Warum Lesen Kult ist und die Kultur trägt
Lesen ist wunderbar und der vielleicht wichtigste Teil unserer Kultur, jedenfalls derjenige, der unser Wissen weitergibt und seit Generationen trägt. Dies beginnt in der Kindheit, in der wir hoffentlich das Glück haben, vorgelesen zu bekommen, geht mit den ersten eigenen Leseabenteuern weiter, die uns an fremde oder phantastische Orte führen können oder uns auch bei der langen Reise zu uns selbst helfen.
Ist es wichtig, was wir lesen oder genügt, dass wir lesen?
Über Jahrhunderte ist eine literarische Kultur gewachsen, in der Autoren Bücher für verschiedenste Leser produzierten und auch wenn mir die allermeisten Bestseller eher fern liegen, meine Leidenschaft eher bei Geschichte, Thomas Mann oder der Weimarer Klassik liegt, würde ich mir nie ein Urteil über die Konsumenten der Massenprodukte erlauben, sehe ich uns Leser vielmehr durch das unsichtbare Band der geistigen Welten verbunden. Menschen, die lesen, leben in der Welt der Buchstaben und lassen sich von Geschichten fesseln.
Bin noch mit Büchern aufgewachsen, hatte keine elektronischen Spielzeuge, sehen wir von meiner elektrischen Eisenbahn einmal ab und auch wenn mich das in meiner Kindheit manchmal nervte, ich neidvoll auf meine Freunde schaute, die sagenhafte Commodore Computer zum Spielen hatten, auf denen wir pubertären Knaben dann so aufregende Dinge wie Strippoker spielten, in einer Zeit als noch keiner ans Internet dachte, bin ich froh, mit Büchern aufgewachsen zu sein, sie früh lieben gelernt zu haben.
Heute, wo ich eine bescheidene, kleine Bibliothek mein eigen nennen kann, habe ich damit die ganze Welt an einem Ort, muss nirgendwo hin, um als Leser glücklich zu sein. Weniger große Reisen reizen mich heute, als Zeit und Muße zum Lesen zu haben, mir Lesezeit zu nehmen, neben dem ganzen Schreiben.
Frage mich manchmal, ob es nicht wichtiger wäre und viel schöner, sich mehr Zeit zum Lesen zu nehmen, statt selbst noch zur Flut des Geschriebenen beizutragen, um Leser am Markt zu buhlen, und habe keine vernünftige Antwort darauf gefunden. Die Vorstellung nur zu lesen, ist einfach herrlich. Beim Tee in meinem Sessel oder im Café um die Ecke, hätte ich dann alles, was ich bräuchte und könnte damit vollkommen glücklich leben in literarischen Welten.
Wird es mir zu warm, besuche ich Manns Hans Castorp auf dem Zauberberg oder reise mit Nansen zum Pol. Ist es mir zu kalt und grau, lese ich ein wenig Humboldt oder Forster aus Südamerika und Südsee. Bin ich traurig, lese ich heiteres oder, immer beruhigend, historisches. Es gibt Bücher für jede Stimmung und sollte mir weniger nach schwerer Lektüre sein, sind auch Comics ein schöner Trost mit ihren reichen Bilderwelten.
Es gibt, völlig unterschiedliche Arten zu lesen, ist mir aufgefallen. Einer meiner literarischen Freunde, der selbst sehr belesen ist, auch seine Leidenschaft gilt neben den nackten Frauen der schöngeistigen Literatur, die er gerne im Café pflegt, liest stets mit einem Stift in der Hand, um die Bücher zu kommentieren oder zu exzerpieren. Wenn er sie dann einmal gelesen hat, muss er sich künftig nur noch durch seine Randbemerkungen und Kommentare lesen, um schnell zum Kern zu finden.
Es läge mir fern und täte mir fast körperlich weh in meine geliebten Bücher zu schreiben, ich fände den Vorgang des Lesens durch seine Kommentierungen und Zusammenfassungen ärgerlich gestört. Eigentlich nie, lese ich mit einem Stift in der Hand, außer ich muss ein Buch rezensieren und auch dann tippe ich meine Gedanken lieber gleich ein, den Vorgang des Lesens kurz unterbrechend. Liebe schöne und seltene Ausgaben besonders bibliophiler Bücher, auch wenn ich gelegentlich nichts gegen die elektronische Lektüre habe, die es mir zumindest ermöglicht, eine große Bibliothek stets bei mir zu tragen.
Andere verschlingen ausschließlich Romane, tauchen in deren Welten glücklich ein und erst nach der letzten Seite wieder auf, um sie dann mit dem nächsten Buch, wieder zu vergessen, weil sie ein neues Leseabenteuer erwartet. Ihre Ansprüche sind oft niedriger und sie können mit vielem glücklich sein.
So hatte ich einmal eine Geliebte, die sogar die literarisch grauenvollen Shades of Grey von der ersten bis zur letzten Seite voller Begeisterung verschlang, aber auch im gleichen Moment und auf gleicher Ebene für Goethe, E.T.A. Hoffmann oder Rilke schwärmen konnte oder Karl May, sogar meine Lyrik liebte, weil sie eben nicht wählerisch war. Sie liebte es, zu lesen und verschlang die Bücher förmlich, betrachtete meine Bücher mit viel Zärtlichkeit aber vermutlich hätte sie diese genauso angeschaut, wenn dort Fantasy Romane oder schwülstige Erotikgeschichten gestanden hätten. Sie musste nicht differenzieren, um glücklich zu sein und war literarisch leicht zu befriedigen.
Eigentlich ein glücklicheres Leben als meines oder das meines Freundes, die wir uns nie unter ein bestimmtes literarisches Niveau begeben wollen, denke ich inzwischen manchmal und beneide sie dennoch nicht, weil ich gerne auf meinem Niveau glücklich bin und weiß, es gibt auch dort noch unendlich große Welten zu entdecken.
Wäre es arrogant, sich so über die eine oder ander Literatur oder Leidenschaft zu erheben oder gilt auch hier das berühmte suum cuique?
Wer sich erhaben fühlt, nur weil er Bücher liest, die bloß ein kleineres Publikum begeistern, tut mir eher leid. Andererseits ertappe ich mich oft genug selbst bei diesem Denken, wie bei der obigen Bemerkung zu der von vielen Frauen geliebten Erotik-Trilogie Shades of Grey, die ich schlicht unlesbar fand. Nicht aus moralischen Gründen, sondern weil sie so durchschaubar flach und schlecht ist. Zumindest auf den wenigen Seiten, die ich las und nach denen klar war, ich würde nie Zeit aufwenden, dieses Zeug zu lesen, oder gar darüber zu schreiben, außer um darüber zu lästern, was auch schon zuviel des Guten ist.
Ähnlich geht es mir mit den meisten Fantasy Büchern oder Krimis und ich wüsste nicht, warum ich solchen Werken Platz in meiner Bibliothek einräumen sollte. Was nicht heißen soll, dass all diese Bücher gleich schlecht sind - aber ich habe auch den Herren der Ringe irgendwann einfach weggelegt, weil ich ihn literarisch zu langweilig und durchschaubar fand, er mich anödete. In Jugendzeiten noch, als die meisten meiner Freunde dies Werk lasen und davon schwärmten, konnte ich mich nicht dafür erwärmen, es überhaupt zu versuchen. Als ich später mal irgendwo günstig eine gebundene Ausgabe dieses Klassikers erstand, dachte ich, nun wäre es an der Zeit und ich wollte mich von diesem viel umschwärmten Werk gut unterhalten lassen, was aber irgendwann zwischen verschiedenen Kämpfen scheiterte.
Nicht mehr aufhören konnte ich dagegen mit den Buddenbrooks oder dem Zauberberg, die mich völlig in ihre vertraute Welt hineinzogen, was ich bei Tolstoi ähnlich empfand, während mich Dostojewski eher befremdete in Teilen, ganz anders als ein Michel de Montaigne, der so viel älter schon ist und doch so nah und vertraut mir bei jeder Lektüre klingt, dass ich mich dadurch so bereichert fühlte, als müsste es nichts als eine Welt aus Büchern geben und wollte ich mich auch in meinen Turm zurückziehen.
Kant, den ich zwischen all seinem philosophischen Formalismus immer grinsen sehe, weil er seiner Gesellschaft den Spiegel vorhielt, alles was sie ausmachte grundsätzlich in Frage stellte in seinen Kritiken, die kaum einer, mich eingeschlossen, vermutlich ganz verstand und die doch so menschlich anarchisch hinter allem Formalismus sind. Wie ein preußischer Philosophieprofessor in seinem Kopf die Welt verkehrte, Moral umkehrte, die vorher immer autoritär durch höhere Gesetze begründet wurde und nun plötzlich im Gewissen des Einzelnen allein sitzen sollte, amüsierte mich sofort.
Habe vermutlich weniger von Kant gelesen, als ich sollte, wenn ich so über ihn schreibe und doch habe ich das Gefühl der Sicherheit bei ihm und sehe immer auch den Schalk, der ihn trieb, mit dem er auf seine Art alles infrage stellte, worüber sich nur keiner erregte, weil kaum einer ihm ganz folgte und seine Gedanken konsequent zu Ende dachte und wenn es doch einer tat, berief sich der Königsberger darauf, er sei doch ein treuer preußischer Beamter und habe sich nichts vorzuwerfen, und rein logisch hat ihn bis heute keiner korrigieren, verbessern oder erweitern können - die Anmaßung des Schwaben Hegel brachte nur mehr Formalismus hervor, zeugte aber nur davon, wie wenig er Kant im Kern verstand, würde ich sagen, ohne mir eigentlich ein Urteil erlauben zu können.
Habe die vielleicht schlechte Angewohnheit immer stapelweise Bücher auf einmal zu lesen und immer dasjenige von demjenigen Stapel zu nehmen, was mir gerade emotional am nächsten liegt. Lese dennoch die meisten Bücher irgendwann zu Ende, nur habe ich keine Eile damit. Wozu auch?
Ist ein Buch ausgelesen, ist es ausgelesen und zu Ende, gibt es kein zweites erstes mal mehr, nur schöne Momente wiederholter Lektüre falls es sich lohnt - doch außer im Zauberberg und den Buddenbrooks sowie Montaignes Essays, lese ich sehr, sehr wenig noch mal. Habe Bücher, die ich einmal las, im Kopf und so wie ich Bücher auch monate- oder jahrelang zwischenparken kann, bis ich sie weiterlese und dann sofort wieder in die Geschichte hineinfinde oder das Buch besser vergesse, so muss ich eher nichts wiederholen, weil sich das Erlebnis der literarischen Defloration nicht wiederholen lässt.
Bücher wie der Zauberberg, die Buddenbrooks oder der Wilhelm Meister auch, die Welten schaffen, in sie mitnehmen, gleichen bei erneuter Lektüre eher dem Besuch bei alten Bekannten. Manchmal entdecke ich dann sogar eine Eigenschaft, die ich vorher noch nicht kannte, sehe mit neuem, erweiterten Blick auch Dinge, die mir nie aufgefallen waren, doch wie beim Besuch bei Freunden, die wir ja auch darum eigentlich wählen, schätze ich nur die Wiederholung an sich, geht es um nichts neues sondern eher das Eintauchen in eine vertraute Welt, in der ich mich durch die Gewohnheit Zuhause fühle - nur gibt es außer Mann und Goethe sehr, sehr wenige, die mich dazu bisher verführen könnten, doch habe ich Hoffnung, sollte ich so lange leben, dass mein Gedächtnis irgendwann nachlässt wie bei meinen Großeltern und mir eigentlich bekanntes plötzlich ganz neu vorkommt und ich so alles noch einmal lesen kann.
Sollte es so kommen, bestätigte es meine Vermutung, dass wir, je älter wir werden, desto weniger brauchen und auch mit längst bekanntem, zufrieden und glücklich sein können. Einzig die parallele Lektüre so vieler Bücher muss ich mir dann im Alter wohl abgewöhnen, weil ich sonst mit jedem stets wieder von vorne beginnen müsste und nie zu einem Ende käme, was angesichts der natürlichen Endlichkeit unseres Lebens ein relativ unbefriedigendes Leseergebnis haben könnte, wenn es um Ergebnisse ginge und ich Bücher abhaken wollte wie Aufgaben, um auch das einmal gelesen zu haben.
Da mir jedoch nichts ferner liegt, ich mich eher daran freue, mir Zeit zu lassen und in Ruhe zu genießen, finde ich die Vorstellung mich erwartender Vergesslichkeit nicht schlimm sondern freue mich dann noch mehr am täglich wieder neuen, was ich erleben darf. Bin neugierig, wie weit das gehen wird und was es aus mir als Leser macht, sollte mir ein so hohes Alter tatsächlich vergönnt sein, könnte es auch wunderbar sein, sich jeden Tag an wenigen, hundertmal gelesenen Seiten, aus dem Zauberberg oder den Buddenbrooks zu erfreuen.
Ist Lesen Kult, weil es uns in andere Welten jenseits der nur Wirklichkeit holt?
Dann wäre Lesen nur eine Art Flucht vor der Wirklichkeit, für die es sicher der Gründe genug gibt. Frage mich jedoch, ob es wirklich um Flucht dabei geht oder nicht vielmehr das Streben nach einer schöneren parallelen Realität, die für jeden Leser sehr viel wirklicher ist als die graue Wirklichkeit jenseits der Lektüre.
Genieße Lust und Liebe in der Realität mit meiner wunderbaren Liebsten sehr und doch würde ich die literarische Parallelwelt nie für egal was oder wen aufgeben, sondern genieße beide eben parallel oder noch besser kombiniert, sich austauschend. Glücklich wer sich auf geistiger und körperlicher Ebene findet und austauschen kann und so eine Art Multikulti der Parallelwelten miteinander teilen kann und so nenne ich mich glücklich in allem.
Parallelwelten werden im üblichen, politischen Sprachgebrauch eher abwertend verstanden und meinen dort die Problematik, die sich ergibt, wenn Migranten wie abgeschlossen in ihrer eigenen Kultur in einer eben Parallelwelt leben, die neben der Kultur der Mehrheit existiert und mit dieser in manchem schwer kompatibel scheint. Diese Folge fehlender Integration ist in der Bundesrepublik in manchem sichtbar. Weniger jedoch als in den USA wo sich ebenfalls ganze Kulturen ihre eigenen Stadtbereiche gestaltet haben, die sich von der herrschenden in vielem unterscheiden und wo diese Orte eher als einheimische Folklore wahrgenommen werden, aber auch engstirnige Menschen immer wieder in Angst und Schrecken versetzen.
Wenn ich nur eine Straße von meinem Bezirk Prenzlauer Berg überquere, lande ich in der Parallelwelt des Wedding und genieße das andere. In Berlin funktioniert gut, was andere Teile des Landes, um ihre homogenen Gewohnheiten fürchtend, als politischen Schrecken an die Wand malen, doch sind diese politischen Messerstechereien von der rechten Seite in diesem Fall kein Thema, wo es um die jedem Leser bekannten literarischen Parallelwelten geht.
Diese schaffen einen Kulturraum, der für den Leser real ist und in dem wir Leser oftmals glücklicher leben als in der nur Realität, die viele für die einzige Wirklichkeit halten, doch wie wirklich die Wirklichkeit ist, fragte schon Watzlawick einst, um uns auf die Relativität der Wahrnehmung aufmerksam zu machen, die ein toleranteres Miteinander ermöglicht. Wer selbst merkt, wie er lesend immer wieder in Parallelwelten eintaucht, wird auch in der Realität mit diesem Nebeneinander weniger Probleme haben und glücklich mit dem sein, was alles sein kann.
So gesehen hat es auch mit der politischen Kultur der Toleranz zu tun, Lesen zum Kult zu erheben und so nicht nur die eigene Kultur weiterzugeben, sondern auch viel über andere zu lernen, für die offen zu sein, einfach schön sein kann, literarisch betrachtet und gelebt. Als Bewohner der literarischen Parallelwelt, der sich in der realen nur manchmal mehr oder weniger gut zurecht findet, schlechter jedenfalls als bei der parallelen Lektüre, kann ich diesen Weg nur empfehlen, um sich überall in seinen Büchern zuhause zu fühlen.
Die Weitergabe der Kultur erfolgt beim Lesen von allein und es ist dabei erstmal egal, was lesen lässt, solange überhaupt gelesen wird - Niveau und Geist muss jeder für sich und seiner Art entsprechend entdecken - Hauptsache es wird mit Lust und Leidenschaft mit dem Lesen begonnen, statt sich nur berieseln zu lassen, etwa vom Fernsehen oder an Rechnern, wie es die werten Leser wohl gerade tun, sich in sozialen Netzwerken zu verlieren.
Es spricht nichts gegen elektronische Lektüre und der Kindle am Strand leidet weniger als viele Bücher - wer wie ich gerne besonders schöne Bücher liest, wird sich an den unempfindlichen elektronischen Lesegeräten sehr freuen können - so habe ich auf meinem Telefon, egal wo ich gerade bin, immer eine ganze Bibliothek dabei von Fontane bis zu Kesslers Tagebüchern und kann dies bei jedem Licht lesen, was in Sommern vorm Café oder an der See nicht zu unterschätzen ist.
Solange wir lesen, ist alles gut und wir können uns je nach Wunsch und Lektüre jederzeit in die beste aller Parallelwelten begeben, um es zu genießen und um was als Genuss sollte es sonst in unserem je nach Betrachtung kurzen oder langen Leben gehen?
Habe Mut zu genießen und in deiner Parallelwelt glücklich zu leben, wenn du es kannst - falls nicht, suche danach, was die richtige Lektüre ist, die mitnimmt und entführt - was schöneres könnte es geben?
jens tuengerthal 1.8.2017
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