Kiezgeschichten
Im Gesundbrunnen
Gesundbrunnen hörte sich doch toll an, auch wenn es noch Wedding hieß, als ich hinzog und heute Mitte, klingt es erstmal nicht nach hoher Kriminalität sondern nach Kurort fast.
Werde nun in einigen Kiezgeschichten die Orte, an denen ich lebte in Berlin beschreiben. Angekommen bin ich an jenem 31. August 2000 im Wedding, durch den ich auch über die Brunnenstraße kam und das der Teil des einst roten Wedding noch Gesundbrunnen hieß, davon hatte ich mal irgendwie gehört aber dann doch keine Ahnung und sollte es auch erst erfahren, als ich längst im nächsten Kiez wohnte.
Vom Wedding hatte mir mein Freund A in Mainz schon erzählt, der da groß geworden war, direkt an der Mauer. Arbeiterkiez meinte er, viele Türken und Araber heute, etwas rauher, nix für mich, wie er meinte. Warum er mir nicht sagte, dass es eigentlich Gesundbrunnen war, weiß ich nicht, vielleicht weil er als Nachfahre einer Familie von Eisenbahnern so stolz auf den roten Wedding war, dass es auf die Unterscheidung keinen Wert legte. Ist ja auch vom Klientel und der Bebauung am Rand damals Berlins, auch wenn es heute zu Mitte gehört, noch immer relativ ähnlich. Von der Verwaltung her stimmte es ja auch. War Wedding zu der Zeit, noch bis 2001 als es dann Mitte wurde und ich nicht mehr die Bezirksgrenze überschritten hätte, wenn ich die ehemalige Mauer überquerte jeden Morgen auf dem Weg ins Büro, das dann aber doch in der ganz Prenzlauer Berg Straße Schönhauser Allee lag.
Der Freund hatte mir geraten, mal eine echte Berliner Eckkneipe im Wedding zu besuchen, mich aber nicht zu wundern, wenn ich da angeraunzt würde, so redeten die halt da. Hab darauf lange verzichtet, war ja nur zum Übergang da, wollte keine ethnologischen Studien an den Ureinwohnern betreiben und was ich so auf der Straße flanieren sah oder mit wummernden Bässen vorbeifahren hörte, machte mich nicht neugierig, sie näher kennenzulernen. Kampfhundbesitzer mit meist Jogginghosen, die in ihren Fenstern ihr Schönheitsideal glitzernd nicht nur an Weihnachten dekorierten. Wie sagte es einst Karl Lagerfeld so treffend? Wer Jogginghosen trägt, hat die Kontrolle über sein Leben verloren - so gesehen waren hier ziemlich viele außer Kontrolle und das war nicht meine Welt.
Warum es heute auch hier am Berg Mode wurde, aller Welt zu beweisen, die Kontrolle verloren zu haben und dies als bequemen Ausdruck widerständiger Freiheit sieht, ist mir bis heute ein Rätsel - auch die pubertierende Klasse meiner Tochter freut sich an dieser braven Form des zivilen Ungehorsams. Jogginghose und gemütlich machen als Form des Aufstandes deutet auf eine Verschiebung der Gewichte der neuen Generation hin. Viele der Musiker, die im Mauerpark oder am Abend im Al Hamra spielen, tragen auch schlabbrige Jogginghosen aus denen vielleicht noch das Designerlabel ihrer Unterhosen herausrutscht und wissen sich cool und bewundert dabei, finden junge strahlende Mädchen diese Typen so sexy, während mir eher so übel dabei wird, wie bei der Mode der Nylonkniestrümpfe zum Minirock in Farbe und Muster der Zeltvordächer der 70er. Vermutlich sollte ich daran merken, wie alt ich wurde, dass mir die meiste recycelte Mode, auch die jede weibliche Figur zerstörenden Schlaghosen so fremd sind, noch hoffe ich ja, es könnte auch an meinem erlesenen ästhetischen Empfinden liegen, doch fand sich noch keine, die sich dafür aussprach bis jetzt.
Ginge es nach mir, trügen wir noch immer die Mode aus dem Zauberberg oder den späten Buddenbrooks, warum mein Urteil vermutlich wenig Bedeutung für die meisten haben wird, die lieber modetechnisch gerade den bodenständigen Vorreitern aus den Vororten folgen, als sei dieses ästhetische Tiefstapeln Ausdruck einer besonders demokratischen Gesinnung. Für mich genügten ein Leben lang schwarze Rollis und schwarze Jeans eigentlich, bin vermutlich zu schlicht gestrickt. Auch die Körperbemalung eingeborener Völker oder der Matrosen wurde für viele gerade Mode, die vermutlich in einigen Jahren noch viel mehr Geld dafür ausgeben werden, ihre peinlichen verschrumpelten Arschgeweihe wieder verschwinden zu lassen. So gesehen wundert es auch nicht, dass Wedding und Gesundbrunnen, die heute ja auch in Verkennung der Realitäten Mitte heißen, wie Prenzlauer Berg nun Pankow heißt als sei es ferne östliche Provinz, zum Trendviertel wurde und den Künstlern, die zuerst kamen, immer mehr folgen, welche die billigen Mieten dort schätzen.
Die Siedlung nahe dem Mauerpark mit vielen eher Nachkriegsbauten in der ich zuerst lebte, war davon weniger betroffen. Hier lebte tatsächlich noch das alte Arbeiterklientel, was nur eben inzwischen zum größeren Teil auch durch Migranten gestellt wurde. So sitzen heute mehr die alten Männern mit den großen Schnurrbärten und die Frauen mit den Kopftüchern auf den Bänken in der Mitte der Siedlungen als zu der Zeit, in der mein Freund A hier laufen lernte, wie er mir erzählte und mein Freund M auf der anderen Seite der Mauer und beide sich nie sehen konnten, keine 100m voneinander aufgwachsen.
Der hohe migrantische Anteil unter den Bewohnern prägt auch den Einzelhandel dort immer mehr, hieße es wohl politisch korrekt. Es ist eine raue Ecke um die Brunnenstraße bis zum Gesundbrunnen, auch wenn das Viertel mit dem Humboldthain einen der schöneren Parks Berlins beherbergt, in dem viele seltene Bäume aus aller Welt wachsen, deren Samen der Forscher Alexander von Humboldt noch von seinen Reisen mitbrachte. Hier gibt es wunderschöne alte Industrieanlagen in Klinkerbauten, in denen die AEG produzierte und andere.
In dem kleinen Viertel Gesundbrunnen, dem früheren Teil des Wedding, dem heutigen Ortsteil von Mitte leben fast 93.000 Menschen auf einer Fläche von 6 km² - es ist also ziemlich verdichtet hier alles. Der Gesundbrunnen grenzt im Norden an Reinickendorf und Pankow, im Osten an Prenzlauer Berg, was ja auch Pankow heißt aber das kann ja keiner ernst nehmen und im Südosten an Mitte, womit für den namensgebenden Wedding noch Süden und Westen bleiben. Die Hauptverkehrsachsen dort sind, nomen est omen, die Bad- und die Brunnenstraße. Brunnenviertel wird dabei nur der südöstliche Teil des Stadteils Gesundbrunnen genannt, der um den Bahnhof Gesundbrunnen liegt. Durchflossen wird die Gegend mit dem trügerischen Namen von der Panke, die auch schon durch Pankow fließt und diesem den Namen gab und heute eher ein nettes Rinnsal meist ist, aus dem Barnim kommend und also ein Überbleibsel der Eiszeit.
Der Name Gesundbrunnen rührt tatsächlich von einer heilenden Quelle her, die in der Nähe des späteren Luisenbades lag, die mineralisch war und der jugenderhaltende Wirkung zugeschrieben wurde und was tun die Menschen dafür bis heute nicht alles. Würde den daran Interessierten heute eher empfehlen sich den cranachschen Jungbrunnen in der Gemäldegalerie anzusehen, als den jungen Wedding zu besuchen, der ist tatsächlich so alt, da fühlen sich auch faltige wieder jung und lächeln. So gesehen aber liegen die Wurzeln des wilden Gesundbrunnen in einer Beauty-Farm mit Wasser. Weil diese Sage immer mehr Menschen anzog, ob nun junggebliebene oder alt gewordene, ist nicht ganz gewiss, wuchs die Siedlung der Quellpilger bald zu einem eigenen Stadtteil heran. Die Berliner, die da wohnen, sagen, sie leben am oder in Gesundbrunnen. Auf berlinerisch wird der Brunnen von manchen noch liebevoll Pumpe genannt, auch wenn das nur noch weniger der verbliebenen Ureinwohner kennen. Seiner kulturellen Entwicklung wegen wurde so der Gesundbrunnen zur Quelle des Bezirks Wedding.
Der ehemals zusammengehörige Bezirk Wedding wurde mit der Bezirksreform von 2001, die eben alles Mitte nannte, was vorher noch eigenständig war, in die beiden Ortsteile Wedding und Gesundbrunnen getrennt, darum wird nun weiter über den Wedding berichtet, weil es dies ja auch nach dem Empfinden vieler Eingeborener war, wie meinem Freund A, dem Abkömmling vieler roter und toter Eisenbahner.
Der ersten Nachweis einer Besiedlung im damals noch Weddinge stammt aus dem Jahre 1251. Jedoch verschwand dies Dorf völlig ohne dass bekannt wäre warum und ob es eher im heutigen Wedding oder in Gesundbrunnen lag. Der erste noch bestehende Nachweis des Vorwerk Wedding stammt aus Informationen aus der Zeit um 1600. Dabei ging es um Streitigkeiten über Grundstücke, die im heutigen Stadtteil Gesundbrunnen liegen. Wir sehen, die Grenzen sind fließend und die Trennung doch nicht immer logisch. Unklar ist noch, inwieweit diese Siedlung mit dem Amt Mühlenhof verbunden war, das damals und lange danach für die Belieferung des Hofes mit Holz und Lebensmitteln zuständig war. Dies war, nur so ganz nebenbei, seit 1448 für die Hofbelieferung zuständig, als nach dem Berliner Unwillen über den Baus des Schlosses auf der Insel Cölln die Patrizier einige Mühlen und Ländereien an Kurfürst Friedrich II. zurückgeben mussten. Ein berühmter Bau im Stile der Renaissance aus dem Jahre 1510, der am Mühlendamm oder Molkenmarkt stand und den natürlich mal wieder der peinlich geschmacklose Wilhelm II. abreißen ließ nach 1888.
Die für Gesundbrunnen namensgebende eisenhaltige Quelle wurde übrigen 1748 erstmals erwähnt. Sie wurde untersucht und vom Chemiker Marggraf für heilkräftig befunden und schon 1751 erwarb der königliche Hof Apotheker Heinrich Behm das königliche Privileg, dort eine Heil- und Badeanstalt einzurichten. Dieser teilte dem König mit, der damals schon Friedrich II. hieß, dass die Wirkung der Quelle die in Bad Freienwalde und in Bad Pyrmont noch weit überträfe, was immer daran auch Wirkung sein soll, vermutlich wie bei jeder Kur oder der Homöopathie zählt hier die Psychosomatik für die Natur. Der König ließ den Brunnen fördern, der daraufhin erstmal naheliegend Friedrichs-Gesundbrunnen getauft wurde. Ab 1758 legte Behm die Brunnenanlage an und gab 1760 quasi als Marketingmaßnahme eine Werbeschrift unter dem Titel “Nachricht von dem Gesundbrunnen” heraus.
Für mehr als tausend Wannenbäder gab die Quelle jährlich Wasser und wurde darum auch gebührend in Backstein gefasst, mit einem sechseckigen Brunnenhäuschen mit großen Rundbogenfenstern versehen. Drumherum wurde eine ausgedehnte Gartenanlage errichtet mit den üblichen Bade- und Trinkhäusern sowie Logierhäuschen in denen bis zu 40 Kurgäste nächtigen konnten. Es sollte dort bei chronischen und rheumatischen Erkrankungen Linderung zumindest gesucht werden. Wer dächte heute noch daran, nach Gesundbrunnen zu gehen, damit es einem hinterher besser ginge?
Auch der König selbst logierte hier, wenn er von der Inspektion der nahegelegenen Artillerieübungsplätzen kam. Irgendwann war die heilsame Quelle vor den Toren der Stadt dann nicht mehr so in Mode und verfiel ein wenig, bis sie 1808 der erfolgreiche Medizinal Assessor und Buchhändler Flittner erwarb und wieder sanierte. Zugleich holte er sich über seine in besten Kreisen verkehrende Bethmann Kusine das Privileg die gerade in Königsberg weilende Königin Luise als Namenspatronin zu wählen, die ihm sogar noch persönlich auf bessere Zeiten hoffend die Genehmigung erteilte und schrieb. Gerade war Preußen noch Napoleon bei Jena und Auerstedt unterlegen, zuvor schied schon mit Preußen der Recke Prinz Louis Ferdinand dahin, der einst Geliebte von Prinzessin Friederike, der Schwester der Königin und so war die königliche Familie, zumindest was von ihr übrig noch war, nach Ostpreußen geflohen, von wo die später so hochverehrte Königin schrieb, die aber die Befreiung und den Untergang Napoleons nicht mehr erlebte, sondern ohne Heilwasser an einer Lungenentzündung starb.
Seitdem hieß der ehemalige Friedrichs-Gesundbrunnen nun Luisenbad, auch wenn bezweifelt werden muss, dass die Namensgeberin noch jemals tatsächlich da war. Der ehemalige Brunnen lag in der Nähe des heutigen U-Bahnhofs Pankstraße und stände heute im Hinterhof des Gebäudes Badstraße 38/39. Als aber die Berliner 1882 eine Kanalisation auch im Wedding bauten wurde der Brunnen, vor lauter Ordnung machen, versehentlich zugeschüttet, exisitiert also nicht mehr. Dafür gibt es an der Ecke Badstraße zur Travemünder Straße noch die verbliebenen Gebäude des ehemaligen Luisenbades. Heute, nach dem Umbau von 1995, ist dort die Bezirkszentralbibliothek am Luisenbad untergebracht.
Mit den Badegästen kamen auch die Schankwirte, die an der Badstraße Biergärten und Ausflugslokale errichteten, mit denen auch Glücksspiel und Prostitution im Gesundbrunnen Einzug hielt. Die Gegend wandelte sich zu einem Vergnügungsviertel. Als solches wurde es auch 1861 eingemeindet und bildete mit dem Wedding zusammen den Bezirk Wedding und Gesundbrunnen. Ab Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte sich der Bezirk infolge der anhaltenden Landflucht zu einem Arbeiterbezirk, in dem dichtgedrängt die Proletarier in Mietskasernen lebten. Als schlimmstes Beispiel für diesen gedrängten städtischen Moloch galten damals die Meyers Höfe in der Ackerstraße 132, wo extrem komprimiert und spekulativ gebaut wurde.
Der Umsteigebahnhof Gesundbrunnen wurde bereits um 1900 an der heutigen Stelle errichtet als Fern- Ring- und Vorortbahnhof und bekam wie damals üblich auch ein prächtiges Bahnhofsgebäude. Zur Überbrückung der Bahntrasse im Verlauf der Swinemünder Straße wurde die Millionenbrücke nahe des neuen Bahnhofs errichtet. Der Volksmund hatte die hängende Stahl-Fachwerkkonstruktion wegen der damals enormen Baukosten von rund einer Millionen Mark so genannt. Nachdem dann 1930 auch die U-Bahn dorthin fertiggestellt worden war, die heute die U8 ist, die durch den Wedding zum Alex führt, wurde der Bahnhof zum zentralen Umsteigebahnhof im Berliner S- und U-Bahn Netz.
Während der Weimarer Republik nun war der Wedding eine Hochburg der Arbeiterparteien und darum auch als roter Wedding bekannt. Dort kam es auch am 1. Mai 1929 zu schweren und blutigen Zusammenstößen, die als Blutmai in die Geschichte eingingen. Dabei starben an der Ecke Wiesen- zur Uferstraße allein 19 Menschen und weitere 250 wurden verletzt, an die heute ein Gedenkstein dort erinnert.
Der Berliner Fußballclub Hertha BSC hat hier seinen Ursprung genommen. Sie bezogen 1904 den Schebera Platz ihren ersten festen Platz mit Vereinsheim. Dort wurde 1923 das Stadion am Gesundbrunnen errichtet, in denen Hertha seine beiden deutschen Meisterschaften 1930 und 1931 feierte. Die drei Halbbrüder Boateng, die teilweise zu den erfolgreichsten Profis im deutschen Fußball zählen, zumindest Jeromè noch beim FC Bayern, wuchsen im Gesundbrunnenkiez in der Brunnenstraße auf und noch heute erinnert ein großes Graffiti an ihre Heimat.
Das Stadion, im Krieg durch Bomben weitgehend zerstört, hatte über 35.000 Plätze wurde aber 1974 doch abgerissen. An seiner Stelle entstand dann zwischen Behmstraße, Bahntrasse, Swinemünderstraße und Berliner Mauer eine der wenigen West-Berliner Plattenbausiedlungen mit Waschbetonfassade, heute so hässlich wie immer.
Während des Nationalsozialismus war der Wedding eine Quelle steten Widerstandes, der viele Menschen das Leben kostete. Bei der Reichstagswahl vom 5. März 1933 war der Wedding, derjenige Stadtteil von Berlin, in dem die Nationalsozialisten mit 25,9% die wenigsten Stimmen bekamen. Dafür bekam die KPD noch 39,2% und die SPD lag bei 22,8%. Am Rande des Volksparks Humboldthain hin zu den Gleisen des Bahnhofs wurde mit Zwangsarbeitern noch ein Flakturm mit Leitbunker errichtet, der so stabil war, dass er bis heute als nun Aussichtsturm steht nun mit obligatorischem Kunstwerk versehen. Während des Krieges wurden in Gesundbrunnen fast alle Kirchen und zahlreiche Wohnhäuser durch Bomben zerstört. Bis Ende Juni 1945 herrschten nach dem Krieg noch Soldaten der Roten Armee mit großer Brutalität im doch eigentlich roten Stadtteil, denen noch mehr der Überlebenden zum Opfer fielen.
Auf die Russen folgten die Briten und Franzosen als Besatzungsmacht. Die Badstraße entwickelte sich nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer der größten Einkaufsstraßen Berlins Am Gesundbrunnen stand mit der Lichtburg das größte Kino Berlins. Zahlreiche der ab 1961 von der Bundesrepublik in der Türkei angeworbenen Arbeiter fanden im Gesundbrunnen ein neues Zuhause, weil das Viertel direkt an der Mauer gelegen, ohne Perspektive besonders günstige Mieten bot. Bis heute hat der Stadtteil mit über 38% den höchsten Anteil von Migranten, die sonst bei durchschnittlich 18% liegen. Die größtenteils Türken im Wedding und Gesundbrunnen sind andere als in Kreuzberg oder Neukölln. Häufiger konservativ bis extrem religiös und wenn Erdogan irgendwo in Berlin Zustimmung erhält, dann dort, was zu einer seltsamen Verkehrung gegenüber den Verhältnissen des Nationalsozialismus seitens der heutigen Bewohner führt.
Beim Fall der Mauer und der Öffnung des Grenzübergangs an der Bösebrücke oder Bornholmer-Straße stand der Gesundbrunnen plötzlich im Mittelpunkt des weltweiten Interesses. Die Brücke verbindet Prenzlauer Berg mit dem Gesundbrunnen Wedding. Plötzlich lag der Wedding nicht mehr irgendwo am Rand der Mauer, hörte an der Bernauer Straße die Welt auf, sondern öffneten sich ganz neue Welten und dennoch blieben und entwickelten sich die beiden Bezirke relativ getrennt voneinander total unterschiedlich. Die Mieten in Prenzlauer Berg stiegen, sogar bis nach Pankow hinauf schon, wer immer da hin will, und so wichen immer mehr Künstler wieder in den Wedding aus mit seinem traditionell hohen Anteil an migrantischer Bevölkerung und teil sehr günstigen Altbauwohnungen, die dennoch einen schnellen Weg nach Mitte boten. So entstanden dort ganze Künstlerkolonien, die sich auch so nannten und im alten Stadtbad oder im Postfuhramt große Arbeits- und Atelierflächen fanden. So verändert sich dieser Bezirk gerade wieder und es bleibt spannend, welche angestammte Bevölkerung nun bleibt, wer wohin wandert und wie es in zehn Jahren um den Gesundbrunnen aussehen wird.
Gesundbrunnen und Wedding waren ein wichtiger Industriestandort, die AEG hatte dort ihr großes Werk, Telefunken gab es, Rotaprint, die Berliner Maschinenbau und Schering. Geblieben ist wenig aber viele schöne Gebäude aus der Frühgeschichte der Industrialisierung auch in der Ackerstraße, die vom Koppenplatz in der alten Mitte Berlins bis tief durch Gesundbrunnen zum Humboldthain reicht. Heute ist der Stadtteil eher durch extrem hohe Arbeitslosigkeit geprägt, zwischen 9% und 12% und bis zu 72% der unter 15 jährigen sind von staatlicher Hilfe abhängig, was der höchste Anteil der ganzen Stadt ist. Wo sich einige dieser perspektivlosen Jugendlichen Gangs anschließen und dabei stolz die 65 tragen oder als Graffiti verewigen, bezieht sich dies auf die alten Postbezirke wie in Kreuzberg die 36. Nur ist Kreuzberg durch einen stärkeren alternativen Anteil der Bevölkerung und das lange Bemühen um multikulturelle Durchmischung offener als Gesundbrunnen Wedding, in dem die jeweiligen Gruppen der Bevölkerung sehr für sich leben.
Eine Freundin von mir wurde als vorher Französischlehrerin für Leistungskurse mit einer sehr frankophilen Neigung im Berliner Stellenpool aus einem feinen bürgerlichen Viertel nach Gesundbrunnen versetzt, da sie weder Kinder hatte, noch verheiratet war oder andere Sozialkriterien erfüllte, die in dieser Stadt gerne und oft die Falschen privilegieren, die wissen wie, an eine Sekundarschule im Gesundbrunnen versetzt und überlegte aus Berlin weg gen Süden zu ziehen, weil sie es in der neuen Klasse mit keinem muttersprachlich deutschem Kind und der ständigen Angst vor Gewalt nicht mehr aushielt. Der Kontakt verlor sich leider, auch weil ihre verständlichen Klagen unerträglich wurden. Doch was sie auch aus den dort Parallelwelten erzählte und wie Berlin dort teilweise Lehrer verheizt ohne eine langfristige Perspektive, die eine Durchmischung nötig macht und eine massive Förderung, um langfristig Integration zu erreichen. Eine andere einmal Liebhaberin, die schon ewig in Kreuzberg lebte und dort voll in das multikulturelle Milieu eingebunden war, wurde als LER-Lehrerin auch in den Bereich Gesundbrunnen geschickt und sprach von ähnlichen Belastungen und Ängsten, denen sie sich ausgesetzt sah.
Es wird spannend, wie diese Konflikte langfristig und nachhaltig gelöst werden sollen, um ein dauerhaftes Miteinander zu ermöglichen. Auch meine Tochter war die ersten zwei Jahre im Gesundbrunnen in einer Schule, die in einem der berühmten alten AEG Gebäude hausierte. Allerdings war es eine englische Privatschule, deren Schüler von vielen wohlhabenden Eltern, also nicht solchen wie ich einer bin, direkt vor der Schule im noblen Wagen abgeliefert wurden. Auch wenn dies eine Ausnahmesituation am seltsamen Ort eine zeitlang war, wir wissen schon, warum wir diese Schule irgendwann wieder verließen, hat sie in diesen zwei Jahren interessante Erfahrungen gemacht und auch ich als ihr Vater, der sie meist mit dem Rad brachte, erlebte Berlin ganz anders als hinter der sozialen Mauer des Prenzlauer Berg in dem sich ein akademisch grünes Milieu seine Wohlfühlatmosphäre einrichtet und am liebsten schickes countrylife im aktuellen Stil mitten in der Großstadt spielt, mit der es wenig zu tun haben will.
Mit einem Schnitt unter 38 Jahren ist der Bereich Wedding Gesundbrunnen der jüngste Teil Berlins. Dabei haben über 62% der Einwohner im Ortsteil Gesundbrunnen einen irgendwie migrantischen Hintergrund, egal welchen Pass sie tragen oder wo sie geboren wurden, was zu dem hohen Anteil von fast 38% Migranten dort passt. Neben den Boatengs kam auch der bekannte Harald Juhnke aus dem auch für viele Drogenkonsumenten bekannten Gesundbrunnen und Cornelia Froboess, die einst sang, Pack die Badehose ein.
Die Zahl der architektonisch bedeutenden Gebäude ist relativ überschaubar. Es gibt das Amtsgericht Wedding, das nach dem Vorbild der sächsischen Albrechtsburg im Stile der Neogotik erbaut wurde, die nach Schinkels Plänen bis 1835 errichtete St-Pauls-Kirche, die in den 50ern nach Zerstörung im Krieg wiederhergestellt, im Inneren als Denkmal der Architektur der Nachkriegszeit gilt, was immer daran schön sein mag, auch die ehemalige Rotaprint Fabrik gilt als ein Klassiker der Moderne und wird denkmalgerecht nun zumindest vom Verein saniert, dahingestellt, was nun noch schön daran ist, schließlich noch die Peter-Behrens-Halle der AEG, die in ihrem Klinkerbau für die Architektur des Industriezeitalters steht.
Gesundbrunnen und Wedding tauchen in der Kriminalitätsstatistik von Berlin immer relativ weit oben auf. Es gibt hier weniger mafiöse Clans, wie sie sich lange gerade in Neukölln fanden, doch immer wieder Ausbrüche der Gewalt in einem Leben zwischen den Extremen. Die Brunnenstraße vom Brunnen-Center, dem großen Einkaufszentrum am Bahnhof Gesundbrunnen, aus nicht gen Mitte sondern hinein in die Welt der auch orientalischen Basare und Läden hier laufen, ist wie Urlaub in einem anderen Land. Nicht jede Erfahrung ist großartig, auch wenn manches dort ganz bezaubernd sein kann, aber es lohnt sich für jeden Besucher, der das Leben in der Stadt mitbekommen möchte und dies mehr als ein Gang über den Ku’Damm oder durch das KaDeWe, die dem größten Teil der Stadt fremd bleiben. Dit ist eben Berlin da, nicht schön, nicht schnieke, aber ziemlich echt und meist ehrlich. So gesehen passt es, dass der nur Vorort nun Mitte heißt, den ich nie kennenlernte als ich dort noch wohnte sondern erst viel später und ich mag die Ecke, mit Vorsicht.
jens tuengerthal 30.3.2017
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