mit ihren Partnern und Kindern dort leben konnten. Wenn sie etwas zusammengerückt wären, hätte es vielleicht noch irgendwie gepasst und zu den großen Festen, kamen sie ja auch alle wieder, doch dann schliefen immer die Zwergenkinder alle zusammen in der großen Vorratskammer, die dazu extra leer geräumt wurde. Das war nicht so schwer, weil viele Sachen ohnehin in der Küche waren für das Festmahl.

Die Eltern verteilten sich, wenn das Feuer im Kamin erlosch, auf die Kinderzimmer, die Bibliothek, die Werkstatt, die Vater Zwerg zu diesem Zweck immer besonders ordentlich fegte, aber das machte nichts, weil er immer gerne putzte und seine Werkstatt sortierte. Er liebte es, wenn jedes Werkzeug an seinem Platz hing, alle Schrauben fein sortiert waren und keiner mehr die Spuren seiner Arbeit sehen konnte und er lange Geschichten über die Bedeutung der Ordnung erzählen konnte. Im Bergwerk war er auch der Leiter der Werkstatt und hatte eine ganz neue Ordnung eingeführt, nachdem er die Stelle von seinem Vater geerbt hatte.

Ihr Schlafzimmer überließen sie an den Festen immer abwechselnd einem der Geschwisterpaare und nur die Großeltern schliefen wie immer in ihrer Höhle nahe dem Ausgang, damit sie es nicht so weit hatten, wenn sie in der Nacht mal mussten, was ja bei älteren Zwergen durchaus vorkommt. So lag Vater-Zwerg mit seiner Frau vor dem Kamin auf dem warmen Fell, sie schauten in die Flammen und lauschten in die Nacht - von unten aus der Vorratskammer, wo die Zwergenkinder lagen, kam manchmal noch Getuschel, aber ansonsten, war es nun ruhig geworden und sie waren für sich.

“Was war das wieder für ein prächtiges Fest”, sagte Heinrich, der Zwergenvater zu seiner Frau und legte ihr die Hand zärtlich auf ihren große Busen.
“Ja, sie haben tüchtig gegessen und wunderbar gesungen, es wollte gar nicht enden.”
“Ach ja, die alten Zwergenlieder, wie lieb ich sie doch und deine Küche meisterhaft, bin sehr stolz auf dich meine Liebe, wie du es wieder geschafft hast.”
“Gemeinsam haben wir es geschafft, du hast alles so fein dekoriert, die Tafeln perfekt gedeckt und alles war immer sauber und an seinen Platz.”
“Es ist wichtig, dass immer alles seinen Platz hat, damit du es sofort findest, wenn du es brauchst und der Ablauf nicht gestört wird.”
“Ach, wenn etwas gerade nicht da ist, kann ich dich ja fragen mein Schatz, du wirst schon wissen, wo es ist.”
“Habe die Küche wie die Werkstatt nach dem gleichen Prinzip sortiert wie im Bergwerk. Wenn du eine Ordnung hast die funktioniert, kannst du damit alles machen.”
“Deine Ordnung, genau, solange du alles weißt, funktioniert es doch wunderbar mein liebster Zwergenschatz”, bei diesen Worten dreht sich die Zwergenmutter Elfriede mit ihrem im Nachthemd wogenden Busen zu ihrem Heinrich und küsste ihn.

“Aber es ist doch die beste aller möglichen Ordnungen, wie lange habe ich daran gefeilt, nicht wahr mein Schatz?”, unterbrach Heinrich den stürmischen Kuss seiner Frau, er fragte sich gerade, ob sie es ernst meinte und seine Prinzipien auch ganz verstanden hatte oder es nur so sagte, um des lieben Friedens willen.
“Natürlich, ich kenne keine bessere, aber ich habe auch nie mit einem anderen Zwerg zusammengelebt als dir und so ist es meine Welt und ich bin glücklich darin - was braucht es mehr?”
“Habe gehört wie mein Bruder Friedrich sich heute mit Vater unterhielt und ihm seine neue Ordnung erklärte und so begeistert wie Vater war, vermute ich er hat wieder viel von Vater übernommen, um sich Liebkind zu machen.”
“Ach weißt du, soll er doch, sie sehen sich ja nur bei den Festen und sonst hat Vater ja deine Ordnung ganz akzeptiert.”
“So scheint es euch, er gibt sich immer so gelassen und weise, aber heimlich macht er glaube ich Witze mit Mutter und denkt immer noch seine Ordnung wäre viel besser gewesen. Neulich hat er zwei Schraubendreher und vier Muttern nach seiner Ordnung weggeräumt - zum Glück habe ich es noch schnell bemerkt. Nicht auszudenken, wenn das Überhand nimmt und hier jeder nach seiner Ordnung sortiert, da findet doch keiner mehr was und am Ende herrscht völliges Chaos.”
“Ach, er ist schon alt, war bestimmt keine böse Absicht, er wird es nur vergessen haben, lass uns schlafen mein Liebster und nimm mich in den Arm.”

Die beiden kuschelten sich wie Löffel in der Besteckschublade aneinander, wie sie es jede Nacht taten, einmal hatte sie als ihr Bauch mit den Zwillingen so schwer war, auf dem Rücken liegen wollen, was er auch verstanden hatte, er war ja ein sehr fürsorglicher Gatte, aber am nächsten Tag war er völlig unruhig und sie hätten sich beinahe gestritten. Zum Glück war sie dann auf die Idee gekommen, er könne doch die Bibliothek nach seiner Ordnung neu sortieren und das hatte ihn wieder völlig beruhigt und danach schliefen sie nur noch so, wie sie es gewohnt waren und es war gut so. Doch heute Nacht war Heinrich unruhig, die neue Ordnung seines Bruders, glich der des Vaters und war, soweit er es hören konnte, er wollte ja nicht lauschen, sehr effektiv. Friedrich behauptete sie hätte ihn im Bergwerk und in seiner Werkstatt schon so viele Stunden gespart, dass er jeden Abend vor dem Kamin sitzen könnte mit seiner Pfeife und lesen könnte.

“Bestimmt kümmert sich Friedrich nicht groß um seine Ordnung, er war da ja früher schon sehr locker.”
“Aber es war doch alles sehr ordentlich bei ihnen, als wir neulich da waren.”
“Meinst du seine Kinder hätten die Ordnung verstanden?”
“Es schien alles ganz einfach, ja, sie halfen einfach mit, da muss ich bei unseren schon manchmal mehr aufpassen, damit sie in der richtigen Ordnung bleiben.”
“Du meinst seine Ordnung ist einfacher?”
“Genau, sie ist einfacher und deine geniale Ordnung ist eben sehr komplex. Da brauchen die Kinder halt etwas länger.”
“Willst du damit sagen, seine sei effektiver?”
“Aber nein, du hast doch bestimmt die beste aller möglichen erdacht, nur für Kinder ist seine vielleicht einfacher.”
“Was einfach ist und funktioniert, ist gut. Wenn er wirklich zwei Pfeifen raucht und ein Buch am Abend lesen kann, hat er vielmehr Zeit als ich.”
“Er hat ja auch noch weniger Kinder als du und nicht so eine verantwortungsvolle Aufgabe in seinem Bergwerk.”
“Zwar ist seines etwas kleiner als meines, seine Werkstatt nicht so groß und reich ausgestattet, aber er muss doch die gleiche Arbeit verrichten und für Ordnung bei allem Werkzeug sorgen.”
“Vielleicht arbeiten sie bei ihm nicht so hart und er muss nicht so viele Werkzeuge reparieren wie du mein Schatz, lass es gut sein und lass uns schlafen, morgen wird ein langer Tag und wenn alle abgereist sind, müssen wir ja auch wieder aufräumen.”
“Ob ich auch mehr Zeit zum Lesen hätte, wenn ich seiner Ordnung folgte?”
“Aber du hast doch deine und alles ist gut. Wir werden doch jetzt mitten in der Nacht nichts ändern, sonst schläfst du wieder so unruhig.”
“Grüble nur, ob ich wirklich die bestmögliche Ordnung habe, wenn seine soviel effektiver ist und er mehr Zeit zum Lesen hat.”
“Ach mein Schatz, grüble nicht so viel, deine ist für dich am besten und seine für ihn und dann seit ihr beide mit eurer je Ordnung glücklich.”

Da richtete sich Heinrich der Zwerg auf, stemmte die Hände in die Seiten und war empört.

“Aber eine gute Ordnung ist doch keine reine Geschmacksfrage sondern immer etwas objektives. Wie gut eine Ordnung ist, bemisst sich am Grad ihrer Effektivität. Unsere Kinder müssen immer wieder erinnert und ermahnt werden, weil sie die Ordnung nicht verinnerlicht haben. Wenn seine besser ist, muss ich alles ändern.”
“Aber doch nicht jetzt, weit nach Mitternacht, lass uns Schlafen, Wir brauchen Ruhe und Erholung und wir können doch auch Morgen nochmal darüber reden, wenn du möchtest, ich finde alles ganz wunderbar so und bin glücklich mit dir”, redete Elfriede auf ihn ein, streichelte ihn zärtlich und hoffte, er beruhigte sich wieder.
“Wenn es um die Ordnung geht, ist jede Zeit recht und das ist etwas ganz grundlegendes. Eine Ordnung muss so effektiv wie vernünftig sein.”
“Eine Ordnung muss zu dem Zwerg passen, der sie entwirft, deine Ordnung passt zu dir, sie ist perfekt für uns, alle sind glücklich und gerne hier. Nun sind wir beide müde und sollten schlafen.”

Der Zwerg sprang auf und war empört. Wenn seine Ordnung nicht so effektiv war, wie die seines Bruders und dieser mehr Zeit hatte, seine Pfeifen zu rauchen und Bücher zu lesen und dennoch alles in Ordnung bei ihm war, dann machte er etwas falsch, musste das System überdenken und einen neuen Plan entwerfen. Alles hing an der richtigen Ordnung für das Leben einer Zwergenfamilie, wie sollte er seine Kinder noch erziehen, wie ein Vorbild sein, wenn sein kleiner Bruder die effektivere Ordnung hatte und sogar noch Zeit übrig hatte

“Sollte seine Ordnung wirklich objektiv besser sein, muss ich morgen das ganze Haus umstellen und auch für die Werkstatt im Bergwerk neu planen.”
“Du musst überhaupt nichts, wenn alle glücklich sind, ist doch gut. Nur schlafen musst du jetzt, damit du genug Kraft tankst für deine harte Woche.”
“Doch, muss ich, wenn sich ein System als überholt erweist, wie das meines Vaters, muss es geändert werden, damit die Abläufe effektiver werden und es wieder perfekt funktioniert und offensichtlich ist seine Ordnung besser als meine.”
“Du kannst ja morgen mal mit ihm reden oder mit Vater, dann kannst du weitersehen, ob es dich überzeugt oder du einen Fehler darin entdeckst, der deine Ordnung doch besser, effektiver und auf Dauer sicherer macht.

Es gefiel ihm nicht, aber scheinbar war nichts zu ändern - er konnte weder in seine Werkstatt, noch an den Schreibtisch, weil überall Geschwister schliefen und so ließ er es auf sich beruhen, kuschelte sich an seine Elfriede und schlief irgendwann ein, aber es wurde eine sehr unruhige Nacht und der Zwergin schwante schlimmstes nach dem Erwachen. Heinrich tigerte durch die Bibliothek und suchte Bände, die nicht dort standen, wo er es erwartete, was ihn noch nervöser machte.

“Was ist denn los mein Schatz? Du bist ja schon wieder ganz unruhig.”
“Die neue Ordnung, ich habe die ganze Nacht darüber nachgedacht.”
“Bist du auf etwas gekommen?”
“Nein, darum suche ich nun den passenden Band zu den Systemen aber er steht nicht da, wo er hingehört.”
“Du hast doch gerade die Bibliothek umsortiert”, erinnerte sie ihn und hoffte, er hätte es einfach vergessen.
“Natürlich, weiß ich doch, darum wundere ich mich ja.”
“Vermutlich haben die Kinder oder deine Brüder was nachgelesen und deine Ordnung noch nicht verstanden.”
“Aber die ist doch selbst erklärend - es hängen doch auch überall Schilder dazu.”
“Die du nächtelang gemalt hast, während dein Bruder lieber las und Pfeife schmauchte.”

Er war fleißiger, schon immer und sein System war genial, er hatte alles bedacht und wusste auf jede Frage eine Antwort. Wer es einmal verinnerlicht hatte, würde es nie vergessen und nie mehr in die Gefahr der Unordnung geraten. Sie schien ihm die vernünftigste und beste aller Ordnungen.

“Wenn die Ordnung gut wäre, würde sie jeder verstehen und nichts verschwinden.”
“Vielleicht hat es sich einer über Nacht ausgeliehen, um etwas nachzulesen. Es wird sich schon finden. Oder die Kinder haben damit irgendwas gemacht.”
“Hoffentlich hast du Recht, ich zweifle langsam an jeder Ordnung hier -  die Kinder verstehen es nicht von allein, ich bin nächtelang beschäftigt, es für jeden verständlich als beste aller Ordnungen zu erklären und dann verschwinden bei mir Bücher und ich weiß nicht wohin - es müsste dort ein Reiter für das Buch stehen, auf dem derjenige, der es entlieh, schrieb wofür und bis wann, damit jeder weiß, welches Buch sich gerade wo befindet.”
“Das spricht doch sehr für die Kinder, sie können doch noch nicht alle lesen.”
“Was brauchen sie dann einen dicken Band zur Ordnungsphilosophie und Logistik?”
“Nicht zum Lesen vermutlich, sie werden damit gespielt haben.”

Hoffentlich war es so, dachte er und der Band tauchte wieder auf - nicht auszudenken, wenn ein so wichtiges Buch während eines Familienfestes einfach verschwand. Nervös tigerte er noch ein wenig durch die Bibliothek, während seine Frau, die sich angezogen hatte, ihm den Rücken streichelte, um ihn zu beruhigen. Da plötzlich klopfte es an der Tür.

“Herein und guten Morgen”, rief Heinrich, denn Höflichkeit am Morgen ist erstes Gebot der fleißigen und ordentlichen Zwerge. Jeder Gast musste sich so wohl fühlen, dass er am liebsten noch bliebe.
“Guten Morgen mein Junge”, begrüßte ihn sein Vater, “wollte den Band zurückbringen, den ich gestern Nacht entlieh und dachte, ich mach es lieber sofort, bevor du noch unruhig wirst.”
“Du warst das”, platzte es ein wenig empört und zugleich auch erleichtert aus ihm heraus, weil nun alles wieder in Ordnung schien, “warum hast du keinen Reiter ausgefüllt, du kannst das Buch gerne so lange lesen, wie du möchtest, weiß nur immer gerne, wo die Dinge sind.”
“Weil ich keinen Stift bei mir hatte und die Kinder sich den Stift für irgendein Spiel geliehen hatten. Danke, ich brauche es nicht mehr, habe schon alles gelesen, was ich wissen wollte.”
“Du beschäftigst dich mit der Systematik der Ordnungen?”
“Denke manchmal noch gerne über die Welt und ihre Ordnung nach, auch wenn ich nichts mehr ordnen muss, weil ja hier nun deine Ordnung gilt.”

Der Vater spürte die Unruhe seines Sohnes und war ihm darum weit entgegen gekommen, damit keine unnötige Spannung entstand. Er hatte gesehen wie sein Sohn das Gespräch von Friedrich und ihm beobachtet hatte über dessen neue Ordnung.

“Hast du was spezielles gesucht?”
“Habe über Friedrichs Ordnung nachgedacht, die er mir begeistert geschildert hat, die angeblich so effektiv ist.”
“Ist sie es denn?”
“Wollte systematische Fehler prüfen, du weißt ja dein Bruder ist manchmal sehr leichtfertig.”
“Oh ja”, stimmte Heinrich ganz erleichtert zu, “kam mir auch schon komisch vor.”
“Ach, hast du uns zugehört?”
“Natürlich nicht”, versicherte Heinrich leicht errötend, “konnte nur einige Brocken nicht überhören, er erzählt ja schon lange davon - naja, typisch Friedrich, viel erzählen und dann bleibt am Ende nur heiße Luft.”
“Hab ich auch gedacht, darum wollte ich es überprüfen.”
“Und, alles wie immer?”, grinste Heinrich seinen Vater an, vermutlich hatte sein Bruder nur  aufgeschnitten, er hatte sich umsonst Sorgen gemacht.

“Hab noch keinen Fehler entdeckt. Er ging von meinem System aus, hat es überholt und auf eine neue Art angepasst. Er nennt es intuitive Ordnung nach der Natur.”
“Und was sagen unsere Philosophen dazu?”
“Nichts leider, es scheint neu zu sein. Wenn es wirklich funktioniert, wäre es eine Revolution.”
“War ich doch nicht umsonst so unruhig heute Nacht”, sagte sehr leise ein blasser werdender Heinrich.
“Ach mein Schatz, mach dich doch nicht darum verrückt - wenn es gut ist, wird es sich durchsetzen und sonst bleibt hier immer deine Ordnung die beste der Welt wie ich deine Frau bin”, streichelte ihm Elfriede beruhigend den Rücken.
“Aber intuitiv kann nicht vernünftig sein, dass wäre gegen jede Ordnung.”
“Dachte ich auch, aber noch habe ich keinen Fehler gefunden, außer dass es eben nicht sonderlich vernünftig klingt, nur effektiv und perfekt funktioniert, jeder es sofort begreift und er sich um immer weniger kümmern muss.”
“Ach ihr Zwergenmänner und eure geliebte Ordnung, als wäre sie das ganze Glück im Leben - lasst uns erstmal ein tüchtiges Frühstück zubereiten, damit sich die ganze Verwandtschaft gestärkt auf die Wanderung nach Hause machen kann, dann schaffen wir hier wieder deine Ordnung und alles ist gut - mach doch bitte die Eier Heinrich, da bist du perfekt, niemand macht so gute Eier wie du.”
“Du siehst Vater, vorbei die schöne Zeit des philosophierens, die Arbeit ruft und heute müssen auch die Männer an den Herd”, lachte Heinrich seinen Vater an, der ihm auf die Schulter klopfte und im Weggehen seiner Schwiegertochter zu zwinkerte - sehr gut, wie sie ihren Mann einband und ablenkte, nicht auszudenken, wenn er keine Ordnung gefunden hätte.

Am Abend, als die Kinder wieder in ihrem Betten waren und die ganze Zwergenhöhle perfekt aufgeräumt war, saßen Heinrich und Elfriede noch mit den Eltern vorm Kamin in der Bibliothek. Sie tranken einen feinen Beerenwein, rauchten ihre Pfeifen und freuten sich, was für ein schönes und harmonisches Familienfest es wieder gewesen war.

“Wunderbar Heinrich, du bist ein großartiger Gastgeber mein Sohn, alle haben sich so wohl gefühlt und schon im Frühling zur Tag und Nachtgleiche wollen wir uns wieder sehen”, begann der Vater, der die Unruhe des Sohnes spürte, so versöhnlich wie möglich.
“Aber ohne seine Elfriede, wäre das alles nicht so köstlich, du übertriffst alles, was ich je in der Welt der Zwergenküche kosten durfte”, schloss sich die Schwiegermutter dankbar an und streichelte ihr die roten Wangen.
“Es ist deine wunderbare Höhle, die der ganzen Familie Platz bietet und in der sich alle so wohl fühlen, als seien sie hier zuhause”, lobte nun Elfriede ihren Schwiegervater voller Dankbarkeit einerseits und ein wenig besorgt doch um Heinrichs Stimmung.
“Ohne euch wäre all dies unmöglich und das wisst ihr, ich bin euch unendlich dankbar - gerade jetzt, wo wir zur guten Ordnung zurückkehrten”, dankte Heinrich der noch versammelten Familie, wie es die Form gebietet, doch der halbe Nachsatz zeigte an, was wirklich in ihm kochte.
“Nach so einem großen Fest ist doch immer eine Menge zu tun”, merkte die Mutter an und sah mitleidig auf ihre etwas erschöpfte Schwiegertochter.
“Aber das machen wir doch so gerne und genießen es - bald helfen auch die Kinder noch mehr”, antwortete die immer fröhliche Elfriede, die bei solchen Festen richtig aufblühte.

“Heinrich, was ist mir dir? Deine Eltern haben keinen Beerenwein mehr, schenk doch bitte nach”, weckte seine Gattin den grübelnden Zwerg aus seinen Gedanken.
“Entschuldigt meine Lieben, wie nachlässig von mir”, er sprang auf und versorgte alle Anwesenden, einschließlich seiner Frau und sich selbst mit reichlich des guten Beerenweins. Elfriede bekam noch einen galanten Kuss und die Welt schien in bester Ordnung, so lange Heinrich nicht zum Nachdenken kam und den Geboten der Gastfreundschaft und Höflichkeit unter Zwergen genügte. Kaum eines der Völker, die unter der Erde lebten, war so höflich wie die Zwerge, wenn auch ihr pedantischer Ordnungssinn manchmal Außenstehende erstaunte und verwirrte. Doch in der Gastfreundschaft glich ihnen keiner im großen Wald. In Elfriedes Küche hing ein altes Leinentuch, in das die Inschrift gestickt war, 5 sind geladen 10 sind gekommen, gieß Wasser zur Suppe. heiß alle willkommen und danach lebte sie als die Frau dieser Höhle.

“Was grübelst du mein bester Sohn, es ist doch alles in Ordnung, sogar dein unordentlicher Vater hat alle Bücher wieder zurück gebracht.”
“Ach darum doch nicht, meine Bibliothek ist deine Bibliothek. Es war ein wunderschönes Fest, ich danke euch sehr.”
“Mit dir war es so schön und weil du so ein liebevoller Gastgeber bist”, unterstützte Elfriede den Vater und wollte schnell wieder von dem problematischen Thema ablenken.
“Nur durch die wunderbare Frau an meiner Seite, kann ich das sein mein Schatz”, strahlte Heinrich seine Frau an und küsste ihre kleinen dicken Hände.
“Was haben wir für ein Glück miteinander”, nahm Elfriede den Faden gerne auf.
“Dann ist doch alles in bester Ordnung”, unterstützte sie die Schwiegermutter, die sich auch Sorgen um ihren Sohn machte.

“In Ordnung ist alles wieder hier, ja, es glänzt und jedes Ding ist an seinem Platz. Alles nach Plan und vernünftig und das ist auch gut so”, begann Heinrich versöhnlich und doch hörte, wer ihn kannte auch seinen Trotz heraus.
“Ja, wie immer, nach deiner besten Ordnung, mach dir keine Gedanken um deinen Bruder, ich verstehe auch nicht, wie er das macht, auch wenn es gut klang”, traf der Vater genau den Punkt der Heinrich umtrieb.
“Ach was interessiert uns Friedrich, der war ja schon immer sehr eigen, sein wir froh, dass er es trotzdem zu was gebracht hat”, wollte die Mutter abwimmeln und Elfriede schaute sie dankbar an.
“Er hat mehr Zeit als ich, seine Kinder verstehen sein System und auch im Bergwerk funktioniert es fließend, dabei kann er nicht mal vernünftig erklären wieso”, ließ sich Heinrich nicht von dem Gedanken abbringen, der ihn umtrieb.
“Er verlässt sich auf die Intuition, als wäre es unsere Natur, er hat es schon durchdacht, nur hat er keinen Plan für jede Situation”, entgegnet vorsichtig der Zwergenvater.
“Es ist nicht vernünftig und gefährlich, so planlos vorzugehen. Im nu ist alles in Unordnung und dann?”, erregte sich Heinrich immer mehr.
“Wird er seinen Bruder mit der besten Ordnung der Welt um Hilfe bitten und alles ist wieder so, wie es sein soll”, versuchte Elfriede ganz liebevoll die Situation zu retten.
“Natürlich helfe ich ihm dann gerne”, nahm Heinrich die Einladung seiner Frau an, “ aber ich verstehe nicht, warum es überhaupt funktioniert und er so etwas unvernünftiges riskiert.”
“Nicht alles, was funktioniert ist auch vernünftig mein Sohn”, ergänzte besorgt die Mutter.
“Ach und was soll nicht nach der Natur vernünftig sein?”, fragte empört Heinrich, der sich nicht einfach ablenken lassen wollte.
“Na schau dir die Liebe zu deiner Frau an, ist die vernünftig?”, fragte lächelnd die Mutter.
“Ja, sehr vernünftig, sie ist meine Frau, wunderschön und kugelrund, die beste Köchin im ganzen Wald und die Mutter unserer Kinder - es ist sehr vernünftig, dass ich sie geheiratet habe und bei ihr bleibe.”
“Natürlich ist das vernünftig. Aber die Liebe bleibt trotzdem nur ein Gefühl, die wird nicht vernünftig, auch wenn die Umstände die allerbesten sind”, widersprach ihm die Mutter.

“Verstehe, was er meint, ihn stört es, sich auf die Intuition zu verlassen. Sie kann nicht geplant werden und scheint darum voller Risiken”, lenkte der Vater wieder zurück aufs Thema, was den Damen gar nicht gefiel, die ihn streng ansahen.
“Genau, es geht um das unkalkulierbare Risiko. Eine Ordnung ohne vernünftigen Plan für jede denkbare Situation ist gefährlich, kann funktionieren aber genauso gut auch schief gehen - zum Glück geht es uns dank einer wohl durchdachten Ordnung so gut und wir können dem Chaoten Friedrich dann helfen, wenn er mal wieder in Not ist. Kein Zwerg kann auf Dauer jeden Abend drei Pfeifen vor dem Kamin rauchen, ein Buch lesen und dennoch alles in Ordnung halten.”
“Im Augenblick schafft er es und wenn sich seine Idee durchsetzt, könnte sie manch gutes bewegen”, widersprach der Vater vorsichtig, “warum sollten wir nicht weniger arbeiten dürfen, wenn der Plan so gut ist, es zu ermöglichen?”
“Weil alles in der Natur seine vernünftige Ordnung hat und einen klaren Plan braucht”, widersprach ihm der Sohn.

Da stand Elfriede auf, die das Gefühl hatte, sie müsste jetzt dringend etwas tun, um die gute Stimmung zu retten, ging zu ihrem Mann, umarmte ihn und küsste ihn auf den Mund, damit er sich nicht wieder in seine Unruhe hineinsteigerte und sie zumindest diesmal eine gute Nacht hätten.

“Also ich liebe dich völlig unvernünftig und freue mich bald mit dir wieder in unserem weichen Bett zu kuscheln”, sagte sie, während sie ihn zärtlich streichelte.
“Darauf freue ich mich auch und finde das sehr vernünftig, es ist ja auch ganz natürlich bei so einer wunderschönen kugelrunden Zwergenfrau”, lachte Friedrich sie an.
“Dann wollen wir auch nicht länger stören und lassen euch zwei mal die Nacht genießen”, unterstützte die Mutter ihre Schwiegertochter in der Hoffnung so das anstrengende Thema hinter sich zu lassen, bei dem so viel Unfrieden drohte. Friedrich war schon immer etwas chaotisch gewesen, hatte mal geniale Ideen, wie ein Künstler aber schaffte ungern fleißig nach Plan, wie es in der Natur der Zwerge doch sonst lag. Manchmal hatte sie sich schon gefragt, ob der so ganz echt wäre. Fast benahm er sich wie ein Troll dann und wann, freute sich am Chaos, dass er stiftete.

“Wenn ich nur das noch zum Abschluss sagen darf”, fing der Vater schon wieder an und ignorierte die Blicke der Frauen, die ihn anblitzten, “Friedrich war früher chaotisch, aber er hat sich geändert, sein Plan zielt auf beste Zwergenordnung. Er nutzt nur die intuitive Kraft der Natur, statt eine Ordnung gegen sie aufzustellen.”
“Jede Ordnung muss gegen die Natur erkämpft werden”, wiederholte Heinrich das alte Zwergengesetz.
“Ja, so haben wir es gelernt zu allen Zeiten. Aber glaubst du nicht auch, dass die Natur eine Ordnung hat?”
“In sich vielleicht aber schau dir die Unordnung im Wald an, wenn es hier so aussähe, wäre ich aber ein schlechter Zwerg.”
“Aber auch bei Heinrich war doch alles sehr ordentlich letztes mal und er hat alles sehr ordentlich hier hinterlassen”, versuchte Elfriede zu beruhigen und erreichte genau das Gegenteil damit.
“Ob das nicht eher seine Frau war, lassen wir mal offen. Aber wenn es sein System ist, verstehe ich es noch weniger, wie kann einer ohne Plan Ordnung halten?”, fragte Heinrich und schaute ratlos in die Runde.

“Er hat doch einen Plan, nur leider ist dieser eben ganz anders als deiner, er ist einfach genial, er nutzt die Ordnung in der Natur und die in uns, um es sich selbst zur Ordnung finden zu lassen”, begann der Vater, der dem etwas chaotischen Friedrich nicht ganz traute, ihn aber auch bewunderte und das System scheinbar verstanden hatte.
“Das ist doch kein Plan sondern das Gegenteil davon, er nimmt das Chaos und nennt es Ordnung und fertig ist der Spuk. Kann nur solange gut gehen, wie nichts Unvorhergesehenes eintritt”, erregte sich Heinrich immer mehr und fuhr sich fahrig durch den Bart.
“Nach alter Zwergenlehre ist das kein Plan, da hast du schon Recht mein Sohn. Aber es funktioniert und nutzt die Kräfte in der Natur, statt gegen sie zu kämpfen, mir scheint das nicht unvernünftig. Vielleicht müssen wir neu über Pläne nachdenken”, konterte der Vater und provozierte seinen Sohn, der all seine Pläne über den Haufen geworfen hatte, als er sein Erbe antrat, wenn er sie auch durch neue, sehr durchdachte und der Zwergenordnung entsprechende ersetzte und so war das eben mit der jüngeren Generation und hatte er einst genauso gemacht.

“Kann ein Plan vernünftig sein, der nicht durchdacht ist und nur nutzt, was da ist, statt eine Ordnung zu schaffen, die über den Dingen liegt, wie es uns Zwergen nach alter Sitte entspricht?”, fragte Heinrich schon sehr altväterlich in die Runde.
“Der Plan ist sehr wohl durchdacht. Sicher entspricht es seiner Faulheit, dem Plan die Natur zugrunde zu legen, um möglichst wenig tun zu müssen. Aber es scheint zu funktionieren, es ist sehr effektiv, sein Bergwerk ist sehr zufrieden, er soll befördert werden und der Direktor will ihn mit zum großen Zwergentag nehmen, damit der neue Plan der Öffentlichkeit vorgestellt wird”, widersprach der Vater dem Sohn gerade mit Freude lächelnd.
“Dann kriegt er wohl noch den großen Verdienstorden dafür, dass er mal wieder Chaos stiftet und sein großer Bruder ihn retten darf.”
“Dafür vermutlich nicht. Aber sollte sich seine Idee von Ordnung als tragfähig erweisen, könnt sie unsere Gesellschaft ändern”, provozierte der Vater noch ein wenig.
“Du meinst wir freuen uns künftig am Chaos, werden faul statt immer fleißig und ordentlich, wie es  Zwergenehre seit Generationen gebietet und sind noch stolz darauf?”, empörte sich der Sohn erwartungsgemäß.
“Nein, dein Bruder lebt in guter Ordnung, er nutzt nur Kräfte der Natur, gegen die wir früher kämpften - ist das wirklich unvernünftig?”, reizte er seinen Sohn weiter und wollte ihn zugleich auch nachdenklich machen.

“Wie auch immer, er lebt nach seiner Ordnung, wir nach unserer, die sich mein Mann so genial erdacht hat und alle sind glücklich und feiern schöne Feste, ist doch alles in bester Ordnung in der schönsten aller Welten. Schatz, wollen wir nicht endlich ins Bett gehen? Sonst schlafe ich noch auf deinem Schoss ein”, wollte Elfriede die Diskussion mit ihrer Liebe und ihrer körperlichen Präsenz ganz vernünftig beenden.
“Gerne mein Schatz, aber eins noch, wenn es um die Ordnung im Zwergenreich geht, ist damit nicht zu spaßen und nur weil mein genialer kleiner Bruder mal wieder eine seiner Ideen hat, werden wir nicht unsere gute und vernünftige Ordnung über den Haufen werfen”, wollte Heinrich einen Schlusspunkt setzen.
“Jede neue bessere Ordnung beseitigt die alte Ordnung, als du die Höhle und die Herrschaft übernahmst, hast du meine Ordnung über den Haufen geworfen und deinen Plan dagegen gesetzt. Er ist sehr gut, funktioniert und es geht uns allen gut damit. Auch ich habe mich ohne Widerworte gefügt, wie es Zwergensitte ist, wenn nun dein Bruder eine neue bessere Ordnung hat, wird sie das alt Denken erledigen.”
“Du glaubst doch nicht, dass ich mich je ins Chaos stürze, um drei Pfeifen am Abend zu rauchen und in Ruhe zu lesen?”
“Bestimmt nicht, fleißig wie du schon immer warst, wirst du neue Reichtümer in der gewonnenen Zeit anhäufen, deine Schatzkammer füllen und noch größere Feste feiern und deine ganze Familie wird dich dafür lieben”, gab sich der Vater versöhnlich.
“Das ist doch ein schönes Schlusswort, was auch passiert, mein Sohn wird immer der fleißigste Zwerg sein, großzügige Feste feiern und so wollen wir nach diesem Fest friedlich zur Ruhe gehen”, sprach die Mutter sehr entschieden, wenn auch liebevoll das Schlusswort und die Beteiligten fügten sich, was Heinrich umso leichter fiel, da Elfriede bereits mit ihrer Hand zwischen seine Beine gewandert war, um ihn abzulenken.
“Gute Nacht liebe Eltern, lass uns weiter darüber reden Vater, damit wir einen guten Plan haben, wie es auch kommt.”
“Das werden wir mein Sohn und ich vertraue auf deinen Fleiß.”

Und wenn sie nicht gestorben sind, dann planen sie noch heute.
jens tuengerthal 10.2.2017

Freitag, 10. Februar 2017

KMG 007

Gewissensmärchen

Es war einmal eine sehr alte Frau, die in dem Königreich, in dem sie lebte, als Gewissen der Nation behandelt wurde. Sie hatte die schlimmen Kriege überlebt und noch Verfolgte in dieser Zeit bei sich versteckt, das wenige, was ihr blieb, mit diesen geteilt und wo immer sie konnte, sich für Freiheit und Gerechtigkeit eingesetzt.

Manchmal hatte sie sich dafür auch mit dem König und seinen Beamten gestritten, weil sie nicht hinnehmen wollte, wenn diese Entscheidungen durchsetzten, die gegen ihr Bild von Freiheit und Menschenrechten verstießen. So hatte sie in ihrem langen Leben gegen fast alle Gruppen und Parteien irgendwann einmal gekämpft und sich den Unwillen vieler zugezogen. Dennoch war sie auch alleine mit wechselnden Verbündeten in ihren Überzeugungen immer standhaft geblieben.

Als die Forscher im Reich irgendwann entdeckten, dass von ihnen genetisch verändertes Getreide keinen Dünger und keine Pflanzenschutzmittel mehr brauchte, war die Begeisterung bei allen groß. Sie hatten endlich ein Mittel gegen den Hunger und das viele Gift gefunden, das  auch ein großer Exportschlager werden könnte. Auch die Ökologen, die sonst immer gegen die Gentechnik waren, fanden die Neuzüchtung eine große Bereicherung, weil sie ja die Umwelt schonte. Nur die alte Frau mit ganz wenigen Verbündeten protestierte noch gegen die Aussaat der veränderten Sorte.

Die alte Dame, die schon bestimmt hundert Jahre war, so genau wusste es keiner, sie war jedenfalls nie nicht da gewesen, soweit sich einer erinnern konnte, tauchte schon in den ganz frühen Berichten der Jahrhundertwende auf, als sie gegen den Krieg war, in den doch alle mit wehenden Fahnen und voller Begeisterung zogen. Schon der Großvater  des jetzigen Königs hatte sich mit ihr gestritten. Nun war sie auf das Feld gezogen, auf dem der neue Weizen aus dem Labor ausgesät werden sollte und wollte durch einen Sitzstreik verhindern, dass dort gearbeitet würde.

“Nur über meine Leiche”, hatte sie gesagt und sich auf dem Feld eingerichtet. Sie hatte das so geschickt angestellt, dass die Polizei, wenn sie versuchen würde, sie wegzutragen, ihr Leben gefährdete, was keiner wagen konnte. Auch ihr Platz war so klug ausgewählt, dass an keiner Stelle mit der Arbeit begonnen werden konnte, ohne zu riskieren die Alte zu töten. Die Anlage, an der sie nun hing, war so gebaut, dass wer das Feld betrat, ihren Tod verursachen könnte. Sie ließ das über das Netz verbreiten.

Sie hatten zunächst versucht, mit ihr zu verhandeln, aber die alte Dame blieb in ihrem Zelt, zu dem die Kabel führten und ließ sich nicht davon überzeugen, dass doch diesmal alle Parteien und Gruppen dafür wären, diese große Chance zu nutzen. Sie folge ihrem Gewissen und könne in Verantwortung für die folgenden Generationen dies nie zulassen.

Die Beamten hatten ihr gesagt, auch die ganz große Mehrheit des Volkes sei dafür und sie stelle sich damit gegen die Demokratie und deren Freiheit zu entscheiden, was gut für sie sei, auch wenn es natürlich ein königlicher Beschluss wäre, sei dieser doch klar von einer Mehrheit getragen, die sie nun mit ihrer Meinung vor den Kopf stoße. Doch die Alte blieb unnachgiebig und da jeder Tag Verzögerung viel Geld kostete, die Zeit der Aussaat bald vorbei wäre, musste nun gehandelt werden.

Der König war verärgert, weil er ihren Protest nach der langen Vorarbeit und der Beteiligung auch der Umweltgruppen, die es gut hießen, nicht verstehen konnte.

“Lasst das Feld räumen”, wies er seinen Innenminister an, “ es gibt dazu ein Gerichtsurteil, dem muss auch diese Dame folgen.”
“Würden wir ja, aber wenn wir es tun, töten wir sie damit vermutlich.”
“Das kann doch nicht sein.”
“Doch, sie hat ein fast unsichtbares Netz auslegen lassen und jeder, der sich ihr nähert, läuft Gefahr, einen der Drähte zu berühren und damit einen Stromschlag auszulösen, der sie tötet.”
“Habt ihr an einen Hubschrauber gedacht.”
“Natürlich, aber das Risiko, dass seine Rotoren den Kontakt auslösen durch die starke Luftbewegung ist zu hoch.”
“Können wir ihr nicht einfach den Strom abstellen?”
“Es gibt keine Stromleitung. Sie scheint autark zu sein. Der Geheimdienst beobachtet es genau, aber es hat noch keiner eine Lösung gefunden.”
“Wenn alle meine Ingenieure nicht weiter wissen, muss ich nicht lange grübeln - ist mit ihr zu reden?”
“Sie kann schreiben und Nachrichten empfangen und vielleicht auch telefonieren - wir konnten sie noch nicht richtig orten und wissen nicht, wie sie es macht.”
“Eine über hundertjährige Alte trickst den modernsten Geheimdienst aus. Unglaublich - sagt ihr, ich möchte mit ihr reden, wie es schon mein Vater und mein Großvater taten. Ziehe den Befehl zur Räumung zurück. Wir dürfen da nichts riskieren, sie ist das Gewissen der Nation, es würde uns und dem Experiment ewig anhängen und ich will ihr ja auch nicht schaden.”
“Wir werden ihr diese Nachricht zukommen lassen.”
“Sagen sie ihr, wenn sie bereit ist, zu mir zu kommen, garantiere ich ihre Freiheit und lasse sie, wenn wir uns nicht einigen, wieder zurück. Damit sie es glaubt, kann dies auch als Dekret veröffentlicht werden.”
“Wir werden es umgehend so machen, schicke ihnen den Entwurf zur Unterzeichnung und dann geht er an sie und alle Medien.”

Auf das öffentliche Versprechen hin, erklärte sich die Dame zum Gespräch mit dem König bereit. Sie verließ ihr Zelt inmitten des Feldes, das von Polizei, Neugierigen und Kameras umstellt war und ging ganz langsam, ihrem hohen Alter geschuldet zum Rand des Ackers, wo ein königlicher Beamter mit einem Rollstuhl auf sie wartete, der sie zum Wagen ihrer Majestät rollte und in den königlichen Palast fuhr.

Der Innenminister hatte nochmal gefragt, ob sie die Zeit ihrer Abwesenheit nicht nutzen sollten zumindest die Anlage zu erforschen, um ihren späteren Tod zu verhindern, es sei  dann ja nur eine kleine Lüge zur Rettung eines Menschenlebens. Doch der König verbat all diese Ideen, wenn er ihr sein Wort gab, dann hielt er es auch, so gerne er das Problem einfach gelöst hätte, was den Staat und die Forschung so viel Geld kostete. Die Menschen müssen dem königlichen Ehrenwort vertrauen können.

“Entweder ich überzeuge sie im Gespräch oder wir müssen weiter verhandeln”, wies er den Minister an, bevor die alte Dame erschien.

“Ehrwürdige königliche Hoheit”, begann die Alte und verbeugte sich so tief, dass der König Sorge hatte, sie würde nie wieder nach oben finden.
“Bitte, sparen wir uns alle Formalitäten, mein Vater brachte mir bei, ältere Menschen zu ehren und so wäre es wenn an mir, mich vor ihnen als Gewissen der Nation zu verbeugen.”
“Ja, ja, ihr Vater, erinnere mich noch an ihn als jungen Mann.”
“Sie kannten ja angeblich noch Großvater auf dem Thron.”
“Und dessen Vater, ja, ja, habe mich mit allen gestritten, wenn nötig.”
“Sie haben immer die Freiheit und ihre Überzeugung verteidigt, darum werden sie ja auch heute so verehrt. Doch diesmal scheint es sehr einsam, um sie geworden zu sein.”
“Bin nicht allein, aber wir sind sehr wenige, ist wohl so, was nichts an unserer Überzeugung mindert, im Gegenteil”, sagte die alte Dame fest und kämpferisch.

“Kann es richtig sein, wenn eine der Mehrheit ihren Willen aufzwingt?”
“Unbedingt, wenn die Mehrheit blind ist und das Risiko nicht sieht. Vor dem ersten großen Krieg hat mich ihr Urgroßvater auch ins Gefängnis werfen wollen und die meisten verspotteten mich.”
“Hat es aber nicht getan, so respektiere ich sie auch, warum aber können sie keine andere Sicht akzeptieren?”
“Es war keine Gnade oder Toleranz bei ihrem Urgroßvater sondern eher Herablassung, er machte sich über mich lustig, meinte so eine Politische nähme keiner ernst. Lachte mit der Mehrheit über mich und so machte er mich zum Gespött - arme Irre musste er nicht einsperren. Er gab sich lieber mitleidig.”
“Andere Zeiten - ich habe ihnen mein Wort gegeben, darauf können sie sich verlassen…”
“Ich weiß, sonst wäre ich nicht hier, auch wenn es ein leichtes wäre, mich stolpern zu lassen oder einen Unfall zu haben.”
“Bringen sie mich nicht auf Ideen…”, lachte der König, um die zu angespannte Atmosphäre, etwas zu lockern und auch die ernste Dame musste grinsen.

“Wer sein Gewissen zu Fall bringt, fällt meist mit”, war sie gleich wieder ganz ernst.
“Eben darum wissen sie ja auch, dass ich mein Wort halte und sie mit dem größten Respekt behandle, auch wenn es mir gar nicht gefällt, eine Dame in diesen noch sehr kühlen Nächten allein auf ein Feld zu schicken.”
“Machen sie  sich keine Sorgen, allein bin ich ja nun wirklich nicht und von Einsamkeit kann ich eher nur träumen, so viele junge Männer hatte ich lange nicht mehr um mich”, lachte nun die Alte, eher über sich und die Situation an dem belagerten Feld.
“So hat jede Situation auch ihre Vorteile”, lachte der König mit, froh, dass es nun nicht mehr so verkrampft war.

“Kommende Generationen werden mir noch dankbar sein”, wechselte sie wieder zum ernsten Tonfall der Überzeugungstäterin.
“Der jungen Männer wegen?”, witzelte der König weiter, weil sie so moralisch begann und er es lieber nüchtern klären wollte.
“Auch das, denn wer weiß, worauf sich dieses Zeug alles auswirken wird.”
“Nach allem was wir wissen und jahrelangen Tests im Labor, wirkt es sich auf nichts aus.”
“Wir wissen viel zu wenig, um das beurteilen zu können.”
“Nun, wir kennen den genetischen Code und so wie ich es verstanden habe, bin ja kein Biologe…”
“Nein, hauptberuflich König soweit ich weiß”, machte sie sich etwas lustig über ihn, aber dem König gefiel dieser lockere Ton viel besser als die moralische Anklage.
“Ja, meist.”
“Nicht immer?”
“Es gibt so einiges, was ich ganz privat erledige”, lachte der König sie an.
“Sparen wir uns weitere Details…”

Die Atmosphäre schien ihm gut, war sie noch als moralische Kämpferin zu einem großen Auftritt gekommen, riss sie nun schon Witze und zeigte ihren wachen Geist, der auch mit über hundert nichts an Schärfe eingebüßt hatte.

“Wovor fürchten sie sich, dass sie sich so gegen die Wissenschaft wehren? Es wird doch kein Aberglaube sein?”
“Ach was, Glaube liegt mir nicht so, auch der an die Wissenschaft nicht.”
“Sie meinen, das Getreide könnte lebensgefährliche, hochdramatische Wirkung haben?”, übertrieb er ein wenig, um den Humor nicht zu verlieren.
“Ja, im schlimmsten Fall das und mehr.”
“Was kann ein Weizenfeld der Menschheit antun?”
“Sie kennen den Zauberlehrling?”
“Meinen sie das Gedicht von Goethe? Hat der alte Meister sich doch einmal fortbegeben und nun sollen seine Geister auch nach meinem Willen leben … Und dann verließen sie ihn.”
“Genau das.”
“Wollen sie sagen, wir täten etwas, wovon wir nichts verstehen, nach Jahren der Forschung?”
“Wir wissen nicht, wie sich genetisch veränderte Pflanzen im Kontakt mit der Umwelt verhalten.”
“Aber es ist doch die gleiche Pflanze wie zuvor. Sie ist nur gegen Schädlinge resistent, wächst besser und ist damit fruchtbarer.”
“Darum ist es nicht die gleiche, wir wissen nicht, wie sich die veränderten Pflanzen in der Natur verhalten - wir kennen sie nur ein wenig unter Laborbedingungen.”
“Aber das ist doch bei jedem Medikament so.”
“Die gehen nicht an den genetischen Code sondern an die Symptome von Krankheiten.”

Der König wurde nachdenklich, es stimmte, wir griffen in etwas ein, dass wir bisher nur teilweise kannten. Aber wenn die Gentechnik gefährlich war, warum entdeckten wir dann keinerlei Risiko - was sollte in der Natur anders sein als im Labor, fragte er sich - lag daran nicht ein Zweifel an aller Wissenschaft?

“Wer nicht forscht und probiert, gewinnt keine neuen Erkenntnisse. Den Kampf gegen den Krebs werden wir nur im Wege der Gentechnik gewinnen können.”
“Oder endgültig verlieren, weil unsere Züchtungen so wuchern, dass wir uns nicht mehr zu helfen wissen.”
“Als die Eisenbahn eingeführt wurde, sollten auch Schwangere nie damit fahren und es wurde von vielen Ärzten vor den Gefahren des rasenden Verkehrs gewarnt und ich glaube, sie fuhren damals mit 15km/h.”
“So unrecht hatten sie ja nicht in allem. Aber ich bin nicht fortschrittsfeindlich, ich sehe nur hier ein Risiko, dass wir nicht mehr beherrschen können - wären die Leute in der Bahn gestorben, verrückt geworden oder hätten ihre Kinder verloren, dann hätten wir das Unternehmen wieder gestoppt und alles wäre gut. Ist das genetisch veränderte Erbgut einmal in der Natur, wissen wir nicht, was geschieht.”
“Es geht um ein Feld und danach wissen wir mehr.”
“Ein Feld ist oben und unten belebt, es kommen Bienen und Käfer, Mäuse, Maulwürfe und vieles mehr, was die Natur im Zusammenspiel belebt. Sie würden alle kontaminiert.”
“Ist das nicht ein etwas starkes Wort?”
“Kontamination heißt es, wenn unerwünschte Stoffanteile in die Natur eindringen,  egal was sie bewirken.”
“Unerwünscht ist es ja derzeit nur für sie.”
“Unnatürlich ist es für alle, die Folgen kann keiner absehen und wir mutmaßen nur, was alles passieren kann.”
“Wir wissen schon ziemlich viel und alles, was passieren könnte, wurde vorher getestet ohne Folgen, sonst hätte es ja nie eine Genehmigung gegeben. Die Forscher und Befürworter wie ich leben doch auch in diesem Land und müssen mit den Folgen leben - glauben sie, ich möchte mein Land vergiften?”
“Glaube nicht, dass sie es wollen, aber sie tun es dennoch, weil sie die Folgen nicht absehen können und riskieren zu früh zu viel.”
“Würden sie die Gentechnik generell verbieten?”
“Nur ihren Einsatz in der Natur bevor wir uns über alle Folgen im klaren sind.”
“Die Forschung sagt und es scheint mir glaubwürdig, dass sie alle Gefahren getestet hat und es kein erkennbares Risiko mehr gibt.”
“Das Wort ‘erkennbar’ scheint mir der Schlüssel zum Zauberlehrling, der tat auch alles so, wie er es erkannte und konnte.”

Gab es etwas, was sie nicht erkennen konnten, fragte sich der König und wie hoch war das Risiko dabei - war sie nur überängstlich oder alle anderen leichtsinnig. Es konnte so oder so betrachtet werden und es gab für beide Seiten Argumente. Die Heilung von Krankheiten, die Verhinderung von Hungersnöten, bei gleichzeitiger Schonung der Natur, alles sprach für diese Technik, doch blieb ein kleines dunkles Moment, wo sie nicht wussten, warum sie es ausprobieren mussten und dann natürlich nicht wussten, ob es infolge zur Katastrophe durch Mutanten kam, die weltweite Hungersnöte erst auslösten. Doch hatten sie alles getan, um dies zu verhindern und wenn der Mensch etwas wusste und erkannte, würde er forschen und wenn sie es nicht taten, täten es andere und würden daran verdienen. Die Diskussion zur Sache führte hier wohl erstmal nicht weiter, er hielt das Risiko, dass es bei allem neuen gab, nach Rücksprache mit Experten aus aller Welt für vertretbar, sie aus ihrem Gefühl heraus nicht. Wer durfte für eine Gesellschaft bestimmen, welchen Weg sie ging und warum meinte eine, wenn auch sehr verdiente, Dame, dies allein bestimmen zu dürfen?

“Warum meinen sie das Risiko besser einschätzen zu können als alle Experten?”
“Meine ich gar nicht, bin keine Biologin, so wenig wie sie, sondern Juristin.”
“Aber sie stellen ihren Willen über den der Mehrheit, die es so  will.”
“Kennen sie das als König nicht auch?”
“Berate mich immer mit Experten, um mir eine Meinung zu bilden und lasse auch das Volk  befragen.”
“Aber wenn sie von etwas überzeugt sind, würden sie es auch tun, wenn das Volk dagegen ist, weil es das Risiko nicht sieht?”
“Manchmal muss ich das, aber ich vermeide es nach Möglichkeit. Es ist mir wichtig, alle Meinungen zu hören und einen Konsens zu finden.”
“Könnten sie etwa alle Ausländer töten, wenn die ganz große Mehrheit dies wünschte?”
“Die Todesstrafe ist abgeschafft.  Daran werde ich nichts ändern und zum Glück ist solch eine Mehrheit nicht in Sicht.”
“Das meinte ich nicht, könnten sie etwas gegen ihr Gewissen tun, auch wenn die ganz große Mehrheit es so sieht? Anderes Beispiel -  die ganz große Mehrheit will dieses Projekt auf dem Feld und ist von der störrischen Alten genervt, bestenfalls noch amüsiert. Ließen sie mich in ein Heim bringen und unter Medikamente setzen, weil  ein Psychiater attestierte, ich hätte eine Psychose, weil ich mein Leben für einen Acker riskierte?”
“Sie haben doch mein Ehrenwort.”
“Was bindet sie daran?”
“Mein Gewissen und seit ich es veröffentlicht habe auch die öffentliche Meinung.”
“Und mich zwingt mein Gewissen dazu, alles mir mögliche zu tun, diesen Ackerbau zu verhindern, dessen Folgen wir nicht absehen können.”
“Ihre Meinung gegen die Mehrheit im Staat - auch wenn wir eine Monarchie sind, demokratisch ist das nicht und ich dachte ihnen wäre die Freiheit so wichtig.”
“Die Freiheit wie wir leben ist mir wichtig aber erst nach der zu leben und wenn das gefährdet ist, setze ich Prioritäten und stelle meine Verantwortung über die gerade Meinung der Mehrheit. Habe ich schon immer so gemacht. Vor dem ersten großen Krieg, als mich alle verspotteten oder sogar bespuckten und als Vaterlandsverräterin öffentlich nieder machten. Im nächsten großen Krieg als ich Freunde versteckte, obwohl sie als Feinde und Schädlinge galten in der Diktatur. Gegen die Aufrüstung durch ihren Vater, gegen die Atomkraft, für den Schutz des ungeborenen Lebens …”
“Stimmt, spätestens da hatten sie ihre früheren Verbündeten auch unter den Frauen gegen sich, weil sie streng logisch argumentierten.”
“Diese ‘mein Bauch gehört mir’ Kampagne gehört mir, hat mich sehr aufgeregt, weil sie völlig blind für die biologische Realität war. Entweder ich erlaube jede Euthanasie oder ich behandle Abtreibung wie Mord”, erhob die alte Dame die Stimme und der König erinnerte sich, wie es noch unter der Regierung seines Vaters darüber zum großen Streit kam - er hatte sich auf die Seiten der Frauen gestellt und diese hatten ihn dafür geliebt. War eine freie schöne Zeit damals und sein Vater beriet sich mit den alten Herren und den Pfaffen, die es verhindern wollten, aus Glaubensgründen, aber darum ging es ihr glaubte er damals nicht.

“”Ja, ich erinner mich, da habe ich mich auf die Seite der Frauen und deren Freiheit gestellt, was meinen Vater schließlich dazu brachte, einen Kompromiß zu beschließen, mit dem alle bis jetzt ganz gut leben konnten. Sollten wir nicht auch jetzt einen solchen suchen?”
“Darf es beim Lebensrecht Kompromisse geben - können wir eine halbe Todesstrafe einführen - nach dem Motto, wir hängen aber nur für drei Monate?”
“Aber das ist doch ein unsinniger Vergleich, wer tot ist, ist tot und bleibt es immer.”
“So argumentierte ich damals auch aus Gewissensgründen. Ein abgetriebenes Kind ist tot und wird nicht wieder lebendig, darüber dürfen wir nicht verfügen, es wäre eine Todesstrafe nach dem willkürlichen Urteil der Mütter oder später des Staates mit Beratung und Schein.”
“Der Papst argumentierte wie sie.”
“Hab mit dem nichts zu tun
“Darum haben sich damals auch alle so darüber gewundert, dass sie einer Meinung waren.”
“Waren wir nie, der Papst und Rom lehnen Abtreibung ab, weil sie die Schöpfung schützen wollen an die ich nicht glaube. Behandle nur ungeborenes Leben wie jedes andere auch, weil es Leben ist und die Unterscheidung willkürlich ist.”

Sie kreisten immer mehr um den moralischen Aspekt und er hoffte sie hier für seine Sache zu gewinnen, unabhängig von der je Meinung oder Sorge, weil es doch um die Rettung von Leben ging, was doch über allem stehen sollte.

“Hielten sie dann auch den Selbstmord für strafbar?”
“Im Gegenteil, der Freitod ist Ausdruck unserer Freiheit im Sein. Bin keine gläubige Lebensschützerin, bin auch nicht gegen Sterbehilfe, wenn die Betroffenen frei entscheiden konnten.”
“Sie passen in kein Schema und suchen sich überall Gegner…”
“Suche keine Gegner, nie, ich folge nur konsequent meinem Gewissen. Wollen sie etwa den Suizid bestrafen lassen?”
“Liegt mir fern, wie die Bestrafung der Abtreibung. Als kantianischer Epikuräer, wenn es so was gibt, ist mir die Freiheit dazu wichtig. Solange Kind und Mutter eine Einheit bilden, soll diejenige ihre Freiheit verteidigen dürfen, die zuerst da war, entspricht auch meiner Sicht auf die Natur und das Recht. Nach uns kommt nichts, denke ich und dahin zu gehen, steht uns frei, ist kein Grund zur Trauer sondern zu gelassener Normalität. So ist eben die Natur, warum sollte ich mich darüber aufregen, Leben ist endlich.”

Sie dachte über seine Wort nach und er sah förmlich das Feuerwerk ihrer Gedanken, sich in seinen Augen spiegeln. Sein Argument mit der primären Freiheit dessen, der zuerst da war, gefiel ihr, musste sie zugeben, so fern ihr sonst die Erlaubnis zum Mord immer lag.

“Aber darf die Freiheit der Frau einen Mord genehmigen? Nur damit eine Seite sein kann, wie sie will, darf die andere nicht mehr sein?”
“Konsequent betrachtet, ist ihnen da schwer zu widersprechen. Wann das Sein anfängt eines zu sein und ab wann wir nicht mehr eingreifen dürfen, macht es schwierig. Nur wohin führt solche Konsequenz letztlich?”
“Zu einem Lebensschutz von der Zeugung bis zum Tod. Mord wird mit lebenslänglichem Gefängnis bestraft. Abtreibung ist grausam und damit sicher ein Mord noch dazu gegen jemand, der arglos und damit wehrlos.”
“Was bedeuten würde die betroffenen Frauen müssten sich alleine helfen, es gäbe wieder Engelmacherinnen und viele Todesfälle auch der Mütter - kann das gewollt sein?”
“Aber darf bloßer Pragmatismus über den Lebenswert entscheiden?”
“Nein, sicher nicht, aber jede Entscheidung muss auch pragmatisch funktionieren, sonst hat sie keine Wirkung. An der Konsequenz werden am meisten die Frauen leiden.”
“Am Pragmatismus die ungeborenen Kinder.”

Er wollte nicht zu lange bei dem Thema verweilen, auch wenn es zur Gewissensfrage passte und der Diskurs spannend war. Eigentlich ging es ihm um das Gewissen.

“Haben sie Kinder?”
“Tut das in dieser Frage etwas zur Sache?”
“Es kann das eigene Urteil beeinflussen.”
“Betrachte ich ihre Sicht damals, sollten sie als Mann dazu ohnehin besser schweigen, oder nicht?”
“Doch, genau das will ich auch lieber und es den Frauen überlassen, die sich genug dabei mit ihrem Gewissen quälen, wenn sie es tun.”
“Manche mehr, manche weniger.”
“Ist wohl eine Gewissensfrage und darum so schwer regelbar.”
“Das Gewissen scheint ihnen wichtig zu sein, so oft wie sie es betonen.”

Endlich, nun konnte er zum Thema kommen, was ihn mehr interessierte als die alte Abtreibungsdebatte, die er den Frauen lieber für sich überlassen hätte. Musste sich aus seiner Sicht der Staat nicht einmischen, war für die Betroffenen schwer genug, aber ganz so durfte er das auch nicht öffentlich sagen, weil er ahnte, was dann die Kirche täte, die andererseits doch auch seine Herrschaft als von Gottes Gnaden segnete.

Auf was sonst kommt es bei moralischen Entscheidungen an?”, schaute er sie herausfordernd an.
“Es ist wohl die Grundlage.”
“Aber was ist es und wo sitzt es?”
“Fragen sie einen Neurologen - würde sagen, es ist ein Teil des Bewusstseins, bestimmt, wie wir urteilen sollen. Drängt uns aus mal ethischen, dann moralischen oder meist vermutlich bloß intuitiven Gründen zu einem bestimmten Verhalten.”
“Was motiviert ihr Gewissen, sich gegen die Gentechnik zu stellen?”
“Tue ich nicht.”
“Dann gegen deren Anbau im Freien…”
“Schwer zu sagen, es ist eine Mischung aus einer Verantwortungsethik im Bewusstsein des unbekannten Risikos, folgt dem Gefühl, es sei unmoralisch, etwas anzufangen, dessen Folgen ich nicht absehen kann und einer tiefen Intuition, die mir sagt, lasst die Finger davon, ihr habt keine Ahnung und es ist viel zu gefährlich.”
“Wenn die Intuition sich gegen die Mehrheit und die vernünftig belegte Meinung der Wissenschaft richtet, die auf die Rettung von Millionen Menschen aus ist, darf sie dann ein Maßstab sein - Gefühl gegen die Vernunft eines humanistischen Ziels? Was ist nach dem Gewissen mehr wert?”
“Das hab ich befürchtet, dass sie genau das irgendwann fragen werden. Die Wissenschaft hat Beweise für das, was sie tut und will, soweit es ihr möglich ist und ich habe nur vernünftige Zweifel am Wissen und sonst ein ungutes Gefühl.”

Der König lächelte, er würde nun abwarten, musste sie kommen lassen, damit sie alleine auf das dünne Eis ginge und er ihr die rettende Hand entgegenstrecken konnte, wenn es nötig war. Einen Moment herrschte Schweigen und er genoss dies, weil er wusste, wie die Spannung in ihr stieg, wenn er dazu nichts sagte, sich nicht auf ihre offene Flanke stürzte, sondern ihr die Freiheit ließ, selbst weiter aus der Deckung zu kommen.

“Wollen sie gar nichts dazu sagen?”, fragte sie sichtlich nervös von der Stille, in der sie sich scheinbar zum Abschuß frei für ihn geboten hatte und er nichts tat, als zu lächeln und er sagte nichts sondern schüttelte nur den Kopf und lächelte.
“Es ist eine Intuition, stimmt schon, ein tiefes Gefühl, aber es gibt doch gute Gründe an der Wissenschaft zu zweifeln. Was hat sie nicht schon alles angerichtet. Denken sie an die Atomkraft -”, sie pausierte und hoffte seinen dialektischen Instinkt zu wecken, aber er schwieg und lächelte, würde weiter lächeln, sie ahnte es, bis sie sich beim alleinigen reden und der Beantwortung seiner Frage in solche Widersprüche verwickelte, dass sie seine Hand zur Rettung annehmen musste. Der Gedanke gefiel ihr überhaupt nicht und sie wollte kämpfen, für ihre Intuition und mit all ihrer Vernunft und ihren Worten für die gute Sache.

“Wenn die Intuition eine Gefahr sieht, die viel größer ist als jede Chance, darf sie dann schweigen, nur weil die Mehrheit den Mördern zujubelt und die Gefahr nicht erkennt?”, versuchte sie es, sah ihn an, lächelte und er lächelte weiter und schwieg. Einen Moment schwiegen sie sich beide an und die alte Dame dachte kurz, na wollen wir doch mal sehen, ob ich mit meinen über hundert Jahren da nicht mehr Geduld aufbringe.

Sie schwiegen einen Moment beide, dann fiel ihr ein, dass sie seine Frage nicht beantwortet hatte und es also vielleicht unhöflich war ihrerseits zu schweigen und sie wusste schon, wo sie gerade war, wem sie gegenüberstand und was geboten war. Er war ja auch ein guter König, nur dass mit der Gentechnik, da war er halt zu modern und wissenschaftsgläubig.

“Weiß nicht, was mehr wert ist, da ich die Mehrheit gegen mich gerade habe, wird sicher nach herrschender Ethik die Wissenschaft und die breite Meinung mehr wert sein als meine Intuition. Aber die Rettung von Millionen ist doch auch nur spekulativ”, sie sah ihn an und er lächelte weiter, hörte aufmerksam zu. Was wäre, wenn er irgendwann, danke sagte und sie gehen durfte, zurück auf diesen kalten zugigen Acker, um ihrer Intuition zu folgen, die Menschheit zu retten, die überhaupt nicht gerettet werden wollte. Wenn sie nun weiter schwiegen, würde nichts passieren und sie konnte ihn auch nicht überzeugen.

“Aber könnten wir nicht noch warten, bis die Forschung weiter ist, alle Risiken kennt und ausschließen kann, dass etwas passiert?”, sie lächelte ihn hoffnungsvoll an und er lächelte noch freundlicher zurück, vielleicht nickte er ein wenige, aber er sagte nichts, ließ sie weiter zappeln.

“Es ist natürlich nur ein Gefühl”, schmälerte sie schon ihren eigenen Anpruch, als wollte sie den verlorenen Posten nicht länger verteidigen, “doch hat mich dies in den letzten 100 Jahren nie getäuscht und ich traue meinem Gewissen. Was sonst sollte ich denn tun, wenn ich die Gefahr erkenne und uns als Zauberlehrlinge auf den Weg in den Abgrund sehe?”, unterbrach sie hoffnungsvoll, schaute zu ihm auf, der nur in einer Nuance vielleicht die Schultern zuckte, kein Wort sagte und sie weiter anlächelte.

“Natürlich darf nicht eine verrückte Alte der Mehrheit ihren Willen aufzwingen, aber ich habe doch auch meine Erfahrungen, bin ja nicht nur verrückt, sondern folge einer tiefen Überzeugung. Will mich doch nicht hier nur so stark machen, ich möchte warnen und überzeugen, weil ich eine Gefahr sehe.”

Bei diesen Worten legte der König seinen Kopf ein wenig schräg, sonst nichts, sah sie aber weiter schweigend und lächelnd an.

“Sie meinen, ich täusche mich? Sehe etwas, was nur ich sehe, als wäre ich eine Seherin und ein bisschen verrückt eben - habe da schon vernünftig nachgedacht, gut, es ist nicht wissenschaftlich, aber sehr kritisch doch. Woher wollen sie das wissen mit der Rettung von Millionen? - nichts - naja, wissen sie auch nicht, so spekulativ wie mein Ansatz letztlich.”

Sie schaut ihn triumphierend an und er schweigt und lächelt weiter, zog nur in einer Andeutung die Brauen hoch, was sie nicht gleich zu interpretieren wusste, sie dann aber unruhig machte, weil es mehr an Bewegung war als die ganze Zeit - ob er meinte, dass sie es übertrieb, wollte der König sie auf einen Fauxpas dezent aufmerksam machen - da merkte sie es langsam. Sie ging von der Spekulation aus, die ihr ein ungutes Gefühl gab, dass sie später irgendwie wissenschaftlich begründen konnte. Er ging von wissenschaftlichen Annahmen aus, die vernünftig begründet waren - die Zahlen beruhten zwar auf Schätzungen und waren also auch Spekulation wie alle Statistik aber doch zumindest wissenschaftlich korrekt und nicht nur ein Gefühl und sie merkte, wie dünn das Eis war, auf dem sie stand, wie sie sich aus ihrer uralten Intuition nur gegen alle Vernunft, Ökonomie und Menschlichkeit wehrte und plötzlich bekam sie Angst, einzubrechen.

“Ja, ich geb es zu, ihre Sicht ist wissenschaftlich fundiert, meine nicht. Für ihre Sicht sprechen viele Daten, für meine nur ein Gefühl und keine große Kenntnis in der Sache - hab mich schon damit beschäftigt. Es ist natürlich auch die Angst. Was ist, wenn was passiert und es schief geht?”, sie schaute, ob etwas von ihm kam, aber er schwieg weiter und lächelte.

“Was soll ich noch sagen, sie haben demokratisch recht - die Mehrheit ist auf ihrer Seite und sie haben auch sonst die vernünftigeren Argumente, ich geb es ja zu, trotzdem”, es bäumte sich in ihr wieder ein wenig auf, noch wollte sie seine Hand nicht, “es ist ja nicht abwegig, was ich da fühle - es könnte doch passieren, oder ist das ausgeschlossen?”

Er würde ihr am liebsten zu Hilfe eilen, ihr den Arm geben und sie retten - aber wenn sie frei sein wollte, musste er sie lassen, bis sie ihn rief und dann nähme er sie in allen Ehren auf und sie würden gemeinsam überlegen, wie sie diese Angelegenheit nach bestem Wissen und Gewissen zu Ende bringen könnten.

“Ja, ich weiß, nicht wahrscheinlicher als ihre Rettung von Millionen, alle Vernunft spricht für sie, die Mehrheit auch und ich habe nur mein komisches Gefühl, dass mich noch nie getäuscht hat. Vielleicht sollte ich diesmal nicht kämpfen sondern lieber beobachten - nur wie komme ich da noch raus?”

War es schon so weit, fragte sich der König, lächelte sie an, zog die Augenbrauen weit hoch, hätte ihr gern die Hand gereicht und wusste doch, es war nun seine Rolle, einfach zu warten.

“Haben sie eine Idee? Bitte, helfen sie mir, ich merke, ich habe mich da vielleicht verrannt in ein Gefühl, kann ja täuschen, wie wir es von der Liebe kennen. Wie komme ich da wieder raus?”

“Schön, dass sie heute zu mir gekommen sind und ich wollte mit ihnen doch gerne die Feierlichkeiten für ihren großen Verdienstorden und die Erhebung in den erblichen Adel besprechen. Dachte an das königliche Sommerfest und vielleicht können wir bei dieser Gelegenheit auch ihr letztes Engagement für die Freiheit und aus tiefer Überzeugung besonders würdigen - dass wir nun wieder alle an einem Strang ziehen, ist doch wunderbar. Das Gewissen der Nation und der König in einem Boot scheint mir besser als alles zuvor und der Rest wird dagegen unwichtig.”

Sie nahm seine Hand, lächelte ihn an und wusste, er hatte sie gerettet. Sie würden nicht darüber reden. Es gäbe eine Pressekonferenz zu ihrer Erhebung und der Verleihung und wenn dabei ein Reporter dumm fragte, würde es lächelnd übergangen, es schien alles wunderbar.

“Eines müssen sie mir noch verraten, wie funktionierte diese Anlage auf dem Feld - unser Geheimdienst hat alles überwacht und es nicht verstanden - was steckte dahinter?”
“Es war nur ein Märchen, aber alle haben es geglaubt.”
“Dem Gewissen der Nation wird so geglaubt wie des Königs Ehrenwort. Wie gut, dass ich am Ende nur noch meinem Gefühl gefolgt bin und sie nicht Jan Hus waren.”

Und der König und die alte Dame, die nun Dame des Königreichs wurde, sprachen noch oft miteinander und wenn sie nicht gestorben sind, dann reden sie noch heute.
jens tuengerthal 9.2.2017

Mittwoch, 8. Februar 2017

KMG 006

Seelenmärchen

Es war einmal eine wunderschöne Prinzessin, die alles konnte, was die Ritter auch taten und mutiger als viele von diesen schon lange war. Sie sang und tanzte so schön, wie sie gut focht, große Kutschen oder Schiffe auf dem Ozean steuerte. Nie fürchtete sie einen Gegner, weil sie sich allen gewachsen fühlte und immer tat, was sie wollte, auch und gerade, wenn alle sagten, ‘aber dass machen Prinzessinnen doch nicht’.

Auch wenn sie in jeder Situation ihren ‘Mann’ stand, wie es die Leute so sagten, war sie ganz zart und fein, hatte winzige Prinzessinnenfüße und einen zarten Körper, der eher mädchenhaft wirkte, als dass sie wer für eine Matrone hielte. Ihr goldenes Haar trug sie je nach Laune offen und dann wellte es sich nach der Natur über ihre Schultern oder während ihrer Abenteuer streng geflochten im Zopf.

Weil die Prinzessin immer tat, was sie wollte, hatte sie die Welt gesehen, kannte Menschen überall und hatte so viele Verehrer in Arabien, Indien wie in Amerika. Nur hatte sie nie einen geheiratet, weil sie, wie die große Königin Elisabeth I., die auch irgendwie eine Großtante von ihr war, frei bleiben wollte - nur der König Karl, ihr Vater, war ein wenig betrübt, weil er sich doch Enkel so sehr wünschte und um den Fortbestand seines Hauses fürchtete.

Doch die schöne Prinzessin wies alle Prinzen, Ritter, Könige, Scheichs und was sie auch waren ab, weil sie auf die große Liebe insgeheim hoffte, auch wenn sie immer sagte, sie wolle keinen, weil die alle zu doof und langweilig sein, nur das eine wollten, ihr Reich und ihr Geld ihnen wichtiger war als die Liebe. War auch so bei manchen, aber es gab auch welche, die es ehrlich meinten. So reiste die Prinzessin ständig um die Welt, um sich abzulenken von ihrer eigentlich Sehnsucht, anzukommen und wies weiter einen Bewerber nach dem anderen ab, um frei zu bleiben, wie sie sagte oder, ehrlicher eigentlich, sich für den Märchenprinzen aufzusparen, der sie irgendwann entdecken würde, als den Schatz seines Lebens.

Doch der Prinz kam nicht. Es kamen viele und machten ihr große Geschenke, brachten Blumensträuße und legten ihr die Welt zu Füßen, doch die alle interessierten sie nicht, weil sie ganz tief in sich nur auf den einen wartete. Wenn sie jemand gefragt hätte, wie er denn aussieht oder ist, könnte sie es nicht so genau sagen, auch wenn sie schon ein Bild von ihm hatte, war das nie ganz konkret geworden. Vermutlich wäre er groß und dunkel, dachte sie, aber auch das war nicht sicher. Dann grübelte sie, ob es eher ein Seefahrer, ein Ritter oder ein Schauspieler wäre und fand an allen immer viele Nachteile, sie spürte nichts dabei.

So ging es ihr auch sonst, denn natürlich hatte die Prinzessin, die immer machte, was sie wollte, längst alles ausprobiert, was auszuprobieren war, in der Horizontalen oder auch mal aufrecht miteinander getan werden konnte, mit beiderlei Geschlecht sogar, aber nie spürte sie das, wonach sie sich sehnte. Sie konnte es nicht benennen, sie wüsste es nur sicher, wenn es da ist, dachte sie immer. Doch weil sie merkte, wie unruhig ihr Vater der König wurde, der sich um sein Reich sorgte, machte sich die Prinzessin wieder auf die Suche.

Sie probierte mal diesen, mal jenen ein wenig und doch fehlte ihr etwas, was sie nicht benennen konnte und sie beschloss, den Mönch zu fragen, der immer ihre Vater beriet, wenn der nicht weiter wusste, vielleicht hatte der eine Idee, warum sie mit keinem zufrieden war, sich nie fühlte, als sei sie angekommen.

“Habe sie hierher gebeten, weil ich ihren Rat brauche in einer Sache, in der ich nicht mehr weiter weiß - es geht um die Liebe von Mann und Frau…”
“Und da rufen sie mich, einen zölibatär lebenden Mönch?”
“Ach stimmt ja, sie haben ja damit nichts zu tun. So gesehen, haben sie es ja auch gut.”
“Sie wollen nicht heiraten und möchten keine Kinder bekommen? Haben sie Angst?”
“Nein, also doch, ich meine natürlich - was rede ich da? Möchte gerne heiraten, eine Familie gründen, Kinder bekommen, gegen Sex hab ich auch nichts, nur…”, hier machte die Prinzessin eine Pause und zeufzte, schaute den Mönch an, der doch als Vertrauter ihres Vaters bestimmt Bescheid wissen musste, oder dachte nur sie, dass es so ein großes Thema für alle sei?

“Ja?”, fragte der Mönch sie völlig unbefangen, weil sie mitten im Satz aufgehört hatte.
“Hach, es findet sich nicht der Richtige, sie sind ja alle ganz nett, aber…”
“Die große Liebe war noch nicht dabei?”
“Genau, wußt ichs doch, sie verstehen mich.”
“Davon kann ja noch gar nicht die Rede sein, hab nur zufällig richtig geraten und natürlich pfeiffen das längst die Spatzen von den Dächern.”
“Was pfeiffen die denn?”, fragte die Prinzessin neugierig aber auch ein wenig schnippisch, um nicht zu zeigen, wie neugierig sie eigentlich war.

“Das Hoheit die große Liebe sucht und ihr bisher keiner genügen konnte, mehr weiß ich auch nicht, ist ja sonst eher nicht mein Thema und die Regenbogenpresse verfolge ich auch nicht so intensiv.”
“Ha, sie haben Humor, dass mag ich…”, lachte die Prinzessin den Mönch an.
“Behauptet ihr Vater auch immer, aber witzig sein und Ahnung haben, sind zwei Sachen, glaub ich.  Wie könnte ich ihnen denn nun raten werte königliche Hoheit?”
“Erstmal indem sie die blöden Anreden weglassen. Wir sind ja unter uns, albernes Zeug, sie sind älter als ich, da muss ich respektvoll sein, hat mir mein Vater beigebracht.”
“Was mehr für ihren Vater spricht als für mich oder gegen sie.”
“Ja, vermutlich und intelligent sind ihre Witze noch dazu, gefällt mir immmer besser. Aber sie wollen ja nicht heiraten…”, flirtete die Prinzessin mit einem Zwinkern den Mönchan, der älter als ihr Vater war. Wie würde dieser nun reagieren, fragte sie sich, übersah er es oder spielte er mit.

“Vor der Wahl stehe ich wohl nicht, denke ich, diene ja dem Herrn. ”
“An den sie vermutlich so wenig glauben wie mein Vater und ich…”
“Sagt er das so?”
“Naja, nicht wörtlich - er meinte, wer so intelligent sei wie sie, dem müsse doch der Atheismus, als geringere Beleidigung für Gott vorkommen. Er meint glaube ich, sie hätten sich nur ihre Freiheit im Orden genommen.”
“Da zitiert er Edmonde Goncourt, ja, ein schönes Zitat und vielfach sehr passend. Ach, was weiß ich schon davon? Ihr Vater und ich sind sicher beide suchende Menschen auf unsere je Art.”
“Aber die Kirche ist ihnen auch eher fremd?”
“Fremd? Nein, eher vertraut, sehr menschlich, bin ja ein Teil von ihr und maße mir nicht an, über die heilige Kirche zu urteilen, deren Diener ich nur bin.”
“Ja, sie seien nicht leicht zu greifen, sagte mein Vater auch....”
“Dann können wir uns ja die Hände reichen, es gibt wohl viele Prinzen, die das auch über sie sagen.”, lachte der Mönch und reichte der Prinzessin die Hände.

“Das Lachen tat gut, danke - hmmm, können sie mir irgendeinen Rat geben, was ich tun soll - sei wissen doch, die Zeit und die biologische Uhr tickt…”
“Die Liebe kommt, wenn sie da ist und ein guter Dichter schrieb mal über sie, ‘Es ist, was es ist’ - mehr weiß ich dazu auch nicht. Hören sie auf ihre Seele.”
“Hab ich nicht!”
“Ach ja, natürlich, wie ihr Herr Papa,  hätte ich mir auch denken können - dann hören sie auf ihre Intuition, die wird es ihnen schon sagen.”
“Ist Intuition für sie das gleiche wie Seele?”
“Nein”, antwortete der Mönch so knapp, dass er sie zum Fragen drängte, wenn sie etwas wissen wollte.

“Also nicht das gleiche und was dann?”
“Interessiert sie, was es für sie nicht gibt, was die Kirche dazu lehrt oder wie es philosophisch gesehen wird?”
“Religion und Philosophie benutzen Seele unterschiedlich?”
“Ja, für Epikur ist sie Teil des Körpers, wie ein Organ, also sterblich und ähnliches schrieb auch Lukrez. Anders Platon und Aristoteles. In der Religion ist sie, je nach Glaube, meist unsterblich, mal wandernd, dann im Nichts aufgehend oder auf dem Weg durch das Fegefeuer in den Himmel.”
“Was ist es für sie?”
“Ein Begriff mit verschiedenen Schattierungen, die auch auf der Welt regional sehr unterschiedlich gesehen werden, den aber alle Kulturen kennen.”
“Meinte sie persönlich.”
“Ach, was weiß ich schon von der Seele? Der Herr gibt es und der Herr nimmt es. Kann sehr viel verstehen, was das angeht.”
“Schon klar, darum schätzt sie mein Vater ja auch so, aber darum geht es nicht, sondern, was sie glauben, ob ihre Seele unsterblich sei, wandert oder zu Nichts wird, in diesem aufgeht.”
“Wer darf ihn nennen …”
“Ich bin nicht Gretchen!”
“Ja, ich weiß, sondern die klügste Prinzessin der mir bekannten Welt.”
“Die gerne eine Antwort hätte, wenn sie sich dazu herablassen würden…”
“Keinerlei Herablassung, für so bedeutend halte ich mich nie - hab nur keine rechte Ahnung, was ich da antworten soll. Komme mit der Lehrart der Kirche klar, sie ist der offizielle Weg. Beschäftige mich weniger mit der Frage.”
“Ist die Existenz von etwas nicht grundlegend?”
“Nur, wenn es uns betrifft. Viele finden den Tod das wichtigste im Leben, Epikur meinte, dieser ginge ihn nichts an und sei ihm egal. Er beschäftigte sich nicht damit.”

Die Prinzessin war fasziniert, an dieser Stelle hatte sie ihn, dachte sie. Entweder er log jetzt oder sie würde einen Freund gewinnen. Sie musste nur genau überlegen, wie sie fragte, damit er nicht wieder ausweichen konnte.

“Also existiert die Seele für sie nicht?”
“Kann ich so nicht sagen, frage mich auch nicht, ob mein Herz schlägt, wenn es das ruhig und regelmäßig tut, dann betrifft es mich zwar aber ich habe keinen Grund mich mit meiner Natur weiter zu beschäftigen.”
“Wollen sie sagen die Seele sei Teil unserer Natur?”
“Zumindest scheint der Gedanke daran vielen Menschen ganz natürlich.”
“Ihnen auch?”
“Was andere normal finden, werde ich nicht befremdlich finden und muss mich dennoch nicht damit weiter beschäftigen.”
“Aber doch die Frage ihrer Unsterblichkeit beantworten - das änderte doch einiges…”
“Für die Fragen, die hier zu regeln sind selten.”

Wieder hatte er sich entwunden. Was glaubte er nun wirklich, fragte sich die Prinzessin nun viel dringender als einen Rat zur großen Liebe zu bekommen, wovon der Mönch vermutlich mit seinem mönchischen Leben keine Ahnung hatte.

“Die Kirche verkündet aber die Lehre von der unsterblichen Seele.”
“Reden wir theologisch oder philosophisch?”
“Ist das für sie ein Unterschied?”
“Natürlich, was die Kirche sagt, ist klar. Die Philosophen betrachten es unterschiedlich.”
“Sehen sie es anders als Epikur?”
“Natürlich, ich lebe ja auch über 2000 Jahre später.”
“Ich meine, ist es mehr als Natur für sie?”
“Habe nur meine Natur, um zu erkennen und anzunehmen, es sei so,  wie es mir scheint, alles andere ist Glaube.”
“Und? Glauben sie daran?”
“Wäre ich Mönch, glaubte ich nicht?
“So wie die Kirche es sagt?”
“Rituell oder philosophisch?”
“Aber was soll die Seele dann in der Natur sein?”
“Vielleicht ist sie einfach das Mehr.”

Das ‘Mehr’ machte sie nachdenklich - doch, was es nicht in der Natur gibt, existierte für sie nicht. Was könnte er mit dem ‘Mehr’ meinen, fragte sie sich und kam ins Grübeln, vielleicht dachte er eher an die Inhalte.

“Meinen sie sozusagen die Software des Gehirns?”
“Wenn sie den Mensch auf eine Maschine reduzieren wollen, könnte es das sein.”
“Nur wird Software programmiert. Sie wird aufgespielt und funktioniert. Ihr liegen immer 1 und 0 zugrunde, es ist alles berechenbar.”
“Es gibt lernende Software, soweit ich weiß, und ich würde den Vergleich nicht wählen.”
“Aber sie denken auch, dass die Basis logisch sein muss?”
“Weiß es nicht, soweit ich die Natur kenne, funktioniert sie, so wie ich sie betrachte, immer so. Aber vieles wissen wir auch nicht oder noch nicht.”
“Dann wäre es nur eine Frage der Zeit, bis der Mensch vollständig berechenbar ist?”
“Ob das funktionieren kann, wenn das Wesen noch selbständig denkt, scheint mir fraglich - es spielen da, glaube ich zu viele Faktoren eine Rolle.”
“Faktoren? Meinen sie jetzt den Einfluss des Schöpfers?”
“Dachte eher an Hormone, Erziehung, Trieb und was das Gefühl so alles ausmacht.”
“Also doch nur Natur auch in der Liebe?”
“Alles andere ist ja nicht unser Thema, denke ich.”

Sie wusste immer noch nicht mehr als zuvor über ihn und seine Vorstellung von der Seele, er war nicht zu fassen. Aber so schnell gab die Prinzessin nicht auf.

“Waren sie mal verliebt?”
“Natürlich, gehört das nicht irgendwie zum Menschen dazu?”
“Und warum sind sie dann Mönch geworden?”
“Nicht jede Liebe endet glücklich. Vermutlich, weil ich es irgendwann als meinen Weg erkannt habe. Aber ich frage mich das auch manchmal. Ob ich ein guter Vater wäre und ein erträglicher Ehemann.”
“Und?”
“Ist ja eher theoretisch für mich. Hätte mich bemüht, aber ich habe mich anders entschieden, weil es mein Weg ist und dann ist es gut so.”
“Würden sie mir erzählen, wie das mit der Liebe bei ihnen war?”

Der Mönch lehnte sich zurück, schaute die Prinzessin an, fragte sich, ob sie nur Tratsch hören wollte, der doch gar nicht ihr Thema sonst war, er die Frage besser abwimmelte. Doch eigentlich ging es ja genau um dieses Thema ursprünglich und vielleicht war das ihre Art wieder auf das alte Thema zurückzukommen und er erinnerte sich an das schmerzvolle Ende seiner großen Liebe.

“Wir wussten es beide sofort und uns war gleich klar, dass wir heiraten wollten. Damals studierte ich noch, doch es war alles perfekt, wie ich es mir immer geträumt habe. Wir genossen unsere Nähe wie die Lust, teilten geistige Welten, lasen zusammen Bücher und diskutierten darüber. Alles schien wie im Traum.”
“Und dann verlor es sich wieder?”
“Ja und ich weiß auch nicht wie und wann. Sie merkte es zuerst, ich wollte es nicht und tat als sei alles ganz normal. Meine Familie war etwas misstrauisch und ihre mit der meinen verfeindet seit vielen Generationen. Kinderkram eigentlich, alle hatten längst vergessen warum, nur es machte es schwerer und wir waren eben nicht Romeo und Julia.”
“Wer hat dann wen verlassen? Darf ich das fragen? Entschuldigung, es beschäftigt mich nur gerade auch so.”
“Sie dürfen alles fragen…”
“Und sie entscheiden, was sie antworten…”
“Ob ich es überhaupt beantworten kann - es ist schon lange her, aber, nein, ich glaube keiner hat einfach den anderen verlassen. Wir stritten uns und sie ging und ich tat wohl nicht genug, damit sie wiederkam. Dann sahen wir uns nach Monaten nochmal für eine Nacht und es war wieder wie am Anfang, ich war so glücklich…”
“Oh wie romantisch… Und blieb es dann so?”
“Leider nicht, ich sagte, ich bräuchte etwas Zeit, wollte meine Familie überzeugen und dann war sie weg und beschimpfte mich nur noch in Briefen. Verstand es nicht, versuchte vernünftig zu sein, probierte es nochmal und sie war immer noch wütend - weiß bis heute nicht warum - irgendwann dann verlor es sich.”
“Die große Liebe einfach verloren? Das kann doch nicht sein!”
“Doch und es ist leider völlig normal, glaube ich. Wir lassen uns ablenken, gehen unsere Wege, irgendwann vergessen wir - und ich, naja, als die Ablenkung nicht weiterführte und ich aber nicht vergaß, ging ich ins Kloster und das ist ja nun länger her als sie alt sind Hoheit.”
“Lebt die Liebe noch?”
“Das will ich doch hoffen, so alt bin ich ja nun auch wieder nicht”, und da zwinkerte ihr der Mönch mit einem Lachen zu.

“Natürlich, ich meinte das Gefühl, ob es noch lebt?”
“Irgendwie bestimmt, nur relativiert sich alles mit der Zeit. Wenn du nur beschimpft wirst, schützt du dich und es ist nun, wie es ist und ich bin ein glücklicher Mensch seit vielen, vielen Jahren.”
“Nie mehr eine große Liebe gefunden?”
“Hab nicht mehr danach gesucht. Glaube, auch, wenn das Wort etwas zu bedeuten hat, gibt es das nicht so oft.”
“Dann habe ich also Recht, daran zu glauben…”, fragte sie halb und stelle sie halb fest.
“Daran glauben, ist bestimmt richtig. Nur kann der Glaube auch blind für das Glück im Alltag machen und dann macht er eher unglücklich.”
“Das sagen sie mir alle ständig, aber ich will nicht einfach eine gute Partie machen. Dann bleibe ich lieber alleine. Es war noch keiner so, wie ich es mir träumte.”
“Vielleicht ist es das alte Problem von Anspruch und Wirklichkeit.”
“Aber sie haben doch nach ihrer großen Liebe auch keine mehr gehabt.”
“Genau, gleiches Problem. Darum wurde ich in der Liebe nicht glücklich und ging lieber ins Kloster um dort glücklich zu leben.”
“Klöster für atheistische Prinzessinnen gibt es ja noch nicht...”

Da lachten beide und stellten sich einen solchen Ort vor, in dem gebildete selbstbewusste Frauen ihre Philosophen lasen und debattierten, statt zu beten. Die Vorstellung gefiel beiden gut.

“Sie sollten welche gründen, wenn sie Königin werden.”
“Und mich dann wie Christina von Schweden von der Welt zurückziehen?”
“Die fand aber zum Glauben zuvor.”
“Ja, noch dazu zum Katholischen, warum sie nicht länger Königin von Schweden sein konnte.”
“Würden sie sich gern von der Welt zurückziehen?”
“Zumindest vom Heiratsmarkt und vergessen, dass eine künftige Königin einen Mann bräuchte.”
“Elisabeth hat das auch getan und war viele Jahre erfolgreich.”
“Würden sie das meinem Vater erklären.”
“Dazu braucht es micht nicht. Vielleicht muss auch nicht alles erklärt werden, wenn manches sich von allein ergibt.”
“Sie meinen einfach weiter wie bisher und dann ist es eben so?”
“Oder anders, wer weiß dass schon in der Liebe so genau? Elisabeth hat sich mit Philipp, dem Witwer ihrer Schwester auch erst nach dem Tod ihres Vaters getroffen, ging ja auch erst dann, als sie Königin war. Und warum sollte er sich nicht doch finden?”
“Sie meinen es gibt meinen Märchenprinzen, die große Liebe mit der ich einfach glücklich werde?”
“Nein, ich glaube nicht an Märchenprinzen, aber die große  Liebe kann es geben und wenn wir nicht erwarten, dass immer alles gut ist, können wir manchmal auch damit glücklich werden, habe ich gehört.”
“Soll ich also doch einen Kompromiss eingehen meinen sie?”
“Nicht in der Liebe aber im Leben. Erhöht die Chance glücklich zu bleiben.”

Die Prinzessin war sich noch nicht sicher, was diese Worte bedeuteten, noch kannte sie dies große Gefühl ja nicht, aber wenn es käme, würde sie daran denken, dass es vielleicht auch mehr Kompromisse wert ist, als sie sonst einginge, ihrer Natur nach. Nur eine Frage trieb sie noch um.

“Könnten wir dies komplexe Ding aus Natur und Gefühl, was wir Liebe nennen auch Seele nennen? Ist es das, was die Leute damit meinen?”
“Die Liebe ist die Liebe und sollten wir auch so nennen. Wer an eine Seele glaubt, sieht sicher auch die Liebe in ihr wurzeln - vielleicht hilft es, wenn ich ihnen erzähle, dass die alten Griechen die Seele Psyche nannten und so ist manches nur eine Frage der Namen, die ja nur Schall und Rauch sind.”
“Seele gleich Psyche, dann wären es nur bestimmte Hirnfunktionen.”
“Mit allen zusätzlichen Einflüssen von denen wir nur einige kennen.”
“Ließe sich das mit dem Glauben vereinbaren?”
“Die Kirche kommt heute gut mit der Wissenschaft klar. In Rom regieren keine Kreationisten.”
“Nebeneinander statt gegeneinander in der Frage was Seele ist.”
“Sich respektieren und schätzen, um voneinander zu lernen.”
“Was wieder der Liebe sehr ähnelt…”
“Wittgenstein sagte, wovon wir nichts wissen, dazu sollen wir schweigen. Bei der Liebe tun fast alle Menschen das Gegenteil und große Teile der Dichtung leben davon.”
“Schwiegen wir also besser?”
“Tun wir, was uns glücklich macht, dann kann es nicht falsch sein.”
“Dann sollten wir von mir aus nun häufiger reden…”

So trafen sie die schöne Prinzessin und der Mönch immer wieder, wenn er nicht bei ihrem Vater war und redeten lange und wenn sie nicht gestorben sind, dann tun sie es noch immer.
jens tuengerthal 8.2.2017

Dienstag, 7. Februar 2017

KMG 005

Gerüchtemärchen

Es war einmal eine alte weise Frau, die lebte im Wald für sich wie eine Nonne. Sie gehörte aber keinem Orden oder Kloster an und hatte auch keine Kinder. Sie bettelte nicht und wollte auch keine Almosen. Sie lebte einfach für sich und störte eigentlich niemanden. Wären da nicht die Gerüchte gewesen.

Zuerst hieß es, gestreut von den Frauen, die nicht wussten, was das für eine war, sie sei eine Hure, welche die Männer zu sich locke, verführe und ihnen das Geld abnehme, sich für Sex bezahlen ließe, bei dem sie geheime Techniken kannte, von denen die frommen Frauen nichts ahnten.

Doch fand sich in Wirklichkeit kein Mann, der davon erzählte, auch in den Runden der Männer nicht, wo die Männer doch gern mit solchen Geschichten prahlten. Nur der Förster hatte mal mit ihr gesprochen, was sie denn dort wolle, warum sie im Wald siedle und nicht im Dorf, so als Frau, ganz allein, hatte er sie gefragt.

Sie hatte eine Urkunde geholt auf der ihr vom König der Besitz eines kleinen Stückes Waldes bescheinigt wurde. Es blieb der königliche Forst, aber in der Urkunde stand, sie dürfe genau dort, wo sie jetzt war, ihr Haus errichten und sich von den Früchten dort nähren, handelte mit königlichem Forschungsauftrag, bis sie stürbe, dann fiele der Wald wieder an den König zurück.

Der Förster hatte es im Wirtshaus erzählt und so wurde die Geschichte schnell publik. Einige Frauen wollten wissen, dass sie wunderschön sei und eine frühere Geliebte des Königs war, doch der Förster winkte ab. Von schön könne nicht mehr die Rede sein, vielleicht früher einmal, beim Vater des Königs - heute sei es eine rothaarige Alte, der schon einige Zähne fehlten und die sich meist krumm hielt, als hätte sie einen Buckel - sie sei eine Kräuterkundige, sonst nichts.

Sie ist eine Hexe, sagte eines der Mädchen, die Jungen und Männer lachten darüber, Hexen gab es ja nicht, während die Frauen zu tuscheln anfingen. Sie hatten viele Theorien, was mit ihr wäre. Der Förster klärte mal auf, dann stiftete er neue Verwirrung, weil die Menschen nicht verstanden, wie er es meinte. So auch als er sagte, sie hätte einen gut gepflegten Kräutergarten und da wüchsen Sachen, die hätte er nicht mal im Kloster je gesehen.

Viele waren sicher, dass es eine Kräuterhexe war, zumindest eine Verrückte - wer zog auch ganz allein in eine Hütte im Wald und hatte ein königliches Diplom für seine Einsiedelei. Als die Frau vom Bäcker ihr Kind verlor, war sie sicher, die Hexe hätte sie verflucht - sie wollte auch nicht zugeben, dass sie zu viel getrunken hatte und von der Leiter gefallen war, ihr Kind vermutlich nicht von ihrem Mann dem Bäcker sondern von dem Mann aus dem Morgenland war, der im Kloster zu Gast war und den sie so schön fand, dass sie ihm persönlich Leckereien brachte, wenn sie ans Kloster lieferte, bis er sie auf seine Stube lud und sie dort das Glück der orientalischen Liebe lehrte.

Es war voller Leidenschaft gewesen und sie hatte Gefühle dabei gehabt, von denen sie nicht mal geahnt hatte, dass sie dabei passieren konnten. Er hatte ihr genau erklärt, warum nichts passieren könnte, weil er den anderen Eingang wählte, aber jeder wusste ja, was die Männer alles erzählten, wenn sie nur ihren Spaß haben wollten. Seine dunkle Schönheit hatte sie sehr angezogen und so hatten sie es immer wilder getrieben. Im Kloster ging das, es war üblich, der Abt übersah es, Gäste waren freier als Mönche, manche Magd verdiente sich ihre Aussteuer, indem sie den Mönchen ihren Arsch entgegenstreckte, wenn sie darum baten und dafür ordentlich entlohnt wurde.

Sie lebten gut mit dem Kloster, jeder auf seine Art und wurde eine schwanger, konnte das Kind ins Kloster später, wurde zumindest von der Kirche versorgt, es ging ihm also besser als manchen unter den Bauern und so zögerten viele nicht lang, wenn sie eine Einladung erhielten oder rissen sich darum, dorthin zu liefern.

Der Bäcker war schon alt, hatte spät eine sehr junge Frau geheiratet und so hatten alle immer schon gelacht, wenn die Bäckerin immer persönlich dort die Backwaren hin liefern wollte. Alle wussten es und trotzdem glaubten ihr immer mehr die Geschichte von der Hexerei, deretwegen sie das Kind verlor, dass sich der Bäcker doch so wünschte als Erben, egal ob wer glaubte, es sei von ihm.

Wenn der Bäcker starb und es gab noch kein Kind, was alles erbte, war die Witwe eine reiche und freie Frau. So dachten es viele der anderen Frauen aus dem Dorf nicht ohne Neid und dennoch hatten sie ihr die Geschichte geglaubt, hatte sich keiner gewundert, warum nun ausgerechnet die Bäckerin verhext worden sein soll, die doch nichts mit der Alten im Wald zu schaffen hatte.

Das Gerücht machte sich selbständig, längst hatten die Leute die Ursache und ihre fragwürdigen Gründe vergessen, als wieder eine junge Frau ihr Kind verlor. Sie wusste nicht warum, war nur zufällig in der Nähe der Hütte zum Reisig sammeln gewesen, als sie Schmerzen fühlte und anfing zu bluten. Da waren sich die Frauen im Dorf plötzlich sicher, es musste an der Alten in der Hütte liegen.

Die Wirtin erzählte es den Männern im Gasthaus und während die nüchternen unter ihnen, wie der Förster und der Bürgermeister, es noch als Gerüchte abtaten, bevor sie sich in die Nacht verabschiedeten, glaubten die Jüngeren es sogleich und wollten die verlorene Seele des Kindes rächen. Sie berieten sich, was zu tun sei und beschlossen, sie tüchtig zu verprügeln und aus ihrem Wald zu vertreiben. Als einer einwandte, sie könnten sie doch wegen des Kindsmordes vor Gericht stellen, winkten die anderen ab,  wie konnte er so dumm sein, die Gerichte arbeiteten im Auftrag des Königs unter dessen Schutz sie ja stünde und also müssten sie sich selbst helfen.

Die Männer steigerten sich, betrunken wie sie waren immer mehr in ihre Wut und beschlossen alle gemeinsam nun mit Fackeln zu der Hütte im Wald zu ziehen. Damit sie nicht auch noch verhext würden, könnten sie ja einfach Feuer legen, damit die alte Hexe im Schlaf verbrenne, dann könnte es auch ein Unfall gewesen sein, falls der König fragt. Diese Idee fand breite Zustimmung und bei der nächsten Runde organisierte die Gruppe, angetrieben von dem jungen Mann, dessen Frau gerade ihr Kind verlor, wer die Fackeln besorgen solle und wann es losging.

Weil der Mann der jungen Frau aber fürchtete, die Wut könne sich nüchtern wieder verlieren und wirklich Angst hatte, hetzte er alle auf, sogleich zu gehen, um mit einem reinigenden Feuer ihre Freiheit zu verteidigen und die verlorene Seele zu rächen. Er wollte die Fackeln besorgen und wäre in einer halben Stunde wieder da. Da sie noch lange diskutierten, wie sie sich vor dem Zauber schützen sollten, war es sehr spät geworden, als die Gruppe mit Kreuzen bewaffnet, die sie beschützen sollten, schließlich aufbrach.

Auch wenn sich die Männer viel Mut angetrunken hatten, manche kaum mehr gerade gehen konnten, hatten sie doch Angst, so im Dunkeln durch den Wald zu ziehen und damit es keiner vom anderen merkte und weil sie  so betrunken waren, begannen sie laut zu singen auf ihrem Fackelzug, der das Dorf von dem bösen Fluch befreien sollte.

Die Alte hatte wie viele alte Menschen einen leichten Schlaf. Sie war es gewohnt in völliger Stille alleine zu leben und hörte darum die Männer bereits von Ferne, als sie noch weit von ihrer Hütte entfernt waren. Sie kannte die Menschen und war schon mehr als einmal vertrieben worden, bis der König, der ihr Wissen um die Kräuter schätzte, ihr das kleine Stück Wald gab. Sie überlegte kurz, was sie tun sollte. Sicher konnte sie sich verstecken und weglaufen, sich eine neue Hütte aufbauen und den Garten wieder anlegen. Es war ihr Grund, der König hatte ihn ihr überlassen. Sie konnte auch jeden Eindringling vertreiben. Für Notfälle hatte sie ein Gewehr und könnte sich wehren - aber würde sie dann in Frieden leben?

Wenn sie nichts tat, hätte sie es bald hinter sich. Sie glaubte nicht, dass diese Feiglinge sie direkt angreifen würden, dazu waren sie zu feige. Vermutlich würden sie Feuer legen und verschwinden, dann könnte sie entweder schnell am Rauch ersticken oder die Flammen löschen. Vermutlich war es am besten, sie versteckte sich in der Schonung nebenan, dachte die Alte, zog sich schnell etwas über und verzog sich, bevor die Meute kam, selbst wenn sie nicht mehr sehr am Leben hing, sie war alt und erwachte jeden Morgen mit Schmerzen, es würde nichts besseres mehr kommen, wollte sie doch lieber selbst entscheiden, wann sie ging und wie. Dies war nicht ihr Weg.

Wie sie richtig gehört hatte, kam die Horde näher, ermahnte sich dann so laut gegenseitig zur Stille, dass jeder in einem Kilometer Umkreis bescheid wissen müsste - aber hier war keiner außer ihr. Sie schütteten etwas über die Hütte und hielten dann die Fackeln daran, da sie betrunken waren und unachtsam, verbrannten sich noch zwei von ihnen dabei so schwer, dass ihre Kleidung brannte. Nun waren sie schlagartig ernüchtert, wollten ihre Freunde retten, löschte diese und dabei den Brand wieder und zogen verwirrt ab.

Durch die Verbrennungen und die für sie nötige Hilfe, ließen sich die Täter ganz schnell identifizieren, dachte sie und überlegte, ob sie Anzeige erstatten sollte. Sie wollten sie feige umbringen und nur ihre guten Ohren und deren Dummheit hatten sie gerettet. Solchen Verbrechern musste doch das Handwerk gelegt werden, wenn sie friedliche Waldbewohner angriffen in ihrem Wahn.

Beim letzten mal, hatte sie es auch so gemacht. Der König hatte Anklage erheben lassen, die Männer waren bestraft worden und mussten ihre Hütte wieder aufbauen. Es wurde viel wert auf Gerechtigkeit gelegt, dachte sie. Nur die Frauen, deren Männer ins Gefängnis kamen, hatten sie noch mehr gehasst. Sie stießen Flüche aus, wenn sie die Alte sahen und es würde nicht lange dauern, bis sich der nächste Trupp aufmachte, um die Fremde zu vergraulen oder zu töten und mit jedem Misserfolg, stiegen Hass und Wut auf sie noch, die nichts damit zu tun hatte, einfach nur da war und anders war als der Rest, was Grund genug schien, sie vergraulen zu wollen, sie zu hassen.

Wer anders war und so sein konnte, machte Angst, weil es dann keinen Grund mehr gab, normal zu leben und so stellten diese anderen immer, ihre Art zu leben, wie sie es gewohnt waren, in Frage. Sie fürchteten sich auch sonst vor allem Unbekannten, dem sie magische Kräfte zuschrieben. Alles Hokuspokus und dummes Zeug, dachte der König, ließ in den Schulen darüber aufklären, was jedoch nicht den Aberglauben verminderte sondern nur viele neue abstruse Formen davon gebar, als kämen aus jedem abgeschlagenen Kopf der Hydra des Volksglaubens gleich vier neue.

Aufklärung konnte nicht diktiert oder angeordnet werden, sie erforderte logisch selbständiges Denken. Befreien konnte sich danach nur, wer sich aus der also selbstverschuldeten Unmündigkeit befreite, wobei letzteres die Unfähigkeit selbständig zu denken meint, was selbstverschuldet war, sofern es nicht auf Dummheit beruht, das Richtige zu erkennen. Sie wusste es genau und glaubte nicht daran, dass ein Strafprozess die Menschen zum selbständigen und kritischen Denken brachte.

Wenn sie irgendwo in Frieden leben wollte, musste sie den Hass überwinden und den Menschen helfen, ihre Vorurteile los zu werden. Sie hatten Angst vor allem Fremden und ließen sich aufhetzen, dachte sie. Eigentlich hätte sie lieber ihre Ruhe gehabt, aber da das mit Menschen, die wie gewohnt lebten, nicht möglich schien, beschloss sie den Verletzten lieber zu helfen, statt sie anzuklagen.

Sie machte sich am nächsten Tag mit einem Beutel voller Kräuter, viel Salbei, Beinwurz und Ringelblume, Möhre und anderen guten Sachen auf den Weg ins Dorf. Einige erschraken, als sie die Alte auftauchen sahen, fürchteten, sie wolle nun Anzeige erstatten und sich beschweren. Doch sie ging am Rathaus vorbei ins Gasthaus und fragte die Wirtin, ob ihre Hilfe gebräucht würde, sie habe gehört, es hätten sich einige letzte Nacht schwer verbrannt.

“Was wollt ihr?”, platzte die völlig verwirrte Wirtin heraus, die von den Männern gehört hatte, sie hätten mit ihr gekämpft und sie hätte sie wie ein Drachen mit Feuer bespuckt und dann hätten sie fliehen müssen und drei hätte es eben erwischt.
“Helfen, ich denke diese Männer brauchen Hilfe und kaum einer wird sich ins königliche Krankenhaus trauen, um Fragen zu vermeiden.”
“Aber …”, mehr brachte die Wirtin nicht mehr heraus, als der Bürgermeister und der Förster den Schankraum betraten und sie freundlich begrüßten.

Sie erklärte nochmal, was sie wolle und die beiden Männer ahnten schon, was passiert war. Die Wirtin aber, die sich wieder vom ersten Schrecken erholt hatte, keifte von hinten, “sagt ihr nichts, sie will sie vergiften und sich rächen.”

Damit hatte sie nicht nur offenbart, dass sie wusste, was vor sich ging, sondern auch gezeigt, wo das Problem lag. Die Alte sah zu der rasende Wirtin, die plötzlich merkte, dass alle sie anstarrten, als sei sie verrückt geworden, begriff irgendwie, dass sie sich verraten hatte, warum sie sich auf den Mund schlug und den Kopf gegen einen Pfosten stieß, der Verzweiflung nahe war.

“Wollte ich mich rächen, könnte ich alle, die letzte Nacht mein Haus angesteckt haben, anzeigen und der König würde ihnen den Prozess wegen Mordes machen. Aber das kenne ich schon, die Gerichte in diesem Reich arbeiten zuverlässig, alle Beteiligten, die Anstifterinnen eingeschlossen, würden bestraft und auf Mord steht  lebenslänglich...”

Sie machte eine kleine Pause, sah die Wirtin an, die immer noch den etwas wahnsinnigen Blick hatte, voller Hass und Angst, aber zuzuhören schien, wie gebannt wirkte.

“Möchte aber nur in Frieden dort leben mit meinen Kräutern, züchten und forschen, darum suche ich keine Rache sondern biete meine Hilfe an. Die können sie nun annehmen oder nicht, wenn nicht, werden sie zum Arzt gehen müssen, die Ärzte müssen solche Unfälle melden, irgendein Polizist wird schon was merken und dann ermitteln die königlichen Beamten, bis sie die Spur finden und so dilettantisch wie es ablief und so aufgeregt, wie alle noch sind, wird es nicht lange dauern, bis sie die Täter haben und dürfte ich dann vor Gericht lügen Herr Bürgermeister?”
“Nein, natürlich nicht, sie wären ja Zeugin, nicht Angeklagte, sie dürften nichts als die Wahrheit sagen.”
“Löge ich, machte ich mich strafbar, aber da ich weder lügen müssen, noch mich mit jemandem streiten will, sondern in Frieden leben möchte, biete ich ihnen darum meine Hilfe an.”
“Aber warum wollen sie denen jetzt helfen, die, die …”, die Wirtin stotterte und sah verwirrt in die Runde - sie war etwas überfordert, verstand nicht, was die  Alte wollte und fürchtete sich doch vor ihr, auch wenn sie gerade das Gegenteil verkündete.

“Das klingt sehr gut und wir nehmen jede Hilfe dankbar an, doch die Täter müssen dennoch bestraft werden. Solches Handeln ist mörderisch und das können wir nicht hinnehmen. Rufe jetzt unseren Polizisten und werde Anzeige gegen Unbekannt stellen, auch wenn ich so eine Ahnung habe, wer dahinter steckt.”, sprach der Bürgermeister und sah die Wirtin mit wütendem Blick an.
“Ach sparen sie sich das, genau das will ich nicht. Sie sind bestraft genug mit ihren Verbrennungen, ihrer Angst und ihren Vorurteilen. Wenn ich künftig meine Ruhe will und nicht ständig Wachposten vor meinem Haus sitzen wollen, muss ich ihnen die Angst nehmen und ihnen die Hand zur Hilfe leisten.”
“Das klingt sehr vernünftig”, mischte sich der Förster ein, der auch genau wusste, wer da wohl gestern losgezogen war, “wer sich in der Not hilft, braucht sich nicht mehr zu fürchten.”
“Das gibt es doch nur im Märchen”, mischte sich die misstrauische Wirtin ein, “sie wird sich rächen wollen, warum sollte ein Mensch seinen Feinden helfen wollen?”
“Weil sie ihre Ruhe und Frieden möchte und die Dummheit der anderen schon kennt”, entgegnete ihr der Oberförster, den die Vorurteile der Wirtin ärgerten.
“Was sagen sie Herr Bürgermeister?”, fragte mit klagendem Blick die Wirtin.
“Finde es sehr vernünftig, was mein Freund hier vorschlägt, halte mich aber lieber raus, weil ich als Teil der Staatsmacht sonst zum Handeln verpflichtet bin, betrachten sie mich als unbeteiligten Zuschauer, ich weiß von nichts.”
“Und wenn sie nicht mitmachen sie wegschicken, wird der Staat dann ermitteln?”, ängstlich schaute ihn die Wirtin an, die langsam ahnte, was auf sie und ihre Freunde zukam.
“Wo die Gefahr besteht, dass eine unschuldige Bürgerin getötet wird, muss der Staat sie schützen. Solcher Schutz ist aufwendig und kostet viel Geld. Dies müssten wir bei der königlichen Kasse beantragen…”
“Dann erführe der König davon und alle, die mit dabei waren, würden schwer bestraft…”
“Nicht nur die Verbrannten, auch ihre Anstifter und die geistigen Brandstifter, würden wie solche bestraft, müssten lange ins Gefängnis, damit die Gerechtigkeit ihren Lauf nimmt.”
“Sie meinen, auch solche, die nur geredet haben?”,  fragte mit zitternder Stimme die Wirtin.
“Das sind die gefährlichsten”, sagte der Bürgermeister mit ganz amtlicher Stimme, “ich würde mich persönlich darum kümmern und gleich hier damit anfangen.”

Da brach die Wirtin in Tränen aus und unter ihrer Angst und ihrem schlechten Gewissen zusammen. Sie wusste, dass Förster und Bürgermeister gehört hatten, wie sie die Männer aufhetzte.

“Es war doch alles nur wegen Klara..”, begann sie unter Tränen und schluchzend und keiner glaubte noch, sie könne diese Angst spielen, “dem Kind, naja, sie wissen schon, wir hatten Angst weil es doch so oft passierte und immer dann.”
“Wie oft ist es passiert?”
“Klara und” - sie machte eine Pause und dachte sichtbar nach - “zwei Jahr davor Hilde die Bäckersfrau.”
“Bei der alle sich fragten, wie der Alte sie noch geschwängert haben soll”, entgegnete der Förster mit einem Zwinkern.
“Zweimal in den letzten fünf Jahren, was weit unter dem Durchschnitt  unseres Landes liegt”, ergänzte der Bürgermeister sehr korrekt und schaute sich dabei mit seinem Freund dem Förster an und sie zwinkerten sich zu, ohne dass es sichtbar zu wurde.

“Was soll passiert sein und was hat das mit mir zu tun?”, fragte die Alte, die sich nie um Gerüchte gekümmert hatte.
“Das kann die Wirtin wohl am besten beantworten, die kennt ja die Gerüchte im Dorf aus erster Quelle”, behielt der Bürgermeister seine formal korrekte juristische Sprache bei, auch wenn der ironische Treffer, den er damit landete, viel mehr über seine großen Fähigkeiten auch als Psychologe offenbarte.”

Die Wirtin wehrte sich noch, winkte ab, aber Förster und Bürgermeister bestanden darauf. Sie sollte es der Alten erklären. Mit hochrotem Kopf und vor Angst zitternder Stimme, dier aber Lockerheit spielen wollte, begann sie.

“Naja, so Gerede halt, die haben ihre Kinder verloren und die Klara, war im Wald gewesen, bei Hilde weiß auch keiner, was wirklich war, ich weiß es auch nicht so genau, hab es nur mal gehört, man hört ja  allerhand den ganzen Tag hinterm Tresen, verstehen sie?”, stotterte die Wirtin mehr als sie sprach und wurde doch am Ende wieder ein wenig frech, versuchte sich aus der Affäre zu ziehen, als habe nicht sie diese dummen Gerüchte maßgeblich zum überkochen gebracht.

“Die einen stehen hinterm Tresen und lauschen und die anderen, erzählen vorm Tresen - manchmal ist es aber genau umgekehrt”, wies der Bürgermeister die Hetzerin in ihre Schranken. Sollte sie ruhig Angst haben, dachte er, dann lernt sie vielleicht endlich was.

“Was habe ich mit den Kindern zu tun? Warum haben sie mich nicht um Hilfe gebeten?”
“Weil sie Angst haben, vor ihnen und allem was neu und unbekannt ist, voller Vorurteile sind und lieber jemanden umbringen, statt in Ruhe nachzudenken”, stieß der Förster wütend hervor und blitzte die Wirtin an.
“Ach es waren so dumme Gerüchte, die Leute reden halt manchmal, aber sie sind nicht böse”, versucht die Wirtin Land zu gewinnen und schaut die Alte als Frau vertrauensvoll an, reicht ihr die Hand, “niemand wollte sie umbringen”.

“Wer Nachts ein Haus ansteckt, in dem er schlafende Personen vermutet, die das Feuer töten könnte, handelt mindestens mit Eventualvorsatz zur Tötung, bedenke ich, wie hier im Haus noch gestern gegen die böse Alte im Wald gehetzt wurde, würde ich Anklage wegen Mordes erheben und stattgeben”, spielte der Bürgermeister seine Rolle perfekt, denn auch er wollte die Dinge lieber friedlich regeln, statt eine Hälfte seines Dorfes für viele Jahre in Festungshaft zu schicken, was er eigentlich müsste nach seinem gesetzlichen Auftrag.

“Neeein”, schrie die Wirtin unter Tränen, “ich wollte nie jemanden töten, ich bin nicht böse, es war doch nur Angst, vielleicht waren wir alle dumm”.
“Nicht nur vielleicht”, warf der Förster fast grinsend ein.
“Scheint mir sehr menschlich und kenne ich von vielen Orten, die Menschen haben Angst vor mir, weil ich anders bin. Wenn etwas passiert, sind alle die anders sind, immer die ersten Opfer. Früher waren es die Hexen oder die Juden. Heute sind es die Obdachlosen oder harmlose Kräuterweibchen wie ich. War schon immer so und oft spielte die Obrigkeit das böse Spiel mit, um den Zorn abzulenken. Aber ich will nur in Frieden leben, mit niemandem Streit. Frieden erreiche ich nicht, wenn ich um mein Recht kämpfe, sondern, wenn ich ihnen die Hand reiche”, hielt die Alte eine kurze Rede und nahm danach die Wirtin in den Arm.
“Kümmere mich sofort um alles, wir wollen doch alle nur in Frieden leben”, schluchzte noch ein wenig mitleidheischend die Wirtin, die aber langsam begriff, was von ihr erwartet wurde.

So nahmen die Dinge ihren guten Lauf, die Alte versorgte die Wunden ihrer plötzlich dankbaren beinahe Mörder, denen die Wirtin eingeschärft hatte, was ihnen drohte, wenn sie nicht mitmachten und der Alten vertrauten. Einige Männer aus dem Dorf kamen und reparierten die Schäden am Haus der Alten und dann ließen sich beide Seiten in Frieden, nur manchmal kam eine Frau nun zur Alten und fragte sie um Rat, wenn ihre Regel nicht kam, sie wusste mit ihren Kräutern immer Hilfe, auch wenn sie lieber half, dass die Kinder kamen, die andere sich wünschten und denen sie erklärte, wie sie es merkten und erreichten. Der Förster besuchte sie nun regelmäßig und brachte ihr Wild mit. Dann saßen sie oft stundenlang zusammen und redeten und er zog dies den Abenden im Gasthaus nun vor, wo sie sich vermutlich bald neue Gegner suchen würden.

“Sie hätten ihre Mörder leicht überführen können, sie waren so dumm diese Narren. Hätte jederzeit als Zeuge ausgesagt. Wer den Tod anderer riskiert, gehört bestraft”, provozierte der Förster sie, weniger auf der Suche nach Gründe, als um auf ein ganz anderes Thema zu kommen.
“Wären sie meine Mörder gewesen, hätte ich nichts mehr tun können. Ansonsten stimmt, das wohl, aber was hätte ich davon gehabt?”, erwiderte die Alte schulternzuckend.
“Gerechtigkeit und die Täter wären weg. Auch Sicherheit, dafür hätten wir schon gesorgt.”
“Mit Wachposten? Dummes Zeug, sicher lebt nur, wer vertrauen kann und die Herzen der Menschen gewinnt, vor allem die Frauen auf seiner Seite hat, die immer alles schneller merken als die trägen Kerle.”
“Wozu braucht es dann noch einen Staat, wenn die Frauen die Dinge besser unter sich regeln?”, wechselte der Förster dezent das Thema, war aber immer noch nicht da, wo er eigentlich hinwollte, hoffte nur der kleine Umweg machte es leichter und nicht zu durchsichtig.
“Weiß ich auch nicht, gäbe weniger Kriege vermutlich, was aber viele fürchten, vermute ich.”
“Die am Krieg verdienen oder die den Tod suchen?”
“Müssen nicht immer verschieden sein - aber sie wollen doch nicht mit mir über Politik reden, wenn sie von den  alten Geschichten anfangen, da steckt doch was anderes hinter.”
“Sie sind erstaunlich hellsichtig.”
“Nein, nur aufmerksam. Sie wollen keine politischen Weisheiten von einer alten Kräuterfrau hören. Dass wissen sie besser als ich, die so etwas schon lange nicht mehr interessiert.”
“Ihr Fall wäre gerade hochaktuell wo viele gegen Flüchtlinge hetzen wie früher gegen Juden, Hexen oder Kräuterfrauen.”
“Verstehe nichts von Politik und möchte mit Parteien nichts zu tun haben.”
“Politik geht doch jeden irgendwie an, finde ich, aber gut, wovon verstehen sie denn was?”
“Na von Kräutern, mit denen konnte ich damals auch helfen und hab ein Problem gelöst.”
“Sie meinen, es sollte sich jeder um das kümmern, wovon er etwas versteht?”
“Dabei kam immer noch das beste raus. Und nun rücken sie schon mit der Sprache raus, was gibt es?”

Der Förster fühlte sich ertappt, wollte sich aber auch nicht so schnell geschlagen geben, sondern lieber noch ein wenig abwarten, bis es sich von alleine ergab und suchte darum noch eine abstruse Ablenkung.

“Denken sie die Kräuter berühren auch die Seele eines Menschen?”
“Wollen sie jetzt spirituellen Hokuspokus von mir hören, da muss ich sie enttäuschen, ich bin eher sowas wie Biologin und forsche über Heilpflanzen, wenn auch auf eine etwas eigenwillige Art, habe mit Esoterik nichts zu tun.”
“Natürlich, wollte ihnen nicht zu nahe treten, meinte es auch eher übertragen, ob sie auch die Psyche verändern?”
“Einige ja, kommt drauf an welche, manche stärker als alle Medikamente.”
“Die Kräuter gegen die Verbrennungen haben auch den Hass beigelegt damals, die Menschen beruhigt und viele Jahre Frieden gebracht…”
“Nicht die Kräuter, die waren nur Krücken auf dem Weg zur Versöhnung. Hatten keinerlei psychogene Wirkung. Habe die Menschen nicht umgedreht, habe ihnen nur medizinisch geholfen.”

Nachdenklich schaute der Förster die Alte an, sie war nicht nur ausnehmend klug, schnell und weise, sie war auch noch ehrlich bescheiden, maßte sich nichts an, wollte nicht glänzen, sondern lieber mehr sein als scheinen. Das Urteil solcher Menschen sollte mehr Gewicht haben, als all der Großmäuler, die sich immer nur aufbliesen.

“Haben sie von den Anschlägen auf die Flüchtlinge gehört?”
“Ja, sie erzählten letzte Woche davon”, antwortete die Alte blitzschnell und der Förster bemerkte seinen Fehler, aber das war nun egal, er suchte ja nur einen Übergang.
“Was fühlten sie dabei?”
“Wie bei mir, es ändert sich nichts, nie. Die Menschen suchen immer Objekte für ihren Hass, statt glücklich zu sein.”

Jetzt war er beim Thema und konnte endlich die Frage einkreisen, die ihn schon so lange umtrieb und die sie dann zum Kern führen würde. Er hatte das Gefühl, dass sie damals irgendwie nicht ganz zufrieden war mit ihrer Hilfe.

“Wenn sie das wissen, warum wagten sie dann zu vertrauen, statt auf Sicherheit zu setzen?”
“Weil es keine Sicherheit außer im Vertrauen gibt und ich meine Ruhe und meinen Frieden wollte. Die Dinge sind ganz einfach, ich handelte aus purem Egoismus.”
“Wie hätten sie die Wirtin alleine überzeugt?”
“Ach, sie wollen gelobt werden, Männer immer, meinetwegen, haben sie toll gemacht mit ihrem Freund dem Bürgermeister, ging viel schneller als bei mir vermutlich. Druck hilft doch immer,” spottete die Alte nur für den Kenner hörbar.
“Wollte eher wissen, wie sie es als Frau gemacht hätten.”
“Weniger mit Druck, mehr mit Gefühl, langsamer und im übrigen hat sie es ja schnell verstanden und umgeschaltet.”
“Als die Angst den Hass überwand.”
“Genau unter Druck, den ich nie ausgeübt hätte, womit und wozu auch? Moralisch ist ein Entschluss nur, wenn ein Mensch so handeln will.”
“Kategorischer Imperativ und die Grundsätze der Aufklärung, ja - und genau an diesem Punkt frage ich mich, wie bringe ich Menschen zum nachdenken, die Angst vor Flüchtlingen haben, sich aufhetzen lassen, andere anzustecken und Hass verspüren?”
“Nicht mit Kräutern.”

An dieser Stelle musste der Förster laut lachen, dachte daran, wie es wäre, wenn sie den Hanfanbau freigäben und die Leute lieber friedlich bekifft wären, statt aggressiv besoffen.

“Naja es gäbe bestimmt Kräuter, die da beruhigend wirken.”
“Menschen werden im Rausch nicht anders oder vernünftiger. Es potenzieren sich nur bestimmte Dinge.”
“Aber wie erreiche ich diese Menschen, wenn es darum geht ihr Inneres zu berühren, was viele ihre Seele nennen?”
“Indem ich echt bin und das tue, was mir entspricht.”
“Was würden sie diesen wütenden Radikalen sagen?”
“Nichts, habe auch damals nicht mit der Meute geredet, hab sie machen lassen und ihnen dann geholfen. Mehr wollte und konnte ich nicht. Der Druck stammte von ihnen, sie hatten nur die Wahl, zu kooperieren oder in den Knast zu gehen, auch wenn viele erstaunlich überzeugt dennoch wirkten, sich zerknirscht gaben, war es falsch.”
“Weil sie es nicht von sich aus wollten? Hätten sie es denn selbst erkannt?”
“Ohne Selbsterkenntnis keine Moral sondern nur dummer Gehorsam. Mit Gehorsam lässt sich alles betreiben und wächst keine Verantwortung.”
“Sie meinen wir waren nicht erfolgreich?”
“Sichtbar, auf die Kräuterweiber folgten die Flüchtlinge.”
“Aber es gab auch die Willkommenskultur.”
“Naive Gegenbewegung aus Scham ohne eigene Gründe als die Dialektik.”
“Meinen sie wie beim Antifaschismus, der oft ähnlich totalitär ist wie seine Gegner?”
“Wenn sie heißes und kaltes Wasser in einen Topf schütten, ist es am Ende lauwarm und gut vermischt, machen sie es mit Feuer und Wasser, wird beides am Ende unbrauchbar sein, weil es sich nicht harmonisch mischt sondern nur kurz und heftig reagiert. Wer die Natur beobachtet, findet viele lehrreiche Beispiele. Extreme zusammen führen selten weiter, als für sich betrachtet, dafür ähneln sich die Dinge an den Polen immer mehr.”

Sie sagte, sie verstünde nichts von Politik und doch schien ihm die Alte mehr von den Dingen zu verstehen als die beiden Lager, die sich ineinander verkeilten.

“Was können wir dann tun?”, fragte sie der Förster mit echter Verzweiflung.
“Nichts, außer zum Denken anregen und das Leben zu genießen”, lachte die Alte ihn gelassen an.
“Wie soll ich genießen, wenn Hetzer die Menschen bis zum Mord treiben?”
“Solange sie leben, finden sich dafür immer Gründe, danach ist es egal.”
“Nichts tun als Antwort auf Ausschreitungen?”
“Geduld ist die erste Tugend in unruhigen Zeiten, um wieder zur Ruhe und zum Gleichgewicht zu finden. Verstehe nichts vom Staat, denke mir dessen Mühlen mahlen langsam. Wenn ich unbedingt ein Kraut finden will, übersehe ich es auf der großen Wiese voller Unruhe eher - wo ich den Dingen ihren Lauf lasse, ergibt es sich und das Bessere setzt sich durch in der Natur, war schon immer ihr Lauf.”
“Dachte es ist das Stärkere, was nach Darwin siegt…”
“Was ist Stärke in der Natur? Reine Kraft, siegt der dumpfe blonde Hüne immer gegen den kleinen aber klugen David, der ihm eine Falle stellt?”
“Intelligenz kann wohl auch eine Stärke sein…”
“Sonst hätten Menschen gegen Elefanten und Wale oder Grizzlys keine Chance.”
“Auf die Zeit vertrauen, statt die Großmäuler fürchten, nicht mit ihnen konkurrieren wollen, sondern auf Intelligenz vertrauen und den Anspruch heben?”
“Schiene mir der menschlichere Weg. Kostet nur Zeit und Ruhe. Dann geht es nicht darum, schnell ein Ziel zu erreichen, sondern in Ruhe zu genießen, was ist.”

Sie kam zum gleichen Ergebnis wie der Mönch des Königs, der auch eher dazu riet, die Dinge laufen zu lassen, bis die Menschen selbst merken, dass sie auf dem Holzweg sind oder wo die Freiheit liegt. Freiheit könne nie unter Zwang vermittelt werden, außer dem Anschein nach.

“Lassen wir die Politik…”, beginnt der Förster etwas zu gönnerhaft.
“Besser so, ich verstehe nichts davon”, schneidet ihm die Alte darum das Wort ab.
“Scheint mir schon so. Wenn es keine Seele gibt, wo sitzt die Verantwortung dann?”
“Die Kartographie ist müßig dachte ich, sie könnte überall sitzen, wo Bewusstsein ist und Menschen Entscheidungen treffen.”
“Nur im Gehirn?”
“Welcher Ort spielt bei bewussten Entscheidungen sonst eine Rolle? Die triebhaften Hormone etwa?”
“Das Herz spielt keine Rolle dabei?”
“Weniger als bei der Liebe vermutlich. Verantwortung ist eine bewusste Entscheidung. Wo das Bewusstsein sitzt, dass uns entscheiden lässt, ist die Moral zuhause. Verstehe aber nichts von Neurologie, kenne nur Kräuter.”
“Wenn ich aus Liebe eine Verantwortung übernehme, dann spielt doch das Gefühl eine große Rolle, oder nicht?”
“Bestimmt auf dem Weg zur Entscheidung, wenn ich aber Verantwortung übernehmen will, warum auch immer, tue ich das bewusst, dazu braucht es, glaube ich hauptsächlich Hirn. Warum die bewusste Liebe nicht im Hirn sitzen soll, habe ich noch nicht verstanden, können sie mir das erklären und was sie sich da denken?”

Der Förster winkte ab, er war ja auch kein Neurologe und hatte keine Ahnung. Und eigentlich dachte er wie sie. 

“Aber ist es wichtig, für eine Entscheidung, wo sie gefällt wird, um sie als moralisch oder nicht zu bewerten?”
“Glaub ich nicht, ich weiß ja vom wo fast nichts und muss auch gar nichts darüber wissen, um moralisch nach meinem Gewissen richtig zu handeln. Gut sein hängt nicht am Ort der Erzeugung.
“Könnten dann auch  Tiere oder Pflanzen ein Bewusstsein haben und moralisch handeln?”
“Steht in keinem Zusammenhang mit der vorigen Antwort, aber klar, warum nicht? Es gibt viele Beispiele aus der Praxis, die es belegen. Wir leugnen es lieber, um uns abzugrenzen, darum meinen einige Vegetarier sie sein moralischer, doch sehe ich in der Natur keinen Grund für diese Unterscheidung.”
“Cogito ergo sum?”
“Descartes ich denke also bin ich, finde ich zu beschränkt - Menschen sind auch noch welche, wenn sie gerade bewusstlos sind oder träumen oder triebhaft nicht mehr denken.”
“Keine Zweifel am Sein?”
“Sicher viele, was weiß ich schon ich altes Kräuterweib? Doch was zählt, außer was mich glücklich macht?”
“Aber die Gewissheit über das Sein, kann es doch nur geben, wenn ich bejahe, dass ich es bin, der denkt.”
“Gewissheit kann auch empfunden werden. Vermute, es braucht Bewusstsein dazu, doch wo sind wir unseres Seins intensiver bewusst, als wo wir tief fühlen?”
“Sie meinen mehr als Denken, auch Fühlen sei mit umfasst vom Sein?”
“Ach sind sie nicht mehr, wenn sie fühlen?”

Die Frage war verblüffend einfach und sie stellte sie mit einer solchen Ernsthaftigkeit, dass er nicht mehr laut lachen musste. Sie sprach nur über die Dinge der Natur, von nichts sonst verstand sie etwas, betonte sie immer und ließ doch ganz nebenbei ganze Welten der Philosophie einstürzen in einfachen Fragen aus der Natur.

“Aber Sein aus Bewusstsein zu begründen scheint ihnen nicht zweifelhaft?”
“Die alte Kritik an Descartes, die schon Kant vorbrachte, ist langweilig, finde ich. Es ist auch die Frage des Höhlengleichnisses, ja. Aber sie ist für mein Glück völlig irrelevant.”
“Was zählt denn dann noch?”
“Es ist für mich nicht wichtig, ob die Welt wirklich so schön ist, so lange sie mir so wunderbar scheint und ich sie genießen kann.”
“Sie machen sich die Welt, wie sie ihnen gefällt?”
“Scheint mir die wichtigste Aufgabe, wenn ich das Leben genießen will. Viel Zeit bleibt ja vermutlich nicht mehr, rein rechnerisch.”
“Woher wissen sie dann, ob sie wirklich glücklich sind?”
“Merken sie nicht, wenn sie glücklich sind?”
“Doch natürlich, aber wenn alles nur eine Illusion wäre?”
“Wäre mir das egal, solange ich glücklich damit bin.”
“Keine Verpflichtung zur Wahrheit als Wissenschaftlerin?”
“Warum lebe ich als einfaches Kräuterweib und habe keinen Lehrstuhl?
“Aber wenn Sein und Illusion im Bewusstsein verschwimmen und ich gar nicht mehr weiß, was ich wirklich bin, wie kann ich dann damit glücklich sein?
“Zweifellos, wenn ich es will.”

Zweifellos hieß ohne jeden Zweifel und diesen hob sie durch den bloßen Willen glücklich zu sein, mit dem was ihr gefiel auf - ein ganz kurzer Satz, stellte alte Psychologie und große Teile der Philosophie völlig auf den Kopf, auch der dialektische Materialismus wurde plötzlich albern.

“Braucht es dazu nicht den anderen, ein Echo, den sozialen Kontakt?”
“Schauen sie mich an, die Eremitin, von der Uni in den Wald - mir fehlt nichts.”
“Und wenn sie morgen sterben und keiner ihre Gedanken kennt?”
“Wenn ich nicht mehr bin, stört mich noch weniger, nämlich nichts mehr.”
“Meinen sie, die Menschen könnten von ihnen lernen, wie mit Gegnern umzugehen ist?”
“Habe ja nichts geleistet, außer zu kommen, der Rest folgte ihrem hilfreich gemeinten Druck - erkennen kann nur, wer es will, moralisch handelt nur, wer es aus sich heraus ist, aus der moralischen Unmündigkeit der Befehlsempfänger, kann sich jeder nur selbst befreien.”

Der Vorwurf saß, er hatte es schon damals ihrem Gesicht angesehen, sie hätte sich lieber Zeit gelassen und sie hatten ihr das Spiel aus der Hand genommen. Er bewunderte sie und wollt es ihr sagen, verunglückte dabei aber leider etwas peinlich.

“Sie sind die erste Frau, die ich kennenlerne, welche so streng logisch und konsequent denkt.”
“Logik hat kein Geschlecht, unser Verhalten miteinander schon. Wir aber begegnen uns nicht als Mann und Frau.”
“Ist das erstrebenswert?”
“Es ist Natur, ich bin zu alt und darum ist es gut so.”
“Kein ewiger Kampf der Geschlechter?”
“Wozu, ich lebe im Wald und bin so frei, wie ich es will.”
“Ist es erstrebenswerter nach der Natur zu leben oder mitten in der Kultur?”
“Wäre das Leben nicht mit weniger Dialektik manchmal harmonischer?”
“Sie meinen, es muss sich nichts ausschließen?”
“Ergänzen ist ein schönes Wort aus der Natur der Sache.”
“Aber was bin ich dann und was zählt?”
“Was weiß ich schon? Solange wir jeweils damit glücklich sind ist mir der Rest egal.”

Und wenn sie nicht gestorben sind, befragt der Förster noch bis heute die Alte nach Gründen und Abgründen des Seins, als wäre es kein Märchen nur, dass Toleranz den Hass durch Vernunft überwinden kann.
jens tuengerthal 6.2.2017