Freitag, 31. März 2017

Frühlingslust

Ein warmer Tag geht
Lust ist sichtbar vorm Café
Leicht bekleidet lächelnd
jens tuengerthal 31.3.2017

Naturgewinn

Natur will Gewinn
Dies ohne alle Moral
Was dann wohl gut ist
jens tuengerthal 31.3.2017

Schadenfreude

Jeder Handel will
Als Gewinn Schadenfreude
So ist die Natur
jens tuengerthal 31.3.2017

Schadenslust

Uns freut der Gewinn
Der des anderen dabei
Ist unser Schaden
jens tuengerthal 31.3.2017

Berlinleben 035

Kiezgeschichten

Der Winskiez

Gestern war ich mal wieder im Sorsi e Morsi im Winskiez und jedesmal denke ich, wie dumm, dass ich immer in weiblicher Begleitung dort war bis jetzt, was für viele schöne und interessante Frauen sind bei diesem wunderbar chaotischen Italiener immer, wieviel Sex liegt da schon in der Luft - es ist la dolce vita direkt an der Marie und das mit viel Stil, Geschmack, Liebe und dazu noch, wie aus einer anderen Zeit völlig verraucht.

Die Begleitung war sehr nett und auch nicht hässlich, fand es nicht schlimm, mich ihr zuzuwenden, wie es für einen Gentleman geboten ist, doch eigentlich würde ich in diesem Meer für Augen und Sinne lieber frei schwimmen, statt besetzt anzukommen, dachte ich wieder und sollte es vielleicht endlich mal einfach tun, gehe ja auch in alle anderen Bars oder Kneipen gern alleine als Flaneur, setze mich in eine Ecke, beobachte, schreibe und freue mich an dem, was dort passiert und im Sorsi passiert viel, eigentlich ständig was, um was sonst sollte es auch gehen?

Auch wir sprachen natürlich über Sex. So erzählte meine Begleitung, die ursprünglich aus Brandenburg kommt, wofür ja keiner was kann und schließlich liegt auch Berlin mittendrin, eigentlich, von ihrem letzten Sexabenteuer, diesem etwas dicklichen Typen, der sie drei Monate angemacht hätte und dann als sie ihn endlich rangelassen hat, nicht besonders scharf wohl aber doch in der Hoffnung auf mal wieder guten Sex zumindest, hätte er sich, mitten dabei beleidigt verzogen, weil - sie wusste es auch nicht so genau, fragte mich nach meiner Meinung und ich konnte nur sagen, so ein Idiot, wäre ihr mit mir nicht passiert, was ein Mann dann halt so sagt, damit Frau sich wieder gut fühlt und meint, sie könne es sich aussuchen. Vielleicht hat er mehr erwartet, ekelte sich vor sich selber, kam nicht mit ihr klar - wer schaut schon so tief in die Herzen fremder Männer, noch dazu dicker Typen? - egal, meinte ich ihren letzten Lover betreffend, vergiss ihn und das Paradies ist dazu da, bewohnt zu werden, für alle, die es genießen können.

Wir erzählten uns auch noch andere nette Geschichten über Sex und Liebe und weniger von Kultur, Literatur, Geschichte, Philosophie und all dem, was mich sonst so umtreibt, was nett war und zu der Leichtigkeit der Atmosphäre passte, die Gianni dort kongenial kreiert. Schickes Ambiente, bis zum stapeln voll, gute Weine und eben völlig verraucht. Er umarmt alle Damen, die immer gerne wiederkommen, weil er meist sogar ihre Namen noch weiß, ihnen das Gefühl gibt, etwas ganz besonderes zu sein, wie es nur Italiener können voller Pathos und Hingabe in einer Umarmung, die er vermutlich mit hunderten Damen am Abend so vollzieht, zumindest tat er es immer mit allen, mit denen ich dort war, was aber keine hundert waren.

Zuerst war ich dort mit meiner zweiten Verlobten, die den Laden liebte und mir davon immer wieder vorschwärmte. Recht hatte sie, nur ist es nicht der Laden, in den ich mit meiner Frau gehe - die sehr lange und sehr italienisch herzliche Umarmung mit meiner Verlobten konnte ich noch tolerieren, dachte beim ersten mal, sie kennen sich wohl näher, aber irgendwie hatte ich das Gefühl, nicht dazu zu gehören und mied den Laden mit ihr, obwohl sie immer hin wollte und die Atmosphäre dort, sie wirklich heiß machte, was bei dieser eher mehr als gelassenen Frau schon Grund genug gewesen wäre, täglich hinzugehen. Tat es nicht, wollte ihre Lust lieber mit Worten wecken oder der Kombination aus Technik und Erfahrung, gepaart mit vernünftigen Argumenten und so wurde es dann auch.

Später war ich mit meiner liebsten Geliebten, der Ärztin und ihrer Freundin, die ich gestern dort ohne die Ärztin traf, die gerade mal irgendwie mehr oder weniger glücklich bemannt ja ist und wieder erlebte ich diesen umarmenden Gianni, den die Damen so lieben und diese Atmosphäre voll italienischer Lust, in der spürbar der Sex knistert und das nicht nur auf dem Ledersofa oder wo Paare zusammenstehen, sondern überall - auch auf den kleinen Tellern mit Antipasti, die jeder Gast erstmal bekommt und die ich rauchend gestern gar nicht genug zu meinem Weißwein genoss. Könnte schwärmen über die vielen schönen Frauen mit den teilweise wirklich spannenden und intelligenten Gesichtern, die gut angezogen sind, zumindest im Verhältnis zu dem, was hier sonst so in Leggings; Jogginghosen und ähnlich grässlichen Dingen, die nur den totalen Kontrollverlust beweisen, herumlungert. Es war ein kleiner Ausflug nach Italien und das ist so wunderbar, hat so viel Leichtigkeit und eben Sex, dass ich inzwischen sogar meiner zweiten Verlobten voll zustimmen würde, es ist der beste Laden, mit der tollsten Stimmung am ganzen Berg, den ich kenne, alles andere ist nur manchmal so, wie ich es dort immer erlebe.

Als ich im Winskiez wohnte, es war nach dem Gesundbrunnen die zweite Wohnung, aber die erste, die ich mir mit Wissen gesucht hatte, gab es das Sorsi noch nicht und ich hätte es vermutlich auch nicht entdeckt, wie ich die ganze Schönheit dieses Viertels erst entdeckte, nachdem ich von dort zu meiner liebsten A in den benachbarten Kollwitzkiez gezogen war. Naiv und dumm eigentlich, denke ich heute, wenn ich an die Frauen dort denke und die Stimmung, die dieser glücklich verheiratete Vater von Töchtern in seinem Laden verbreiten kann, wie alternativ schick dieses Viertel geworden ist, das zwischen Prenzlauer Allee und Greifswalder Straße liegt, begrenzt durch die Danziger Straße im Norden und die Mollstraße im Süden, auch wenn es eigentlich im Friedhof schon endet und die Straße Prenzlauer Berg irgendwie niemand mehr zu diesem Kiez dazu zählen würde, zu dem sie doch gehört, wie die Platten jenseits, die aus einer anderen Welt noch stammen.

Wohnte in einer Altbauwohnung im Ersten Stock in der Jablonskistraße direkt über der Haustür, großer Fehler, wie ich spätestens nach den ersten Nächten merkte, wenn die Müllabfuhr die Tonnen unter mir mit viel Schwung entlang rollte, aber davon hatte ich, als ich aus der kurpfälzischen Provinz in die Großstadt zog, noch keine Ahnung. Schöne Stuckdecken und hohe Räume, einen Balkon vor meinem Wohnzimmer, eine Küche nach hinten und ein kleines schon saniertes Badezimmer. War alles prima, sehe ich davon ab, dass ich nicht bedacht hatte, wie laut die Autos auf dem Kopfsteinpflaster beim ein- und ausparken waren, wie deutlich ich die an der unweit gelegenen Prenzlauer verkehrende Straßenbahn hörte und ähnliches Gejammer von Dorfbewohnern, die in die Großstadt ziehen.

Die Wohnung war perfekt und lag perfekt, in einem der schönsten Kieze des Prenzlauer Berg, nur ich wusste sie nicht immer wirklich zu würdigen. Mal nervten mich die zu laut vögelnden Nachbarn, die ich mindestens jede Nacht durch die Wand zu meinem Lesesessel hörte, als könnte es bei so etwas schönem je ein zu sehr geben, dabei hatte ich sogar gelegentlich Sonne im Zimmer und auf dem Balkon, den ich nur selten nutzte, außer die male mit Damenbesuch im Januar und zu meiner einzigen Fete dort. Von dem Kiez unter mir, erfuhr ich nicht viel. Die ersten Monate ging ich sehr früh ins Büro in der Schönhauser Allee und kehrte sehr spät zurück. Wenn ich ausging, dann auf dem Weg vom Büro zu mir im Kollwitzkiez bei meinem Griechen oder den eigentlich langweilig touristischen Cafés am Platz dort, meinen Kiez erkundete ich weder, noch interessierte er mich näher.

Den tollen Kaisers in der Winsstraße Ecke Marienburger Straße stellte mir erst die liebste A vor, die dort zu gern einkaufte, weil sie ihn so gut sortiert und freundlich fand, wie immer nun der heute Rewe dort sein mag. Von sonst etwas dort habe ich nicht viel mitbekommen, bis unsere Tochter in den Kinderladen im Kiez ging, der wiederum in der Christburger Straße lag, einer Parallelstraße zur Jablonskistraße, die zwischen dieser und der Marienburger Straße lag, an welcher letzterer mit der Marie, die große Grünanlage des Kiezes liegt, sehen wir mal von dem Friedhof, der ihn abschließt ab und der doch eigentlich viel grüner und voller atmender Bäume ist. Vielleicht ist es dieser mit schönsten Bäumen und einigen netten Gräbern versehene Friedhof, der dem Viertel um die Winsstraße seinen besonderen Flair gibt - irgendwie Großstadt und irgendwie zugleich sehr grün und auch schick.

Als A und ich aus ihrer wunderbaren aber eben nur 3-Zimmer-Wohnung am Kollwitzplatz mit Kind ausziehen wollten, suchten wir auch dort und sie sagte immer wieder, sie wäre gerne dorthin gezogen, mochte den Kiez und ich war damals relativ teilnahmslos, was die Wahl des richtigen Platzes anging, dachte ich könnte überall, solange es Altbau und irgendwie nett saniert war. Die anderen Kieze in denen ich hier in Prenzlauer Berg wohnte, der Kollwitzkiez, der Teutoburger Platz und schließlich bis jetzt der Helmholtzkiez sind alle um Plätze mit Grünanlagen entstandene Lebensräume. Im Winskiez gab es den Friedhof am Anfang und die irgendwie Marie in der Mitte, die aber kein Platz sondern eher ein freies Grundstück war, auch wenn dieses heute sehr belebt ist und durch viele Initiativen bespielt und immer weiter gestaltet wird.

Zentrum des Winskiezes ist die Winsstraße, die nach dem ehemalige Bürgermeister von Berlin und Gutsbesitzer Thomas Wins benannt wurde, der von 1389 bis 1465 lebte, also ein Mensch der beginnenden Renaissance und des ausgehenden Mittelalters war. Die Familie Wins war adeligen Ursprungs und ist seit dem 14. Jahrhundert in der Mark Brandenburg nachweisbar. Angeblich sind sie aus ursprünglich Frankfurt Oder irgendwann nach Alt-Berlin und Cölln umgesiedelt. Einige meinen auch die Familie käme, anderen Quellen zufolge und namentlich nahe liegend, aus Winsen an der Luhe. Ab 1426 dann, also noch 69 Jahre vor der Entdeckung Amerikas von dem Italiener, der nach Indien eigentlich wollte, um das Heilige Land mit viel Gold wieder zu erobern, war Wins dann zehn Perioden lang mit Unterbrechungen Bürgermeister von Berlin.

Nach 1448 musste er sich wegen Beteiligung an einem Aufruhr gegen den Hohenzollern Kurfürsten Friedrich II, genannt der Eiserne oder Eisenzahn, ohne dass eine Verbindung nun zu Union Berlin hergestellt werden müsste, in Spandau vor Gericht verantworten und er und seine Söhne verloren infolge ihre Lehen. Zum größten Teil erhielten sie diese aber schon ein Jahr später wieder zurück ohne dass ich wüsste, ob durch Gnade, höhere Instanz oder Aufklärung. Thomas Wins musste bis dahin zumindest auch eine Geldstrafe zahlen für seine revolutionäre Gesinnung und sein Bürgermeisteramt endgültig abgeben - doch schon in der folgenden Generation bekleideten wieder Mitglieder der Familie das Amt. Ob die Bewohner  eine höhere Identität mit Pankow und dem Umfeld empfinden, weil zwei der fünf Kinder von Thomas Wins später mit von Blankenfels verheiratet waren, entzieht sich meiner Kenntnis. Was die Ehre begründet eine Straße nach ihm zu benennen und mit einen ganzen Kiez auch eher aber ich muss ja auch nicht alles wissen und amüsiere mich einfach gern über die Dinge, wie sie sind.

Die Marie, der grüne irgendwie Platz inmitten, wurde erst, was er wurde, nachdem auf Initiative der Anwohner hin 1995 das vorher dort angesiedelte Rettungsamt abgebrochen wurde. Es ist kein Platz wie die anderen von Hobrecht in Prenzlauer Berg so genial angelegten, um die sich die Besiedlung gruppiert sondern eben ein freies Grundstück auf der Nordseite der Marienburger Straße, das auf der anderen Seite durch die Hinterhöfe der Häuser der parallel verlaufenden Christburger Straße begrenzt wird. Ein Schulhof dazu, eine Turnhalle versteckt am Rand, ein Neubau mit viel Glas, der Innen schöner ist, als er Außen unpassend bleibt, ein irgendwie verwachsenes eingezäuntes Biotop in einer Ecke, Tischtennisplatten, Grünfläche und natürlich noch keine alten Bäume und so wirkt die Marie wie ein leeres Grundstück mit etwas Grün und noch immer eher bemüht aber doch sehr nett.

Das Sorsi e Morsi liegt übrigens direkt gegenüber der Marie an ihrem unteren Rand und in der Straße finden sich noch einige schöne Läden inzwischen, zumindest Richtung Prenzlauer Allee, wo sich an der Ecke das große Postamt befindet, vor dem sich nicht nur zur Weihnachtszeit noch ewige Schlangen bilden, als wäre die DDR nie untergegangen auch an den zu langen Schlangen, die Menschen warten statt handeln ließ.

Das Viertel besteht aus zwei Teilen, die eigentlich nichts miteinander zu tun haben und durch die Straße Prenzlauer Berg separiert werden, wie durch eine Zonengrenze, was ein sehr passender Ausdruck auch hinsichtlich der Bewohner in diesem Fall ist. Nördlich dieser Straße stehen die Gründerzeitbauten, mit ihren wundervollen Altbauwohnungen, von denen ich auch eine bewohnte als ich ganz neu in Berlin war und südlich davon entstand, entlang der Otto-Braun-Straße, die eine Verlängerung der Greifswalder ist und an den großen Ministerpräsidenten Preußens erinnert bevor die Nazis kamen, der sicher einer der größten Sozialdemokraten der Geschichte war, was im Vergleich zum aktuellen Vorsitzenden besonders deutlich wird und das nicht nur weil Hindenburg gerne mit dem Ostpreußen auf die Jagd ging, als Ergebnis des DDR-Wohnbauprogramms ein Neubauviertel mit WBS 70/11. WBS 70 ist eine der DDR typischen Abkürzungen für ein einheitliches Wohnhaus in Plattenbauweise, wie sie sich im ganzen Land fanden. Dazu kommen noch zwei Punkthochhäuser mit jeweils 20  Stockwerken über die vom Prenzlauer Berg aus, zu dem sie seltsam fremd ja gehören, nur dank seines Ansteigens hinweg gesehen werden kann.

Dies südliche Gebiet war früher als Teil der Königsstadt ebenfalls dicht bebaut gewesen, jedoch wurde die alte Bebauung während des Krieges größtenteils zerstört. Das Ergebnis dieser Flächenbombardements ist der Berliner Alexanderplatz, der wohl grässlichste Platz mitten im Zentrum einer Weltstadt überhaupt, aber in vielem sozialistischen Träumen wohl genügend und diese spiegelnd. So schützt der Denkmalschutz heute auch viele einst sozialistische Bausünden, deren Ästhetik sich wohl nur mit viel Abstand und abstrakt begreifen lässt, was Berlin zumindest an manchen Orten noch den Ruf nicht schön aber sexy zu sein wahrt, wie immer dies zustande kommen soll. Finde nichts weniger sexy als den grässlichen Alex mit seiner billig kapitalistisch überklebten Erinnerung an das sozialistische Grauen einförmiger Menschenmassen.

Zu den bekanntesten Bewohnern des Kiezes gehören neben Hans Rosenthal, dem Quizmaster von Dalli Dalli, an dessen Sprünge, für das was Spitze war, ich mich noch aus der Kindheit erinnern kann, Thomas Gottschalk, Benno Führmann, Knut Elstermann und Helga Paris. Ob daraus geschlossen werden kann, die Gegend um die heute Marie verführe viele dazu zu Schwätzern zu werden, weiß ich nicht, hielte ich für sehr weit hergeholt eher. Zumindest lädt das Sorsi e Morsi immer zu einem gemütlichen Schwätzchen und ich sollte mir endlich angewöhnen dort auch ohne Begleitung hinzugehen, insofern das Publikum dort interessant genug ist, jede auch noch so verdiente Aufmerksamkeit für die Dame an meiner Seite wieder als vergebene Liebesmüh zu sehen, bedenke ich, wen ich dadurch alles nicht kennengelernt habe auf diesem immer vollen Laufsteg von Liebe und Lust voller Menschen, den der Wirt Gianni auf seine unnachahmlich italienische Art zu einer südlichen Insel mitten im Winskiez macht, wie es wenige in dieser Stadt wohl gibt.

Überlege ja aus Gründen der Vernunft immer wieder, endlich das Rauchen aufzuhören, wieder mit dem Laufen zu beginnen, wie es meine in dieser Hinsicht so vorbildliche zweite Verlobte tat oder auch die dritte Verlobte und ich beide mit ihren schönen trainierten Körpern, wenn auch im Ergebnis völlig lustlosen Körpern, in guter ästhetischer Erinnerung habe, aber denke ich an Abende oder besser Nächte bei Gianni, verwerfe ich solche Gedanken lieber - zum Sterben ist noch Zeit genug, so südlich leben wie dort ist einfach ein Glück und wenn ich alt bin, kann ich immer noch gesund leben oder nicht mehr und dann war das vorher zumindest gut so und nicht lustlos, wenn auch dort Rauchverbot gilt, kann ich mir das ganze ja nochmal überlegen, bis dahin genieße ich la dolce vita im Winskiez. Auch wenn gestern,  wie es meist so ist, mehr über Sex geredet wurde, als wer solche hätte, war es sexy auf italienische Art.
jens tuengerthal 31.3.2017

Lustruhe

Lust will erobern
Doch genießt sie es ruhig
Kommen zu lassen
jens tuengerthal 30.3.2017

Donnerstag, 30. März 2017

Potenzmittel

Am meisten stärkt die
Potenz noch die Phantasie
Warum nichts mehr wirkt
jens tuengerthal 30.3.2017

Berlinleben 034

Kiezgeschichten

Im Gesundbrunnen

Gesundbrunnen hörte sich doch toll an, auch wenn es noch Wedding hieß, als ich hinzog und heute Mitte, klingt es erstmal nicht nach hoher Kriminalität sondern nach Kurort fast.

Werde nun in einigen Kiezgeschichten die Orte, an denen ich lebte in Berlin beschreiben. Angekommen bin ich an jenem 31. August 2000 im Wedding, durch den ich auch über die Brunnenstraße kam und das der Teil des einst roten Wedding noch Gesundbrunnen hieß, davon hatte ich mal irgendwie gehört aber dann doch keine Ahnung und sollte es auch erst erfahren, als ich längst im nächsten Kiez wohnte.

Vom Wedding hatte mir mein Freund A in Mainz schon erzählt, der da groß geworden war, direkt an der Mauer. Arbeiterkiez meinte er, viele Türken und Araber heute, etwas rauher, nix für mich, wie er meinte. Warum er mir nicht sagte, dass es eigentlich Gesundbrunnen war, weiß ich nicht, vielleicht weil er als Nachfahre einer Familie von Eisenbahnern so stolz auf den roten Wedding war, dass es auf die Unterscheidung keinen Wert legte. Ist ja auch vom Klientel und der Bebauung am Rand damals Berlins, auch wenn es heute zu Mitte gehört, noch immer relativ ähnlich. Von der Verwaltung her stimmte es ja auch. War Wedding zu der Zeit, noch bis 2001 als es dann Mitte wurde und ich nicht mehr die Bezirksgrenze überschritten hätte, wenn ich die ehemalige Mauer überquerte jeden Morgen auf dem Weg ins Büro, das dann aber doch in der ganz Prenzlauer Berg Straße Schönhauser Allee lag.

Der Freund hatte mir geraten, mal eine echte Berliner Eckkneipe im Wedding zu besuchen, mich aber nicht zu wundern, wenn ich da angeraunzt würde, so redeten die halt da. Hab darauf lange verzichtet, war ja nur zum Übergang da, wollte keine ethnologischen Studien an den Ureinwohnern betreiben und was ich so auf der Straße flanieren sah oder mit wummernden Bässen vorbeifahren hörte, machte mich nicht neugierig, sie näher kennenzulernen. Kampfhundbesitzer mit meist Jogginghosen, die in ihren Fenstern ihr Schönheitsideal glitzernd nicht nur an Weihnachten dekorierten. Wie sagte es einst Karl Lagerfeld so treffend? Wer Jogginghosen trägt, hat die Kontrolle über sein Leben verloren -  so gesehen waren hier ziemlich viele außer Kontrolle und das war nicht meine Welt.

Warum es heute auch hier am Berg Mode wurde, aller Welt zu beweisen, die Kontrolle verloren zu haben und dies als bequemen Ausdruck widerständiger Freiheit sieht, ist mir bis heute ein Rätsel - auch die pubertierende Klasse meiner Tochter freut sich an dieser braven Form des zivilen Ungehorsams. Jogginghose und gemütlich machen als Form des Aufstandes deutet auf eine Verschiebung der Gewichte der neuen Generation hin. Viele  der Musiker, die im Mauerpark oder am Abend im Al Hamra spielen, tragen auch schlabbrige Jogginghosen aus denen vielleicht noch das Designerlabel ihrer Unterhosen herausrutscht und wissen sich cool und bewundert dabei, finden junge strahlende Mädchen diese Typen so sexy, während mir eher so übel dabei wird, wie bei der Mode der Nylonkniestrümpfe zum Minirock in Farbe und Muster der Zeltvordächer der 70er. Vermutlich sollte ich daran merken, wie alt ich wurde, dass mir die meiste recycelte Mode, auch die jede weibliche Figur zerstörenden Schlaghosen so fremd sind, noch hoffe ich ja, es könnte auch an meinem erlesenen ästhetischen Empfinden liegen, doch fand sich noch keine, die sich dafür aussprach bis jetzt.

Ginge es nach mir, trügen wir noch immer die Mode aus dem Zauberberg oder den späten Buddenbrooks, warum mein Urteil vermutlich wenig Bedeutung für die meisten haben wird, die lieber modetechnisch gerade den bodenständigen Vorreitern aus den Vororten folgen, als sei dieses ästhetische Tiefstapeln Ausdruck einer besonders demokratischen Gesinnung. Für mich genügten ein Leben lang schwarze Rollis und schwarze Jeans eigentlich, bin vermutlich zu schlicht gestrickt. Auch die Körperbemalung eingeborener Völker oder der Matrosen wurde für viele gerade Mode, die vermutlich in einigen Jahren noch viel mehr Geld dafür ausgeben werden, ihre peinlichen verschrumpelten Arschgeweihe wieder verschwinden zu lassen. So gesehen wundert es auch nicht, dass Wedding und Gesundbrunnen, die heute ja auch in Verkennung der Realitäten Mitte heißen, wie Prenzlauer Berg nun Pankow heißt als sei es ferne östliche Provinz, zum Trendviertel wurde und den Künstlern, die zuerst kamen, immer mehr folgen, welche die billigen Mieten dort schätzen.

Die Siedlung nahe dem Mauerpark mit vielen eher Nachkriegsbauten in der ich zuerst lebte, war davon weniger betroffen. Hier lebte tatsächlich noch das alte Arbeiterklientel, was nur eben inzwischen zum größeren Teil auch durch Migranten gestellt wurde. So sitzen heute mehr die alten Männern mit den großen Schnurrbärten und die Frauen mit den Kopftüchern auf den Bänken in der Mitte der Siedlungen als zu der Zeit, in der mein Freund A hier laufen lernte, wie er mir erzählte und mein Freund M auf der anderen Seite der Mauer und beide sich nie sehen konnten, keine 100m voneinander aufgwachsen.

Der hohe migrantische Anteil unter den Bewohnern prägt auch den Einzelhandel dort immer mehr, hieße es wohl politisch korrekt. Es ist eine raue Ecke um die Brunnenstraße bis zum Gesundbrunnen, auch wenn das Viertel mit dem Humboldthain einen der schöneren Parks Berlins beherbergt, in dem viele seltene Bäume aus aller Welt wachsen, deren Samen der Forscher Alexander von Humboldt noch von seinen Reisen mitbrachte. Hier gibt es wunderschöne alte Industrieanlagen in Klinkerbauten, in denen die AEG produzierte und andere.

In dem kleinen Viertel Gesundbrunnen, dem früheren Teil des Wedding, dem heutigen Ortsteil von Mitte leben fast 93.000 Menschen auf einer Fläche von 6 km² - es ist also ziemlich verdichtet hier alles. Der Gesundbrunnen grenzt im Norden an Reinickendorf und Pankow, im Osten an Prenzlauer Berg, was ja auch Pankow heißt aber das kann ja keiner ernst nehmen und im Südosten an Mitte, womit für den namensgebenden Wedding noch Süden und Westen bleiben. Die Hauptverkehrsachsen dort sind, nomen est omen, die Bad- und die Brunnenstraße. Brunnenviertel wird dabei nur der südöstliche Teil des Stadteils Gesundbrunnen genannt, der um den Bahnhof Gesundbrunnen liegt. Durchflossen wird die Gegend mit dem trügerischen Namen von der Panke, die auch schon durch Pankow fließt und diesem den Namen gab und heute eher ein nettes Rinnsal meist ist, aus dem Barnim kommend und also ein Überbleibsel der Eiszeit.

Der Name Gesundbrunnen rührt tatsächlich von einer heilenden Quelle her, die in der Nähe des späteren Luisenbades lag, die mineralisch war und der jugenderhaltende Wirkung zugeschrieben wurde und was tun die Menschen dafür bis heute nicht alles. Würde den daran Interessierten heute eher empfehlen sich den cranachschen Jungbrunnen in der Gemäldegalerie anzusehen, als den jungen Wedding zu besuchen, der ist tatsächlich so alt, da fühlen sich auch faltige wieder jung und lächeln. So gesehen aber liegen die Wurzeln des wilden Gesundbrunnen in einer Beauty-Farm mit Wasser. Weil diese Sage immer mehr Menschen anzog, ob nun junggebliebene oder alt gewordene, ist nicht ganz gewiss, wuchs die Siedlung der Quellpilger bald zu einem eigenen Stadtteil heran. Die Berliner, die da wohnen, sagen, sie leben am oder in Gesundbrunnen. Auf berlinerisch wird der Brunnen von manchen noch liebevoll Pumpe genannt, auch wenn das nur noch weniger der verbliebenen Ureinwohner kennen. Seiner kulturellen Entwicklung wegen wurde so der Gesundbrunnen zur Quelle des Bezirks Wedding.

Der ehemals zusammengehörige Bezirk Wedding wurde mit der Bezirksreform von 2001, die eben alles Mitte nannte, was vorher noch eigenständig war, in die beiden Ortsteile Wedding und Gesundbrunnen getrennt, darum wird nun weiter über den Wedding berichtet, weil es dies ja auch nach dem Empfinden vieler Eingeborener war, wie meinem Freund A, dem Abkömmling vieler roter und toter Eisenbahner.

Der ersten Nachweis einer Besiedlung im damals noch Weddinge stammt aus dem Jahre 1251. Jedoch verschwand dies Dorf völlig ohne dass bekannt wäre warum und ob es eher im heutigen Wedding oder in Gesundbrunnen lag. Der erste noch bestehende Nachweis des Vorwerk Wedding stammt aus Informationen aus der Zeit um 1600. Dabei ging es um Streitigkeiten über Grundstücke, die  im heutigen Stadtteil Gesundbrunnen liegen. Wir sehen, die Grenzen sind fließend und die Trennung doch nicht immer logisch. Unklar ist noch, inwieweit diese Siedlung mit dem Amt Mühlenhof verbunden war, das damals und lange danach für die Belieferung des Hofes mit Holz und Lebensmitteln zuständig war. Dies war, nur so ganz nebenbei, seit 1448 für die Hofbelieferung zuständig, als nach dem Berliner Unwillen über den Baus des Schlosses auf der Insel Cölln die Patrizier einige Mühlen und Ländereien an Kurfürst Friedrich II. zurückgeben mussten. Ein berühmter Bau im Stile der Renaissance aus dem Jahre 1510, der am Mühlendamm oder Molkenmarkt stand und den natürlich mal wieder der peinlich geschmacklose Wilhelm II. abreißen ließ nach 1888.

Die für Gesundbrunnen namensgebende eisenhaltige Quelle wurde übrigen 1748 erstmals erwähnt. Sie wurde untersucht und vom Chemiker Marggraf für heilkräftig befunden und schon 1751 erwarb der königliche Hof Apotheker Heinrich Behm das königliche Privileg, dort eine Heil- und Badeanstalt einzurichten. Dieser teilte dem König mit, der damals schon Friedrich II. hieß, dass die Wirkung der Quelle die in Bad Freienwalde und in Bad Pyrmont noch weit überträfe, was immer daran auch Wirkung sein soll, vermutlich wie bei jeder Kur oder der Homöopathie zählt hier die Psychosomatik für die Natur. Der König ließ den Brunnen fördern, der daraufhin erstmal naheliegend Friedrichs-Gesundbrunnen getauft wurde. Ab 1758 legte Behm die Brunnenanlage an und gab 1760 quasi als Marketingmaßnahme eine Werbeschrift unter dem Titel “Nachricht von dem Gesundbrunnen” heraus.

Für mehr als tausend Wannenbäder gab die Quelle jährlich Wasser und wurde darum auch gebührend in Backstein gefasst, mit einem sechseckigen Brunnenhäuschen mit großen Rundbogenfenstern versehen. Drumherum wurde eine ausgedehnte Gartenanlage errichtet mit den üblichen Bade- und Trinkhäusern sowie Logierhäuschen in denen bis zu 40 Kurgäste nächtigen konnten. Es sollte dort bei chronischen und rheumatischen Erkrankungen Linderung zumindest gesucht werden. Wer dächte heute noch daran, nach Gesundbrunnen zu gehen, damit es einem hinterher besser ginge?

Auch der König selbst logierte hier, wenn er von der Inspektion der nahegelegenen Artillerieübungsplätzen kam.  Irgendwann war die heilsame Quelle vor den Toren der Stadt dann nicht mehr so in Mode und verfiel ein wenig, bis sie 1808 der erfolgreiche Medizinal Assessor und Buchhändler Flittner erwarb und wieder sanierte. Zugleich holte er sich über seine in besten Kreisen verkehrende Bethmann Kusine das Privileg die gerade in Königsberg weilende Königin Luise als Namenspatronin zu wählen, die ihm sogar noch persönlich auf bessere Zeiten hoffend die Genehmigung erteilte und schrieb. Gerade war Preußen noch Napoleon bei Jena und Auerstedt unterlegen, zuvor schied schon mit Preußen der Recke Prinz Louis Ferdinand dahin, der einst Geliebte von Prinzessin Friederike, der Schwester der Königin und so war die königliche Familie, zumindest was von ihr übrig noch war, nach Ostpreußen geflohen, von wo die später so hochverehrte Königin schrieb, die aber die Befreiung und den Untergang Napoleons nicht mehr erlebte, sondern ohne Heilwasser an einer Lungenentzündung starb.

Seitdem hieß  der ehemalige Friedrichs-Gesundbrunnen nun Luisenbad, auch wenn bezweifelt werden muss, dass die Namensgeberin noch jemals tatsächlich da war. Der ehemalige Brunnen lag in der Nähe des heutigen U-Bahnhofs Pankstraße und stände heute im Hinterhof des Gebäudes Badstraße 38/39. Als aber die Berliner 1882 eine Kanalisation auch im Wedding bauten wurde der Brunnen, vor lauter Ordnung machen, versehentlich zugeschüttet, exisitiert also nicht mehr. Dafür gibt es an der Ecke Badstraße zur Travemünder Straße noch die verbliebenen Gebäude des ehemaligen Luisenbades. Heute, nach dem Umbau von 1995, ist dort die Bezirkszentralbibliothek am Luisenbad untergebracht.

Mit den Badegästen kamen auch die Schankwirte, die an der Badstraße Biergärten und Ausflugslokale errichteten, mit denen auch Glücksspiel und Prostitution im Gesundbrunnen Einzug hielt. Die Gegend wandelte sich zu einem Vergnügungsviertel. Als solches wurde es auch 1861 eingemeindet und bildete mit dem Wedding zusammen den Bezirk Wedding und Gesundbrunnen. Ab Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte sich der Bezirk infolge der anhaltenden Landflucht zu einem Arbeiterbezirk, in dem dichtgedrängt die Proletarier in Mietskasernen lebten. Als schlimmstes Beispiel für diesen gedrängten städtischen Moloch galten damals die Meyers Höfe in der Ackerstraße 132, wo extrem komprimiert und spekulativ gebaut wurde.

Der Umsteigebahnhof Gesundbrunnen wurde bereits um 1900 an der heutigen Stelle errichtet als Fern- Ring- und Vorortbahnhof und bekam wie damals üblich auch ein prächtiges Bahnhofsgebäude. Zur Überbrückung der Bahntrasse im Verlauf der Swinemünder Straße wurde die Millionenbrücke nahe des neuen Bahnhofs errichtet. Der Volksmund hatte die hängende Stahl-Fachwerkkonstruktion wegen der damals enormen Baukosten von rund einer Millionen Mark so genannt. Nachdem dann 1930 auch die U-Bahn dorthin fertiggestellt worden war, die heute die U8 ist, die durch den Wedding zum Alex führt, wurde der Bahnhof zum zentralen Umsteigebahnhof im Berliner S- und U-Bahn Netz.

Während der Weimarer Republik nun war der Wedding eine Hochburg der Arbeiterparteien und darum auch als roter Wedding bekannt. Dort kam es auch am 1. Mai 1929 zu schweren und blutigen Zusammenstößen, die als Blutmai in die Geschichte eingingen. Dabei starben an der Ecke Wiesen- zur Uferstraße allein 19 Menschen und weitere 250 wurden verletzt, an die heute ein Gedenkstein dort erinnert.

Der Berliner Fußballclub Hertha BSC hat hier seinen Ursprung genommen. Sie bezogen 1904 den Schebera Platz ihren ersten festen Platz mit Vereinsheim. Dort wurde 1923 das Stadion am Gesundbrunnen errichtet, in denen Hertha seine beiden deutschen Meisterschaften 1930 und 1931 feierte. Die drei Halbbrüder Boateng, die teilweise zu den erfolgreichsten Profis im deutschen Fußball zählen, zumindest Jeromè noch beim FC Bayern, wuchsen im Gesundbrunnenkiez in der Brunnenstraße auf und noch heute erinnert ein großes Graffiti an ihre Heimat.

Das Stadion, im Krieg durch Bomben weitgehend zerstört, hatte über 35.000 Plätze wurde aber 1974 doch abgerissen. An seiner Stelle entstand dann zwischen Behmstraße, Bahntrasse, Swinemünderstraße und Berliner Mauer eine der wenigen West-Berliner Plattenbausiedlungen mit Waschbetonfassade, heute so hässlich wie immer.

Während des Nationalsozialismus war der Wedding eine Quelle steten Widerstandes, der viele Menschen das Leben kostete. Bei der Reichstagswahl vom 5. März 1933 war der Wedding, derjenige Stadtteil von Berlin, in dem die Nationalsozialisten mit 25,9% die wenigsten Stimmen bekamen. Dafür bekam die KPD noch 39,2% und die SPD lag bei 22,8%.  Am Rande des Volksparks Humboldthain hin zu den Gleisen des Bahnhofs wurde mit Zwangsarbeitern noch ein Flakturm mit Leitbunker errichtet, der so stabil war, dass er bis heute als nun Aussichtsturm steht nun mit obligatorischem Kunstwerk versehen. Während des Krieges wurden in Gesundbrunnen fast alle Kirchen und zahlreiche Wohnhäuser durch Bomben zerstört. Bis Ende Juni 1945 herrschten nach dem Krieg noch Soldaten der Roten Armee mit großer Brutalität im doch eigentlich roten Stadtteil, denen noch mehr der Überlebenden zum Opfer fielen.

Auf die Russen folgten die Briten und Franzosen als Besatzungsmacht. Die Badstraße entwickelte sich nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer der größten Einkaufsstraßen Berlins Am Gesundbrunnen stand mit der Lichtburg das größte Kino Berlins. Zahlreiche der ab 1961 von der Bundesrepublik in der Türkei angeworbenen Arbeiter fanden im Gesundbrunnen ein neues Zuhause, weil das Viertel direkt an der Mauer gelegen, ohne Perspektive besonders günstige Mieten bot. Bis heute hat der Stadtteil mit über 38% den höchsten Anteil von Migranten, die sonst bei durchschnittlich 18% liegen. Die größtenteils Türken im Wedding und Gesundbrunnen sind andere als in Kreuzberg oder Neukölln. Häufiger konservativ bis extrem religiös und wenn Erdogan irgendwo in Berlin Zustimmung erhält, dann dort, was zu einer seltsamen Verkehrung gegenüber den Verhältnissen des Nationalsozialismus seitens der heutigen Bewohner führt.

Beim Fall der Mauer und der Öffnung des Grenzübergangs an der Bösebrücke oder Bornholmer-Straße stand der Gesundbrunnen plötzlich im Mittelpunkt des weltweiten Interesses. Die Brücke verbindet Prenzlauer Berg mit dem Gesundbrunnen Wedding. Plötzlich lag der Wedding nicht mehr irgendwo am Rand der Mauer, hörte an der Bernauer Straße die Welt auf, sondern öffneten sich ganz neue Welten und dennoch blieben und entwickelten sich die beiden Bezirke relativ getrennt voneinander total unterschiedlich. Die Mieten in Prenzlauer Berg stiegen, sogar bis nach Pankow hinauf schon, wer immer da hin will, und so wichen immer mehr Künstler wieder in den Wedding aus mit seinem traditionell hohen Anteil an migrantischer Bevölkerung und teil sehr günstigen Altbauwohnungen, die dennoch einen schnellen Weg nach Mitte boten. So entstanden dort ganze Künstlerkolonien, die sich auch so nannten und im alten Stadtbad oder im Postfuhramt große Arbeits- und Atelierflächen fanden. So verändert sich dieser Bezirk gerade wieder und es bleibt spannend, welche angestammte Bevölkerung nun bleibt, wer wohin wandert und wie es in zehn Jahren um den Gesundbrunnen aussehen wird.

Gesundbrunnen und Wedding waren ein wichtiger Industriestandort, die AEG hatte dort ihr großes Werk, Telefunken gab es, Rotaprint, die Berliner Maschinenbau und Schering. Geblieben ist wenig aber viele schöne Gebäude aus der Frühgeschichte der Industrialisierung auch in der Ackerstraße, die vom Koppenplatz in der alten Mitte Berlins bis tief durch Gesundbrunnen zum Humboldthain reicht.  Heute ist der Stadtteil eher durch extrem hohe Arbeitslosigkeit geprägt, zwischen 9% und 12% und bis zu 72% der unter 15 jährigen sind von staatlicher Hilfe abhängig, was der höchste Anteil der ganzen Stadt ist. Wo sich einige dieser perspektivlosen Jugendlichen Gangs anschließen und dabei stolz die 65 tragen oder als Graffiti verewigen, bezieht sich dies auf die alten Postbezirke wie in Kreuzberg die 36. Nur ist Kreuzberg durch einen stärkeren alternativen Anteil der Bevölkerung und das lange Bemühen um multikulturelle Durchmischung offener als Gesundbrunnen Wedding, in dem die jeweiligen Gruppen der Bevölkerung sehr für sich leben.

Eine Freundin von mir wurde als vorher Französischlehrerin für Leistungskurse mit einer sehr frankophilen Neigung im Berliner Stellenpool aus einem feinen bürgerlichen Viertel nach Gesundbrunnen versetzt, da sie weder Kinder hatte, noch verheiratet war oder andere Sozialkriterien erfüllte, die in dieser Stadt gerne und oft die Falschen privilegieren, die wissen wie, an eine Sekundarschule im Gesundbrunnen versetzt und überlegte aus Berlin weg gen Süden zu ziehen, weil sie es in der neuen Klasse mit keinem muttersprachlich deutschem Kind und der ständigen Angst vor Gewalt nicht mehr aushielt. Der Kontakt verlor sich leider, auch weil ihre verständlichen Klagen unerträglich wurden. Doch was sie auch aus den dort Parallelwelten erzählte und wie Berlin dort teilweise Lehrer verheizt ohne eine langfristige Perspektive, die  eine Durchmischung nötig macht und eine massive Förderung, um langfristig Integration zu erreichen. Eine andere einmal Liebhaberin, die schon ewig in Kreuzberg lebte und dort voll in das multikulturelle Milieu eingebunden war, wurde als LER-Lehrerin auch in den Bereich Gesundbrunnen geschickt und sprach von ähnlichen Belastungen und Ängsten, denen sie sich ausgesetzt sah.

Es wird spannend, wie diese Konflikte langfristig und nachhaltig gelöst werden sollen, um ein dauerhaftes Miteinander zu ermöglichen. Auch meine Tochter war die ersten zwei Jahre im Gesundbrunnen in einer Schule, die in einem der berühmten alten AEG Gebäude hausierte. Allerdings war es eine englische Privatschule, deren Schüler von vielen wohlhabenden Eltern, also nicht solchen wie ich einer bin, direkt vor der Schule im noblen Wagen abgeliefert wurden. Auch wenn dies eine Ausnahmesituation am seltsamen Ort eine zeitlang war, wir wissen schon, warum wir diese Schule irgendwann wieder verließen, hat sie in diesen zwei Jahren interessante Erfahrungen gemacht und auch ich als ihr Vater, der sie meist mit dem Rad brachte, erlebte Berlin ganz anders als hinter der sozialen Mauer des Prenzlauer Berg in dem sich ein akademisch grünes Milieu seine Wohlfühlatmosphäre einrichtet und am liebsten schickes countrylife im aktuellen Stil mitten in der Großstadt spielt, mit der es wenig zu tun haben will.

Mit einem Schnitt unter 38 Jahren ist der Bereich Wedding Gesundbrunnen der jüngste Teil Berlins. Dabei haben über 62% der Einwohner im Ortsteil Gesundbrunnen einen irgendwie migrantischen Hintergrund, egal welchen Pass sie tragen oder wo sie geboren wurden, was zu dem hohen Anteil von fast 38% Migranten dort passt. Neben den Boatengs kam auch der bekannte Harald Juhnke aus dem auch für viele Drogenkonsumenten bekannten Gesundbrunnen und Cornelia Froboess, die einst sang, Pack die Badehose ein.

Die Zahl der architektonisch bedeutenden Gebäude ist relativ überschaubar. Es gibt das Amtsgericht Wedding, das nach dem Vorbild der sächsischen Albrechtsburg im Stile  der Neogotik erbaut wurde, die nach Schinkels Plänen bis 1835 errichtete St-Pauls-Kirche, die in den 50ern nach Zerstörung im Krieg wiederhergestellt, im Inneren als Denkmal der Architektur der Nachkriegszeit gilt, was immer daran schön sein mag, auch die ehemalige Rotaprint Fabrik gilt als ein Klassiker der Moderne und wird denkmalgerecht nun zumindest vom Verein saniert, dahingestellt, was nun noch schön daran ist, schließlich noch die Peter-Behrens-Halle der AEG, die in ihrem Klinkerbau für die Architektur des Industriezeitalters steht.

Gesundbrunnen und Wedding tauchen in der Kriminalitätsstatistik von Berlin immer relativ weit oben auf. Es gibt hier weniger mafiöse Clans, wie sie sich lange gerade in Neukölln fanden, doch immer wieder Ausbrüche der Gewalt in einem Leben zwischen den Extremen. Die Brunnenstraße vom Brunnen-Center, dem großen Einkaufszentrum am Bahnhof Gesundbrunnen, aus nicht gen Mitte sondern hinein in die Welt der auch orientalischen Basare und Läden hier laufen, ist wie Urlaub in einem anderen Land. Nicht jede Erfahrung ist großartig, auch wenn manches dort ganz bezaubernd sein kann, aber es lohnt sich für jeden Besucher, der das Leben in der Stadt mitbekommen möchte und dies mehr als ein Gang über den Ku’Damm oder durch das KaDeWe, die dem größten Teil der Stadt fremd bleiben. Dit ist eben Berlin da, nicht schön, nicht schnieke, aber ziemlich echt und meist ehrlich. So gesehen passt es, dass der nur Vorort nun Mitte heißt, den ich nie kennenlernte als ich dort noch wohnte sondern erst viel später und ich mag die Ecke, mit Vorsicht.
jens tuengerthal 30.3.2017

Mittwoch, 29. März 2017

Lustpotenz

Wo wollen und können
Nicht zusammen passt wird es
Selten mit der Lust was

Wer sich überschätzt
Verschießt sein Pulver allein
Blieb es dann besser

Wo Kraft und Saft eins
Steht von allein unser Held
Sonst hängt er als Clown
jens tuengerthal 29.3.2017

Lustgeist

Wo Natur uns treibt
Will die Lust zur Sinnlichkeit
Geistig wird sie ganz
jens tuengerthal 29.3.2017

Berlinleben 033

Kopfmauer

Die reale Mauer ist Geschichte. Fragt sich nur, ob die in den Köpfen schon verschwunden ist, je verschwinden kann oder zu uns gehört als Teil unserer Geschichte.

Es gibt Menschen, die haben die Teilung faktisch überwunden, ihr Herz über alle Mauern, die es ja real nicht mehr gibt, verloren und leben dies Glück miteinander, solange es gut geht. Habe dies auch mehrfach versucht und würde mich hüten, zu sagen, es scheiterte  daran, dass ich Wessi und sie Ossi war. Ein Verdacht spricht immer dafür, dass es allein an mir lag, zumindest wenn ich mich in die Sicht und Stimme der Frau einzufühlen versuche, was ich darum lieber schon zu Anfang aufgebe.

Schaue ich meine Tochter an, die  in der östlichen Charité geboren, immer im Osten aufgewachsen ist, nur eben zwei Wessis als Eltern hat, frage ich mich, was ist sie nun und ist Identität doch genetisch eher bedingt als von politischen Zufällen abhängig?

Weiß es nicht und frage es mich darum immer wieder, wenn ich auf die üblichen Vorurteile stoße, auch gerne beim Blick nach Innen mich selbst betreffend. Glaube, für sie spielt es keine Rolle mehr, sie ist das Kind einer anderen Generation, kennt unsere Erfahrungen nicht mehr.

Hatte einige Liebste, die in West-Berlin aufwuchsen und klar sagten, in den Osten würden sie nie ziehen. Umgekehrt habe ich das selten so deutlich gehört, kenne sogar Ossis, die nach Charlottenburg etwa zogen, wie die Meisterin des Friseursalons in dem ich regelmäßig Haare lasse. Ob sie es aus Liebe oder nur mit ihrer Liebe tat, weiß ich nicht so genau, zumindest fühlt sie sich wohl dort, wenn es auch etwas öder wäre, wie sie sagte.

Was waren für diejenigen, die es ausschlossen, je in den Osten zu ziehen, ohne dabei andere Gründe nur in Erwägung zu ziehen, die pragmatisch für das eine oder andere Quartier sprechen könnten, Beweggründe, fragte ich mich später, als ich den eigenen Dogmatismus - nur in Mitte oder Prenzlauer Berg könne gewohnt werden - aufgab. Inzwischen weiß ich, auch Charlottenburg hat geradezu zauberhafte Ecken und ist zwar verhältnismäßig langweiliger, wenn du gerne im Café sitzt oder weggehst, aber diese Phase verliert irgendwann im Leben auch ihre Leidenschaft.

Würde heute sagen, ich könnte überall in Berlin leben, wo es schöne Altbauwohnungen gibt und würde vom Gefühl her mich im Westen eher zuhause fühlen als im Osten, in dem ich nun bald 17 Jahre lebe und mit dem ich immer noch irgendwie fremdel. Auch wenn der Westen mir eher fremd blieb. Natürlich zöge ich Mitte oder Prenzlauer Berg nach wie vor fast allen Vierteln der Stadt vor, schon aus Gewohnheit, doch bin ich viel freier in dem geworden, was ich schön finde und genießen kann, statt vorher zu urteilen, mich den Umständen des Einzelfalls zu stellen, wie es einzig vernünftig scheint.

Lange habe ich den schöneren Osten gegenüber dem piefig langweiligen Westen verteidigt, stimmt auch immer noch in gewisser Hinsicht, dennoch erkenne ich bei aller längst Vertrautheit im Osten, denn so lange habe ich bisher in meinem Leben an keinem Ort gelebt, eine Heimat ist es nur bedingt, ich fremdel weiter, habe immer wieder das Gefühl als Wessi und Zugezogener nie ganz dazugehören zu können. Auch wenn ich die Platzbewohner und die Kassierer bei Edeka am Platz schon mit ihren Lebensgeschichten kenne, am Schritt höre, wer sich da nähert.

Manche vermitteln dieses Gefühl mit einem gewissen Lokalpatriotismus manchmal auch ungewollt, wenn sie von damals erzählen, als hier fast alle Häuser besetzt waren, oder doch viele, sie mittendrin. Von den wilden Festen auf den Dächern, der Dichterszene und den Partys in irgendwelchen wilden Clubs, bei irgendwem im Hinterhof. Ganz am Rand habe ich das noch mitbekommen, ohne je wirklich eine Ahnung davon gehabt zu haben. Kam einfach zu einer anderen Zeit, als die Revolution längst vorüber war, die Schwaben die Künstler aus günstig erstandenen Wohnungen verdrängten.

Fühlte mich den Künstlern gegenüber eher solidarisch als den Schwaben, auch wenn ich lange bei Heidelberg in deren Nähe zumindest lebte, obwohl die Kurpfalz natürlich nichts mit Schwaben zu tun hat, ist doch für den Berliner doch alles südlich des Mains, was nicht Bayern ist, eben Schwaben, mehr Differenzierung ginge hier völlig fehl und interessiert keinen, ist halt die Provinz da unten, wie mir mein hier eingeborener Freund M einmal erklärte. Aber ich blieb ein Fremder, ich war nicht von hier - fiel am Berg nicht weiter auf, weil alle irgendwann her zogen, kaum ein Eingeborener, wie M und seine Brüder, die in der Oderberger aufwuchsen, in eben diesen Künstlerkreise, noch hier blieb.

Die letzte Verlobte von mir, die vermeintlich ganz große Liebe, was wieder zeigte, der Grad des Irrtum wächst proportional zur vorigen Überzeugung, kannte die Theater und Künstlerkreise von vor der Wende, war aus Wismar kommend, jedes Wochenende hierher getrampt, seit sie 13 war, hatte danach noch auf mancher wilder Bühne hier gespielt, kannte ganz viele im wilden Osten, der ihr vertraute Heimat war, mehr Familie als ihre wirkliche Verwandtschaft in und um Wismar. Doch sie brach mit der Wende alle Kontakte in den Osten ab, fuhr nie mehr nach Hiddensee, wo sie vorher jeden Sommer war und jede Nacht in einem anderen Bett schlief, wie sie erzählte. Sie lebte bei und irgendwie mit ihrem Ex, der in den frühen 60ern aus dem Osten geflohen war. Sie hasste die DDR, bekam beinahe einen Zusammenbruch von den vielen schrecklichen Erinnerungen als ich mit ihr durchs DDR-Museum in der Kulturbrauerei ging und war so im Kopf wie synchron natürlich auch am Körper voller Tabus aus einer Vergangenheit über die sie wenig sprach. Sie bekam dort natürlich nahezu einen Migräneanfall.

Hatte es immer wieder angesprochen, Brücken gesucht und nicht gefunden, sie lebte in ihrer abgeschlossenen Welt, in der ich sie nicht erreichte, auch wenn sie die ganze Welt gut kannte und bereiste, es ihr wichtig war, überallhin zu können, sie blieb unerreichbar und lebt vermutlich weiter in der seltsamen Symbiose mit ihrem dreißig Jahre älteren Ex, den sie schon seit der Wende finanzierte, weil sie sich irgendwie in seiner Schuld fühlt. Kam nie an sie heran und habe nie verstanden, was sie wirklich wollte, die anfänglich so begeistert und voller Liebe war und die meine Tochter aber intuitiv ablehnte und sofort nicht ausstehen konnte.

Ähnlich fremd blieb mir auch die vorletzte Verlobte, von der meine Tochter spontan meinte, ganz nett aber langweilig und als erfahrener Vater neige ich inzwischen immer weniger dazu meiner Tochter zu widersprechen, auch wenn sich ihre Urteile nicht auf tatsächliche Beziehungserfahrung stützen, noch sachlich begründbar sind, waren sie doch faktisch oft richtig und weniger postfaktisch als alle Selbstdarstellungen der Damen. Sie kam aus Thüringen, der ursprünglichen Heimat meiner Familie, liebte Weimar wie ich, was mir sofort das Herz öffnete und mich ganz für sie einnahm, wie auch ihre schlanke und wohl trainierte Gestalt keinesfalls Abneigung hätte auslösen können. Es blieb etwas, dass wir nie teilten und wie es nahezu wortlos auseinanderging, weil es nichts mehr zu sagen gab, meine Tochter schon irgendwie Recht hatte und ich sicher nicht ihren Ansprüchen genügen konnte, blieb in mir diese seltsame Leere und Fremdheit zurück, die mich als Wessi hier im Osten immer wieder ergreift auch und gerade den Frauen gegenüber, die ich nah an mein Herz ließ.

Bin in einem anderen Land und lebe mit Menschen, die, so sie etwa mein Alter haben, als meine Feinde eher aufwuchsen, wie für mich die DDR Russenland und eine tyrannische Diktatur zu Kinderzeiten immer war.

Erinnere mich genau an den ersten Ausflug mit meinen Eltern anlässlich eines Ärztekongresses, vermute es war der Deutsche Röntgenkongress, ins damalige West-Berlin. Es muss Ende der 70er oder in einem der ersten Jahre der 80er gewesen sein. Die Fahrt durch die Zone hatte mir schon Angst gemacht wie die Kontrollen an der Grenze. Hatte tausend Fragen, die ich meinen Eltern immer wieder stellte - was würde passieren, wenn wir kein Benzin mehr hatten, hier wo es nicht alles immer gab in der Mangelwirtschaft, was wenn wir liegenblieben und es doch keinen ADAC gab, was wenn uns die Polizei anhielt und meine Eltern verhaftete, was würde dann aus mir?

Nichts dergleichen passierte damals, wir kamen wunderbar durch und doch war meine Erleichterung als wir in West-Berlin ankamen riesig. Plötzlich waren die Schilder wieder vertraut, nicht diesen seltsamen Spruchbänder mit VEB Propaganda und anderes mehr. Der Ausflug mit dem Bus in den Osten, bei dem wir das Rathaus besichtigten und vermutlich sogar am Kollwitzplatz, an dem ich 20 Jahre später leben sollte, als Touristen entlang gekarrt wurden, hat mir das Fürchten gelehrt. Die Kontrollen waren unfreundlich, dieser Staat machte mir als Kind Angst, während ich mich auf deutsche Grenzbeamte freute, wenn wir irgendwo aus dem Urlaub wieder zurückkamen, ich gerne mit ihnen scherzte, kannten die auch leberwurstgrauen DDR Grenztruppen keinen Humor, lachten in meiner Erinnerung nie, sprachen teilweise seltsames Deutsch. Wusste nichts von sächsisch oder thüringisch, wie es meine Vorfahren in Sachsen-Gotha oder Sachsen-Weimar einst sprachen -  es war eben  ein anderes fremdes Land mit einer unberechenbaren Diktatur und es bereitete mir als Kind große Sorge. Konnte mir nicht vorstellen, wie Menschen dort leben konnten.

 Beschäftige mich nicht gern mit Problemen, psychologisiere ungern, halte nichts davon, dass es Menschen helfen würde, sich mit ihren Ängsten zu konfrontieren, sondern denke, dies ist ein vorgestriger psychoanalytischer Aberglaube und doch stelle ich mich gerade genau diesen in der Auseinandersetzung mit der ehemals DDR auf deren Gebiet ich nun die längste Zeit meines Leben verbracht habe und sollte mich also klugerweise fragen, was ich da mache und wo es hinführen soll.

Angst habe ich keine mehr hier und doch ein ungutes fremdes Gefühl ganz tief im Untergrund. Als ich herausfand, dass der Vermieter der Wohnung, in der ich mit meiner Tochter und ihrer Mutter, meiner längsten Liebsten bis jetzt, lebte, ein hoher Stasi-Offizier war, wurde mein Misstrauen gegen ihn immer größer. Verstand, warum der Typ das Neue Deutschland las, die Linke verteidigte und sich ansonsten von seiner Frau gebremst lieber zurückhielt. Musste der Mutter meiner Tochter recht geben, die intuitiv misstrauisch gewesen war. Doch irgendwie mochte ich den Typen trotzdem, er war interessant, nicht nur als großer Wagner Verehrer und er hatte halt an die alberne Idee des Sozialismus geglaubt und für den Staat gearbeitet wie viele tausend andere - nun leitete er eine Hausverwaltung, die sich um ehemaliges jüdisches Eigentum kümmerte. War ein freundlicher engagierter Hausverwalter, hatte zwei zauberhafte Töchter und eine sehr nette, sehr blonde Frau und wenn ich mich an die Bücher und Bilder in seinem Schlafzimmer erinnere, dass er mir mal irgendwann in anderem Zusammenhang zeigte, viel für Sex übrig, was ich auch nicht unsympathisch finden konnte.

Doch nachdem ich das zufällig im Netz herausgefunden hatte, über eine Aussage von ihm als ehemaliger kommandierender Offizier vor Gericht gestolpert war in einem Stasi-Prozess war seltsamerweise mein Vertrauen stärker erschüttert, als realistisch mein Mitleid für diesen Typen hätte wachsen sollen, dessen Staat unterging, der gescheitert war und der nur das Glück reicher Freunde hatte, die ihn finanzierten. Dieses grundsätzliche Misstrauen gegenüber Stasi-Leuten und SED-Mitgliedern blieb, auch wenn ich einige kennenlernte, die bis zur Wende aus taktischen Gründen halt mitgemacht hatten und dann überzeugte Demokraten wurden und war ich ehrlich musste ich mich fragen, wem vertraute ich hier wirklich, in dem anderen Land, das nun mein Land war, in dem ich lebte und was doch nie meine Heimat war.

Eine meiner liebsten Liebsten, eine sehr gute Ärztin, obwohl oder vielleicht auch weil dem Aberglauben an die Homöopathie anhängend, und alleinerziehende Mutter mit der ich viele wunderschöne Momente erlebt und geteilt habe, die ich nie missen möchte, wuchs hier im Osten umme Ecke auf und wenn auch irgendwie etwas oppositionell da katholisch, womit ich ja auch immer fremdelte, was hier aber keine Rolle gerade spielt, wurde sie in einer mir fremden Welt groß und wenn sie davon erzählte, was sie ganz süß mit einem Lächeln und dem frech berlinerischen “ne weeßt schon…” tat, war ich zwar in dieses süße berlinerisch, was sie auch unbedingt an ihre Tochter weitegeben wollte, total verliebt und schmolz dahin, hätte diese auch sehr begabte Malerin zu gern zur Frau genommen, hätte ich je tatsächlich die Wahl gehabt, denn ein wenig flüchtig war und ist sie ja vermutlich auch, doch zugleich fühlte ich mich auch fremd und fragte mich bei dieser völlig natürlichen und offenen Frau, was mich innerlich so fremdeln ließ, dass ich vor dem Sprung einer Entscheidung immer auch zurückgeschreckt wäre vermutlich.

Zum Glück schreckte sie vorher zurück und wir können nun gut liebe Freunde sein, die sich zwar zu selten aber doch ab und zu plaudernd noch sehen. Is halt so, würde sie vermutlich ganz nüchtern sagen, wie sie immer so gern betonte, sie sei ganz einfach und sofort zu durchschauen, wollte nur, was alle Frauen wollen und so einfach glücklich zu machen und was ich nie verstanden habe, weil ich eben gern kompliziert bin und stolz darauf, aber das wäre schon wieder eine andere Geschichte. Es ist halt so, wir wären eben in zwei Ländern groß geworden. Sonst nüscht.

Gerne gäbe ich ihr einfach Recht und in manchen Momenten mit ihr fühlte es sich auch so an, als sei es einfach so und gut so, gäbe es nun keine Mauer mehr, auch nicht in den Köpfen und wir könnten uns lieben wie zwei das eben tun, die miteinander glücklich sein wollten. Konnten wir nicht, kam noch die eine von oben dazwischen und die eine oder andere sonst, aber das wäre vermutlich noch egal gewesen wenn, weil was ist und passt immer stärker ist als alles andere und es passte ja zumindest theoretisch nicht nur in der Mitte ziemlich gut.

Es gibt diese Mauer in den Köpfen, auf beiden Seiten der Mauer. Manchmal ignorieren wir sie einigermaßen erfolgreich, dann wieder scheitern wir schon an dem Versuch, sie zu übersteigen. Dieses Gefühl hatte ich mit meinen Liebsten aus dem Westen besonders denen aus dem Norden unseres Landes nie, der sich für mich immer wie Heimat anfühlte, obwohl ich in Bremen ja nur geboren bin und dort ein Jahr lebte. Die ersten 30 Jahre in Frankfurt und der Kurpfalz zubrachte, habe ich mehr vertrautes Heimatgefühl immer noch, wenn ich bremisch höre oder Bilder aus der Hansestadt sehe als in meiner nun längsten Heimat überhaupt.

Dies alles hat keine sachlichen Gründe und ist natürlich nur eine ganz persönliche Sicht eines heimatlosen, der in Berlin gestrandet ist und sich eigentlich sehr wohl fühlt. Denke ich an meine letzte Geliebte, eine ganz wunderbare Frau, Kulturwissenschaftlerin, Fotografin, und vielfältig künstlerisch interessiert mit einem Herz voller Liebe, einer, da bin ich mir sicher, ganz wunderbaren Mutter und Ehefrau, für ihren Mann, die aus Sachsen in das noch gerade oder just nicht mehr Ostberlin kam und die ich wahnsinnig gern mag, der ich sofort blind meinen Hausschlüssel anvertraute, weil sie für mich einfach ein guter Geist ist, frage ich mich noch, wo und warum ich da fremdel. Tue es und spüre es auch irgendwie. Vermutlich auch aus Selbstschutz, damit ich nicht mal wieder mein Herz sinnlos verliere. Doch frage ich mich auch, ob wir uns wirklich ganz verstehen können, sie meine radikale Ablehnung der Linken als SED-Nachfolgeorganisation verstehen kann oder diese kritische Sicht übertrieben findet - naja, vielleicht frage ich mich manchmal auch zu viel, sehe die Dinge zu kritisch und Geliebte sind dazu da, geliebt und genossen zu werden und sonst nüscht.

Könnte noch manche ostwestliche Liebesversuche erzählen und doch ähnelte es sich, blieb immer die gleiche Frage in mir und ich könnte mich nun fragen, ob ich spinne, zu kompliziert bin oder einfach eben sehr sensibel und Dinge spüre, die andere nie merken und und für Unsinn halten, weil nicht sein kann, was für sie nicht ist.

Berlin ist eine Stadt, die Mauer nur noch Erinnerung und museal wichtig. Für viele ist sie aber in der Lebensplanung ganz real und es unterscheiden sich manche Gewohnheiten sehr. Denke ich an den kleinen Bruder meiner Mutter, den ich für einen kleingeistigen und engstirnigen Nörgler halte und eher nicht ausstehen kann, auch wenn ich ihn freundlich behandle, bekäme er als Bremer, wie jeder von da, bei mir einen seltsamen Vertrauensbonus, den sich einer aus dem Osten Berlins viel härter erarbeiten müsste als meine norddeutschen Liebsten ihn spontan bekamen, weil es sich richtig anfühlte, sie von da waren, so sprachen, dass mir das Herz aufging.

Dies ist nun nur für mich geschrieben, beansprucht keine höhere Wahrheit oder tiefere Wirklichkeit, seltsam nur wie viele Menschen mir von ähnlichen Gefühlen und Erfahrungen immer wieder erzählen. Manche fühlen es, andere ignorieren es, einige leben damit und am Ende muss es irgendwie funktionieren, wie immer in Berlin halt. Darum ist Berlin noch mindestens zwei Städte, aus zwei völlig verschiedenen Ländern kommend und zugleich auch noch ganz viele Dörfer, die nüscht, wie meine Ärztin sagen würde, miteinander zu tun haben. Ein bunter Flickenteppich mit liebenswertem und nervigem direkt nebeneinander - während mir Bremen, Frankfurt oder Heidelberg aus einem Guß zu sein erscheint, habe ich keine Ahnung, auch nach bald 17 Jahren, was der Geist Berlins ist, weil es in Charlottenburg ein ganz anderer ist als in Prenzlauer Berg, in Dahlem als in Pankow, keiner weiß, was Schöneberg mit Karow teilt als Nummernschild und Vorwahl, was natürlich auch daran liegt, dass allein Pankow als Bezirk mehr Einwohner hat als Mannheim und Heidelberg zusammen, aber auch darüber hinaus frage ich mich manchmal, was die Dörfer überhaupt je verbindet. Wie könnte ich meine einst Süße, die in Charlottenburg geboren, im beschaulichen Schmargendorf ebenso beschaulich lebend mit denen, die hier, mitten im Leben groß wurden, je vergleichen. Was hat die Kindheit meiner Tochter zwischen den Plätzen in Prenzlauer Berg, die weiß, wo gedealt wird und wer was will, mit der etwa der Kinder von Freunden aus Dahlem Dorf oder vom Wannsee vergleichen?

Auch wenn ich sie auf eine vermeintlich beschauliche Waldorfschule schicke und sie zu ihrem Leidwesen Korbflechten und Ackerbau lernen muss neben dem üblichen Schulstoff, wächst sie als Kind der Großstadt auf, fühlt sich am Alex wohl und ist gerne dort, während ich diesen Platz nicht ausstehen kann, meide wie ich nur kann, er in mir all die widerlichen und mit Angst besetzten Erinnerungen an die DDR weckt. Dagegen wachsen die Kinder meines Freundes L in Dahlem Dorf wohl behütet auf, sind in vornehmer, eher ländlicher Umgebung und werden auch schon dadurch ein anderes Vokabular haben und andere Dinge wichtig finden. Könnte nun die ländliche Umgebung von etwa Karow mit der in Dahlem Dorf vergleichen und käme doch nie auf die Idee, da Karow eher einem ländlichen Dorf in Brandenburg ähnelt und Dahlem Dorf halt ein Vorort mit viel Grün und Villen ist, zu Berlin gehört, gefühlt. Dies Gefühl ist es, was manch völlig getrenntes wieder verbindet und zu einer Stadt macht, auch wenn es teilweise wirklich paradox klingt und ich mich frage, warum Berlin eine Stadt sein soll und nicht einfach viele Dörfer, von denen sich manche mehr oder weniger ähneln.

Interessante Ergebnisse brachte auch die Gebietsreform, die teilweise völlig inkompatible Bezirke vereinte. So wurden Mitte, größtenteils alter Osten, und Wedding, eben alter Westen und Arbeiterviertel, zusammengeworfen und es funktioniert irgendwie, muss ja. Beim Friedrichshain, der mit dem Grünen Biotop Kreuzberg fusionierte passte es etwas besser, auch wenn es da an den Rändern immer wieder Reibungen gab und gibt, ist die Bezirksreform kein Skandal mehr, funktioniert halt. Bei Pankow wurde der provinzielle Name des östlichen Vorortes mittels eines Tricks in der Bezirksverordnetenversammlung dem eigentlich größeren und historisch bedeutenderen Prenzlauer Berg übergestülpt, der damit namenstechnisch verloren ging und zu Pankow wurde, was er nie sein wollte. Die Dissonanz dieser Vereinigung im Osten zwischen zwei Ost-Bezirken zeigt, es gibt nicht nur westöstliche Probleme sondern auch die einen oder anderen sind sich manchmal untereinander uneins und Prenzlauer Berg ist Kreuzberg oder Charlottenburg heute in vielem ähnlicher als Pankow und Weißensee mit dem es eins wurde, was eine zumindest breit gestreute Struktur im Bezirk sichert. Das passt alles irgendwie nicht so richtig zusammen, ist bescheuert gemacht und muss nur halt irgendwie funktionieren, weil auch keiner was besseres gerade hat und genau das ist vielleicht typisch Berlin, muss halt, geht ja nicht anders, als der Geist der Hauptstadt, die ein Flickenteppich vieler Dörfer ist.
jens tuengerthal 29.3.2017

Dienstag, 28. März 2017

Tugendlust

Wo Tugend Lust ist
Sind wir lustvoll tugendhaft
Was soll je mehr sein
jens tuengerthal 28.3.2017

Todesgedanke

An den Tod denken
Der mich doch nie was angeht
Macht gelassener
jens tuengerthal 28.3.2017

Berlinleben 032

Mauerblumen

Ein Bilderbuchtag unter blauem Himmel reizt zum Ausflug mit dem Rad. Nach Tee und Müsli wird James mein tiefschwarzer Drahtesel gesattelt oder zumindest fahrbereit gemacht. Nur wo lang soll es gehen, frage ich mich am Helmholtzplatz in die wärmende Frühlingssonne blinzelnd. Na nimm doch mal den Mauerradweg, sagt etwas in mir und ich denke an die vielleicht schon zauberhaft blühenden Kirschen am Ende des Mauerparks.

Schön bepflanzt ist der ehemalige Grenzstreifen der mit Vorliebe lebewurstgrauen DDR heute nahezu überall, wo etwas von ihm blieb, nicht der teure Baugrund schon unter Beton, Asphalt oder andersartigen Denkmälern und ihrer auch eigenwilligen Ästheitk verschwand. Längst gibt es überall auch Hinweise auf den Grenzverlauf, mit einer kleinen ebenerdigen Mauer im Boden auf dem gelegentlich Berliner Mauer vermerkt steht, die im Strom der Massen genauso schnell übersehen werden, wie die reale Mauer unüberwindbar war.

Hätte ich meine ersten 19 Lebensjahre auf der anderen Seite der Mauer verbracht, etwa dort, wo ich jetzt lebe, wäre dies vermutlich völlig anders verlaufen, sagte ich mir manchmal und frage es mich heute, nachdem ich mehr als eine sehr nah kennenlernte, die jenseits der Mauer aufwuchs, immer weniger. Ob ich zu denen gehört hätte, die gegen die totalitäre Dummheit des SED Regimes aufgestanden wären, Mut gehabt hätten, sich zu widersetzen, weiß ich nicht. Bei uns war es leicht gegen etwas zu sein und hipp, wie ich es früher mal tat, sich für Greenpeace zu engagieren, für Frieden zu demonstrieren, über den dicken Kohl zu schimpfen, Atomkraft oder nicht für lebenswichtige Fragen zu halten, weil Strom aus der Steckdose kam. Dort war es schwerer und stellten sich auch aus Mangel viele andere Fragen, die sich im Überfluss keiner mehr stellte. Manches wird tiefer, wenn es schwerer wird, anderes wichtig und doch rechtfertigt auch die geistige Größe der Opposition nicht die vorher Diktatur, nur weil sich deren Gegenteil konstruktive Nischen suchte, was manche Nischenbewohner gern vergessen.

Es gab einmal zwei sich fremde Welten nebeneinander, die trotz politischem Gerede von Versöhnung durch Annäherung, einander fremd wurden. Während mich die Bilder der FDJ Aufmärsche, die ich in der Schule sah, an die HJ erinnerten, das DDR-System klar totalitär war, lernten die Freunde im Osten wie stark die Faschisten und das unterdrückerische System der USA im Westen wirkte, was manche heute bis zu dem Wahn brachte, sie seien noch Reichsbürger.

Symbol für die Teilung der beiden deutschen Staaten war die Mauer in und um Westberlin. Auf einer Länge von 167,8 km umgab sie die drei Westsektoren vollständig und machte so die westlichen Inseln Berlins zu einem paradiesischen Zoo inmitten der Mangelwirtschaft der sowjetischen Zone. Es vermieden die diesseits der Mauer lieber, zu nah an sie zu gehen und hinüber zu sehen, wer wollte schon einen Blick riskieren, der bestraft werden konnte. Dafür gab es eigentlich verbotenes Westfernsehen und unauffälligere Orte den dortigen Wohlstand zu betrachten, dessen verführerische Bedrohung des Ostens durch den antifaschistischen Schutzwall verhindert werden sollte, der sich nach offiziellen Stellungnahmen ständig bedroht und verfolgt sah.

Der Schutz wirkte dabei so stark, dass er zwischen 17. August 1961 und 9. November 1989 wohl bis zu 245 Menschen das Leben kostete, die sich nicht von Mauern auf dem Weg zum Glück aufhalten lassen wollten, was immer dies ominöse Glück dann tatsächlich sein sollte. Die Zahl der Toten schwankt je nach Betrachtung um fast die Hälfte und es wird um die Art und Weise heftig und emotional bis heute gestritten, was mich hier aber weniger interessiert.

Schon seit 1960 galt für alle DDR Grenzsoldaten der Schießbefehl, der allerdings erst 1980 zum Gesetz wurde. Es gibt einen solchen Befehl im Falle einer Bedrohung und als subsidiäres Mittel an jeder Grenze der Welt. Während der Diskussion um die Vertriebenen, die auch Flüchtlinge heißen, forderten einige der AfD Flintenweiber wieder einen Schießbefehl an deutschen Außengrenzen, um uns vor dem Ansturm national zu schützen, was zeigte wie realitätsfern diese Partei bis heute ist und wie sie alles tut, um mit dem Bruch von Tabus Aufmerksamkeit zu bekommen und zugleich wie nah sich die Extremisten von AfD und SED doch wieder sind.

Erstaunlich viel Zustimmung genießen die neuen Rechtsradikalen auch um den AfD vor allem im Osten und dort am stärksten in Sachsen, das zu DDR Zeiten bei Dresden noch das Tal der Ahnungslosen hieß, weil dort kein Empfang von Westfernsehen möglich war. Dort wurde auch die Pegida Bewegung groß, die eine Mauer gegen den Islam errichten wollte, vor dem sie sich fürchtet und was offenbart, wie hoch die Mauern in vielen Köpfen immer noch sind, vor allem aber wie gering das Selbstvertrauen dieser Ossis heute noch ist, wie wenig sie der europäischen Freiheit zutrauen, als überlegenes System den mittelalterlichen Aberglauben ganz natürlich und evolutionär zu erledigen. So entstanden auch im Schutz der Mauer manch geistige Biotope, mit deren Auswirkungen wir auch über 27 Jahre nach dem Fall der Mauer noch zu kämpfen haben, die eine Partei stark machten, die vielfach nicht auf dem Boden der demokratischen Rechtsordnung der Bundesrepublik und Europas steht in ihrem intoleranten Radikalismus.

Natürlich ist dies weniger ein Produkt tatsächlicher politischer Entwicklung oder Folge der Flüchtlingspolitik der Kanzlerin sondern vielmehr Ergebnis eines neuen Kalten Krieges mit Moskau, der einst zur Errichtung der Mauer geführt hatte und der heute um die Köpfe junger Menschen ohne Orientierung mit nur höchstens halber Bildung geführt wird. Der Kreml finanzierte Pegida so sehr wie den AfD, den Front National in Frankreich und andere Extremisten, die damit im eigentlichen Sinne zu dem werden, was sie ihren Gegnern vorwerfen, Vaterlandsverrätern, da sie sich für russische Gasgelder zur Hetze gegen die tolerante Demokratie bestimmen lassen, Angst verbreiten und Lügen, um Unruhe zu stiften, aus der sie Vorteile ziehen wollen. Auf dieser Seite steht gern auch die radikale Linke und hält die Hand auf.

Aber das hat doch nichts mit der Mauer zu tun, um die es in diesem Kapitel eigentlich gehen sollte wird nun die gelangweilte Leserin vielleicht einwenden, sei nur eben politische Propaganda von der anderen Seite. Frage mich nur, auf welcher Seite steht, wer jenseits aller Parteien nur die Freiheit gegen jede Ideologie verteidigt. Stehe ja gern zwischen den Stühlen - bin fern aller rechten oder linken Ideologie und suche den Weg durch die Mitte - nicht weil dort die Mehrheit steht, was sie tatsächlich meist tut, mir sind Massen eher zuwider, darum läge es wohl näher Sonderwege zu suchen, doch geht es mir darum, zu verstehen, was ein Handeln begründet und welcher Weg am glücklichsten macht, den ich dann immer für den besten halte, weil es im Leben aus meiner Sicht um nichts als Glück je gehen kann, was es mehrt, ist gut, wo es gefährdet wird lauert radikale Gefahr.

Während ich nun im schönsten Sonnenschein radelnd dem Mauerradweg folge, erinnere ich mich, wie ich 2014 zum 25 jährigen Jubiläum des Mauerfalls diesen, den beleuchteten Kugeln folgend, entlang lief. Eine wunderbare Installation, besonders der Aufstieg der Kugeln in den Nachthimmel blieb mir immer in Erinnerung aber auch der Weg von der Grenze zwischen Prenzlauer Berg und dem Wedding an dem berühmten früheren Grenzübergang Bornholmer Brücke ging es los , um dann, den Gleisen folgend, durch den Mauerpark, nach Mitte die Spree entlang bis nach Kreuzberg zu laufen, was natürlich nur ein kleiner innerer Teil der Mauerstrecke war aber einer der wichtigsten zugleich und derjenige in meiner direkten Nachbarschaft. Tat es zweimal, einmal am 9. November an dessen Ende die Ballons gen Himmel stiegen mit einer sehr süßen Westberlinerin und einmal mit einer ursprünglich ich meine Bremerin, die vor Ewigkeiten in Kreuzberg gelandet war. Zwei Flirts über das  Online Netzwerk Finya, die beide die Mauer nur von der Seite kannten, auf der ich auch aufwuchs. Später erst sprach ich mit meinen Liebsten, die auf der anderen Seite der Mauer groß wurden, darüber. Es gab davor und danach einige von dieser und jener Seite der Mauer nur zufällig zur Zeit dieser Installation ergab es sich so, wie es sich ergab, dass der Wessi mit Wessis zusammen erlebte, was eigentlich die Vereinigung feiern sollte. In all der Zeit, in der ich nun im ehemaligen Osten lebe, habe ich, wie ich gerade überrascht feststelle nie mit einer meiner Liebsten von da den 9. November geteilt und tatsächlich die Wiedervereinigung gelebt - was angesichts der historischen Vielfalt dieses Tages vielleicht auch nicht das schlechteste Zeichen bis heute ist und mich dennoch überrascht.

Solange ich nur Freundinnen und längere Beziehungen mit Westfrauen gehabt hatte, waren die Ostfrauen mein Ideal, das so wenig mit der Realität zu tun hatte wie die umgekehrten Vorurteile wohl auch. So kam meine Familie väterlicherseits ja seit Jahrhunderten aus Thüringen, waren mein Vater und seine Brüder noch im Krieg in Mecklenburg geboren, bevor die Großeltern nach Kriegsende vor den Russen gen Westen flohen. Liebte den Osten in ganz vielem vom ersten Moment an, in dem ich ihn entdecken durfte und habe nahezu alle meine Ferien dort infolge verbracht, der ich Urlaub eher lästig finde - an den Stränden Mecklenburgs, auf dem Hof des Onkels in Nordwestmecklenburg, nahe der Küste, im geliebten Weimar, auf der Müritz und den Seen in ihrem Umfeld immer wieder. Fühlte, so sehr ich als echter Wessi einerseits dort fremdelte, eine tiefe Verbundenheit zur ostdeutschen Landschaft, den wunderbaren Alleen, auch wenn sie bald zum Grab nicht nur vieler Trabanten wurden.

Als ich nach Berlin zog, wo ich nie hin wollte, nur zufällig halt einen Job hatte, zog es mich in den wilden Osten, eben nach Prenzlauer Berg, worüber ich viele Gerüchte vorab hörte, ohne eine wirkliche Ahnung zu haben und mein erstes Zimmer, das ich über Nacht mieten müsste, war dann auch noch möbliert in einem Neubau im Westen, also gerade noch Wedding, kurz bevor es über die Mauer ging, die es natürlich, als ich 2000 in Berlin ankam, längst nicht mehr gab. Die Wolliner Straße, in der dieser Bau lag, ging vom Osten, der Zionskirche, an der noch der berühmte Bonhoeffer wirkte und die Arbeiterkinder aus dem benachbarten Wedding unterrichtete, in den Westen. In ihr lag die letzte Häuserreihe vor dem Mauerpark, dem ehemaligen Grenzgebiet. Schaute von meinem Balkon aus nach dem Parkplatz im Hinterhof und dem benachbarten Schrottplatz neben Kohlenhandlung, zumindest wenn ich etwas den Kopf hob, direkt auf das frühere Stadion der Weltjugend, das die obere Grenze des Mauerparks bildet.

Ins Büro ging ich etwas über einen Monat von Westen nach Osten, lief über die nur noch imaginäre Mauer, ging an der Zionskirche vorbei bis zur berühmten Schönhauser Allee an deren Anfang das Bürogebäude mit auch meiner Firma stand. Es wurde mir durch diesen täglichen Spaziergang bewusst, wie fern sich die Welten einerseits noch waren, wie irreal andererseits die Mauer war, die einfach Straßen durchschnitt. zur Vermeidung politischer Konflikte wurde die Mauer im diplomatischen Kontext Sektorengrenze genannt. So hießen auch die Grenzabschnitte zwischen dem französischen, englischen und amerikanischen Sektor im Westen Berlins, die aber real natürlich keine Grenzen waren, sondern höchstens durch ein Schild gekennzeichnet wurden, an deren Überquerung niemand gehindert wurde.

Eigentlich ist dieser scheinbar diplomatische Ausdruck erst wirkliche perfide, weil er klingt, als sei die Zonengrenze nach Ostberlin einfach nur ein weiterer Abschnitt der in Sektoren aufgeteilten Stadt, damit zwar die DDR Regierung und östliche Diplomaten das offizielle Gesicht wahren ließ im eingemauerten Paradies des real existierenden Sozialismus und doch zugleich jedem offenbarte, wie es real um Freiheit und Menschenrechte im Sozialismus stand, der eine Diktatur als Mittel, um ins gelobte Land zu gelangen, verkündete und damit offenbarte wie unmenschlich er schon vom System her war, was manche sozialistische Träumer mit ihrem Ideal der Umverteilung gern heute wieder verdrängen. Marx mag ein brillanter Analytiker gewesen sein, die Konsequenzen waren unmenschlich und sind es bis heute geblieben, führten konsequent zum Stalinismus. Es gibt keinen Grund diesen Denker noch zu ehren.

Die Aufteilung Deutschlands in vier Besatzungszonen nach dem Zweiten Weltkrieg war eines der Ergebnisse der Konferenz von Jalta, zu der Stalin noch im Februar 1945 in den Badeort auf der Krim geladen hatte. Dem Zweiten Weltkrieg folgte der Kalte Krieg, der zur Konfrontation der Supermächte UDSSR und USA führte, in der sich das westliche Europa und die sogenannte freie Welt den USA anschlossen, während die UDSSR über den später Warschauer Pakt, das Gegenstück zur westlichen NATO, ganz Osteuropa und große Teile des Ostens überhaupt kontrollierte, diesen gen Westen abschloss.

Spannend waren die Überschneidungen immer wieder in den Grenzgebieten des alten Handels entlang der früheren Seidenstraße und genau diese Regionen sind bis heute umkämpft. In Deutschland stand infolge eine lange Grenzbefestigung und eine weniger lange Mauer um die westlichen Sektoren Berlins. Der Westen Deutschlands unter britisch, französisch, amerikanischer Besatzung war die BRD geworden, die Wert darauf legte, Bundesrepublik zu heißen, um sich von der nur DDR abzugrenzen, dem Osten, den wir im Westen auch gehässig lange noch SBZ nannten, um trotz Brandts Entspannungspolitik die DDR nicht als Staat anzuerkennen, mit dem wir bei olympischen Spielen und im Fußball tatsächlich konkurrieren mussten.

All dies ist das Umfeld, auf dem die Mauer gedieh, die Deutschland und vor allem Berlin 28 Jahre teilte und also 2017 schon so lange wieder offen sein wird, wie sie je bestand und die noch in vielen Köpfen und Überzeugungen realer existiert, als es sich die strategischen Planer im Kalten Krieg vorstellen konnten. Da gab es Kennedy, den die Berliner lange verehrten für seine gedenglischte Solidaritätsbekundung, die besagte, er sei ein Berliner und alle freien Menschen dieser Welt würden nun die Freiheit Berlins verteidigen, das die Sowjets abredewidrig abgeriegelt hatten. Oder war es eine autonome Entscheidung der DDR Regierung, der langsam alle guten Leute wegliefen?

Direkt nach dem Krieg gab es noch überall die stark kontrollierten Zonengrenzen im Land und ohne triftigen Grund, war es sehr schwer, von einem Bereich in den anderen zu reisen. Auch zunächst in den westlichen Zonen. Denke dabei gerade an die Geschichte, die uns der Vater meines lieben Freundes M neulich so ganz nebenbei erzählte, wie er nach dem Krieg als ältester Sohn mit der Mutter noch einmal zurück auf das schlesische Gut der Familie fuhr. Damals über Berlin und quer durch die SBZ, was für einen noch relativ jungen Mann viel Mut erforderte, er aber so ganz lapidar erzählte, während wir einen Trockner transportierten, als sei es das normalste auf der Welt, wenn der Vater schon als Botschafter unter seltsamen Umständen zumindest verstarb, sich von den Geschwistern zu trennen und durch das Gebiet der nicht zu Unrecht gefürchteten Russen mit der Mutter allein zu reisen, um das vorher natürlich preußische Schlesien aufzusuchen.

Diese ehemals österreichischen Kronländer waren ja nach den zumindest darin erfolgreichen drei schlesischen Kriegen des Großen Friedrich, der darüber so groß wie alt wurde, unstrittig 200 Jahre schon preußisch gewesen, auch wenn sie heute unbestritten nun polnisch sind, auch um des lieben Friedens willen, der Europa endlich eint und der hoffentlich bald wieder von allen Europäern gleich hoch geschätzt wird, statt sich in kleinlichem Konkurrenzdenken ohne Perspektive zu verlieren.

Der Vater meines Freundes wagte die Tour durch die Zonen und er blieb auf dem Rückweg, als sie sehen mussten, dass es bei den Gütern wohl nicht blieb im sich formierenden Ostblock nicht etwa in der sowjetischen stecken, sondern die Briten wollten ihn zunächst nicht weiter zu den Geschwistern reisen lassen, die zu dieser Zeit in einem Internat am Bodensee weilten - ob dies nun in der gerade französischen oder amerikanischen Zone war, habe ich nicht mehr genau im Kopf - und wie er dann schmunzelnd die Geschichten erzählte, die ihm, der aus einer alten Familie mit großem Namen kommt, womit es im Ergebnis auch zusammnehing, doch einen Weg gegen alle damals Verbote bahnte, ist eindrucksvoll und sollte vielleicht noch mal ein Buch werden, weil die Zeitzeugen dieser Erlebnisse ein wichtiges Kapitel der deutschen Geschichte bilden, was uns manches am Blick auf die Mauer und ihre Folgen heute erst verstehen lässt und einen Blick über die Grenzen wirft, die immer nur irgendwann gezogene sind.

Solche Geschichten kannte ich im kleineren Ausmaß auch von meiner Großmutter väterlicherseits, die kurz nach Kriegsende aus dem Siegerland, in das sie sich mit Pferd und Wagen auf ihrem Trek flüchteten, noch einmal ins zuvor heimische Mecklenburg aufbrach, um die zurückgelassenen Schätze der Familie vielleicht noch zu retten. Das Silber, das sie im Garten vergruben oder die handsignierten Ausgaben der großen Weimarer Klassiker aus dem Erbe des Ururgroßvaters, dem Hofbibliothekar zu Gotha einst. Das Silber grub sie aus und schmuggelte es wohl unter ihren Röcken versteckt aus der SBZ. Die Ausgaben der Klassiker aber fand sie nur bei einem Güstrower Antiquar im Regal und als sie dort feststellte, dass seien doch die ihrer Familie, hätte dieser ihr gedroht, die Russen zu rufen, wenn sie nicht schleunigst verschwände, denn wer geflohen war aus der kleinen Stadt Güstrow, blieb kein Geheimnis, auch nicht, dass es bei der lange Gutstochter noch mit einem der letzten bülowschen Wagen und Pferde war und so schwieg sie und verschwand ganz schnell, um wieder zu ihrer Familie mit den vier Söhnen im Siegerland zu kommen, wo sich mein Großvater jahrelang als Holzfuhrmann verdingen musste, weil die Nazis ihn degradiert hatten, der als vertrauenswürdiger Beamter auf den Listen Goerdelers gestanden hatte, weil er dem Regime immer kritisch gegenüber blieb als preußischer Kadett, während sein Bruder der erfolgreicher Nazi war, schnell bei der Kirche als Pastor in der Jugendarbeit Unterschlupf fand.

Es hat oft viele Gründe und Wurzeln, warum das Verständnis und die Toleranz gegenüber totalitären Weltsichten und ihren Mitläufern größer oder kleiner ist, scheint mir inzwischen - als bekämst du die Neigung zum Widerstand oder nicht und der Bereitschaft für die Freiheit einzustehen, schon mit der Muttermilch mit. Aus der Familie meines Freundes M, von dessen Vater ich erzählte, stammen viele der Helden des Widerstandes, natürlich gab es dort auch die Nazis und Mitläufer wie überall und doch umgibt auch jene, die noch nichts  tun konnten in der Haltung zu den Dingen eine Würde, die wir in Krisenzeiten bedenken und anhören sollten, weil sie wichtig für die Zukunft sein könnte, wenn wieder einer die Freiheit beseitigen möchte. Der Dietrich Bonhoeffer, an dessen Wirkungsstätte ich auf dem Weg zur Arbeit vorbeilief war auch so einer. Er wurde nicht nur posthum einer der wichtigsten Theologen der evangelischen Kirche der Nachkriegszeit, er half auch als Opfer den Deutschen mit ihrer historischen Schuld einen Weg zurück zur Verantwortung nach dem Krieg zu finden, auch wenn das rheinische Gemüt des Katholiken Adenauer noch ganz anders an die Dinge heran ging.

Das hat nun alles scheinbar nichts mehr mit der Mauer zu tun und ist doch im Kern ganz wichtig, um zu verstehen, wo und auf welcher Seite wer stand, der mit dieser Mauer leben musste, sie hinnahm, für besser hielt als Krieg und warum Freiheit etwas anderes ist als Sozialismus, dem totalitären Nationalsozialismus östlich ein nicht minder totalitärer real existierender Sozialismus folgte und dessen klare Verurteilung gerade wieder im Relativismus der Geschichte zu verschwimmen droht. Die völlige Verwischung der Schuld und Verantwortung für das sogenannte Dritte Reich wurde durch die bewegte Generation von 1968 im Westen verhindert, die Generation um meine Eltern, die teilweise ihre Eltern zur Stellungnahme erstmals zwangen und auch wenn sie noch wenig erreichte, doch zumindest für ein moralisches Gewissen im besseren Deutschland kämpfte. Was ein gutes Deutschland wäre, wie es mancher George Anhänger im Widerstand noch formulierte, wüsste ich nicht zu sagen und lasse darum das Streben nach dem Besseren als Willen für das Gute zumindest genügen.

Die Mauer war für viele auch die gerechte Strafe für das böse Deutschland, das geteilt wurde, weil es sich am Tisch der Nationen nicht zu benehmen wusste. Heute sieht es nach dem Gegenteil aus, auch wenn Kohl angeblich noch über Merkel lästerte, sie wisse nicht mit Messer und Gabel zu essen, wie wenig erstaunlich viele, die in östlichen Kitas aufwuchsen auch unter meinen Lieben, was mich nur am Anfang verwunderte. Merkel gilt vielen aus guten Gründen als das Gewissen und die Mutter und Verteidigerin des alten Europa an die Obama den Stab der gerechteren Welt übergab.

Vielleicht etwas zu pathetisch, passt nicht zu Muttis preußischem, eher bescheidenen Stil. Zumindest weiß sie sich nicht nur bei der Queen zu benehmen, die beiden schätzen sich offensichtlich, sie isst heute auch fraglos vorbildlich, keiner glaubte Kohls Anekdoten noch, die eher geschwätzig wirkten - durch ihren großen Mut in der Flüchtlingsfrage hat Merkel es geschafft, trotz großem Widerstand in Europa, dass Deutschland wieder zu einer moralischen Instanz wurde, die tat worüber sie redete, was wir gar nicht hoch genug bewerten können. Der Schatten der Mauer verschwindet unter dem Mantel der moralischen Kanzlerin in Europa, die als moralische Instanz sich kritisiert sieht, nicht als imperiale Größe, die sie eher stiller ausüben lässt.

Nie hätte ich es für möglich gehalten zu Kohls Zeiten in meiner Jugend, dass ich eine CDU Kanzlerin loben würde, die den Fall der Mauer auch in persona symbolisiert und die doch den Wandel der CDU von einem konservativen Altherrenverein, den gibt es immer noch, aber der nörgelt eher aus Bayern, zu einer Partei der bürgerlichen Mitte mit einer Politik zu schaffen, die emanzipierter und progressiver ist, als es die SPD real je schaffte, die sich lieber an überholten Formeln festhält und den nächsten Scharlatan als Hoffnungsträger einstimmig erhebt, wo wieder die sozialistischen Wurzeln des Glaubens an die wahre Lehre durchschimmern, die eigentlich fern der Demokratie noch sind und die links zu kuscheln versucht aus Gier nach der Macht, ihre Wurzeln verleugnet und ihre Geschichte vergisst.

Der Streit, der einst zur Teilung führte, resultierte aus der Gier Stalins und seinen Forderungen nach Reparationen. Als er bemerkte, dass seine Zone allein die hohen Ansprüche der UDSSR nicht befriedigen könnte, forderte er zusätzliche Leistungen aus dem Ruhrgebiet, was die Franzosen erlaubt hätten, Britannien und die USA aber strikt ablehnten. Stalins UDSSR gab daraufhin bekannt, unter diesen Bedingungen könnte sie der im Potsdamer Abkommen geplanten wirtschaftlichen Einheit nicht zustimmen und so gab im aufkeimenden Kalten Krieg eine Hand die andere. Bereits bei der Alliierten Sechsmächtekonferenz in London im Februar 1948  wurde die UDSSR ausgeschlossen und zog sich daraufhin beleidigt aus dem Alliierten Kontrollrat zurück. Solche Dinge passieren im Kindergarten oder in der Schule täglich und gut sind diejenigen, die solche Konflikte konstruktiv lösen, statt sich mit Großmäuligkeit zu profilieren. Daran gemessen waren die Alliierten alles eher unbegabt zur Führung im mit vorgestrigen Parolen eskalierenden Kalten Krieg.

Der nächste Schritt war dann die überraschende Währungsreform zum 20. Juni 1948, mit der die DM als Zahlungsmittel die Reichsmark in den Westzonen ablöste, die zugleich plötzlich eine wirtschaftliche Einheit bildeten. Damit spalteten sich Deutschland und auch Berlin in zwei separate Währungsgebiete. Die Separierung wurde faktisch. So führte die sowjetische Führung im Osten die Ostmark ein, worauf die Westberliner Regierung ihrerseits entschlossen die DM West für sich einführte.

Zu ersten Problemen kam es sofern Arbeitsplatz und Wohnort hier in den Währungsgebieten auseinanderfielen. Die Sowjetunion reagierte darauf mit der ersten Berlinblockade, die vom 24. Juni 1948 bis zum 12. Mai 1949 dauerte und erstmals die Spaltung faktisch manifestierte. Gleichzeitig wurde Großberlin im beginnenden Kalten Krieg zu einem zentralen Ort der gegenseitigen Bespitzelung der west-östlichen Nachrichtendienste. Nur 11 Tage nach Ende der Blockade gründete die Trizone im Westen am 23. Mai 1949 die Bundesrepublik neu während die SBZ am 7. Oktober zur DDR wurde.

Theoretisch hatte Berlin den Status einer entmilitarisierten Zone, stand unter Viermächtehoheit und war von den beiden deutschen Staaten unabhängig, was jedoch in der Praxis wenig Bedeutung hatte. West-Berlin hatte de facto den Status eines Bundeslandes, jedoch fanden zumindest im Zuge der Entspannungspolitik keine Bundesratssitzungen mehr in Berlin statt, während die DDR ab den 60er Jahren ganz Berlin zur Hauptstadt der Republik erklärt wurde, wobei der östliche, totalitär regierte sowjetische Teil sich aus Propagandagründen den Namen Demokratischer Sektor gab und damit viel für die Relativität der Begriffe tat unter denen im politischen manche Wirklichkeit bis zur Unkenntlichkeit verschwimmt.

Ab 1952 gab es in der SED Führung Überlegungen die Westsektoren abzuriegeln, was jedoch zunächst aus verkehrstechnischen Gründen nicht sofort möglich war, da die dortige Reichsbahn vor der Fertigstellung des Berliner Außenrings auf Fahrten durch die Westsektoren angewiesen war. Nach dessen Fertigstellung im Mai 1961, war die Situation eine andere. Dennoch blieb die nahezu unkontrollierbare Grenze noch offen über 120km im Außengebiet und 45km in der Stadt und so flohen von 1945 bis 1961 etwa 3,5 Millionen Menschen aus der SBZ und stimmten also mit den Füßen über die dortige Politik ab.

Die Sowjetunion wollte Berlin zwischenzeitlich zu einer freien Stadt machen und eine Anerkennung durch BRD und DDR durch einen Friedensvertrag erreichen, was mit dem Chruschtschow-Ultimatum 1959 durchgesetzt werden sollte, nach dem gedroht wurde ansonsten die Regelung des Zugangs der DDR zu überlassen, was die Bundesregierung entschieden ablehnte. Auch die USA wiesen dies zurück, da sie nicht erpressbar sein. In der Folgezeit kam es durch Misswirtschaft zu einer noch größeren Krise in der DDR, bei der die Sowjetunion diesmal nicht so weitgehend half. Ein weiteres Problem waren die Grenzgänger, die aus beruflichen Gründen nach West oder Ost passieren mussten, weil sie im anderen Sektor wohnten als arbeiteten. Sie wurden in einer Hetzkampagne der SED als Verräter, Schmarotzer und Kriminelle öffentlich verhöhnt. Auch diese Propagande ließ vor dem Mauerbau die Zahl der Flüchtlinge eklatant ansteigen, allein im Ostteil Berlins fehlten bald 45.000 Arbeitskräfte. Vor allem junge und gebildete Leute suchten das Weite und der DDR drohte ein immer schmerzhafterer Aderlaß. Allein im Juli 1961 flohen 30.000 Menschen und am Tag vor dem Mauerbau, dem 12. August 1961 verließen noch 3190 Menschen die DDR.

Die Entscheidung zum Mauerbau war bereits bei einer Besprechung von Chruschtschow und Ulbricht am 3. August 1961 in Moskau getroffen worden. Vorher hatte sich die sowjetische Führung noch lange gegen solch ein Vorhaben gewehrt. Damit sollte die Regierung der DDR die “Abstimmung mit den Füße” beenden können. Die Planung war ein absolutes Staatsgeheimnis und erst am 10. August, also drei Tage vor Beginn, bekam der BND erste Hinweise auf die Planung. Die Mauer wurde auf Geheiß der SED Führung unter Aufsicht von NVA und Volkspolizei durchgeführt.

Noch am 15. Juni 1961 hatte Ulbricht auf einer Pressekonferenz versichert, auf die Frage einer Journalistin der Frankfurter Rundschau hin, niemand habe die Absicht eine Mauer zu errichten, was später zum geflügelten Wort für die Glaubwürdigkeit der Aussagen der SED Führung wurde. Warum aus den Irak begründenden Lügen noch nicht ähnliches wurde, wäre eine interessante Frage, die hier aber zu weit führte. Der BND erfuhr am 12. August von dem Beschluss des ZK der SED den Ostsektor abzuriegeln, um den beständigen Flüchtlingsstrom zu  unterbrechen. Am Abend des 12. August teilte Ulbricht einem kleinen Kreis der Führung mit, dass es in der Nacht zu Grenzsicherungen käme, wörtlich sagte er.

„Zur Unterbindung der feindlichen Tätigkeit der revanchistischen und militaristischen Kräfte Westdeutschlands und Westberlins wird eine solche Kontrolle an den Grenzen der Deutschen Demokratischen Republik einschließlich der Grenze zu den Westsektoren von Groß-Berlin eingeführt, wie sie an den Grenzen jedes souveränen Staates üblich ist. Es ist an den Westberliner Grenzen eine verläßliche Bewachung und eine wirksame Kontrolle zu gewährleisten, um der Wühltätigkeit den Weg zu verlegen.“

Schon vor der Sitzung hatte Ulbricht die Anweisung unterschrieben und Honecker, der den Plan ausgearbeitet hatte, war, während Ulbricht noch die Führung unterrichtete, längst auf dem Weg ins Polizeipräsidium, der Einsatzzentrale der “Operation Rose”.

In der Nacht begann die NVA mit zusätzlich 14500 Kräften aus Grenztruppen, Volkspolizei und Betriebskampfgruppen mit der Abriegelung der Grenze. Alle bestehenden Verkehrsverbindungen wurden unterbrochen. Erich Honecker verantwortete als zuständiger ZK-Sekretär damals die gesamte Umsetzung des Mauerbaus politisch im Namen der SED-Führung. Es kam dabei teilweise zu skurrilen Situationen in den Häusern in der Bernauer Straße, deren Hauseingang im Wedding lag, die aber ansonsten im Ostsektor standen.  Hier konnten die Bewohner nur noch durch die Hinterhöfe in ihre Wohnungen und die Fenster und Türen wurden zugemauert, um jede Flucht zu verhindern. Das Lenné Dreieck am Potsdamer Platz wurde von der Mauer ausgespart, obwohl es eigentlich zu Ost-Berlin gehörte und wurde so die nächsten Jahre zum rechtsfreien Raum.

Es gab in den folgenden Tagen noch zahlreiche teils skurrile Fluchtversuche auch von Grenztruppen. Dennoch rief Adenauer noch am gleichen Tag erstmal zur Besonnenheit auf und verkündete eine mit den Alliierten abgestimmte Reaktion, die später noch erfolgen würde. Nur der Berliner Bürgermeister willy Brandt protestierte auf politischer Ebene energisch ohne damit irgendwas zu erreichen. Adenauer ließ sich bis 22. August Zeit, um Berlin zu besuchen und sich die neue Grenze vor Ort anzuschauen. Die Alliierten reagierten sehr zögerlich und langsam, wenn überhaupt. Kennedy soll bereits im Juni 1961 Chruschtschow die  Zustimmung gegeben haben, dass Maßnahmen ergriffen werden könnten, die Abwanderung zu verhindern, solange weiter der freie Zugang nach West-Berlin gewährt werde.

“Eine Mauer ist verdammt noch mal besser als ein Krieg”, sagte Kennedy wörtlich, bekannte sich dann aber ausdrücklich zum freien Berlin. Dazu reaktivierte er General Lucius Clay, den Vater der Berliner Luftbrücke und schickte ihn mit Vizepräsident Johnson nach Berlin und erhöhte die Zahl der Truppen um 1500 Mann, die aus Mannheim nach Berlin geschickt wurden. Am 27. Oktober 1961 kam es dann zu einer direkten Konfrontation von 30 russischen und amerikanischen Kampfpanzern am Checkpoint Charlie, die aber ohne weitere Folgen blieb und am nächsten Tag zogen beide Seiten wieder ab. Viel Lärm um nichts. Wichtig war dies nur, weil es bewies, dass die UDSSR und nicht Ost-Berlin für den Osten Berlins militärisch allein zuständig war. Keiner wollte die atomare Auseinandersetzung wirklich riskieren.

Im Juli 1963 besuchte schließlich auch Kennedy die geteilte Stadt und hielt am Rathaus Schöneberg seine berühmte Rede, die in den Worten gipfelte: “Ich bin ein Berliner.” Dieser Akt der Solidarität war vielen verängstigten West-Berlinern sehr wichtig, da es vor allem die endgültige Absage an das Chruschtschow-Ultimatum bedeutete und Berlin wie die Leute dort lernten mit der Teilung zu leben, arrangierten sich mit Berliner Humor mit den Dingen, wie sie eben waren.

Die DDR Propaganda stellte die Mauer als notwendigen Schutz vor Unterwanderung, Sabotage, Spionage und Aggression aus dem Westen dar. Dass sich die Sicherung der Grenze und die militärische Überwachung nur gegen die eigenen Bürger richtete, war in der DDR bei Strafe verboten zu thematisieren. Zum fünften Jahrestag der Mauer forderte Ulrich von der Bundesrepublik einen Kredit von 66 Millionen Euro, um zumindest einen Teil des Schadens wieder gutzumachen, der vor dem Mauerbau durch Ausplünderung seitens der BRD entstanden sei. Es sei ein militärischer Angriff auf die DDR geplant gewesen, die sich nur durch den Mauerbau noch schützen konnte und damit den Weltfrieden gerettet habe. Daran sehen wir die Verkündung postfaktischer Wahrheiten ist schon älter als Trump und wurde von allen schwachen aber totalitären Regimen zur Kaschierung eigener Fehler genutzt. Es hat sich wenig je geändert in der Welt.

In den folgenden Jahren gab es viele kleine und größere Sticheleien, die der gegenseitigen Provokation dienen sollten und auf dem Rücken aller von der Teilung betroffenen Menschen ausgetragen wurde. Mit der neuen Ostpolitik durch Willy Brandt wurde die Grenze nach Osten etwas durchlässiger. Dabei sei dahingestellt, ob das auch an den von ihm hochrangig beschäftigten Stasi Mitarbeitern lag, die es bis zum direkten Berater brachten und Brandt schließlich das Amt aufgeben ließen. Es gab zwischen 13. August 1961 und 9. November 1989 noch 5075 gelungene Fluchten nach Westberlin. Davon allein 574 Fahnenfluchten.

Die Mauer fiel endlich in der Nacht von Donnerstag den 9. November 1989 auf Freitag den 10. November 1989. Die vorher Massenkundgebungen hatten die SED Führung dazu gebracht und sie hatten bereits seit Oktober mehr Reisefreiheit geplant, nur verzögerte sich die Durchsetzung wie so vieles im verkrusteten System des real existierenden Sozialismus. Grund war auch die zunehmende Flucht von immer mehr DDR Bürgern über die Botschaften der damaligen Ostblockstaaten. Irgendwas musste sich bewegen. Seit September und Anfang November waren die Grenzen von Ungarn und sodann der Tschechoslowakei bereits geöffnet worden.

Eigentlich sollte das am 9. November noch im Eilverfahren beschlossene neue Reisegesetz erst am 10. November in Kraft treten, doch die Ereignisse kamen dem Gesetz zuvor und die Wirklichkeit war mal wieder schneller als alle Reformen. Die leicht geänderte Vorlage gab Egon Krenz an das ZK-Politbüro Mitglied Günter Schabowski, als dieser zur Pressekonferenz ging, allerdings ohne diesen über die Sperrfrist bis zum nächsten Tag zu informieren. Diese live übertragene und von vielen Bürgern verfolgte Pressekonferenz wurde so unbeabsichtigt zum Auslöser der totalen Maueröffnung.

Ein italienischer Journalist namens Ricardo Ehrmann stellte noch eine Frage zum Reisegesetz, worum ihn vorher ein ZK-Mitglied in einen Anruf gebeten hatte, wie er 20 Jahre später erzählte, was er dann wieder relativierte, so genau wissen wir also nicht, was ihn zu seiner Frage motivierte, bei der er folgendes in etwas gebrochenem Deutsch vorbrachte:

„Sie haben von Fehler gesprochen. Glauben Sie nicht, daß es war ein großer Fehler, diesen Reisegesetzentwurf, das Sie haben jetzt vorgestellt vor wenigen Tagen?“

Auf diese Frage antwortete Schabowski sehr umständlich und ausschweifend. Bis ihm plötzlich wieder einfiel, dass er die neuen Reiseregeln auf der Pressekonferenz ja auch noch vorstellen sollte, die er aber noch nicht gelesen und nur eben in die Hand gedrückt bekommen hatte und er erwiderte:

„Und deshalb haben wir uns dazu entschlossen, heute eine Regelung zu treffen, die es jedem Bürger der DDR möglich macht, über Grenzübergangspunkte der DDR auszureisen.“

Auf die Zwischenfrage eines Journalisten, wann das in Kraft trete, begann Schabowski mit den DDR typischen umständlichen Erläuterungen der Planungen, worauf der Hamburger Bild-Reporter Peter Brinkmann nochmal nachhakte, wann es denn nun in Kraft trete antwortete er:

„Das tritt nach meiner Kenntnis … ist das sofort, unverzüglich.

Nachdem noch zweimal gefragt wurde, ob das auch für West-Berlin gelte, antwortete ein nervöser Schabowski, die Ausreise könne an allen Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD erfolgen. Er hatte die Mauer geöffnet, ohne es wirklich zu wollen.

Daraufhin verbreiteten die westlichen Medien sofort, die Mauer sei offen, was zu diesem Zeitpunkt noch nicht in die Praxis umgesetzt war. Sofort zogen tausende Ost-Berliner zu den Grenzübergängen, die noch von nichts wussten, und verlangten die sofortige Öffnung der Grenze. Weder die Grenztruppen, noch die Einheiten zur Passkontrolle oder die sowjetischen Truppen waren darüber bisher informiert worden. Um den Druck der Menschenmassen zu mindern wurde am Grenzübergang Bornholmer Straße um 21.20h den ersten Ostdeutschen die Ausreise nach Westen erlaubt. Ab 21.30 brachte auch RIAS erste Reportagen von den offenen Grenzen.

Es sammelten sich immer größere Menschenmassen vor den Grenzübergängen und am Grenzübergang Bornholmer Straße fürchtete der diensthabende Oberstleutnant Harald Jäger einen Sturm auf die Waffenlager warum er um 23.30h eigenmächtig beschloss die Grenze ganz zu öffnen und alle ohne Kontrolle oder Entwertung des Passes ausreisen zu lassen. Zwischen 23.30h und 0.15h reisten allein über diesen Grenzübergang etwa 20.000 Menschen nach West-Berlin - unter ihnen auch mein lieber Freund M, den seine Mutter kurz vorher informiert hatte und machte sich mit 21 zum ersten mal auf in den Westen.

Teilweise wird heute behauptet der Grenzübergang Waltersdorfer Chaussee sei der erste offene gewesen, da sein Kommandant, der die Pressekonferenz im Fernsehen verfolgt hatte, bereits um 20.30. seine Soldaten angewiesen habe, alle durchfahren zu lassen und ihnen die scharfe Munition abgenommen hätte. Bis Mitternacht jedenfalls waren alle Grenzübergänge im Berliner Stadtgebiet offen. Der ganz große Ansturm setzte aber erst am Morgen des 10. November ein, da viele die erste Öffnung in der Frühaufsteherrepublik glatt verschlafen hatten.

Wie auch immer es tatsächlich nun ablief, scheint die Maueröffnung und wie sie ablief, weniger das Produkt strategischer Planung als überraschter und unvorbereiteter Eigenmächtigkeit zu sein. Es war der schlichte Versuch, dem immer mehr Chaos irgendwas entgegen zu setzen. Es mögen die Demonstrationen wie das europäische Picknick in Ungarn und der CSSR dazu beigetragen haben, dass sich eine träge Führung bewegen musste, dennoch ist es letztlich so, der eigentliche Akt war ein Missverständnis, so nicht geplant und ist darum niemandem als Verdienst wirklich zuzurechnen, es ist eben passiert in einem großen Zusammenhang, der sich nicht auf einfache Kausalitäten reduzieren lässt. Wie so oft in der Geschichte hatten kleine Fehler große Folgen und Veränderten Missverständnisse die Welt, ein eigentlich amüsanter Schluss, der viele große Ereignisse der Weltgeschichte eher zum Treppenwitz machte und ihnen damit manches an Ehrfurcht nimmt, es war eben menschlich.

Das Ganze wurde eine riesige Party, es wurde von vielen Wirten Freibier ausgeschenkt und auf dem Ku’Damm gab es Autokorsos, wildfremde Menschen lagen sich weinend in den Armen. Noch in der Nacht gab der damalige Bürgermeister Walter Momper Anweisungen, um dem erwarteten Ansturm gerecht zu werden. Von Begrüßungsgeld durch die Sparkassen bis zu Aufnahmelagern für Übersiedler.

Auch der Bundestag in Bonn unterbrach nach der Pressekonferenz, begrüßte die Ereignisse und am Ende standen spontan alle auf und sangen gemeinsam die Nationalhymne. Später behaupteten ein Staatssekretär und ein Bild-Reporter schon am Vormittag des 9. November von den bevorstehenden Ereignissen erfahren und sofort die Vorbereitungen begonnen zu haben. Die DDR-Führung machte zumindest keinen Rückzieher, egal, ob ihr die Dinge nun zufällig so gerieten wie nie geplant sondern öffnete in den nächsten Tagen immer mehr neue Grenzübergänge. Am Brandenburger Tor wurde die Mauer schließlich am 22. Dezember geöffnet in Anwesenheit des Bundeskanzlers und des Ministerpräsidenten der DDR.

Ab 24.12.1989 durften dann auch Bundesbürger und Westberliner ohne Visum, Beschränkung oder Umtausch in die DDR einreisen. Die Bewachung der Mauer wurde in den folgenden Monaten immer lockerer und die Mauerspechte, die Teile aus den Resten schlugen immer aktiver. Mit Inkrafttreten der Währungsunion am 1. Juli 1990 fielen sämtliche Kontrollen endgültig weg.

Pfingsten 1990 habe ich meinen ersten Urlaub in der gerade noch DDR verbracht, mit meiner damaligen Freundin und meinem besten Freund waren wir zum paddeln an die Müritz gefahren und als unser Kanu sich als undicht erwies - diese Westwaren taugten auch nicht viel scheint es, das Familienstück jedenfalls war durchgefault, - fuhren wir noch auf den Darß und erlebten in Priwall den großen auch FKK Campingplatz mit den Lagerzelten der vielen VEBs, besichtigten mit empörten Ossis die für unseren Geschmack schäbigen Datschen der zurückgetretenen DDR Führung am Darßer Ort, dem angeblichen Naturschutzgebiet mit geheimem Hafen. Es war ein Eintauchen in ein fremdes Land für mich, dass doch mein Land war, die gleiche Geschichte teilte. Besuchte die Geburtsstadt meines Vaters Güstrow und später noch einen Onkel meiner Freundin, der in Meißen Uhrmacher war. Kaufte viele, viele Bücher für billige Ostmark und wir aßen Berge von gedeckten Apfelkuchen bei der nach unserem Dafürhalten süßesten Bäckerin in ganz Mecklenburg in Ahrenshoop, bis meine Freundin meinen Freund und mich ermahnte, nun sei aber langsam gut, wir benähmen uns wie peinliche Wessis.

Bis ich erstmals das nicht mehr geteilte Berlin sehen würde, sollte noch Jahre dauern, die Stadt interessierte mich völligen Ignoranten damals überhaupt nicht.

Schon am 13. Juni 1990 hatte in der Bernauer Straße der offizielle Abriss der Mauer begonnen, die es heute nur noch zu Teilen als Erinnerungsstätte gibt. Es blieben sechs kleine Abschnitte als Mahnmal übrig, einige davon ganz in meiner Nähe eben in der Bernauerstraße. Noch immer rührt es mich irgendwie, wenn ich mit James die Mauer überquere und ich freue mich, was für viele wunderbare Menschen ich seitdem kennenlernen durfte, egal, ob sich nun die große Liebe dabei eher fand oder verlor. Reste und Teile der Mauer finden sich heute an vielen Orten der Welt. Eines sicherte sich die CIA, ein anderes steht in den vatikanischen Gärten und so immer weiter um die ganze Welt. Die Berliner Mauer kostete die DDR Milliarden und war ein ständiger kostenintensiver völlig unproduktiver Faktor, der die Krankheit eines Systems bewies, dass seine Menschen mit beschränkten Mitteln zwingen musste, weil es nie wirklich so funktionierte, wie es sollte, eine totalitäre Diktatur war, auch wenn es viele wunderschöne Erinnerungen der Menschen dort an ihr Leben in dem untergegangenen Staat gibt und manch zauberhafte Idylle mit dem Fall der Mauer unterging.

160 Kilometer mit dem Rad um Berlin, muss ich nicht an einem Tag erledigen, sondern fahre je nach Laune Teilstücke ab und  freue mich an neuen Entdeckungen, auf diesem historischen Weg, der auch die Verantwortung der SED und ihrer Nachfolger heute, die sich immer wieder gern sozial nennen und die anderen als Ausbeuter und Kapitalisten beschimpfen, deutlich macht und wach halten sollte. Die Linke ist keine harmlose Gruppierung sondern die rechtliche Erbin der SED, auch wenn sich die linke Gruppierung WASG mit der längst PDS genannten Ex-SED zur Linken einst vereinigte und auch den ehemaligen SPD Vorsitzenden Lafontaine aufnahm, dessen autoritäre Neigung ihn vermutlich so harmonisch mit seiner letzten Gattin Sahra Wagenknecht sein lässt und der von daher gut in diesen Verein passt. Sicher sind rote Socken Kampagnen nicht ohne Bart und eine gewisse Albernheit, doch sollte sich keiner darüber täuschen, dass der inhaltslose aber bärtige Kandidat der SPD Schulz die Grenze zur Linken aufweicht, was für Demokraten so untragbar sein müsste wie die Aufweichung der Grenze zum AfD durch die CDU, wofür unter Merkel bisher kein Risiko besteht.

Mauern bauen Versager und Extremisten, um die freien Menschen, die sich bei ihnen nicht wohlfühlen, aufzuhalten und fest zu binden. Wer sich an die Ränder zu den Extremisten begibt, sollte sich nicht von sozialen Versprechungen ohne sachliche Finanzierung einlullen lassen oder von vermeintlichem kulturellen Niveau, für dass sie sich einsetzen. Die Demokratie und die Freiheit wird an den Rändern gefährdet. Die Linke mag weniger schlimm sein als der AfD aber auch sie steht am Rand, nutzt Populismus und steht in vielem nicht auf dem Boden der Verfassung in der Überzeugung ihrer Mitglieder, die Enteignungen wohlfeil finden zur Durchsetzung ihrer teils totalitären politischen Interessen. Wer die Demokratie verteidigen und Mauern künftig verhindern will, wird darauf achten müssen, dass Europa mehr in der Mitte als an extremen Rändern steht. Die Freiheit sollte es uns wert sein.
jens tuengerthal 27.3.2017