Freitag, 6. Januar 2017

Gretasophie 006c

006c Warum machen wichtiger ist

Nach vielen Worten über die Theorie und Geschichte der Kunst nun ein Plädoyer für das Machen, auf das es ankommt, damit ein Kunstwerk entsteht. Es kann sich jeder Künstler nennen, der etwas Kreatives macht. In der Gesellschaft werden aber meist nur diejenigen so genannt, die versuchen, davon zu leben und damit zu überleben, was viel weniger sind, als tatsächlich täglich kreativ tätig werden.

Ist es gut eine solche Grenze zu ziehen oder sollten wir den Begriff Künstler weiter sehen wie den der Kunst längst?

Kunst braucht keine Grenzen sondern Freiheit. Ob ich damit überleben kann, ist eine rein soziale und ökonomische Frage, ohne Bedeutung für das, was Kunst ist und wie sich ein Künstler versteht.

Manchmal nennen wir kreative Menschen in der Umgangssprache Künstler, um sie zu loben, auch wenn sie sich selbst nie so sehen. Betrachte ich meinen Vater sehe ich einen Künstler in ihm, vor all dem anderen, was er in seinem Leben noch alles war, auch vor seinem Beruf, der seine Berufung war, ein Arzt zu sein. Weiß nicht, ob er mit dieser Sicht einverstanden wäre, sie als Kompliment oder eher als despektierlich empfände, ist für meine Sicht auf ihn als Künstler auch nicht wichtig. Er hat nie von seiner Kunst gelebt, aber immer auch für die Kunst, die er auf vielfältige Art liebt. Vom Naturforscher zum Maler und Fotografen beschäftigt ihn das Abbild der Dinge auch noch im Alter mehr als viele Menschen je. Wichtiger aber für mein Urteil ist, was er tut, wenn er kreativ tätig ist, von der Küche bis zur Staffelei, tut er es mit kreativer Leidenschaft - Erkundung und Schöpfung haben ihn immer fasziniert und tun es bis heute, glaube ich. Mir fällt spontan nichts ein, was ihn nicht einmal interessiert hätte und was nicht irgendwie auch Einfluss auf seine Kunst hatte, wenn er sich dieser hingab. Vielleicht gibt es ein gewisses Defizit bei zeitgenössischer Popmusik und dem Starkult aber diese kleinen Ausreißer machen wieder menschlich - wer will schon alles wissen?

Bin da viel beschränkter und schotte mich teilweise richtig ab von Einflüssen, damit meine Worte und Gedanken genug Freiraum habe und zu meiner Kunst werden können. Dies im Bewusstsein meiner von der Natur aus geringeren Fähigkeiten, die mich nur in meinem beschränkten Horizont das zu erkennen versuchen lassen, was mich gerade beschäftigt. Weiß nicht, ob das daran liegt, dass ich eher ein Muttersohn bin und sie eine große Leserin immer war.

Es sind verschiedene Herangehensweisen. Der eine geht immer mit offenen Augen durch die Welt, hält das Auto mitten auf der Straße an, weil  er eine Orchidee entdeckt oder eine andere Besonderheit vermutet. Andere, wie ich vermutlich, haben mehr Scheuklappen, fokussieren ihren Blick auf bestimmte Gebiete, um sie ganz zu verstehen und dort zu wirken, wo sie suchen.

Wünschte mir mein Vater würde nun mehr malen oder andere seiner kreativen Interessen noch verfolgen, statt sich weiter auf allen Feldern zu verausgaben, die ihm begegnen - aber er ist genau darum der Künstler, der er ist, weil er so vielfältig neugierig ist, während ich in den Grenzen meiner Möglichkeiten einen eigenen kreativen Weg suche, der um die immer gleichen Fragen kreist von der Philosophie bis zur Liebe und Lust.

Wir sind beide unserem Wesen nach kreativ, weil wir den Drang etwas zu schöpfen, in uns fühlen, auch wenn wir es auf gänzlich unterschiedliche Weise tun und auch im Wesen uns in manchem unterscheiden. Beide sind wir Euphoriker, die sich gern begeistern und am liebsten alle Welt mit ihren Ideen beglücken wollen, um dafür gelobt zu werden.

Es ist nicht wichtig, ob wir uns Grenzen ziehen, um kreativ sein zu können oder grenzenlos sind, dem Wesen nach, entscheidend ist nach meiner Überzeugung der Drang, etwas zu schaffen - sei es ein Bild, was mir leider überhaupt nicht liegt und wo ich völlig unbegabt bin, oder Musik, wo ich, wenn das möglich ist, noch weniger Talent habe, oder in Worten, die mir nicht völlig fremd zumindest sind.

Verreise nicht gerne und will nicht die Welt sehen, sollen gerne andere tun, halte es lieber mit Kant und denke über die Welt nach. Manche reisen mehr außen, andere mehr innen, was nun verdächtig esoterisch klingt, obwohl es mir so fern liegt, in den Dingen einen Grund zu suchen, nach einem Sinn zu fragen oder mich für höhere Erkenntnisse der Eingeweihten einzusetzen.

Ganz im Gegensatz dazu mein Vater, der gern die ganze Welt und alles sehen will. Sich für die Kulturen der Länder begeistert, die er bereiste. Als auch Naturwissenschaftler lehnte er zwar den Hokuspokus wie ich als Aufklärer ab, aber lernte ihn dennoch, wie ich auch, näher kennen. Er betrachtet diese Dinge mit Respekt und Abstand, während ich sie eher geringschätzig sehe, vor allem ihrer Neigung die Freiheit zu beschränken wegen.

Ist er darum tolerant und ich intolerant oder ist mir nur die Freiheit wichtiger, auf der erst Toleranz aufbaut?

Weiß es nicht und denke inzwischen, manches muss nicht mehr diskutiert werden, wenn jeder nach seiner Fasson glücklich werden kann.

Wo fängt das Machen der Kunst an, frage ich mich nun und denke, der kreative Akt beginnt immer im Kopf. Manche sagen auch, sie denken nicht viel, wenn sie sich vor eine Leinwand stellen oder ans Klavier setzen, dann fließt es von alleine. Beim Dichter beginnt alles im Kopf und mit den Händen hält er nur die Feder oder drückt heute die Tasten, um die Gedanken aufzuschreiben.

Dennoch ist der kreative Akt beim Dichten kein klar gedanklicher, es ist kein Ringen um Worte in der Vernunft, das auch, gerade später, wenn ich mit dem umgehen will, was ich schrieb, aber die Schöpfung ist zutiefst intuitiv. Erspüre die Worte und lasse sie fließen, schreibe ich hierhin und widerspreche damit auch meiner eigenen Überzeugung vom Menschen als vernunftgesteuertes Wesen.

Beim Machen finde ich es wichtig, der Intuition zu folgen, die ich später bedenken und interpretieren kann, die aber als Akt erstmal etwas mir unergründliches hat. Überlasse mich dabei meinem Instinkt quasi, der natürlich durch alles, was ich mal las, mit geformt ist, wie meine Anlagen und meine Erziehung darauf Einfluss haben. Doch spielen die Gründe der unüberschaubar vielen Einflüsse keine Rolle bei der Schöpfung, die einfach ohne weitere Fragen von Innen kommt.

Manche Jünger der Psychoanalyse würden nun vom Unterbewusstsein sprechen, das mich dabei leitet. Gläubige wohl eher von der Tiefe der Seele, die mich führt. Beides liegt mir fern. Bin Mensch, weil ich bewusst handele. Alles darüber hinaus, ist für mich, wenn ich frei sein will irrelevant. Nähme ich ein Unterbewusstsein an oder glaubte an eine gar unsterbliche Seele, wäre ich nicht mehr frei. Unfrei aber könnte ich weder lieben noch kreativ sein. Wie andere, die dem Glauben an Unterbewusstsein oder Seele anhängen, ihre Freiheit begründen, weiß ich nicht. Für mich könnte das nicht gehen und ich nehme den kreativen Akt als ein Ding an sich, der zu meiner Natur gehört und sich aus der Vielzahl der Einflüsse speist, die mich ausmachen und die ich mit meinen beschränkten Möglichkeiten nie überschauen kann, ohne ihn Seele oder Unterbewusstsein zu nennen und ihm damit Grenzen im Sinne der Gemeinschaft zu ziehen.

Die Freiheit im Geist ist mir wichtig, um kreativ zu sein. Sie ist die Voraussetzung eigentlich dafür. Vielleicht ziehe ich meinen beschränkten Fähigkeiten entsprechend auch so enge Grenzen für meine Kreativität in bestimmten Bereichen, um in diesen grenzenlos sein zu können, statt nirgendwo ganz und überall ein wenig nur zu sein. Darum lehne ich ein Unterbewusstsein als Modell ab und respektiere nur die Komplexität, die meine Erkenntnisse übersteigt als Faktor, der mich beeinflusst.

Das Unterbewusstsein als geglaubtes Modell ähnelt dem Bild der Seele der Kirchen zuvor und gibt denjenigen, die uns mit ihrer je Methode Zugang dazu verschaffen, Macht über uns. Diese gleicht der Macht der Kirchen über das Seelenheil der Gläubigen. Mit der Abnahme des Glaubens und der Stärke ihrer geistigen Kontrolle in einem unsichtbaren Bereich, braucht es ein neues Modell, das uns gewiss erschien und den Kontrolleuren mit ihren Deutungen Möglichkeit gab, Einfluss auf uns in ihrem Sinne zu nehmen.

Unterstelle Sigmund Freud keinen bösen Willen bei diesem Schöpfungsakt. Er war vielmehr von dem Wunsch getrieben, Menschen mit psychischen Problemen als Arzt zu helfen, indem er dem Problemen mit naturwissenschaftlichen Denken analytisch auf dem Grund ging. Dennoch war er ein Kind seiner Zeit und schuf entsprechende normative Schemen, wie sie auch dem medizinischen Denken entsprechen, das den Menschen als Maschine betrachtet, deren Funktionalität gesichert werden soll.

In dem Moment, in dem ich eine neue erdachte Größe als Fiktion der Lösung der Probleme einführe, werde ich unfrei und alle, die diesem Schema folgen mit. Wer aber unfrei ist, also in Schemen reagiert, kann nicht von sich aus kreativ sein, scheint mir. Es mag für andere Menschen anders sein, die in ihrem Glauben an Unterbewusstsein oder Seele dennoch völlige künstlerische Freiheit fühlen, ich kann das nicht und verstehe auch nicht, wie es gehen soll.

Vor dem kreativen Akt und meinem Verständnis als Künstler stand darum für mich der Akt der Befreiung. Um kreativ sein zu können, warf ich Seele, Aberglaube und die vermeintliche Wissenschaft vom Unterbewusstsein genauso über Bord wie das Wisse in Astrologie oder sonstigem Hokuspokus. Auch das sehen viele anders und die große Kunstproduktion für Kirchen zu allen Zeiten, belegt es anschaulich. Verstehen muss ich es nicht und kann auch die Kunst dieser Künstler rückhaltlos bewundern, ohne ihnen absprechen zu wollen, ein solcher zu sein, nur weil es für mich keine Kreativität ohne Freiheit geben kann.

Freiheit heißt für mich, selbstbestimmt zu sein und davon auszugehen, dass die Entscheidungen, die ich treffe und was ich tue, aus mir kommt, meine Person ausdrückt. Es ist dabei für mich völlig irrelevant, ob ich in einer Höhle sitze und die Welt mir nur als Schatten ihrer selbst auf der Wand erscheint, oder ich tatsächlich weiß, wie es wirklich ist. Einzig die Überzeugung, frei zu sein, zählt für mich, um es zu sein. Dabei ist auch egal, wie weit meine neuronalen Netzwerke bereits genetisch programmiert wurden und ich dementsprechend nur handle, da es genügt, den Entschluss zu fassen, frei zu sein, es zu bleiben.

Ausdruck findet diese Freiheit auch und gerade in der Fähigkeit allein über mein Leben zu entscheiden. Kann es beenden, wenn ich es will, weil ich frei bin und darin zeigt sich meine totale Herrschaft über meine Existenz, die mit dem Tod endet. Danach kommt nichts mehr, von dem wir wissen können und jede weitere Spekulation ist für mich müßig, weil sie  logisch unfrei macht.

Unfrei macht der Glaube an ein Leben nach dem Tod oder eine unsterbliche Seele für mich logisch, weil es dann nicht mehr in meiner Macht steht, über mein Leben zu entscheiden. Zwar steht es nicht immer allein in unserer Hand, zu entscheiden wann und wie wir sterben, dazu haben zu komplexe Faktoren darauf auch Einfluss, aber die Chance, dies entscheiden zu können und damit meine Existenz absolut zu beenden, belegt die absolute Freiheit für mich ausreichend.

Dies ist kein Plädoyer für den Freitod, im Gegenteil, finde eher, wir sollten das Leben wann auch immer, so sehr wie nur möglich genießen. Jeden Moment auskosten. Aber immer ohne jede Furcht vor dem Tod, der uns nichts angeht, weil, wenn er da ist, wir nicht mehr da sind und solange wir da sind, dieser nicht da ist.

In den also viel engeren Grenzen als denen der Gläubigen, deren Seelen in ein Himmelreich oder die Hölle geglaubt wandern, auch wiedergeboren werden nach anderem Aberglauben, will ich frei genießen, was ist. Mehr kann ich nicht, womit wir wieder bei obiger Beschränkung wären, als das zu genießen, was ich erkenne und gut finde. Ob es eine Welt jenseits meines Bewusstseins gibt, ist für mich, wenn ich frei genießen will, was ist, völlig  egal.

Jede Behauptung von etwas über dem, was ich erkennen kann, macht mich unfrei, weil es außerhalb meines Einflusses liegt.  Mit Max Stirner und seinem Einzigen, dem einzig wirklich großen und undogmatischen Junghegelianer, sage ich darum, ich habe meine Welt auf mich gestellt, außer mir ist nichts in der Welt, weil, was ich nicht wissen kann, für mich ohne jede Relevanz ist.

Dieser kurze Ausflug zur Freiheit war hier nötig, um den kreativen Akt, wie ich ihn verstehe, zu erklären. Er ist Ausdruck von Freiheit für mich. Lasse ihn als solchen entstehen, ohne einer geaberglaubten Seele oder einem erdachten Unterbewusstsein dabei Macht über mich zu geben, sondern betrachte ihn als originären Ausdruck meiner Person, auch wenn ich angesichts der Komplexität aller Dinge im Sinne der Chaostheorie, nicht weiß, in was allem er kausal begründet ist.

So nehme ich ihn und genieße die schöpferische Freiheit, aus ihm zu formen, was mir an Kunst entspricht. Das ist häufig, wie hier mal wieder gut lesbar, ziemlich verkopft, aber zugleich auch immer spontan kreativ von einem aufklärerischen Geist geleitet, der die Welt nach seinem Bild gestalten will. Dies ist der Akt, den Goethes Prometheus im Widerstand zu den Göttern, die er nicht mehr glaubt, so mutig in die Welt ruft, der auch seine Welt auf sich gestellt hat und unter der Sonne nichts ärmeres kennt als die Götter, die nur kümmerlich ihre Majestät von Opferhauch und Gebetsgaben nähren und nichts wären, gäbe es nicht die hoffnungsvollen Toren. Hier treffen sich Goethe und Stirner, auch wenn der spätere Geheimrat wohl manches mal die Stirn über sein Sturm und Drang Werk noch runzelte, aus dem ich hier zitierte.

Dieses Prinzip, was ich gerne, weil es so wunderbar klingt, Pippi-Langstrumpf-Prinzip nenne, ist die Grundlage des Konstruktivismus auch. Jene weibliche Hauptfigur aus den wunderbaren Büchern von Astrid Lindgren sang, “Ich mach mir die Welt, wie sie mir gefällt”. Das ist für mich kreativ tätig sein und so betrachte ich die Welt dabei. Wäre ich dazu nicht frei von einer Seele oder sonstigem jenseitigen Aberglauben, ignorierte ich nicht den scheinbar wissenschaftlichen Glauben an das Unterbewusstsein, wäre es nie meine Welt und diese nie so, wie sie mir gefällt, sondern immer nur ein sekundär abgeleitetes Produkt, das andere bräuchte, um zu sein und also logisch immer unfrei bliebe.

Der Konstruktivismus, der uns die Welt nach unserem Bild gestalten lässt, ist eine Haltung, die meiner kreativen Freiheit total entspricht. Auf seiner Grundlage schöpfe ich und habe im Sinne des oben erwähnten Stirners, meine Welt auf mich gestellt. Handle danach zwar in den Grenzen des kategorischen Imperativs, soweit es mir möglich ist, aber genau diese völlige Gewissenfreiheit, die Kants genialer Gedanke gewährte, ist die Basis meiner Kreativität, die sich autark sieht, wie der große Königsberger es war, der am liebsten immer am Ort auch blieb. Die von mir geschaffene Welt ist Oberfläche und Maßstab meines Handelns, egal, ob sie nun real ist oder nur Produkt meiner Phantasie, sie ist genau so für mich frei und darum Basis meines kreativen Handelns.

Kann mir schwer vorstellen, wie ich unfrei noch schöpferisch tätig sein sollte. Meine damit nicht äußere Freiheit, könnte genauso gut auch im Knast schreiben, sondern die geistige Freiheit, die keine Mauer nehmen kann, weil ich meine Welt auf mich gestellt habe, in den Grenzen, wie ich sie verstehe, als ein Leben nur zwischen Geburt und Tod, dazu da genossen zu werden, mehr nicht.

Warum wer kreativ handelt, weiß ich nicht und kann nie allgemein gesagt werden nach meiner Überzeugung. Der eine mag seine Inspiration aus seinem Aberglauben ziehen, der andere fühlt sein Unterbewusstsein zu sich sprechen, wie es sein Analytiker ihn lehrte. Verstehe die anderen nicht, die in ihren Grenzen sich vermutlich so frei fühlen, wie ich in  den meinen, die andere wiederum als völlig begrenzt empfänden. Zum Glück muss ich nicht darüber entscheiden, was dabei richtig oder falsch ist, denn ich könnte es gar nicht, weil ich die anderen Sichten, ohne die große Pippi Langstrumpf Freiheit, nicht nachvollziehen kann.

Doch das schöne an der Kunst ist eben auch, dass sie uns frei lässt und jeden nach seiner Fasson, seinen Weg zum “Machen” finden lässt. Mein Vater indem er durch die Welt stromert und sie zu verstehen versucht, andere im festen Glauben gestärkt, welche in der Überzeugung die Gründe ihres Unterbewusstseins zu spiegeln und am Ende gar manche völlig ahnungslos noch genial werden lässt, weil sie dabei so authentisch sind.

Wen es zur Kunst drängt und wer kreativ sein möchte, soll es sein und ist ein Künstler. Es muss sich keiner am anderen messen, sondern mit dem, was er tut, für sich glücklich werden, um das Leben zu genießen. Mehr können wir nie, es fällt vielen in nörgelnder Unzufriedenheit mit sich und der Welt gefangen schwer, sich darauf einzulassen, den eigenen Weg zur Kunst zu finden.

Bin nach all dem, was ich über Freiheit und Kunst hier schrieb, überzeugt, jeder Mensch ist ein Künstler, auch wenn es noch nicht alle ganz genießen können. Einen Anstoß anzufangen, es zu sein, zu geben, wäre das Schönste, was dieser Text erreichen könnte. Habe bei meiner Tochter verschiedene Versuche gesehen, sich kreativ auszuprobieren und ihren Weg als Künstlerin zu finden mit allen normalen Zweifeln. Am intensivsten, fand ich ihre Lyrik, was aber daran liegen kann, dass es das einzige ist, wovon ich zufällig auch was verstehe. Freue mich darüber sehr und hoffe sie macht es immer weiter, schreibe ich hier in meiner Küche sitzend, deren Wände mit Bildern von ihr aus vielen Altersstufen gepflastert sind. Mein kleines Tochter-Museum sozusagen.

Kreativität ist Freiheit, wie immer wir zu ihr finden oder sie begründen - während ich es im Staat nötig finde, darüber zu streiten, wie wir Freiheit definieren und leben, kann ich sie in der Kunst einfach sein lassen, wie sie sein will, was für ein Glück.
jens tuengerthal 6.1.2016

Donnerstag, 5. Januar 2017

Gretasophie 006b

006b Was ist Kunst

Was Kunst ist, lässt sich mit noch so vielen Worten nicht umfassen. Es kann alles sein, was Menschen in künstlerischer Absicht produzieren. Manchmal ist es auch ein Produkt des Zufalls, den Künstler für sich nutzen oder wird erst später zu Kunst und war zuvor nur ein Gebrauchsgegenstand ohne künstlerischen Anspruch.

Alles kann leicht an den gewohnten oder bekannten Definitionen der Kunst bestritten werden, vieles können wir mit jedem künstlerischen Akt neu denken. Doch einigen können wir uns darauf, dass Kunst immer ein Kulturprodukt ist, ob es dabei Ergebnis eines menschlichen, tierischen oder automatischen kreativen Aktes ist, möchte ich nicht vorab entscheiden, um die Kunst nicht einzusperren in das Gefängnis der Definitionen

Ist der kreative Akt des Künstlers entscheidend oder kann auch die Betrachtung der Zuschauer erst die flüchtige Kunst für einen Moment zu einer machen?

Was bleibt als Werk vom Kunstfurzer zurück als warme Luft und worin unterscheidet sich diese vom Atem eines Sängers, sehen wir vom Ort der Entstehung ab?

Bildende Künstler und Dichter haben im Gegensatz zu den Musikern, die immer flüchtige Kunst schaffen, das Glück oft etwas bleibendes zu hinterlassen in Form von Bücher oder Kunstwerken aber auch das wandelt sich gerade.

Was ist mit dem Blogger, der online dichtet und seine flüchtigen Worte für Klicks vermarktet und in sozialen Netzwerken bildreich bewirbt?

Es wird gelesen und verschwindet wieder aus der täglichen Timeline, wenn es überhaupt noch angezeigt wird, manches blenden wir ja auch aus guten Gründen aus. Die nur elektronisch im virtuellen Raum irgendwo gespeicherten Buchstaben meines Werkes ruhen auf den Servern von Google, solange diese laufen, wenn das endet, verschwindet alles von mir geschriebene wieder und so bin ich literarisch quasi nur eine virtuelle Existenz.

Macht mir das nun Angst, oder gibt es mir im Gegenteil Leichtigkeit, frage ich mich, hier an einem Buch für meine Tochter schreibend, was doch etwas bleibendes werden soll, damit sie was fürs Leben hat, auch wenn ich mal nicht mehr bin, was ja  jeden Tag passieren kann oder auch erst in 50 Jahren, wer wollte das schon wissen.

Ist die Kunst, diese Flüchtigkeit der eigenen Kunst wie der eigenen Werke, die vielleicht wie die anderen auch, einige tausend noch lesen, bevor sie im Orkus des Vergessens versinken, mit Leichtigkeit zu nehmen, wahre Lebenskunst, weil dann nichts mehr schwer sein muss?

Will ich Erinnerung hinterlassen und das etwas von mir bleibt oder lieber mit Leichtigkeit spurlos verschwinden, weil ohne Spuren zu kommen und zu gehen, wahre Lebenskunst ist?

Was soll überhaupt dieser Begriff wahre Lebenskunst?

Klingt fast esoterisch schon wieder und an eine Wahrheit glaube ich so wenig, wie an die eine Kunst, das Leben zu meistern. Weiß nicht, was ich mir dabei dachte, es kam einfach und ich schrieb es hin, weil es mir würdig und passend erschien, doch sobald ich es kritisch hinterfrage, müsste ich diesen von Aberglauben und Esoterik verseuchten Blödsinn lieber streichen, streng vernünftig betrachtet.

Doch lass ich es stehen, weil es mir künstlerisch wertvoll erscheint. Nicht der wahnsinnig tolle, kreative Akt, der die Welt verändert aber doch treffend und schön. Kann es nicht ganz genau erklären, folge dabei einfach meiner Intuition. Vielleicht ist diese der entscheidende Moment beim künstlerischen Akt, der das bloße Addieren von Buchstaben dann zur Schöpfung macht, vielleicht ist es auch nur eine angemaßte Willkür, die mit Kunst nichts zu tun hat.

Es ging dabei um die Grenze zwischen Leben und Tod, was ich hinterlassen möchte in der Welt, ob ich etwas hinterlassen will oder lieber nicht. Kunst geht gerne an die Grenzen und überschreitet sie oftmals, um den Blick zu öffnen. Dann bekommt sie immer wieder Ärger mit dem Staat in Form von Zensur und ähnlichem, was auch in unserer Zeit noch nicht gänzlich verschwunden ist, sondern dank der sozialen Netzwerke und ihrer peinlichen amerikanischen Zensur aller Nacktheit eine neue Blüte feiert. Auch unser Staat zensiert noch Kunst, die dann als Pornografie diskriminiert und nur unter dem Ladentisch verkauft werden darf.

So ging es etwa mit Henry Millers Opus Pistorum, was auch nur Werk des Müllers heißt, was wegen seiner literarischen Beschreibung aller nur denkbaren sexuellen Akte, die der Erzähler mit seinem Schwanz Johnny Thursday erlebt, verboten wurde und erst Ende der 80er oder Anfang der 90er freigegeben wurde, worauf ich es sogleich im Buchhandel erstand. Es ist weder Millers bestes Werk noch sonderlich lesenswert oder literarisch spannend, es sind halt exzessive Fickgeschichten in jeder denkbaren Variante und doch würde ich dem Werk, nie seinen Kunstcharakter absprechen.

Finde Grenzen ohnehin fragwürdig und frage mich immer eher, wem sie nutzen und aus welcher beschränkten Sicht sie entspringen. Viel ist im weitesten Sinne religiös begründet und wurzelt in der aus dem Aberglauben gezogenen Moral, wie absurd diese auch immer sein mag.

Aus dem amerikanischen Protestantismus resultiert auch die Zensur bei Facebook, die Kinder vor Nacktheit verschonen will, sie aber nicht vor Gewalt verschont und radikalen Meinungen und Lügen.

Was schadet es einem Kind, das dem Schoß der Mutter entsprang, den Ursprung der Welt zu sehen, wie er eben aussieht oder Menschen beim ficken zuzusehen, was manche auch Kindermachen nennen, auch wenn das nur in den seltensten Fällen wirklich treffend ist?

Zensur ist immer Ausdruck von Dummheit und beschränkt den Horizont. Doch würde ich für die Propaganda der Islamisten, die zu Vergewaltigungen aufrufen oder ihre radikalen Sichten verbreiten, eine Ausnahme machen?

Dürfen die Lügen die Anhänger von AfD und Pegida und NPD massenhaft im Netz verbreiten, zensiert werden oder schadet jede Zensur der Demokratie?

Wenn einer die NS-Ideologie nun als Kunstwerk inszeniert, für das sich wieder Massen begeistern aus rein ästhetischen Gründen, gehörte solches Tun bestraft oder als Kunst durch die Kunstfreiheit geschützt?

Ist Zensur gegen das Böse und für das Gute zulässig und nötig in Zeiten des Internet?

Ist es dann eine Kunst, festzulegen, was gut und was böse ist?

Lehne jede Zensur und jede Beschränkung der Kunstfreiheit natürlich ab, doch manche Propaganda im Netz, die künstlerisch noch dazu gut gemacht ist, bereitet mir Sorgen, sollte hier partielle Zensur und strenges Strafrecht zur Verteidigung der Freiheit gelten?

Kann Freiheit je mit Gesetzen und Kunst mit mehr Unfreiheit verteidigt werden?

Ringe um Worte und versuche Abstand von meinen nur Meinungen zu finden und weiß doch, es gelingt mir kaum, ich bin auch Opfer meiner Ideologie, die andere in ihren gewohnten Schemen ablehnt, wie diese mich und bin dadurch auch vielfach blind.

Ist die Erkenntnis, immer irgendwo blind zu sein, das höchste, was wir erreichen können oder gibt es echte Toleranz gegenüber jeder Meinung, auch den Intoleranten?

Es gibt den berühmten Ausspruch, Toleranz den Toleranten und Intoleranz und notfalls Härte gegenüber den Intoleranten, der von einem eher konservativen ehemaligen Verfassungsrichter stammt. Danach war etwa der Umgang der Kölner Polizei mit den Nafris angemessen und richtig, zumindest erreichte er seinen Zweck und schützte dieses Jahr die Frauen, womit der Staat seine Aufgabe erfüllte. Doch wird darum dieser Spruch wahrer und besser, ist es richtig die Idioten idiotisch zu behandeln und sich also ebenfalls falsch zu  verhalten, nur weil das die Sprache ist, die sie am leichtesten verstehen?

In der Kunst bin ich für Toleranz auch gegenüber der Intoleranz mancher Künstler, die dennoch künstlerisch wertvolle Ideen umsetzen. Kunst ist ein Ventil und ein Filter für die Gedanken der Menschen, zugleich ist sie auch die Avantgarde, die vordenkt und damit den Geist lenkt und wer politisch führen will wird sie zu benutzen wissen.

Warum beurteile ich Kunst und Politik so unterschiedlich?

Michel Houellebecq ist einer, der geistig immer wieder unsere Grenzen erforscht und überschreitet. Er ist ein Franzose und Franzosen lesen ihn anders als viele Deutsche, die bei seinem letzten großen Roman, der nahezu zeitgleich mit dem Massaker in Paris erschien, überlegten, wie prophetisch er war und zwischen den Zeilen Beweise suchten, die dann die Fanatiker am rechten Rand noch stärkten.

Franzosen diskutieren diesen Autor anders, der in einer langen Tradition der Provokateure und Stars steht. Sicher gibt es auch die Fanatiker vom Front National, die stärker sind als der AfD hier je wurde, die aber selten Houellebecq diskutieren, weil sein Denken für einfache Populisten zu komplex ist, sie wissen, dass sie auf dem Glatteis, das der Denker und Autor auslegt, ausrutschen würden, einfache Formeln dort nicht greifen, weil es auf komplexe Fragen, keine einfachen Antworten gibt.

Die schlichten Geister des AfD dagegen, pressen alles in ihr Schema und lesen auch einen französischen Autor und Philosophen danach, wie es ihnen passt. Viele Deutsche mögen Menschen, die ihnen die Welt erklären und auf alles eine Antwort haben oder es besser wissen, damit sie dann folgen können und wissen, wo es lang geht, was sie von den Nachbarn im Westen unterscheidet und warum hier nach dem Krieg die Nutzung der NS Symbole verboten wurde, es erst einen Prozess der Demokratisierung und inneren Emanzipation brauchte, bevor damit tolerant und normal umgegangen werden konnte.

Frage mich manchmal, ob es sich dabei mit denen im Westen zu denen im Osten des Landes verhält, wie mit den Franzosen zu den Deutschen, aufgrund jeweils längerer demokratischer Tradition.

So gab es und gibt es hier eine gewisse Zensur, die historische Gründe hat. Dies erklärt auch warum es im politischen Kampf unter den Demokraten immer eine gewisse Zurückhaltung gab, sehen wir von der lächerlichen Stammtisch-Hoheit der CSU einmal ab, die sie immer noch behauptet und aus der mit dem AfD ausgebrochen wurde, der einer ganzen Gruppe gegenüber plötzlich Angst und Vorurteile predigte.

Bezeichnend ist im übrigen, dass der Vorwurf gegen Merkel, sie sei für die Toten vom Breitscheidplatz verantwortlich, von AfD und Wagenknecht aus der Linken kam, womit sich wieder zeigt, wie nah sich die Pole in ihren Extremen doch sind und dass beide Parteien Extremismus fördern und damit der Demokratie schaden, auch wenn die SED-Nachfolgepartei mit Oskar sich gerne links gibt und viele Künstler meinen, sie spräche ihre Sprache, ist sie eine im Kern undemokratische Organisation geblieben, die für Demokraten nicht koalitionsfähig sein sollte, warum sich die naive SPD damit ihr eigenes Grab schaufelte, in dem sie nur verlieren kann.

Kunst und links sehen viele konform, warum Künstler, die sich gegen diesen Kanon stellen, es immer schwer in den alten Netzwerken haben. Das ging Ernst Jünger so und Martin Mosebach und das ging vielen anderen bis heute ähnlich - darüber kritisch nachzudenken, könnte gut für die Demokratie sein und besser noch für die Kunst, die sich lieber häufiger hinterfragen sollte, statt so konservativ sich links aus Prinzip zu orientieren.

Es gibt auch eine rechte Kunstszene, von der Musik bis zur bildenden Kunst und Literatur, die lange einen radikalen Oppositionscharakter hatte und darum anziehend für viele  Jugendliche war und ist, besonders im Osten.

Wer die totalitär geprägte Kunst der DDR kennt, die sich von jener der NS-Zeit nur graduell leicht unterschied, wird sich wenig wundern, auf welch fruchtbaren Boden im Osten totalitäre Sprüche fallen, von ganz rechts oder ganz links, die sich beide inhaltlich so nahe sind und darum, wäre die Kunst ehrlich und frei, ihr fern liegen müsste. Aber die Kunst ist so bestechlich und käuflich wie alle Menschen, mit seltenen Ausnahmen, die sicher zu loben sind, aber doch oft genug am Existenzminimum nur irgendwie überlebend und dann für alle Gaben empfänglich und wes Geld ich hab, des Lied ich sing.

Die Kunst ist frei in der Bundesrepublik und in Europa. Sie war es nicht in der DDR, die noch dazu auch peinliche sozialistische Staatskunst auf unterstem Niveau betrieb. Warum scheinen vielen Künstlern diejenigen, die aus dieser Tradition der Unfreiheit kommen und stolz auf ihre Geschichte sind, Stasi-Mitarbeiter decken, als Garanten ihrer künstlerischen Freiheit?

Warum glauben Schauspieler und Maler dem Verein der alten Bonzen, nur weil er heute in der Opposition ist, mehr als den bewährten Demokraten?

Wie ist es um die Kunst in einem Staat bestellt, in dem die künstlerische Elite sich gern links gibt und dabei deren Totalitarismus übersieht?

Wird sich in der Ära Trump etwas entscheidend ändern und was erfahren wir von der Kunst aus Russland?

Wie sollte mit der populistischen Nutzung von Kunst und Kultur durch Linke eigentlich Radikale umgegangen werden?

Ist die Kunst noch frei, wenn sie einem Lager nahe steht und was könnte dagegen unternommen werden?

Ist Kunst nur frei, wenn sie unpolitisch ist oder ist sie natürlich politisch, wenn sie frei ist?

Denke ich an Deutschland bei der Nacht, schrieb Heine einst, denk ich an den großen Dichter aus jüdischer Familie, frage ich mich, was wäre er heute - ein Linker, der sich von den linken Radikalen bewusst fern hielt, auch ohne von seinem bösen Spott zu lassen?

Wo steht ein Martin Walser, der schlimmste antisemitische Klischees in der Paulskirche in seinem Ringen um Normalität aus Schuldgefühl wieder bediente und heute über seine Inkontinenz nur schreibt, real wie geistig?

War der SS-Mann Günter Grass, der sich erst sehr spät überhaupt erzählend an sein Leben erinnerte, der so gern das linke gute Gewissen als Vertriebener auch beschrieb, in Wirklichkeit in Rechter oder wusste er das selbst nicht mehr so genau?

Kommt es darauf an, wo ein Künstler wirklich steht, um seine Kunst zu beurteilen oder zeigt der Fall Grass, der immer mit moralischem Zeigefinger auch dichtete, die nur relative Gültigkeit aller Moral?

Hitler schätzte die Moderne und das Bauhaus von der Formgebung und vom Design, er mochte es schlicht, die Entwürfe von Speer waren durchaus modern.  Er hasste nur die Juden, die auch im Bauhaus, die Führung inne hatten und die von dort nach Buchenwald kamen vielfach. Doch wer denkt, der Führer genannte Diktator liebte Eiche rustikal und deutsche Gemütlichkeit, könnte völlig daneben liegen, wie auch die erotische Ästhetik einer Leni Riefenstahl zeigte. So wollte er die Frakturschrift ausmerzen lassen für klare moderne Lettern.

Die Kunstgeschichte und ihre Wirren, Moden und Wege, weist oft einen guten Weg auch durch die Geistesgeschichte des Menschen. Ihn sorgfältig zu betrachten, hilft besser, die Welt zu verstehen. Kunst spiegelt sehr viel und immer, wenn sie einseitig nur war, drohte Gefahr für das Gleichgewicht der Welt. Ob wir die großen Epochen nehmen, wie Mittelalter, Renaissance, Barock, Aufklärung, die Industrialisierung mit Biedermaier, Empire bis Jugendstil und als eine der letzten alles umfassenden das Bauhaus, als Aufbruch zur Moderne in der Kunst, die zwischen Funktionalität und Automatismus eine neue Rolle suchte - immer zeigt die Kunst sich als Spiegel und Avantgarde ihrer Zeit.

Darüber nachzudenken, was noch an einer Kunst dran sein kann, die staatlich alimentiert, die Nachlassverwalter eines vorgestrig, toten, totalitären Systems für ihre Vertreter halten, scheint gerade mal wieder sehr lohnend.

Wird die neue Kunst von rechts oder aus der Mitte kommen und ist, was die beamtisch alimentierten Theater noch an erwartbaren Provokationen hier produzieren, längst verwaltete Langeweile?

Wo lebt die Kunst und wann ist sie wirklich frei?

Was ist die Aufgabe der Kunst in einer Demokratie, die an ihren Rändern von Radikalen gefährdet wird?

Ist die Kunst in Deutschland längst zu Tode verwaltet worden und muss sie erst neu geboren werden, um wieder wirklich kreativ zu wirken?

Wirkte Kunst je ohne den Staat?

Was tun wir für die Freiheit der Kunst?

Fragen über Fragen, auf die ich keine Antwort geben will, die zu stellen mir aber wichtig zu sein scheint, beim Kampf um die Freiheit der Kunst und beim Ringen mit dem Begriff. Was weiß ich schon, möchte ich mal wieder mit Montaigne fragen, bin ich Künstler oder nur immer Laie, was machte micht dazu und warum eher nicht?
jens tuengerthal 5.1.2016

Mittwoch, 4. Januar 2017

Gretasophie 006a

006a Was ist schön

Was ist wirklich schön?

Oder fragte ich besser wer?

Wonach richtet sich das heute?

Im Zeitalter kosmetischer Chirurgie ist Schönheit ein machbarer Maßstab geworden. Was nicht gefällt, wird korrigiert und neu angelegt, bis es gefällt - so werden Brüste meist vergrößert, manchmal verkleinert, Nasen korrigiert, Ohren angelegt und Haare gewellt, wozu es selten eines Chirurgen bedarf, die Friseurlehre soll bei letzterem Eingriff meist genügen. Denke ich an Zonen-Gabi oder Vokuhila, fragte ich mich allerdings schon manchmal, ob nicht alle, die am Gesicht verändern, nicht einen Waffenschein bräuchten, wegen der Gefahr der Erregung öffentlichen Ärgernisses.

Waren die Schlaghose oder Hüfthosen, die jede natürliche weibliche Symmetrie völlig zerstören, jemals schön oder sind sie einfach ein Trotz der Häßlichkeit, ein Schrei nach Freiheit durch bewusste Verunstaltung wider die Natur?

Hier werde ich gewiss großen Widerspruch von den tausenden Trägerinnen der unförmigen auf den Hüften sitzenden Hosen ernten, weil ich einfach keine Ahnung von Mode hätte. Werde darum lieber gleich gestehen, von Mode verstehe ich nichts, bin ein völliger Langweiler, kleide mich meist schwarz, mit Rolli und Jeans. Aber von weiblicher Schönheit und ihren natürlichen Formen verstehe ich was, bilde ich mir ein, zumindest habe ich da einen Geschmack, von dem ich überzeugt bin und der sich lieber an der Natur als an ihrer Verschiebung erfreut.

Was finde ich dabei noch ok und wo hört es für mich auf?

Silikonbrüste überschreiten bei mir die Grenze des tolerablen. Mehrfach live erlebt und berührt, gruselig, möchte ich nie wieder erleben, es sei denn, diese sind schlicht ein nötiges Holzbein. Der Busen kann für mich so klein sein, wie er will, alles ist schöner als unecht.

Lange Fingernägel finde ich auch eher peinlich und zu viel Schminke ohnehin immer eher entstellend als verschönernd. Mag Frau lieber, wie sie ist, als zu sehr aufgedonnert. Aber blasse ungeschminkte Öko-Mäuschen übersehe ich auch eher, denke ich und frage mich, ob es für mein Gefallen einen goldenen Schnitt gibt.

Was findet Frau umgekehrt schön - die letzte große  Liebe hasste Bart an mir, wie Bart überhaupt, wobei unklar blieb aus welchen vielleicht traumatischen Gründen. Andere, eher die Mehrheit, finden es steht mir und so passt sich die Faulheit nun gerne wieder ein wenig der Mode an, ohne zu wissen, was mich schöner macht oder wirklich schön ist. Es sprießt nach Lust und Laune.

Ist die gerade Bartmode eine Huldigung der ursprünglichen Männlichkeit, geht sie zurück zu den Wurzeln und gibt uns längst politisch korrekten Sitzpinklern den Anschein wilder Männlichkeit?

Wäre es so, könnte es als ein zurück zur Natur gesehen werden, dabei würde es doch dem sich kultiviert gebenden Großstädter viel besser stehen, wenn er zeigte, wie gut er sich auch im Gesicht pflegt - doch Frau funktioniert in vielem anders, zumindest, wenn es gerade so Mode ist und Mann will ja auch gefallen. Die Leidenschaft für mit oder ohne Bart hat nach meiner Erfahrung nichts mit der sexuellen Leidenschaft der Frauen, die das eine oder andere bevorzugen zu tun. Im Gegenteil liebte gerade die Bart am Mann am meisten, die eine meiner leidenschaftslosesten Liebhaberinnen war.

Interessant ist auch die Umkehrung der Behaarungsmoden im Verhältnis im Laufe der letzen 50 Jahre. Desto mehr wilden Bart trägt, desto kahler wurden die Frauen, bis sie heute teilweise als völlige Nacktschnecken durch die Betten schleimen, was eine zugegeben etwas bissige ästhetische Bewertung dieser in meinen Augen kranken Mode ist, die der Pädophilie ästhetischen Vorschub leistet.

Umgekehrt sind nicht alle Frauen, die schöne Unterwäsche oder bei jedem Wetter Strings tragen, zugleich leidenschaftliche Liebhaberinnen. Auch der Grad des eigenen Stylings gibt selten Auskunft über die eigene Bedürftigkeit in sexueller Hinsicht. So hat sich, was die Natur wohl zur Erhöhung der Attraktivität bei der Begattung erfand, inzwischen verselbständigt und Mann nimmt es so hin, wenn auch manchmal etwas verwirrt, ob der eigentlichen Absichten.

Sollen Männer überhaupt schön sein, frage ich mich und es scheint mir, als hätten wir verschiedene Maßstäbe zur Beurteilung je nach Geschlecht. Frauen sagen häufig, Männer sollten attraktiv und Frauen schön sein. Es käme mir auch seltsam vor, meinte eine Frau zu mir, zufällig verliebt, ich sei schön, was ich ihr vorm ersten mal vermutlich mehr als einmal versichert haben dürfte. Ganz abgesehen von dem objektiven Fehlurteil in diesem Fall, wäre das kaum der Maßstab, an dem ich gemessen werden wollte.

Der Maßstab dessen, was wir schön finden, unserer je sexuellen Orientierung entsprechend, unterscheidet sich also und doch gibt es Anblicke, bei denen sich eine große Mehrheit einig sein würden, dies sei schön. Von Michelangelos David bis zu vielen antiken Figuren und auch bestimmte Schauspieler oder Modelle findet eine Mehrheit attraktiv. Jedoch ist in der Schönheit nichts ohne Ausnahme.

Frage mich, wie authentisch diese ästhetische Bewertung dann noch ist. Gefällt es uns wirklich oder passen wir uns nur dem Empfinden der Mehrheit an?

Es gibt viele Theorien über den Goldenen Schnitt, unser Harmonie Empfinden und die kleine Abweichung, die eine sonst perfekte Schönheit erst wirklich schön macht. Gerade das Marketing, das bestmöglich Waren an die größte Menge verschachern will, möchte wissen, was die Mehrheit schön findet.

Teilweise wird unser ästhetisches Empfinden auch von der Werbung geleitet und verändert, damit wir schön finden, was uns vorher unattraktiv erschien oder nicht aufgefallen war. So relativiert sich der Begriff der Schönheit zwar im Urteil des einzelnen immer und doch gibt es diese Suche nach dem heiligen Gral der Schönheit.

Frage ich mich, wo ich frei empfinde und wo meine Meinung gelenkt ist, kann ich es nicht genau sagen, weil die Einflüsse, die zu meiner Ästhetik führten, so vielfältig sind. Von Geburt an, sind wir mit Dingen konfrontiert und finden sie mehr oder weniger schön, mögen sie oder nicht. Ist es noch das natürliche ästhetische Empfinden, das uns zu diesem oder jenen Kuscheltier greifen lässt oder liegt das schon mehr am Duft, den es, von wem auch immer trägt.

Eine Freundin von mir, hatte einen Teddy, den sie seit Kindertagen liebte und der sie immer ins Bett begleitete. Sobald sie vertraute, brachte sie ihn mit und er wohnte mit in unserem Bett, wurde zur Nacht geküsst und zugedeckt, wenn wir Sex hatten, damit er sich nicht erschrecke. Ohne ergründen zu wollen, was ein solches Verhalten über die Psyche einer Frau Ende vierzig verrät, fand es seltsam, aber was niemandem schadet, ist gut, solange es gefällt, könnte ich nach dem ästhetischen Maßstab fragen, der dieses Kuscheltier noch aus DDR-Zeiten so liebenswert für sie machte und käme wohl auf nichts als die reine Dauer der Beziehung, der diesen für sie zum besten Bären der Welt machte.

So ging es mir auch mit meinem Teddy, bis irgendwann die Frauen ihn ersetzten und ich es nicht mehr attraktiv fand, diesen im Bett zu haben, ohne ihn einzuschlafen lernte, ihn irgendwann ganz vergaß, er nun an mir gerade unbekannten Ort sein lebloses Dasein fristet. Habe ihn als Kind geliebt und innig mit ihm gekuschelt und geschmust, seine Pfötchen so intensiv immer wieder zwischen meinen Fingern geliebt, dass meine Mutter ihm mehrfach neue Lederkappen am Ende der Arme annähen musste, was meine Liebe nicht minderte.

Eine Liebe von mir hatte als Kind einen Unfall erlitten und hatte am Körper schlimme Verbrennungen erlitten, die ihre Haut unter dem Busen bis weit über die Schenkel, wenn ich mich richtig erinnere, im Stile von Niki Lauda entstellte. Als ich das zum ersten mal bei Tageslicht bewusst sah, erschrak ich und sie tat mir leid. Fragte mich, wie sehr sie wohl darunter litt. Später, in dem Maß in dem das Gefühl für sie zunahm, sah ich es überhaupt nicht mehr und fand ihr Lachen und ihre Augen, wenn sie glücklich war, so schön, dass sie mir attraktiver als all meine Modell-Freundinnen erschien. Sie ist für mich auch heute noch, mit mehr auch realem Abstand, eine wunderschöne Frau, fast scheint es, als würde der Makel der Narben ihre Schönheit für mich noch betonen.

Bezweifle, ob dieses oder irgendeines meiner ästhetischen Urteile dem Geschmack der Allgemeinheit oder einer Mehrheit genügte, was aber auch unwichtig für mich ist inzwischen. Gerade in der Pubertät war das noch anders. Da war mir das Urteil der anderen wichtig und ich gab mehr auf das, was die Mehrheit schön fand, weil ich ja auch dieser gefallen wollte, als ich zugab.

In meiner Punkphase hatte ich ein etwas anderes ästhetisches Empfinden. Da ging es darum mit dem Äußeren zu provozieren, sich hässlich zu machen und dennoch war diese Bewegung, der ich nie wirklich nahe kam, nur ein wenig mit Freunden mitschwamm, auch nur eine Mode, die streng ihren eigenen vermeintlich anarchischen Regeln folgte. Es ging um ein Auffallen mit Hässlichkeit und ein Schwimmen gegen den Strom, der aber intern wieder ein eigener Fluss mit eigenen Regeln war, die für alle galten, die dort anerkannt und geachtet werden wollten. Insofern glich der Punk allen Jugendbewegungen, die Wert auf Äußerlichkeiten legen und damit auffallen wollen, auch wenn sie sich gerne dabe noch ein spezielles Image der Aussteiger umhängten.

Es gab in meiner Stufe damals ein Mädchen, die sich zu der den Punks nahen anarchischen Skinhead-Bewegung hingezogen fühlte und sich entsprechend kleidete. Keine Rechte, sondern das Gegenteil, was du aber nur sahst, wenn du sie genau anschautest und den Code dieser Splittergruppe kanntest, der etwa an der Farbe der Schnürsenkel sichtbar wurde. Sie verkleidete sich denen ähnlich, die sie ablehnte und deren Ästhetik sie verurteilte, um für das Gegenteil mit ähnlichem Aussehen zu stehen. Weiß nicht mehr genau, wie sich diese Bewegung nannte und halte es auch für zu unwichtig, nach dem Namen zu suchen, erzähle nur davon, weil diese zarte junge Dame eigentlich wunderschön war. Ebenmäßige Züge, klare Augen, eine schlanke, zierliche Figur und dennoch irgendwie entstellt wirkte und ich lange brauchte, bis ich bemerkte, wie schön sie eigentlich ist.

Es entsprach eben nicht dem Muster, was wir als schön zu sehen, gewohnt sind. Kannte aus meiner Arbeit im Krankenhaus genug Frauen ohne Haare und wusste, wie schön diese dennoch sein konnten. Bei ihr war es anders, weil sie keine Patientin war, sondern eine von  uns, die nicht schön sein wollte und es dennoch war, aber viel tat, dieses unsichtbar zu machen, meinen beschränkt spießigen Geschmack, der vermutlich nur langweilig bürgerlichen Idealen seit Generationen genügen wollte, vor den Kopf stieß. Sie wurde später ein Kumpel und als ich sie Jahre später wieder sah, inzwischen sehr weiblich und mit Haaren zumindest auf dem Kopf, den Rest sah ich nicht, dachte ich, wie schade, dass ich damals diese schöne Frau in ihr nicht wahrnahm, weil ich vermutlich in zu konventionellen Schranken lebte.

Auch bei der Betrachtung von Kunst wandelte sich das ästhetische Empfinden bei mir. Um so mehr ich sah und wusste, desto mehr gefiel mir. Dennoch blieben Dürer und viele Werke des Impressionismus, die ich schon immer schön fand, auch ohne den Hauch einer Ahnung, für mich die Spitze der Schönheit. Aber manches wandelt sich auch wieder zurück. Eine Zeit fand ich Spitzweg und die Bilder der Romantik nur kitschig, spießig, den Inbegriff von kleinbürgerlicher Ästhetik, weil eben alle, die schick waren, darüber eher die Nase rümpften. Dabei fand ich sie als Kind großartig wie Wimmelbilder und betrachte sie heute mit anderen Augen wieder fast wie als Kind und freue mich einfach an dieser Art der Betrachtung.

Bemerke mit zunehmendem Alter Konstanten in meinem Geschmack und in dem, was mir gefällt. Die Mode der 70er und späten 60er fand ich als Kind schon schrecklich und finde es heute im Revival noch genauso, auch wenn ich mein orangenes Bonanzarad liebte. Fand schon immer den englischen Stil attraktiv, dezent ländlich. Ob im Wohnen, bei Autos, Mode oder für Frauen und so wie ich den Wind in den Weiden schon als Kinderbuch sehr liebte, ähnelt mein ästhetisches Empfinden immer noch sehr dem meiner Kindheit.

Frage ich mich, woher dieser Geschmack kommt, kann ich viele äußere Einflüsse genau benennen, vom Elternhaus und der Großmutter, den Werten, die sie vertraten und deren Zeit in England. Urlauben in der Kindheit dort. Eine meiner Ex-Verlobten, über die meine Tochter gleich urteilte, sie sei langweilig, habe ich für etwas wohl auch geliebt, was ich erst lange nach der Trennung entdeckte, als ich zum 90. Geburtstag der Queen mir Jugendbilder von Elisabeth II. ansah. Sie glichen sich geradezu unglaublich, stellte sich fest und überlegte lange, ob ich dieser nicht das Foto der Königin mit einem Kompliment schicken sollte, was dem nicht so schönen Ende eine gute Wendung gäbe, doch sah ich lieber davon ab, da die Queen nicht als das Ideal weiblicher Schönheit unbedingt gilt und ich nicht in das nächste Fettnäpfchen treten wollte. Welche Frau in den 40ern möchte schon mit einer gerade neunzigjährigen Lady verglichen werden?

Für mich adelte dieser Vergleich sie und bei allem, was mich an ihr störte oder langweilte, passte es doch und hatte sie, auch wenn sie das Besteck nicht richtig halten konnte und gerne Cluburlaub machte, etwas von einer Königin für mich, aber da ich das nicht vernünftig erklären konnte und sie nicht verletzen wollte, sah ich davon ab, ihr dies für sie vielleicht zweifelhafte Kompliment zu machen, auch wenn es von Herzen kam und auf eine gewisse Art auch tiefe Bewunderung ausdrückte.

Doch zeigt dies Beispiel wie unterschiedlich und sensibel ästhetisches Empfinden ist und wie, was ich als Kompliment mit gefühlter Liebe meine, von einer anderen als Kränkung wahrgenommen werden könnte, die nicht die Geschichten meiner Großmutter kennen, die als junge Frau mit der kleinen Elisabeth im Garten nebenan spielte und die Teil meiner Geschichte sind, meine ästhetische Wahrnehmung prägten. Dachte lange, ich hätte mich in die gemeinsame Weimarliebe bei uns verliebt, bis mir klar wurde, es war ihre Ähnlichkeit mit der jungen Elisabeth bei gleichzeitiger irgendwie Schüchternheit, die ich so attraktiv fand.

Liebe macht schön, denke ich und lasse mit liebenden Auge meine Lieben vor meinem inneren Auge flanieren und möchte keine bereuen, denn Liebe macht auch die Welt schöner und lässt dich das immer Chaos liebevoll genießen. Vielleicht führt die Betrachtung des liebenden Auges auch zum Begriff der Schönheit.

So ist meine Tochter sicher eine sehr attraktive, junge Frau aber mehr noch ist sie für mich die Schönste unter all ihren Klassenkameradinnen und Mädchen ihre Alters, scheint sie mir eine natürliche Schönheit und ich frage mich, ob ich da nur als verliebter Vater schaue oder diesem Urteil auch die objektivierbaren Anteile meiner sonst Erfahrung zugrunde liegen.

Wir sprechen vom Schönheitsempfinden und loben doch einen guten Geschmack, wenn sich eine Schönheit im allgemeinen Konsens bewegt. Ist also das Gefühl, als etwas höchst individuelles wichtiger für das, was schön ist, oder die Anpassung an den ästhetischen Konsens?

Manchmal fragten mich Freunde hinterher, was ich denn an der letzten gefunden hätte, die einen fanden diese zu fett, jene zu dünn, meinten die eine hätte einen zu großen Kopf, die andere einen zu kleinen Busen oder einen zu fetten Arsch - was eben so normative Maßstäbe sind, durch die jeder an irgendeinem Punkt immer fallen kann. Habe sie geliebt und fand sie darum wunderschön und wenn ich nun zurückschaue, mehr als drei später, kann ich sagen, ich finde noch jede meiner Lieben schön und möchte nichts bereuen, sondern mich immer daran freuen, im Licht der Liebe einfach schön zu finden und das zu genießen.

Der liebende Blick macht die Welt schöner und darum liebe ich so gern, weil es das Leben lustvoll schöner macht, so durch die Welt zu gehen. Einige werden nun einwenden, Verliebte schauten nur durch eine rosarote Brille, wären nicht zu einem objektiven Urteil fähig und verträumten das Leben. Und ich denke mir, natürlich tun sie das, darum scheint die Welt ja auch so schön und was wäre der Gewinn, es anders zu tun, vor allem aber, was soll überhaupt ein objektives Urteil in ästhetischen Fragen sein, das nur einen Durchschnitt normieren könnte und ich war noch nie gern durchschnittlich.

Es gibt wohl Bestandteile der Schönheit, in denen wir Menschen uns ähneln und die wir alle relativ attraktiv finden. Eine globalisierte Welt mit einem vereinheitlichten Geschmack rund um den Globus, macht dies noch einfacher. Auch da bestätigen die Ausnahmen wieder die Regel und lässt das Gefühl jede Abweichung liebend gern zu.

Der Kult der Fangirls um ihre Stars könnte auch zum ästhetischen Empfinden gezählt werden. Auch wenn dieser Wahn jedem Außenstehenden eher unverständlich ist, gibt die bloße Menge einen Anschein von Objektivität, so blöd oder häßlich der Betreffende nach klassischen Maßstäben auch gerade sein mag. Frage ich mich etwa, welche Maßstäbe eines Gentleman oder Ritters ein Typ wie Justin Bieber erfüllt, fiele mir nichts ein und auch seine Attraktivität scheint sich hauptsächlich der schamhaarlosen ersten Reihe in seinen Konzerten zu erschließen - in vielem ist der vorbestrafte Teeniestar das Gegenbild eines attraktiven Mannes oder was sich Väter für ihre Töchter wünschten, sehen wir von seinem dick gefüllten Bankkonto einmal ab und so liegt vielleicht gerade im Bruch mit der Tradition bei gleichzeitig totaler Konventionalität, die kein eigenes Denken erforderlich macht, dessen Attraktivität, mit der ich nie konkurrieren wollte.

Inwieweit es uns bei der Schönheit eigentlich nur um unsere natürlichen Triebe geht, die auf Begattung drängen und sich nach Liebe sehnen, scheint mir fraglich, insofern ja unser liebendes Auge auch eigentlich vielleicht unattraktive Kandidaten in Venus oder Adonis verwandeln können, damit wir voller Lust genießen.

Sobald ich eine Frau nicht mehr verliebt ansehe, bemerke ich die Grenzen ihrer Attraktivität und wenn ich diese in meiner Erinnerung zu vergleichen beginne, ist dies eigentlich nur Ausdruck dafür, dass sich das große Gefühl wohl erledigt hat, auch wenn es manchmal Jahre dauern kann, bis ich es merke. Erstaunlicherweise, passiert mir das sehr selten und auch die gedankliche Abschweifung beim Sex, die in vielen Beziehungen normal ist, vor allem, wenn sie länger dauern, war mir meist eher fremd, weil ich den Zauber genießen will, der aus dem Gefühl wachsen kann und habe mich darum oft länger noch an Beziehungen festgehalten, als vernünftig war.

Schönheit wird in unserem Alltag an ganz vielen Stellen normiert, vom goldenen Schnitt der DIN Blattformen, bis zu den Linien des Design, der Höhe unserer Häuser und der Form unserer Zimmer, der Möbel und Bilder in ihnen und am Ende ganz nah, von der Unterhose bis zu den Strümpfen. Wir empfinden das als harmonisch und sind es so gewohnt. Abweichungen irritieren uns.

Das Empfinden für Schönheit wird teilweise durch diese Normen und den langweiligen Durchschnitt beeinflusst und ragt doch in manchem wieder völlig aus diesen Fragen heraus. Dann folgt der Sinn für Schönheit ganz dem Gefühl und die wir lieben, scheinen uns die schönsten Menschen der Welt zu sein. Da es keine tauglichen Normen gibt und der Durchschnitt nur dem Marketing dient, habe ich beschlossen mein Gefühl als objektiviert zu betrachten und sage mir nun zurückgelehnt, was habe ich für ein tolles Leben gehabt, nur die schönsten Frauen der Welt geliebt und von mancher sogar geliebt und begehrt worden - schöner kann es nicht mehr werden, freue ich mich und denke, so gesehen hatte ich schon alles Schöne im Leben dank der wunderbaren Frauen, denen ich begegnen durfte und kann mich nun in Ruhe an der Erinnerung freuen und die schönste Tochter der Welt habe ich sowieso.

So verschwimmen in Fragen der Schönheit manchmal Zukunft und Vergangenheit zum schönsten Gefühl der Erinnerung in der Gegenwart, die sonst ohne Zeit immer ist.
jens tuengerthal 4.1.2017

Dienstag, 3. Januar 2017

Gretasophie 006

006 Über das Schöne und die Kunst

Was ist überhaupt Kunst?

Seit Beuys haben manche schon mal vom weiten Kunstbegriff gehört und denken an Fettecken und dessen Flugzeugabsturz im Krieg, den er nur in Fettdecken gewickelt überleben konnte, was zum Trauma wurde, dass er für alle sichtbar öffentlich als Kunst verarbeitete.

Doch nicht nur die bildende Kunst wandelte sich, auch Dichtung und Musik stießen im vergangenen Jahrhundert schon in neue Räume vor und unklar ist, wohin es geht und worauf es letztlich ankommt, als die zu füllenden Räume neu zu denken, um Gedanken in Bewegung zu setzen. Bin gespannt, was im Internetzeitalter, dessen Anfang noch in meine Lebzeit fiel, wie es zu Lebzeiten meiner Großmutter erst mit dem Automobil anfing, der neue Kunstbegriff wird und wie interaktiv virtuelle Kunst auch wird.

Wiki meint zum Begriff der Kunst:

Das Wort Kunst bezeichnet im weitesten Sinne jede entwickelte Tätigkeit, die auf Wissen, Übung, Wahrnehmung, Vorstellung und Intuition gegründet ist. Im engeren Sinne werden damit Ergebnisse gezielter menschlicher Tätigkeit benannt, die nicht eindeutig durch Funktionen festgelegt sind. Kunst ist ein menschliches Kultur­produkt, das Ergebnis eines kreativen Prozesses. Das Kunstwerk steht meist am Ende dieses Prozesses, kann aber seit der Moderne auch der Prozess selbst sein. Ausübende der Kunst im engeren Sinne werden Künstler genannt. Künstler und Kunst genießen in Deutschland und vielen anderen Ländern Kunstfreiheit; diese ist in Deutschland ein durch Art. 5 Abs. 3 Grundgesetz geschütztes Grundrecht. Die ursprüngliche Bedeutung des Begriffs Kunst, die sich als Gegensatz zur Natur auf alle Produkte menschlicher Tätigkeit beziehen konnte, hat sich zwar erhalten (wie z. B. in Kunststoff). Jedoch versteht man seit der Aufklärung unter Kunst vor allem die Ausdrucksformen der Schönen Künste.  Diese und die Techniken der Kunst haben sich seit Beginn der Moderne stark erweitert, so mit der Fotografie in der bildenden Kunst oder mit der Etablierung des Comics als Verbindung bildender Kunst mit der Narrativität der Literatur. Bei den Darstellenden Künsten, Musik und Literatur lassen sich heute auch Ausdrucksformen der Neuen Medien wie Hörfunk, Fernsehen, Werbung und Internet hinzuzählen. Die klassische Einteilung verliert spätestens seit den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts an Bedeutung. Kunstgattungen wie die Installation oder der Bereich der Medienkunst kennen die klassische Grundeinteilung nicht mehr.

Hier gibt es schon manches, über das sich trefflich streiten ließe, obwohl es nur eine relativ verbindliche Lexikondefinition ist. So etwa die Funktionalität, die in keinem Widerspruch zur Kunst stehen muss, wie uns das Bauhaus aufs schönste bewiesen hat.

Ob Kunst immer Produkt eines menschlichen kreativen Prozesses sein muss oder auch von Robotern produziert werden kann, wird zukünftig eine spannende Frage sein. Warum sollten der Kunst Grenzen gezogen werden, frage ich mich eher und mit dem Marquis de Sade, ob nicht lieber alles gut ist, was gefällt.

Das Gefallen könnte wieder ein Angriffspunkt sein, indem das nur ästhetische Empfinden als Angriffspunkt missbraucht wird, weil Kunst nicht gefallen muss, um welche zu sein und den Schutz des Grundgesetzes genießen soll. Im Gegenteil, sie ja provozieren soll, um zu neuem anzuregen.

Die Kunst im Gegensatz zur Natur zu sehen, führt auch nur zu einer unvollständigen Betrachtung, da viele Kunst auch gerade die Natur nutzt, um sich in sie einzupassen oder mit ihr zu wachsen. Auch die klassische Einteilung der Kunst in bildende Kunst, Musik, Literatur und Darstellende Kunst hat mit Anbruch der Moderne keine Gültigkeit mehr. Es mischen sich alle Bereiche und Kunst kann alles sein, was künstlerisch gedacht ist, auch das Gefallen spielt dabei keine Rolle mehr.

Das Schöne spielt bei uns dennoch bei der Betrachtung eine Rolle und es gibt dazu unendlich viele ästhetische Theorien, die ich inzwischen alle für weitgehend müßig halte, weil schön für mich ist, was mir gefällt und es dafür keinen normierbaren Maßstab gibt, sowenig wie für irgendjemand anders, es nur einen gewissen Durchschnitt gibt, den Strategen des Marketing aus durchsichtigen Gründen für relevant halten.

Zwar haben es bestimmte Dinge oder Personen leichter, von uns schön gefunden zu werden, doch auch wenn ich die größten und anerkanntesten Künstler bei mir hängen hätte, wären für mich immer die mit Liebe gemalten Bilder meiner Tochter die schönsten von allen, weil sie mir am nächsten kommen und vielleicht auch weil sie auch ein Teil von mir war, bevor sie ihr eigener Mensch wurde. Aber auch das ist nur eine bloße These zu meinem Geschmack diesbezüglich, die keinerlei Anspruch auf allgemeine Verbindlichkeit erhebt.

Manche sagen über moderne Kunst, dass sei doch alles nichts mehr, nur die alten Meister hätten es gekonnt. Mag die alten Meister und vieles gefällt mir besser, als das was zeitgenössische Künstler produzieren, aber auch das nicht immer, sondern manchmal finde ich gerade zeitgenössische Werke großartiger als alles zuvor. Doch kann ich nicht sagen, ob dieses Urteil auf der Tatsache fußt, weil ich beim Betrachten gerade in dieser oder jener Laune bin und was alles mein Urteil an diesem oder jenen Tag ausmacht.

Der Kunstmarkt, der mehr Berechenbarkeit wünscht, hat gewisse Kriterien entwickelt, um wertvolle von weniger wertvoller Kunst unterscheiden zu können. Dies ist ein Bedürfnis des Marktes und hat nichts mit Ästhetik zu tun, noch mit dem, was ich als schön empfinde. Hohe Preise überzeugen mich nicht davon, ein Stück haben zu müssen, außer ich will damit handeln. Dennoch wird unser Empfinden für Schönheit auch von diesem Markt und dem, was er weitergibt, geprägt. Stärker noch als in der Kunst, merken wir das beim Design im Alltag - vom Autoscheinwerfer bis zur Zahnbürste, kann vieles gutes Design haben oder eben nicht und gefallen oder missfallen.

Ist jedes Objekt, das wir als schön empfinden, darum ein Kunstwerk und ist eines, was wir hässlich finden, darum keines?

Mag meine schwarzen Billy-Regale, die in Millionen Haushalten stehen und einfach schlicht und funktional sind. Sie sind für mich, klassische Schönheiten und als Bibliothek, also mit den richtigen Büchern ein Kunstwerk für sich für mich. Doch schon bei der Frage nach den richtigen Büchern würde die ästhetische Debatte über das, was schön ist, beginnen. Ginge es bei den Büchern mehr um die Ästhetik  ihrer Rücken, hätte eine schöne Bibliothek nur gebundene Bände, sollten sie alle einheitlich gebunden sein oder macht es gerade die Vielfalt erst schön und wie viel wichtiger ist bei Büchern der unsichtbare Inhalt auch für unser ästhetisches Empfinden - so liebe ich manche alte zerlesene Ausgabe, auch um der langen Leseerinnerung mit ihr.

Habe neulich bestimmte Bilder neu gerahmt oder überhaupt erst gerahmt und sie scheinen mir plötzlich viel schöner und wertvoller als zuvor nur an die Wand gepinnt. Ist der Wert einer Sache überhaupt ein Maßstab für Kunst oder nicht und ist darum die Art der Präsentation auch Teil der Kunstwerke, sind diese es eben auch erst durch Hängung oder Rahmung?

Wäre es so, käme dem Kunstmarkt und seinem Marketing auch für unser ästhetisches Empfinden mehr Bedeutung zu. Steht der Rahmenmacher dann für die Wertigkeit eines Kunstwerks gleichbereichtigt neben dem Künstler?

Schon die Frage scheint uns absurd. der Künstler ist ja der Kreative, der andere präsentiert oder rahmt ersteren nur. Wer Kunst ausstellt oder präsentiert, arbeitet für die Kunst und schafft diese nicht, auch wenn die Grenzen manchmal fließen.

Betrachte ich manche Werke, die Andy Warhol  in seiner Factory machte oder machen ließ, die ja ganz bewusst mit der Reproduzierbarkeit im Zeitalter der Automatismen spielte, könnte ich mich sehr wohl fragen, ob die von ihm oder egal wem bepinkelte Kupferplatte, deren Entwicklung dem Zufall und der Natur überlassen wurde, das größere Kunstwerk ist oder die Fähigkeit diese als solche zu verkaufen und repräsentativ zu hängen. Kann es nicht ganz klar beantworten, weiß natürlich, dass der Prozess des Pinkelns der kreative Akt ist, auf den die chemische Reaktion folgt, die das fertige Kunstwerk entstehen lässt. Aber war nicht doch der kreative Akt vorher im Kopf Warhols, auf die Idee zu kommen, da pinkeln an sich noch keine Kunst ist, oder doch nur kommt es eben darauf an, wer es wo tut?

Über das Schöne und die Kunst zu schreiben, scheint schwerer, wenn wir Grenzen suchen, um zu verstehen, was es ist, als wenn wir von der Schönheit schwärmen. Meine liebsten Kunstwerke schwärmerisch hier zu beschreiben, fiele mir leicht, denke ich und frage mich doch dabei schon, welche es eigentlich wären und warum. Es wären einige alte Meister, natürlich auch Werke meiner Tochter, manche Impressionisten, einige der klassischen Moderne und dann auch der eine oder andere Zeitgenossen und es schwankt, was mir dazu einfiele, je nach Stimmung und dem, was ich gerade lese oder womit ich mich beschäftige. Müsste ich mich auf einen Künstler festlegen, außer meiner Tochter, bei der auch noch andere als nur ästhetische Kriterien bei meiner Wahl festlegen, was also mein Lieblingsbild ist, wüsste ich es nicht oder nur einen Moment lang, weil mir so viele ganz spontan einfallen - von Dürer zu Liebermann, Vermeer, Rembrandt, Max Ernst, Monet, Sisley, Büsen - um nur die ersten zu nennen, die meinem zugegeben schwachen Gedächtnis ganz spontan einfallen.

In der Literatur kämen nach Lukrez mit seinem de rerum, Thomas Mann mit dem Zauberberg und den Buddenbrooks, sodann Goethe mit vielem, Tolstoi, Fontane, Franz Hessel Montaigne nicht zu vergessen, um nur einige zu nennen, die mir zufällig am nächsten gerade lagen.

Verschiedenheit und Vielfalt der Künstler zeigen nicht nur meine Schizophrenie, von der ich noch nichts weiß, aber die vermutlich auch nicht ausgeschlossen werden kann, wer ist sich seines Wahnsinns schon sicher, als von  der Vielfalt der Kunst, die sich nicht auf einen reduzieren lässt.

Nähme ich nur die Gemäldegalerie in Berlin, fiele es mir schwer, ein Bild als das schönste zu benennen und ganz spontan geistern ganz viele vor meinem inneren Auge, von der Madonna mit dem Zeisig, zu dem Mädchen mit dem Perlenohrring, den Schönheiten der Renaissance, dem Jungbrunnen - es werden beim Nachdenken immer mehr und manchmal auch nur Ausschnitte, wie Rembrands himmelblau in der Entführung und ich finde, die Beschränkung als Ziel eher lästig - warum sollte ich eines auswählen, wenn die Werke so verschieden sind, wie die Menschen, die sie malten und die Zeiten, in denen sie lebten?

Die Expressionisten sind mir meist eher fern, doch auch da gibt es Ausnahmen, die mich verzaubern und umgekehrt geht mir beim Licht der Impressionisten das Herz auf, aber manche finde ich auch schlicht nur langweilig und nichtssagend. Ein Liebermann rührt mich nahezu immer, ohne zu wissen, warum ich mich ihm so nah fühle, besonders am Meer.

Liebe es durch Museen oder Galerien zu flanieren, um die Bilder und auch die Menschen, die Bilder betrachten, anzusehen. Finde, der Gang ins Museum hat etwas sinnliches und kann die Zeit anhalten. Sich im Museum verlieben oder in hingebungsvoller Betrachtung sich zu entdecken, stelle ich mir traumhaft vor, auch wenn es mir trotz häufiger Museumsbesuche bisher erst relativ selten gelang und nicht immer gut endete, was aber nie am Museum lag und eine andere Geschichte wäre.

Die Betrachtung von Kunst macht mich ruhig und meist glücklich. Manchmal denke ich mir Geschichten zu den Bildern aus. Mal, wie es im nächsten Moment weitergehen könnte, dann, was Künstler und Modell vielleicht verband, schließlich auch aus dem Bild zum historischen Hintergrund und am Ende lasse ich manchmal einfach die Phantasie sinnlich oder konkret spielen. Nichts schenkt mir mehr Wohlgefühl, als Kunst zu betrachten, sehe ich mal vom Lesen ab und so empfinde ich den Besuch im Museum einfach als Genuss, einen Weg, meine Lust zu mehren, auf die es ja nach Epikur im Leben entscheidend ankommt.

Gleiches gilt für die Lektüre eines guten und schönen Buches oder beim Lauschen eines schönen Konzertes. Kunst kann glücklich machen unabhängig von anderen Menschen dabei, weil wir es genießen, sie wahrzunehmen oder durch sie zum Denken gebracht zu werden. So könnte ich über die Werke von Otto Dix, trotz überragender altmeisterlicher Technik, selten sagen, sie seien schön und dennoch bewegen sie mich als Kunst. Wie etwa auch Käthe Kollwitz oder Barlach und das zu genießen, ist schon an sich schön genug, was mehr, sollten wir uns wünschen?

Die Kinderbücher von Erich Kästner habe ich geliebt und gefürchtet, weil sie so entsetzlich traurig machten, Verzweiflung, die ich so sehr nachempfinden konnte, den richtigen Ton traf, mich betroffen machte. Vielleicht ist es genau große Kunst, zwiespältig auch zu bewegen.

Früher fand ich die Altäre von Riemenschneider relativ langweilig, irgendwann begannen sie, mich zu fesseln - nicht um des religiösen Aberglaubens dahinter, sondern wie unglaublich stark er das Material nutzte, um menschliches darzustellen, was immer an den dramatischen Gerüchten um seine Biografie wahr ist oder nicht.

Klimt fand ich immer irgendwie erotisch reizvoll aber sonst eher goldig und bei Dali faszinierten mich eher seine kleinen Zeichnungen und Gelegenheitswerke, als das, was die Massen begeisterte, ihn zum Hit machte und Max Ernst kam mir erst durch eine Biografie seines Sohnes Jimmy wirklich nah und so vermischen sich manchmal die Gebiete der Kunst, auch wenn sie eigentlich nichts miteinander zu tun haben, öffnet die Liebe zur Literatur den Blick für die Kunst und manchmal auch umgekehrt oder Thomas Manns Doktor Faustus, der mich neugierig auf Schönberg machte, wenn ich auch zugeben muss, dass sich meine Begeisterung als gänzlich unmusikalischer Mensch bei beiden Werken in überschaubaren Grenzen hielt. Dagegen führte mir Rameau mit einem Tanz für Klavier die Feder bei meinen Sonetten, die ich Mitte der 90er völlig verliebt und halb verloren dabei schrieb, noch von dem Glauben besessen, eine Frau zu erringen, sei das höchste Glück auf Erden und die Liebe wie ihr Vollzug die Erfüllung der schönsten Träume.

Diese Illusion hielt sich bis über vierzig noch und doch stellte ich irgendwann fest, dass die Betrachtung von Kunst oder die Lektüre guter Bücher wesentlich reizvoller sein kann als nur Sex. Vor allem ist das was an Zufriedenheit jenseits der Millisekunden des Höhepunkts davon bleibt in der Kunstbetrachtung, dem Lesen oder Lauschen meist viel nachhaltiger als vieler Sex, der eher spurlos verweht, auch wenn er immer wieder als das intensivste Erlebnis uns scheint. Schreibe übrigens nur mal wieder über Sex beim Thema Kunst, weil die beiden sich nahe sind und im Kern gleichen, geht es doch je um einen originären Zeugungsakt dabei.

Ein Freund von mir, der ein begnadeter Künstler ist - seine Einstrichzeichnungen sind mehr als genial und seine Ölbilder von einer Kraft, dass ich noch um Worte ringe, sie treffend zu beschreiben - wünschte ihm, er wäre so erfolgreich, wie es seinem Genie entspricht und denke zugleich, wer weiß, ob er noch so gut wäre, wenn seine oft spontanen Zeichnungen im sechs bis siebenstelligen Bereich gehandelt würden, was sie mehr als wert wären in meinen Augen, was interessant über den Wert von Kunst nun debattieren ließe - erzählte mir, als wir von Frauen sprachen, dafür hätte er keine Zeit, er lebe für seine Kunst und wolle nichts sonst. Konnte ich mir damals, obwohl ein wenig älter als er, nicht vorstellen und doch kommt mir schreibend der Gedanke langsam immer näher, so sehr ich Sex liebe und ihn auch vermisse - möchte ich doch zu gern nur für meine Kunst und meine Worte leben in der wenigen Zeit, die mir gegeben ist.

So wurde mir die Kunst mit der Zeit nun wichtiger als Sex. Ob das eine Frage des Alters und der damit einhergehenden Folgen ist, weiß ich nicht, da mir von den Folgen noch nichts bekannt ist, sich nur im Kopf die Gewichtung änderte, vielleicht auch um der eigenen Kunst, mehr Wert zu geben.

Eine Liebe von mir, erzählte mir einmal, sie hätte lange nur für ihre Kunst gelebt und für eine Liebe wäre da kein Platz gewesen. Konnte mir das anfangs auch nicht vorstellen, wo doch der Gedanke an Liebe und Lust mir immer alles zu verdrängen schien, ich verliebt oder geil am kreativsten war, wie ich dachte und doch, mittlerweile, verstehe ich, was sie meinte, es kann im Leben wichtigeres geben und die Kunst kann es sein, auf egal welchem Weg wir uns ihr widmen.

War ich nur ein Dilettant solange ich der Lust stets den Vorzug gab, wenn sich Gelegenheit bot auf den Spuren Casanovas oder ist die Liebe auch eine Kunst für sich?

Weiß nicht, ob ich weniger Dilettant je sein werde, nur weil ich mal der Wortkunst den Vorrang vor der Liebeskunst gebe - aber es scheint mir, als fordere Kunst, wenn wir sie leben wollen, uns ganz und Casanova schrieb auch erst als alter Mann, vereinsamt auf Schloss Dux, auf dem ihm ein Freund und Gönner Asyl bot und die Dienerschaft ihn angeblich quälte, was immer daran wahre Geschichte und was Erzählung ist.

Doch ist die Kunst der Liebe immer wieder auch Quelle großer Kunst gewesen, auch bei Paaren, etwa Henry Miller und Anais Nin, Goethe und Charlotte, die den Werther ihn unglücklich gebären ließ - allerdings auch erst, als er es hinter sich hatte, war mehr Faustina oder Christiane Muse der Elegien, fragt sich der Leser dieser feinsinnigen Erotik und so befruchtete sich wohl manches Paar auch in der Kunst.

Die Kunst der Liebe ist ein Thema, dem viele schlechte und schwülstige Werke, manche auch jenseits des Randes der Pornographie, gewidmet sind. Dem will ich kein weiteres hinzugesellen nicht so sehr mangels Sachkenntnis sondern vielmehr weil es bereits Thema war und ich die Behandlung des natürlichen Trieblebens als Kunst nicht wirklich weiterführend bei der Betrachtung dieser finde. Im übrigen ist Kunst eine Lust an und für sich und die Liebe nur eine Methode dabei, warum es wenig Grund gibt, sich bei der Kunst noch einmal in die Details der Liebeskunst zu verirren oder zu suggerieren, ich hätte Ahnung davon.

In den folgenden Essays soll es dann ein wenig um die Schönheit, den Kunstbegriff und warum machen so wichtig ist gehen, warum ich hier nun lieber aufhöre, um mich nicht auch noch ständig zu wiederholen. Wer Lust auf Kunst hat, sollte sie genießen.
jens tuengerthal 3.1.2016

Montag, 2. Januar 2017

Gretasophie 005e

005e Zeitkompass

Wie finde ich mich in der Zeit zurecht?

Ein riesiger Urwald an Zahlen erwartet den, der sich mit Geschichte beschäftigt. Von der Steinzeit bis in die Gegenwart tauchen Ereignisse auf und wieder unter - da fragt sich der Betrachter, was zählt überhaupt und was kann ich wieder vergessen, ohne die Orientierung zu verlieren.

Unsere Zeitrechnung ist nach Jesus Geburt ausgerichtet, die als Jahr 0 festgelegt wurde, was immer diese spätere Zeitsetzung mit der Sekte des abtrünnigen Rabbi und seinem Leben noch zu tun hatte. Aus den Berichten seiner Evangelisten wissen wir, es war zu der Zeit als Augustus Kaiser in Rom und Herodes König in Judäa war, der römischen Provinz.

So geschah die Wende der Zeit, nach der wir bis heute rechnen unter der Herrschaft des wichtigsten römischen Kaisers, der auf Julius Cäsar folgte, an dessen Namen schon im Wort Kaiser erinnert wird.

Diese Zeitrechnung ist willkürlich und eine nach fortschreitender Kenntnis der Astronomie erfolgte Zählung. Heute haben wir den gregorianischen Kalender, nach Papst Gregor XIII., der Ende des 16. Jahrhunderts eingeführt wurde. Er löste den julianischen Kalender ab, der von Julius Cäsar, dem Vorfahren jenes Augustus eingeführt wurde etwa um 47 vor unserer Zeitrechnung. Dieser hatte im hellenisch, also griechisch geprägten Alexandria den Kalender mit Schalttagen kennengelernt und im römischen Reich eingeführt. Dieser galt bis teilweise ins 20. Jahrhundert auch noch in allen orthodoxen Teilen Europas, da diese von der Ostkirche geprägt und keinen Papst anerkennend, nicht den exakteren gregorianischen einführen wollten.

Bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts war aufgrund der Ungenauigkeit des julianischen Kalenders die Differenz bereits auf 16 Tage angewachsen, was auch erklärt, warum die Russen eine Oktoberrevolution feierten, die eigentlich im November doch stattfand, nach der genaueren gregorianischen Rechnung. Dennoch wurde der Begriff Oktoberrevolution Sitte und bis heute beibehalten.

Die Art wie wir zählen und ob wir dies einheitlich tun, ist also schon wichtig für die Betrachtung der Zeit. Kleine Verschiebungen, wie die Schalttage alle vier Jahre, die auch irgendwann wieder ausfallen, weil der Lauf der Erde um die Sonne eben nicht ganz glatt ist, sondern mit geringen Abweichungen immer, wirken sich in Jahrhunderten oder Jahrtausenden schnell wochenweise aus und verschieben die Zeit völlig.

Richteten wir die Zeit noch nach der Natur, hätten wir im Winter eine völlig andere Zeit als im Sommer und verschöbe sich der Mittag nach dem Stand der Sonne oder die Nacht nach ihrem Untergang schon in Europa um viele Stunden, was bei internationalen Geschäften und Terminen von großer Bedeutung ist.

Als ich mit dem Zug von Vancouver nach Toronto fuhr, durchquerten wir mehrere Zeitzonen und mussten dann an der Uhr drehen, um wieder die richtige Zeit auch für das Essen im Salon zu haben, auch wenn die Grenze willkürlich erscheint und gezogen, gibt sie doch relativ exakt die Lichtverhältnisse wieder, die sich aber auch nicht nach klaren Grenzlinien verschieben sondern über weite Flächen.

In Jules Vernes Roman in 80 Tagen um die Welt aus dem Jahr 1873, gewinnt der englische Gentleman Phileas Fogg seine Wette in eben 80 Tagen um die Welt reisen zu können, auch wenn er nach seiner Zählung die Zeit um 5 Minuten überschritt und meinte verloren zu haben, weil er gen Osten reiste und dabei die Datumsgrenze überschritt, einen Tag eher kam, als er berechnet hatte und London trotz aller wilden Abenteuer unterwegs pünktlich erreichte. Heraus kommt dieser Irrtum erst, als er seinen Diener Passepartout, der ihn auch auf der ganzen Reise begleitete, zum Pfarrer schickt, um die Hochzeit mit der in Indien noch vom Scheiterhaufen geretteten Schönheit anzumelden, die ihm, der glaubte sein ganzes Vermögen verloren zu haben, dessen eine Hälfte er verwettet hatte, ihre Liebe gestand. Dort erfuhr der Diener, dass noch Samstag und nicht Sonntag sei und so hat der Gentleman seine Wette doch gewonnen und sein Vermögen, das er zur Hälfte für die Reise verbrauchte, wieder im Club gewonnen.

Hier war die Zeit der entscheidende Faktor über Sieg oder Verlust und wäre Phileas Fogg gen Westen gereist, hätte er die Wette wohl verloren, so aber überlistete er die Zeit auf dem östlichen Weg um den Globus und merkte es selbst nicht, gerade weil er als korrekter Gentleman jeden Tag Tagebuch führte und damit richtig gezählt hatte. Was uns schon zu einer Zeit einen Hinweis auf die Relativität der Zeit gab, zu der wir nicht ahnten, was Einstein erst 30 Jahre später erstmals berechnen konnte und woran die Physik bis heute zu knabbern hat.

Natürlich ging es bei Einstein oder später beim Welle-Teilchen-Dualismus und der Quantenrelativität um ganz andere Fragen als die Datumsgrenze und die zufällige Zeitzählung und ihre Festlegung entsprechend der Uhrzeit in Greenwich, mit der Britannien den Standard für die Welt auch mit ihren Weltumseglern, wie Cook und Drake setzte.

Will auch gar nicht vorgeben, ich verstünde etwas von Teilchenphysik und dem Verhalten der Teilchen oder Wellen auf subatomarer Eben oder könnte gar Einsteins e=mc² herleiten, es nur wirklich begreifen. Nichts dergleichen und bin froh, wenn ich Goethe lesen kann, der das Problem viel schöner in meinen Augen mit seinem, oh Augenblick du bist so wunderschön - verweile doch, ausdrückte.

Wie immer wir nach unseren je geistigen Kapazitäten die Sache auch ausdrücken, scheint den Fragen gemein zu sein, dass die Zeit eine relative Größe immer ist und von der Bewegung dessen, der sie misst auch abhängig zu sein.

Wenn aber alles relativ ist und vom Standpunkt des Beobachters abhängt, wird es scheinbar noch schwerer, sich ein taugliches Gerüst für alle Zeiten zu bauen, mit dem zwischen ihnen gesurft werden kann.

Der Angelpunkt unserer Zeitmessung, das behauptete Geburtsjahr des Sektengründers aus Nazareth, scheint uns ein absolutes Maß, solange wir nicht weiter vor diese zurückgehen, als wir jetzt sind. Doch schauen wir uns Höhhlemalereien, die bis zu 30.000 Jahre vor unserer Zeitrechnung entstanden und frühe kulturelle Betätigung des Menschen zumindest belegen, was immer auch sonst in sie gedeutet werden mag, mit mehr oder weniger gewagten Hypothesen, verschiebt sich dieser angebliche Wendepunkt als eine kleine Randerscheinung weit nach hinten.

Gemessen am Alter des Universums oder der Entfernung mancher Sterne, die wir noch leuchten sehen, auch wenn sie schon vor Millionen Jahren erloschen sind, scheint unsere zeitliche Existenz ein kleiner kaum messbarer Witz ganz am Rand und nicht das Zentrum oder der Höhepunkt der Schöpfung. Schauten wir von bestimmten Planeten auf die Erde, würden wir jetzt Dinosaurier hier sehen, die uns aufgrund der Dauer, die das Licht dorthin braucht, gegenwärtig erschienen.

Weiß nicht woher noch wohin, mich wundert nur, wie glücklich ich bin, schrieb der Dombaumeister Martinus von Biberach angeblich auf einen Buchdeckel, doch wird die Autorenschaft des 1498 in Biberach bei Heilbronn verstorbenen Handwerkers heute bezweifelt, Einige ordnen ihn Kaiser Maximilian I. zu, dem letzten Ritter und Opa von Karl V., andere berichten von weit früheren Klostermalereien. Im Original lautete er:

Ich leb und waiß nit wie lang,
ich stirb und waiß nit wann,
ich far und waiß nit wahin,
mich wundert das ich [so] frölich bin.

Auch die wesentlich ältere Zuschreibung an Walther von der Vogelweide wird heute bestritten. Es ist nicht ganz klar, wo die Weisheit herkommt, die für einen Teil christliche Frömmigkeit ausdrückte, während andere, wie etwa Luther, der sich auch einmal auf die Weisheit bezog, sie ausdrücklich ablehnten, weil gute Christen sehr wohl wüssten, woher sie stammten und wohin sie gingen, was mir die frommen Welterklärer noch unsympathischer machte, als genüge Bruder Martins ekelhafter Antisemitismus nicht schon dazu, ihn, aller Jubiläen zum Trotz, heute lieber zu ignorieren. In manchem drückt sich darin auch der Geist des von den Christen verfemten Epikur und besonders Lukrez aus, der zur Zeit Luthers und des Martinus von Biberach zumindest schon wieder im Umlauf unter einigen Intellektuellen mehr in Italien war.

Trotz ungeklärter Herkunft und unbekannten Alters oder vielleicht auch wegen, ist dieser Spruch ein guter Maßstab für das Wie in der relativen Zeit, denn es scheint weniger wichtig,  was ist, als wie wir uns dazu stellen.

In der Geschichte hängt, wie im Leben eben chaostheoretisch auch, alles mit allem zusammen und so entscheidet eben auch unsere Haltung dazu über unsere Orientierung. Wer der schon erwähnten Zeitachse folgt, hat einen schlichten linearen Rahmen im Kopf, der bei der Orientierung hilft. Doch so wenig Leben immer linear verläuft, so wenig passt dieser blind überall hin, sondern ist nur der Rahmen grober Orientierung.

Vieles verläuft auch kreisförmig oder chaotisch im Leben, wie es uns scheint, dass die Alten den Babys wieder ähnlicher werden und jede Generation irgendwie von ihren Kindern in irgendwas überholt wird. Dennoch hilft eine Zeitachse, die nur einer behaupteten Realität entspricht, sich in der eigenen Beschränkung zu orientieren.

Ereignisse beeinflussen sich wechselseitig, warum ein innerer Kompass, der sich nach der Zeit ausrichtet, in der wir uns gerade befinden, am besten passt. Wagen wir die Expedition durch die Zeit und orientieren wir uns dabei ruhig am schlichten Zeiger, der nur sagt, wo Norden ist, wie ein simpler Zeitstrahl, auch wenn dieser nichts über die Relativität der Zeit sagt, noch vom verweilenden Augenblick aus dem Sturm und Drang schwärmt. Es ist gut, eine einfache und lineare Orientierung sich im Chaos der Zeiten, die auch ineinandergreifen, zu stricken.

Warum es sich nicht einfach machen, wenn möglich, um zu verstehen, was um uns ist und vor uns war, wenn es hilft und funktioniert?

Weiß nicht, ob diese Krücke, die weniger der Realität als meinem beschränkten Vorstellungsvermögen entspricht, für jeden geeignet ist, mir zumindest in meiner Einfalt, war sie immer eine gute Orientierung. Es mag sein, dass die Zeit relativ ist und nichts wirklich linear - doch kann ich die gebogene Zeit kaum denken, geschweige denn klug darüber schreiben, warum ich lieber die einfachen Muster zur Hand nehme, die meinen Vorstellungen von Zeit am ehesten entsprechen, damit ich weniger dumm erscheinen kann, als ich es vermutlich bin, was zwar auch eine Krücke und eine Täuschung ist, aber wenn, dann zumindest eine, die mein Wohlbefinden mehrt und wie wirklich ist schon die Wirklichkeit im Lauf der Zeit und was hilft, ist gut, sagte mein Vater immer.
jens tuengerthal 2.1.2016

Sonntag, 1. Januar 2017

Gretasophie 005d

005d Sittengeschichte

Die Sittengeschichte beschäftigt sich mit den Sitten und Bräuchen der Völker, wurde oft genutzt, um Vorurteile zu verbreiten oder über Sex zu schreiben, um den es bei den Sitten meist hauptsächlich geht, wieviele Saltos davor auch immer gemacht werden, um den Antrieb der Sitten zu verbergen.

Was sind Sitten überhaupt, frage ich mich zunächst?

Sitten sind die Gewohnheiten eines Volkes, wenn mich meine Erinnerung nicht trügt. Sie betreffen das Verhalten, was gewünscht ist, sei es durch Moral, Recht oder andere soziale Normen. Darum gibt es auch Unsitten, die das unerwünschte Verhalten betreffen. Der etwas unklare Begriff, der regional verschiedene Bedeutung haben kann, wird auch juristisch als eben unbestimmter Rechtsbegriff gebraucht, etwa beim Verstoß gegen die guten Sitten nach § 817 BGB, der die Rückabwicklung sittenwidriger Geschäfte regelt oder auch bei der Einhaltung der Verkehrssitten als Gewohnheiten im Umgang.

Unter die Sitten fallen auch die Umgangsformen - wann eine Äußerung wo eine Beleidigung ist, welches Verhalten nach der Sitte bestraft werden kann und welches eben nicht. Wer über deren Einhaltung wacht ist ein Sittenwächter und bei der Kriminalpolizei gibt es die Abteilung Sitte, die sich mit allen Sexualdelikten beschäftigt und früher auch die da als sittenwidrig geltende Prostitution kontrollierte. Heute gilt Prostitution nicht mehr immer als sittenwidrig, aber es gibt zahlreiche Tatbestände im Bereich der Prostitution, die eben verkaufte Sexualität ist, die in den Zuständigkeitsbereich der Sitte fallen.

Damit sind wir schon bei dem Thema, um das es mehr oder weniger verklausuliert in den meisten Sittengeschichten geht: Sex! Wie erlaubt er ist, wer es mit wem tun darf oder warum nicht und ähnliche Fragen die mehrheitlich moralisch beurteilt werden, auch wenn es nur um eine einfache Triebbefriedigung geht, die schlicht nach der Natur betrachtet werden könnte.

Es gab dabei Kulturen, die es freier betrachteten und gibt bis heute viele, die es relativ genau regulieren. Es ist nicht erkennbar, dass sich durch Verbote irgendwas je an den natürlichen Bedürfnissen geändert hätte.

Mit der Prostitution gibt es einen Bereich, der das natürliche Bedürfnis zum Geschäft machte und der nur existiert, weil ein Teil der Menschheit damit nicht gelassen umgehen kann. Gekaufter Sex ist nie gut, sondern immer nur ein schlechter Kompromiss, weil eine Seite die  Leidenschaft nur beruflich spielt und die andere das genau weiß. Wer daran Spaß hat, wird selten wissen, was guter Sex ist, könnte sich genauso und billiger selbst befriedigen, tut etwas, was anrüchig ist und dadurch nur reizvoll wird.

Mit einer Hure zu schlafen, ist nur lohnend, wenn sie es von sich aus will, dabei nicht an Geld denkt, sondern die Befriedigung ihrer Triebe. Mag in seltenen Fällen auch im professionellen Bereich vorkommen, maße mir da kein Urteil an, aber ist eher das Gegenteil vom üblichen und das, was Huren wie anderen Frauen und Männern eben privat mal passiert und was Sex im Gegensatz zur Hurerei ist.

Halte den ganzen Bereich für ein schlechtes Geschäft für beide Seiten und nicht lohnend, da der Markt aber anderes sagt, gibt es ihn und er boomt immer da, wo viele Menschen zusammenkommen. Frage mich dabei schon länger, ob sein Bestand nicht mehr mit den Sitten zusammenhängt als der Sache an sich.

Auch ein Verbot der Prostitution hat selten etwas an den tatsächlichen Zahlen geändert. Das Geschäft wandert nur in den Bereich des Schwarzmarktes und schafft ein noch unsicheres Umfeld für die meisten Arbeitnehmerinnen dort, in denen ihnen noch eher Ausbeutung und Missbrauch drohen, während ein legaler Markt, der sich jeder albernen Moral enthielte, relativ gut schützbar wäre, sich eher von alleine erledigte.

Der größte Bereich der legalen Prostitution ist die Ehe. Auch dort wird häufig die Hergabe für Hingabe praktiziert, auch wenn letztere früher zu den ehelichen Pflichten gehörte, ist der dabei betriebene Tauschhandel mehr als üblich. Das beginnt mit der Verweigerung von Sex vornehmlich durch Frauen, um ein bestimmtes Verhalten ihrer Männer zu erreichen. Hier wird nicht direkt für Sex gezahlt, sondern mit Anpassung die Triebbefriedigung erkauft. Weiter geht es mit den kleinen Gaben, zur Erhaltung der Liebe, die dafür die Willigkeit erhöhen können, ohne in direktem Zusammenhang als Lohn zu stehen, wissen doch beide Seiten darum. Nicht wenige Frauen in längeren Beziehungen sind in diesem Sinne käuflich und diese Art der Prostitution, die in unserer Gesellschaft sowohl legal als auch moralisch in Ordnung ist, gehört zum auch normalen Alltag fast jeder Beziehung.

In der Ehe wird noch die Liebe als immaterielle Größe und Grund der Hingabe stets angegeben. Darum wird sie sozial nicht als Hurerei behandelt, auch wenn de facto vermutlich mehr als 90% der Fälle des Sex in der Ehe nach den ersten 5 Jahren, entweder sozial oder pekuniär durch Geschenke oder Zuwendung erkauft. Wer der Sitte und dem Wunsch des anderen gehorcht, handelt moralisch, wer sich für etwas nur hingibt, ohne eigene Lust, wäre heute eher unmoralisch. Aber auch da fließen die Grenzen sehr.

So galt die Lust der Frau beim Sex in der Ehe als ungehörig, dieser wäre nur als Pflicht zu erledigen mit wenig Leidenschaft. Wenn es solche gäbe, wäre sie andernorts zu befriedigen, war sehr lange offizielle Lesart der katholischen Kirche und ist es in vielem noch bis heute. Darunter litten vor allem die eigentlich wesentlich potenteren Frauen während die Männer das Patriarchat auf- und ausbauen konnten. Bei Männern galt es als normal und wenn nicht schicklich, so doch üblich und damit schon fast Sitte vor der Ehe und neben der Ehe sexuelle Erfahrungen zu sammeln Bei der Frau dagegen nicht und in manchen Gegenden der Welt, wird heute noch die blutige Bettwäsche nach der Hochzeitsnacht präsentiert, um damit die Jungfräulichkeit der keuschen Braut zu beweisen.

Auch aus der von den Frauen geforderten Keuschheit entstand die seltsame Sitte der Klitorektomie und der Vernähung der weiblichen Schamlippen, damit diese keine Lust sondern nur Schmerz dabei empfänden, außer sie kämen auf die kluge Idee, es lieber anal zu  tun, was aber von den Religionen als Wächtern der Sitte aber meist rigoros abgelehnt wurde.

All dies lässt den vernünftigen und kritischen Menschen, der mit Göttern nichts am Hut hat und sie weder fürchtet noch sich gerne anpasst, fragen, was es mit dieser Sitte auf sich hat, die Sexualität bestraft oder Lust unmoralisch macht und woher sie kommt.

Wer die Lust und die Triebe der anderen beherrscht, hat Macht über einen ganz zentralen Bereich des menschlichen Wesens. Die Moral dient also der Kontrolle und Zähmung einer Gesellschaft, wenn wir sie wörtlich nehmen. Sie lenkt in moralische Bahnen und ordnet die Beziehungen, in dem sie ihnen einen genauen Rahmen gibt. Damit werden geordnete gesellschaftliche Verhältnisse geschaffen. Mütter wissen, wer die Väter ihrer Kinder sind und Väter sind sich dessen auch sicher und übernehmen dabei im auch noch mit Gefühlen belegten Bereich Verantwortung. So gesehen könnte die religiöse Moral, so albern sie begründet wird, eine gesellschaftlich wichtige, soziale Aufgabe haben, soweit wir sie wörtlich nehmen.

Möglich ist aber auch eine andere Auslegung, die erklärte, warum in katholischen Gegenden mehr Kinder oft gezeugt werden als in protestantischen. Danach wirkte das Verbot luststeigernd also dialektisch. Um so höher die Tabuisierung der Sexualität in einer Gesellschaft ist, desto stärker wächst umgekehrt der Trieb der Mitglieder in diesem Bereich.

Was erlaubt ist und was ich immer darf, ist viel weniger spannend, als was eine Sünde ist. Die Lust wächst so häufig umgekehrt proportional zum Aberglauben. Was für Drogen gilt, die auch nur spannend sind, weil sie eine Übertretung gesellschaftlicher Regeln bedeuten, wirkt noch stärker im Bereich Sex, der einerseits unsere Natur ist, andererseits weit jenseits davon lebt und durch die Vermischung mit Gefühlen wie Liebe in der tatsächlichen Anwendung noch komplizierter wurde.

Was wissen wir noch über unsere Natur dabei?

Wann folgen wir ihr beim eigentlich natürlichen Bedürfnis nach sexueller Befriedigung?

Wo gehorchen wir dabei der Moral und Sitte unserer Gesellschaft und handeln also unfrei?

Sage es lieber gleich, ich weiß es kaum für mich und noch weniger für andere je. In dem Moment, in dem die Triebe über den Verstand siegen, scheint es uns, dass wir der Natur folgen, aber auch das ist relativ unsicher und ist das, was uns dazu reizt oder was wir geil finden wirklich Spiegel unserer Natur oder auch nur ein Abbild der Konventionen, die wir längst verinnerlichten.

Reagiere auf bestimmte Frauen stärker als auf andere und dabei häufig auch noch antizyklisch, so dass der Reiz noch erhöht wird, wo mir eine unerreichbar erscheint, weiß also nicht, ob die Lust auf die eine oder andere eher durch natürliche Reize verursacht wurde oder durch die Provokation des antizyklischen Verhaltens. Dazu kommt noch, dass ich auch gerne liebe und emotional auf bestimmte Typen oder Verhaltensweisen reagiere, die mich stärker anziehen, auch wenn alle Vernunft mir sagt, mit denen wird es nie gut und doch gerade dann ist der Reiz, es zu erreichen um so höher und die Enttäuschung noch erwartbarer.

Wo wir Sex mit Liebe haben, den wir einhellig als den Schönsten bezeichnen, und dem will ich gar nicht widersprechen, auch wenn ich es nicht ganz verstehe, legen wir die Betonung noch stärker in den Bereich der Emotionen. Sind diese Gefühle dann Teil unserer Natur oder ist die triebhafte Natur nur körperlich, während die zärtliche Liebe, auch wo sie die Triebe führt, immer geistig bleibt, frage ich mich dabei und ob es überhaupt je sinnvoll ist diese Bereiche zu trennen.

Bemühe mich immer darum beides im Einklang zu tun, aber, was weiß ich schon wirklich von den Antrieben meiner Natur?

Wann handele ich nur noch dem Sex-Trieb folgend und wo geht es mir mehr um das Gefühl auch beim ganz scheinbar triebhaften Handeln, wäre ein Unterscheidungskriterium, wenn ich etwas hätte, um es festzustellen. Aber ich weiß es nicht wirklich. Wenn ich triebhaft bin und das Blut statt ins Hirn in mein Glied gepumpt wird, ist das Denken meist schwächer und die Unterscheidungsfähigkeit nimmt entsprechend ab.

Vielleicht ist das auch gut so und natürlich - aber wie unterschiede sich dann der Natur nach der Sex mit Liebe von dem ohne, weil sie sich im mechanischen Vorgang ja einer wie der andere völlig glichen?

Es wäre natürlich eine Gefühlsfrage und also ein geistiges Thema und so müssten wir, wenn die Lust am größten ist, innehalten, um uns zu fragen, ob wir das Gefühl geistig spüren und dies stärker ist als der Trieb, damit wir diesen im Schatten der Liebe auch erst gebührend würdigten. Klingt so verkopft und idiotisch, wie es in der Praxis vermutlich wäre.

Die Natur sagt uns schon, wie es richtig ist und wir erspüren ganz natürlich, was wir wollen, will ich denken und manchmal ist das auch so, dann wird der Sex schön und alles ist gut. Aber mindestens so oft, ist es auch nicht so einfach und dann braucht es Gespräche und Offenheit dabei, um neue Wege zum Glück zu finden.

Wann die ersten moralischen Grenzen von der Sitte beim Sex gezogen wurden, lässt sich nicht beantworten. Auch nicht wann die Liebe dabei Einzug hielt und warum sie vielfach für den entscheidenden Faktor gehalten wird. Manches spricht für eine natürliche Entwicklung der sexuellen Gewohnheiten, in der sich während der Evolution zeigte, dass in Familien gesündere Kinder heranwachsen und diese Gemeinschaft uns gut tut.

Aber auch das ist spekulativ eher, so genau können wir das nie wissen und unterscheiden. Würde mich jemand fragen, ob beim Sex mehr die Liebe oder der Trieb überwog, antwortete ich wohl mit der Gegenfrage, wann?

Solange beide um den Höhepunkt ringen oder sich zumindest einer darum bemüht, ist alles auf die Befriedigung gerichtet und diese überwiegt, außer es treten dabei andere Ereignisse zu Tage, die vom Ziel der Triebbefriedigung ablenken. Danach überwiegt dagegen bei mir meist das Gefühl. Bin dann voller Dankbarkeit und auch Liebe für die Frau in meinen Armen oder unter mit oder wie auch immer.  Darum ist der wohl tatsächlich real relativ seltene gemeinsame Höhepunkt mein Ideal, weil sich dann beide voller Liebe zärtlich in die Arme sinken können und nicht nur einer glücklich erschöpft ist.

Auch bevor es richtig anfängt, oder in überraschenden Momenten dabei auch immer wieder, überwiegt plötzlich das Gefühl. Es kann eine aufkeimende Zärtlichkeit oder auch nur ein Reflex auf ein bestimmtes Verhalten sein, manchmal eine unerwartete Erinnerung und dann auch wieder ohne jeden Grund, völlig irrational, aus dem Gefühl eben.

Kenne das von all meinen Lieben und es kann mich dieses Gefühl auch immer wieder packen, wenn ich diese wiedersehe, als sei die Liebe immer unsterblich, schreibe ich so leicht dahin und bin vom Gedanken ganz gerührt. Meist überwiegt nach einer Trennung die Vernunft und ihre Gründe alle Triebe, aber nicht immer.

Bevor ich mich nun aber in gefühligen Geschichten und Anekdoten verirre, sei des Themas der Sittengeschichte gedacht und dem Grund des Ausfluges, der Unterscheidung von Natur, Gefühl und Konvention. Es bleibt unklar, was genau für welchen Bereich zuständig ist, auch wenn wir immer mehr wissen, welche Hormone beteiligt sind oder wo die Reaktionen wie im Hirn ablaufen, was sich jedoch auch von Mensch zu Mensch unterscheiden kann, weil es keine taugliche immer gültige Landkarte für das Gehirn gibt.

So funktionierten nach meinem Unfall bestimmte Bereiche nicht mehr oder nicht, wie sie sollten, ich sprach nicht oder atmete anfangs auch nicht selbständig, was ich aber schon wenige Monate danach wieder konnte. Dies nicht weil der Bereich wieder heil gewesen wäre, tote Hirnzellen bleiben tot. Funktionierte das Gehirn nur lokal und nicht bloß funktional, hätte ich durch den Schlag auf dem Kopf vor bald 30 Jahren all die dort lagernden Fähigkeiten verloren, doch sie kamen alle wieder, weil es sich neue Zellen irgendwo anders suchte, auf die das Programm aufgespielt wurde, was im Kopf eines Fußballers im kleinen Rahmen nach jedem Kopfball geschieht.

Vielleicht funktioniert es mit Lust und Liebe so ähnlich etwas chaotisch unklar. Bestimmte Bereiche reagieren normalerweise, aber es können auch ganz andere sein und dazu kommen noch viele Dinge, von denen wir nichts wissen, bei denen unklar ist, ob wir sie je verstehen können, weil hier auf Ebene der neuronalen Netzwerke bestimmte Reaktionen auf Erfahrung und Gefühl mit gewissen Hormonen reagieren und jeder in seinen Milliarden Verbindungen im Hirn dabei andere Schwerpunkte hat, auf die es in genau dieser Situation aber ankommt.

Dann wäre Sex mit Liebe zwar gefühlt immer noch am schönsten, wir wüssten nur nicht warum und ließen die Dinge aus Respekt vor der Komplexität geschehen. Es stellte sich aber die Frage, warum die Sitte an dieses Verhalten Sanktionen oder Belohnungen knüpft, wenn es in seinen Gründen zu komplex ist, ganz verstanden zu werden. Eine Sanktion oder Belohnung ist nur sinnvoll für ein Verhalten, das in unserer Verantwortung oder Kontrolle liegt, wo das nicht so ist, fehlte es juristisch immer an der Schuld und desto spannender wird nun die sittliche Beurteilung eines Handelns als gut oder verwerflich.

Wir können uns unter Zwang auch im Bereich der Sexualität bestimmten Konventionen anpassen, was viele Homosexuelle über Jahrhunderte aus Schutz vor der bigotten kirchlichen Moral mussten. Ob dies die Homosexualität quasi dialektisch noch reizvoller machte, weil sie ein Tabu war, ist unklar. Vermutlich, liegt die sexuelle Neigung in unserer Natur angelegt, die zu einem bestimmten Prozentsatz immer gleichgeschlechtlich auch war. Wer diesen relativ geringen Prozentsatz von vermutlich nicht einmal einem Viertel tabuisiert, übt damit eine ungeheure soziale Macht und Kontrolle aus.

Ein Staat, der sich als quasi Nachtwächter nur um staatliche Dinge kümmert und einen bloßen Rahmen für das Zusammenleben bildet, wird sich nie um solche Fragen kümmern. Dagegen haben viele Staaten ein starkes Bedürfnis auch das private Leben ihrer Bürger zu regulieren, um ihre Macht auszubauen, die Gesellschaft in ihrem Sinne zu formen.

Die großen monotheistischen Religionen mit ihren genauen Regeln auch für Sexualität, Zusammenleben und Sozialverhalten, geben dem Staat hier eine Möglichkeit der Kontrolle über Moral und Sitte, deren Maß sie erklären, was kein Bürger dem Staat freiwillig gäbe. Daneben haben sie noch eine relativ simple Ethik, die ein friedliches Zusammenleben ermöglicht,

Über Jahrhunderte haben wir das uns stets diktierte sittliche Verhalten, wie es die Religionen forderten so weit verinnerlicht, dass uns vieles davon heute natürlich und normal scheint, während andere vielleicht auch genauso natürliche sexuelle Neigungen für krank gehalten wurden. Wir sind also in unseren Urteilen sozial unfrei und in einem uns fremden Rahmen gefangen. Doch geht es den meisten so, warum es uns weniger auffällt.

Anderes Sexualverhalten erlebten viele Forscher bei den Eingeborenen der Südsee bei Inselvölkern oder Urwaldbewohnern - dort schickte der Vater seine jungen Töchter nachts zu den Gästen in die Hütte oder Hängematte, damit sich beide miteinander vergnügen sollten oder, wo es keine Töchter gab, auch die eigene Frau. Teile der Forscher, vermutlich alle, die es nicht selbst genießen konnten, empörten sich über dies Verhalten, dem jeder Anstand und alle Sitten fehlten, andere, vermutlich die Genießer, lobten die Freiheit und Schönheit der Inseln.

Viele Völker der Welt verhüten natürlich während der fruchtbaren Tage mit Analverkehr, völlig normal, schön und für alle Beteiligten ein Glück, da der weibliche nervus pudendus auf diesem Weg am direktesten stimuliert werden kann, was viele in Konventionen gefangen, weder genießen können, noch wissen. Im westlichen Kulturraum ist dies für manche Frauen ein Tabu geworden, das in manchen Bundesstaaten der USA sogar strafrechtlich belangt wird, genau wie der Oralverkehr, was noch absurder erscheint aber mit dem christlich abergläubischen Begriff der Reinheit zu tun hat.

Auch der freie oder unfreie Genuß der Sexualität hängt häufig stark mit dem erlernten Sozialverhalten zusammen. So kannte ich Frauen, mit denen ich immer, wenn es dazu kam für beide Seiten wunderbaren Sex hatte und dennoch zierten diese sich manchmal aus nicht sexuellen Gründen sehr, benutzten diesen als Mittel zum Zweck andere Ziele zu erreichen, betrieben also Hurerei statt Liebe, die sie damit einfordern wollten, verhielten sich also absurd, obwohl sie schönen Sex kannten und selbst genießen konnten. Weniger wunderte mich dies Verhalten bei denjenigen, die ohnehin keine große Lust entwickelten oder seltener Befriedigung fanden, doch trat es bei beiden gleich häufig auf, ohne dass es je einen Vorteil ihnen brachte, weil es mir wichtiger meist ist, nicht erpressbar zu sein, als Sex zu haben, was natürlich, wie immer, nur theoretisch gilt.

Schaffen die Sitten und die Moral dabei einen Rahmen, der das Zusammenleben erleichtert oder erschwert, fragt sich am Ende der Betrachtungen?

Weiß auch das nicht wirklich zu entscheiden, weil es, wie immer, Elemente von beidem hat. Sie erhöhen den dialektischen Reiz, was zumindest bei Katholiken sehr effektiv funktioniert aber mich aufgeklärten Atheisten mit protestantischem Hintergrund meist eher nervt. Gegen sie spricht, dass sie uns häufig völlig im bloßen Gehorsam gegenüber den Sitten von unserer Natur entfernen und wir diese mit jener verwechseln. Die Menschen tun nicht, was sie wollen, sondern was sie sollen und vergessen darüber, wozu sie eigentlich Lust haben, wie sich Lust natürlich anfühlt.

Die Sittengeschichte des Abendlandes ist eine gruselige voller Verbote und den Versuchen, diese zu umgehen, mit zahlreichen emotional verkrüppelten Wesen, die nicht mehr wissen, was sie möchten und wie sie genießen können. Hier bräuchte es dringender einer Befreiung und Entstaatlichung aller Sexualität als einer neuen Moral. Viele Verbote und Regeln sind ein Witz geworden und erreichen das Gegenteil des erwünschten, weil sich die Zeit geändert hat.

Wer Sexualität für etwas privates hält, sollte es auch jedem überlassen, wie er damit umgeht - es muss da nichts immer falsch oder richtig sein, solange alle Beteiligten, wissen, was sie tun und es so wollen. Alle Sitten und jede Moral sind dabei meist nur ein absurder Spiegel der Versuche, die Welt zu ordnen.
jens tuengerthal 1.1.2017