Mittwoch, 2. August 2017

Lesereisen

Reisen oder Lesen - ist das eine Alternative und worauf kommt es an?

Früher las ich von den Reisen und Abenteuern anderer, um sie später einmal selbst zu erleben - träumte davon durch die Welt zu ziehen, hatte eine Weltkarte an der Welt hängen, die mir mein Patenonkel mit den Worten, die sei sein Lieblingsbuch, geschenkt hatte. Wenn ich groß war, wollte ich die Welt erobern und mehr noch als meine Onkels alle, die schon viele Orte der Welt kannten und wilde Abenteuer erlebten - von der beinahe Erschießung des einen im revolutionären Nordafrika auf seiner Fahrradtour dort, bis zur abgefrorenen Fingerkuppe des anderen auf dem Mount McKinley in Alaska.

Natürlich würde ich auch den Kilimanjaro besteigen wie einer von ihnen auf den Spuren Hemingways, demgemäß er auch irgendein gehörntes Tier in Afrika schoss, was nun sein Treppenhaus ziert, auch wenn ich das innerlich schon irgendwie bedenklich fand, schienen diese Beweise seiner Männlichkeit und Potenz, ihn glücklich zu machen. Bevorzugte da schon immer andere. Wollte auch wie mein Vater nach Machu Picchu reisen durch den Urwald und im Roten Meer tauchen wie er, aber noch größere Abenteuer als alle erleben - etwa die alte Seidenstraße ganz mit dem Fahrrad abfahren oder von Pol zu Pol wandern und ich las die entsprechenden Reiseberichte vom Dach der Welt, bis in tiefste Höhlen, von Humboldt über Harrer bis Hedin und auch Forster begeisterte mich auf seiner großen Seereise mit Cook.

Wusste zwar, dass ich dabei seekrank vermutlich würde, der Genuss eher bescheiden wäre, warum ich irgendwann statt der großen Seereise und dem Abenteuer auf dem Meer mir die Radtour oder die mit dem Camper auf der Seidenstraße und durch den Hindukusch nach Indien vornahm, dennoch schien mir die Lust auf Abenteuer und Reise ganz natürlich und ein Bedürfnis meines Daseins als Mann. Was wäre ich auch für ein Weichei, wenn ich nicht den Onkels und dem Vater nacheiferte und sie zumindest in dem, was sie schon taten, übertraf.

Die Arktis und ihr Gegenpol sowie Grönland oder die Nordwestpassage waren noch unberührt von der Familie und so fand ich dort das Ziel meiner Träume - dort war es ziemlich kühl und ich müsste nicht ständig schwitzen, was schon eine sehr angenehme Vorstellung für den künftigen Abenteurer war. Nansens Reiseberichte lasen sich gut, lassen wir mal beiseite, dass er sich mit einem Segelboot, dem eisigen Norden näherte, um sich dort einfrieren zu lassen. Aber eingefroren, also still liegend, mochte ich Schiffe auch gern - vorher überließ ich sie lieber anderen oder las nur davon, wie auf Travens Totenschiff, was mich an jegliche meiner Schiffserfahrungen erinnerte. Was mir meine Liebe zur einer Seefrau, die als Kapitänin und Offizierin die Weltmeere befuhr, noch bestätigte. Es lohne sich nicht, sich den Unbill des Meeres auszusetzen, es war unbequem, unnötig  gefährlich und hatte keinen Gewinn als die unbequeme Zeit überstanden zu haben - verständlicherweise, verstand ich mich mit der Kapitänin, wenn sie an Land war nie wirklich und so ließ ich das Kapitel bald glücklich befreit hinter mir. Sie war eine ewig Reisende, ich wollte es nie sein.

Eigentlich, wenn ich ganz ehrlich war, wäre ich lieber untergegangen, als länger auf einem schaukelnden Schiff mit der ständigen Übelkeit zu leben. War ich nun ein Weichei, das nicht zum Abenteuer taugte?

Die Onkels kletterten noch mit über 70 auf die hohen Masten der Segelschiffe auf denen sie ihre Touren buchten, während ich eigentlich genau wusste, bevor ich einen Cent für eine solche Reise ausgab, investierte ich lieber alles Geld in Bücher, die mich vollkommen glücklich machten, die ich auf einem bequemen Stuhl im Café lesen konnte, oder auch bei feinstem Tee in meinem Lesesessel, vollkommen glücklich und relativ ungestört.

Es dauerte lange, bis ich mir eingestand - Reisen ist nicht meins und interessiert mich nicht, wird aus meiner Sicht völlig überschätzt und sollte besser von allen, die das Leben genießen wollen, gemieden werden. Erst schob ich ökologische Gründe vor, die gegen Flugreisen sprachen und überhaupt sei der Massentourismus eher schädlich als lohnend. Wollte nirgendwo hinfahren, sondern war in meinem Berlin mit seinen vielen Dörfern und Museen eigentlich vollkommen glücklich, erwartete nichts anderes mehr vom Leben als schöne Bücher und das immer wieder Abenteuer, sie zu lesen, lebte eher in geistigen Welten, als das mich reale Abenteuer, sehen wir von denen in Lust und Liebe mal ab, für die aber keiner Berlin verlassen muss, noch irgend reizen konnten.

Sicher genoss ich es mal am Meer oder einem schönen See zu sitzen, sehe ich von den lästigen Mücken oder Ameisen ab und ignoriere ich die vielen anderen, die es an schönen Stränden eben auch schön finden. Aber der Gipfel des Genusses blieb doch immer mein  Lesesessel, die heimische Bibliothek oder das Café um die Ecke und all dies war ohne Aufwand zu erreichen.

Kalkulierte ich kurz, was mir die Weigerung zu Reisen ersparte, wie minimal mein Aufwand zum vollkommenen Glück war, fragte ich mich ernsthaft, warum Menschen es sich antaten, in und durch die Welt zu reisen, sich mit seltsamem Essen, den Magen zu verderben, statt ruhig zu genießen, wo sie waren.

Das Bedürfnis in die Heimat zu reisen, ist mir relativ fremd, da ich eine solche nicht habe - fühle, wenn ich in Bremen bin, wo ich ja nur mein erstes Jahr verbrachte, etwas, was andere wohl heimatlich nennen - aber solange ich dort nur zu Besuch bin, frage ich mich, wozu ich mich abhetzen soll, um eine Reise dorthin zu unternehmen. Mit dem Wohnort meiner Eltern in der sonnigen Kurpfalz verbinde ich inzwischen eine hohe Vertrautheit, leben sie doch schon seit über 30 Jahren dort, habe ich da auch einen Teil meiner Jugend verbracht, in der Nähe studiert und doch blieb es mir immer auch fremd, klingt der dortige Dialekt für mich eher unbeholfen und amüsant als schön, was ich, seltsam genug, bei der vertrauten norddeutschen Aussprache empfinde, die mir Vertrauen einflößt und ohne Gründe Seriosität vermittelt, was an meiner Mutter und ihrer Herkunft von da wohl liegen kann, wozu Thomas Mann in den Buddenbrooks seinen Teil beitrug.

Für Frankfurt am Main, wo ich 15 Jahre lang lebte und aufwuchs, wie Goethe es einst tat, ohne mich dem Meister durch die zufällige lokale Nähe hier vergleichen zu wollen, empfinde ich mehr Heimatgefühl etwa als für Heidelberg, dieses museale von Touristen durchströmte Kaff am Neckar, auch wenn mich die Erinnerung mit vielen meiner frühen Lieben dort und auch mit dem romantischen Schlosspark verbindet - vielleicht ist Heidelberg auch ein wenig zuviel - nett, traditionell aber nicht meine Welt, obwohl sie eine wunderbare Universitätsbibliothek mit zahlreichen bibliophilen Schätzen haben, fremdle ich dort mehr als in Weimar, wo ich nie lebte, aber mich sofort zuhause fühlte und mich auch relativ blind orientieren kann wie in Bremen, was allerdings in dem thüringischen Kleinstädtchen auch relativ leicht ist.

Reisen nach Weimar und Bremen, nötige Verwandtenbesuche im Süden oder Norden, vielleicht nochmal Frankfurt, um das mit heimatlichen Gefühlen verbundene Städel zu besuchen - ansonsten meide ich heute jede Reise und was für viele Menschen die schönste Zeit im Jahr ist, in der sie unter südlichen Sternbildern sich die Sonne auf die Haut brennen lassen oder vermeintlich wichtige Dinge anschauen, um die absoluten “musts” in ihrem Lebenskatalog abzuhaken, wäre für mich eher ein peinliches Grauen.

Früher gab es auf den Jahrmärkten Buden in denen sonderbare Menschen gezeigt wurden, häufig mit körperlichen und geistigen Behinderungen oder anderen Besonderheiten. An den Höfen gab es Narren, die sich in Schalknarren und Stocknarren teilten, erstere waren eigentlich klug, machten aber sich und die anderen humorvoll zum Narren, letztere dagegen waren Behinderte, deren außergewöhnliches Verhalten den anderen zum Amusement und Spott diente.

Schon Thomas Morus regte sich in einem Brief an Erasmus von Rotterdam über diese Form der Unterhaltung auf und beschrieb sein ideales Land Utopia so, dass diejenigen, die mit so niedriger Gesinnung andere verspotteten zum Gespött der Gesellschaft würden - sich böser Hohn nicht lohnte sondern verkehrte.

Zwar sind wir heute etwas politisch korrekter geworden, auch im Umgang mit Behinderten und anderen vom Durchschnitt abweichenden Eigenschaften oder Gewohnheiten, doch die Freude an der Schadenfreude ist auch medial noch weit verbreitet, wie etwa der früher Erfolg der üblen Sendung “Die versteckte Kamera” mit Kurt Felix und Paola belegen und bis heute aktuelle vergleichbare Sendungen im Unterklassenfernsehen.

Warum meine Großeltern, eigentlich gebildete Bremer Bürger, die auf ihre hanseatische Art und ihren großbürgerlichen Hintergrund viel mehr Wert legten als da war, sich an solchem Spott so erfreuen konnten und es nicht eher mit der vornehmeren Vision des Thomas Morus von Utopia hielten, ist mir bis heute ein Rätsel. Wer sich schadenfroh amüsiert, scheint mir immer eher unfein - wie es auch Kurfürst Georg Friedrich von Sachsen war, genannt der Weise, der Luther rettete und förderte, und der Karl V. einst unterlag, von dessen Hofnarr ich jüngst las, der obwohl ein Stocknarr in manchem weiser mir schien als seine seltsamen Herren, die sich auf Kosten anderer nur amüsierten.

Zurück in die Gegenwart - viel des heutigen Tourismus, der eine ganze Industrie am Laufen hält, scheint mir eine Popularisierung der früheren Idee vom Narren zu sein. Die Reisenden machen sich selbst zum Narren, nehmen Dinge auf sich, um etwas zu sehen, was sie bequem via Google von ihrem Sessel anschauen können, ohne die Unbill des Reisens zu erleiden, sich den Gefahren auszusetzen, die keinen Gewinn versprechen, als eitel darüber berichten zu können, was eher gegen den Charakter der Betreffenden spricht, als sie interessant zu machen, wie ich finde.

Höre ich, wenn der Sommer zu Ende geht, den Besuchern im Café länger zu und ihre Berichte über ihre Urlaubsabenteuer, fühle ich mich immer bestätigt, auf keinen Fall mehr wegzufahren, jedenfalls nicht mehr als unvermeidbar. An mir ginge die Tourismusindustrie  sofort konkurs, während Verlage und feine Buchkunst expandierten.

Frage ich mich am Ende meines Lebens, was ich wovon hatte, kann ich zumindest sicher sagen, dass ich mehr zufriedene und ruhige Lebenszeit hatte als all die Reisenden, die mehr oder weniger hektisch durch die Welt eilen, um dagewesen zu sein und wieder weg zu gehen, statt irgendwo anzukommen und glücklich zu sein.

Kenne die Welt aus Büchern besser als von den Reisen, die ich früher leichtsinnig unternahm und mehr als zwischen zwei Buchdeckel passt, interessiert mich selten oder eher nie. So bin ich mit weniger zufrieden und glücklich, schade der Umwelt definitiv weniger als all die unsinnig Reisenden und fühle mich viel reicher dabei. Warum sollte ich an diese glücklichen Leben noch je etwas ändern und wofür?

jens tuengerthal 2.8.2017

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