Mittwoch, 15. Februar 2017

Mutbürger

Zu Mut rief der neu gewählte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier seine Mitbürger auf, statt großer Reden zur Freiheit, ging es bei dem ehemaligen Außenminister um etwas, was jeder mit sich ausmachen muss. Als genau richtig gerade jetzt wurden diese Worte medial berwertet, zur Erinnerung an schlichte Tugenden. Frei von allen  Inhalten.

War es das schon wieder oder was heißt Mut haben?

Wenn die vorher Wutbürger zu Mutbürgern werden sollen, die Demokratie wagen wollen, wird nicht nur das W umgedreht, also einfach alles auf den Kopf gestellt, sondern sich auf die  beste deutsche Tradition berufen und so verstanden, stellt es einen Aufbruch dar, wie wir ihn lange nicht erlebt haben, wenn wir es wagen, weiter zu denken und dies selbständig.

Sapere aude!

Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen, rief Immanuel Kant 1784 in der Berliner Monatsschrift das Motto der Aufklärung aus und definierte Freiheit neu, als die Befreiung aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit. Dabei ist Mündigkeit, die Fähigkeit sich seines Verstandes ohne Hilfe anderer zu bedienen. Selbstverschuldet ist die Unmündigkeit, sofern sie nicht auf dem Mangel an Verstand, sondern der Unfähigkeit ihn zu benutzen, resultiert.

Mut zur Befreiung, sich nicht sagen zu lassen, was richtig ist, sondern selbst kritisch zu denken, ist, wozu  Kant aufrief. Gegen die Urteile der vielen Spezialisten, soll der aufgeklärte Mensch selbst urteilen und sich eine Meinung bilden. Sie sollen Verantwortung für sich übernehmen, eben mündig werden, statt sich am Gängelband führen zu lassen aus Faulheit und Feigheit, wie es der Königsberger Philosoph formulierte.

Ein sehr liberaler Grundsatz, der von der Autonomie des Einzelnen ausgeht und sein Glück in der Freiheit sieht, auf Aufklärung hinwirken will, weil allein sie zu sittlichen Urteilen im Sinne des kategorischen Imperativ führen kann, die also überall und jederzeit für jeden gültig sind.

Erstaunlich, wenn ein Sozialdemokrat aus der Partei der sozialen Sicherheit und möglichst weitgehenden Versorgung dazu aufruft, könnte jetzt mancher denken und ist diese Auslegung im Geist der Aufklärung überhaupt zulässig?

Eigentlich hat Kanzlerin Merkel mit ihrem Vorbild Katharina der Großen, den Geist der Aufklärung zu ihrem Motto erklärt. Sie handelt pflichtbewusst und ordnungsgemäß, ist keiner amtlichen Anmaßung verdächtig, auch wenn manche laut das Gegenteil behaupten, gilt sie Kennern als Inbegriff der Zuverlässigkeit, Unbestechlichkeit und Korrektheit, im Gegensatz  zur schwächer ausgeprägten Leidenschaft. Der Diplomat Steinmeier gilt als korrekter Jurist, auf den ebenfalls Verlass ist. Er hielt sich als Außenminister weitgehend aus dem politischen Streit heraus und kann dies nun jenseits der Parteien noch mehr, muss es sogar qua Amt.

Doch was soll Mut machen heißen?

Folgen wir Kant, geht es um den Einzelnen und seinen Mut, Verantwortung für seine Entscheidungen zu übernehmen und sich selbst, eine Meinung zu bilden, statt sich auf die Urteile anderer zu verlassen. Dies kann keiner machen, sondern muss jeder für sich lernen. Dazu können nur die Möglichkeiten gegeben werden. Mut machen hört sich toll an und heißt eigentlich im Sinne der Aufklärung verstanden das genaue Gegenteil, es müsste ein mehr an Freiheit heißen, seine Meinung unabhängig von anderen zu bilden und seinem Gewissen zu folgen. Ein, denke ich an Sachsen in der Nacht, sehr weitgehender und gefährlicher Freifahrschein für viele Schwachköpfe, ohne den es aber andererseits keine Änderung der Verhältnisse geben kann.

Wer tut dies in der Mediengesellschaft, die ihre Ereignisse schon via Twitter verbreitet, bevor sie stattfanden und Meinung raunend macht?

Der neue amerikanische Präsident, so ungebildet wie unaufgeklärt er sich stolz gibt, wenn er betont in seinem Leben, kein Buch gelesen zu haben, nutzt Stimmungen und neue Medien, um Meinungen zu machen und ist damit direkt am Puls der Zeit. Er scheut dabei nicht vor Lügen und Fehlinformationen zurück, die er zugleich faktenfrei seinen Gegnern unterstellt.

Wer Meinung macht, will kein kritisches nachdenken sondern autoritäre Führung, die ihren Konsens vorgibt. Es ist ein typisches Zeichen totalitärer Regime, die Freiheit durch staatlich gelenkte Propaganda zu lenken. Dies ist von Seiten der russischen Sender in Europa so sehr zu beobachten, wie bei einigen rechten Medienhäusern in den USA während des Wahlkampfes. Ob dies genügt den Rechtsstaat der USA in ein totalitäres Regime zu verwandeln, wird sich zeigen.

Solches Verhalten steht im Gegensatz zu Rechtsstaat und offener Gesellschaft, die erst die Freiheit aller als Produkt der Aufklärung garantieren. Von Trump hat sich Steinmeier deutlichst möglich distanziert, nun gab er sich, wie es seine Aufgabe ist, versöhnlich. Doch wer denkt noch real kritisch im medialen Konzert und wer ist Teil der Propaganda einer bestimmten Richtung, wo beginnt Lügenpresse und wo endet kritische Berichterstattung, wird eine wichtige Frage sein zur Meinungsbildung, für die es heute Medien braucht oder müssen wir uns angesichts der medialen Schwemme davon klar distanzieren, um noch eine eigene Meinung zu haben, also selbst zu denken, Mut zu beweisen?

Was müsste alles lesen, wer sich eine wirklich differenzierte, kritische Meinung zu aktuellen Prozessen bilden will, frage ich mich dabei und was sollten wir auf keinen Fall zur Hand nehmen, weil es nur auf Propaganda beruht. Es ist heute schwerer geworden, die Dinge kritisch zu betrachten, auch wenn es zuverlässige Quellen wie den Deutschlandfunk oder andere traditionsreiche Medienhäuser gibt. Beschäftige ich mich eingehender mit medialer Meinungsmache, fällt auf wie konform bestimmte Medien längst schreiben, wie Muster erkennbar werden und zugleich sehe ich, wie unterschiedlich der gleiche Sachverhalt gewertet wird.

Meinungsmache steht im klaren Gegensatz zum Anspruch der Aufklärung, die zum selbständigen Denken auffordert. Medien, die keine Meinung machen, gibt es nicht, der neutralste Deutschlandfunk steht für die herrschende staatliche Meinung, so ich mich zu dieser in Opposition befinde, wie es manche im rechten oder linken Lager tun, werde ich hier selten meine Meinung wiederfinden und mir darum Kanäle suchen, die meine Meinung haben.

In der großen medialen Berieselung über die sozialen Netzwerke leben die Menschen immer mehr in homogenen sozialen Blasen, die nur noch wiederkäuen, was sie schon vorher dachten oder wohin sie in ihren Kreisen gelenkt werden sollen.

Wer den ganzen Tag Nachrichten über Ausländerkriminalität, sexuellen Missbrauch durch islamische Täter und ähnliche Bedrohungsszenarien liest, bekommt Angst und wird sich nur von denen verstanden fühlen, die ihn dort ansprechen und die anderen anklagen. Viele Accounts verteilen solche Neuigkeiten ständig. Es ist dabei egal, ob es sich um Fakten oder um postfaktische Behauptungen handelt, die nur der Meinungsmache und der Steigerung der Hysterie dienen, der stete Tropfen zeigt Wirkung, verursacht Unruhe und Angst.

Eine Meinung voller Angst, die durch Berieselung mit faktenfreien Neuigkeiten gefestigt wird, hält ihre Wirklichkeit für die grausame Realität und wer sie infrage stellt, wird als bestenfalls noch blind meist aber als verschworener Feind betrachtet. Diskurs scheint in der so polarisierten Gesellschaft kaum noch möglich.

Darum stellt sich die Frage, wie darauf demokratisch angemessen zu reagieren ist und was Mut machen noch heißt. Will, wer Mut machen möchte, für eine politische Meinung kämpfen oder stellt er sich jenseits aller Parteien, wie es seine Aufgabe ist, fordert zum kritischen Denken auf?

Habe Mut als Wahlspruch der Aufklärung ist zu kostbar, ihn im parteipolitischen Gerede zu zerreden. Es geht um Freiheit und den Mut zu ihr. Den Akt der Befreiung kann jeder nur selbst vornehmen, indem er zu denken anfängt, statt nur Meinungen zu folgen. Nur wo liegt die Grenze dafür und wie lernen Menschen einen vernünftigen, kritischen Umgang mit Meinungen und finden ihre eigene?

Ist nicht schon der Anspruch zu sozialdemokratisch, Mut machen zu wollen, als gössen wir diesen wie eine gute Tat aus?

Wie beim kategorischen Imperativ, der uns dazu auffordert auch jede äußere Norm an unserem Gewissen als sittlichem Maßstab zu messen, ist es auch beim selbständigen Denken, dass es vom freien Gewissen ausgeht, als sei so etwas eine selbstverständliche Einrichtung der Natur, die nicht durch ständige Berieselung beeinflusst wird. Es ist dies ein sehr hoher Anspruch, dem wir uns in der Realität nur mühsam und teilweise nähern, wenn wir Glück haben. Als Medienmacher wie als Konsumenten.

Was heißt also Mut machen wirklich und wohin kann es zielen?

Wer Mut machen will, muss zum selbständigen Denken auffordern und denen, die er dazu auffordert, Vertrauen schenken, dass sie es auch tun und nicht nur die Meinungen anderer wiederkäuen. Es ist nichts, was leicht fällt sondern im Gegenteil eine Aufforderung, auch gegen den Strom zu schwimmen, um sich seinem Gewissen gemäß eine Meinung zu bilden.

Kritisches Denken muss in der Schule beginnen. Fragt sich nur wo und in welchem Fach, dies gelehrt werden soll. Staatsbürgerkunde das belastete DDR-Fach, in dem die staatliche Ideologie vermittelt wurde, gibt es in der offenen Demokratie nicht mehr.  Irgendwo zwischen Deutsch, Gemeinschaftskunde oder Politik und Geschichte müsste es ansetzen, bräuchte viel Zeit zum diskutieren, statt sture Stoffvermittlung und Abfrage des Gelernten. Doch wer ist dazu befähigt, die Werte des Grundgesetzes und der Demokratie zu vermitteln und wie?

Dies wird die Aufgabe der Kultusminister künftig sein, damit nicht wie in Sachsen ganze Generationen in die Hände rechter Rattenfänger geraten, denn wichtiger als die Pisa-Ergebnisse ist es mündige Staatsbürger zu erziehen, die ihre Freiheit wahrnehmen und also selbständig und kritisch denken.

Hier gibt es zumindest eine Perspektive, um durch Aufklärung über die realen Verhältnisse, ein politisches Bewusstsein zu schaffen. Dazu gehört, dass über 966 rechte Gewalttaten nur einer handvoll islamistisch geprägter Taten im letzten Jahr gegenüberstehen, dies stellt die realen Verhältnisse dar und muss laut gesagt werden, um den Angstmachern entgegenzutreten. Es gibt eine rechte Terrorgefahr, die real den Frieden im Land bedroht und es gibt eine relativ kleine Gefahr durch Islamisten, die keine prozentual messbare Bedrohung darstellen. Wem muss sich mutig entgegen gestellt werden, um unsere Werte zu verteidigen?

Heißt Mut machen die Angst nehmen?

Wenn Aufklärung über die reale Situation mehr Mut macht, wäre damit viel gewonnen. Die Tatsache, dass die Angst mit postfaktischen Nachrichten geschürt wird und ideologisch aufgeputscht ist, macht es den Aufklärern schwierig. Es geht nicht mehr um vernünftige Argumente sondern um Meinungen im politischen Kampf.

Muss dann, wer Mut machen will, die richtige Meinung vertreten oder offenbarte schon dieser Ansatz das Scheitern?

Wer nur seine Ideologie verbreiten will, bleibt im politischen Kampf stecken, der durch die ideologische Befeuerung durch russische Propagandasender noch verstärkt wird. Ein Trump und ein Putin machen Meinung und profitieren davon. Wie schwierig dies im demokratischen Prozess wird und wie gefährdet damit die Freiheit ist, haben die amerikanischen Wahlen gezeigt, bei der eine wütende Minderheit nun den Kurs für die Mehrheit bestimmt.

Auch europäische Politiker sehen sich virtuellen Angriffen aus Russland gegenüber, mutmaßen sie zumindest laut, da Beweise in diesem Bereich immer schwer sind und so verbreiten beide Seiten ihre Sicht der Wirklichkeit, die Angst machen soll und der kritisch denkende Bürger fragt sich, wie wirklich ist die sogenannte Wirklichkeit noch.

Es gibt im politischen Bereich nicht eine Wahrheit sondern viele Sichten auf die gleiche Sache und in der Demokratie wählt das Volk diejenigen, denen sie eine Lösung ihrer Probleme am ehesten zutraut. Zumindest sollte es theoretisch so sein. Praktisch steckt oft mehr Trotz als Vernunft in einer Wahlentscheidung und darum wählen Menschen einen Trump oder bekommt die AfD ohne Antworten auf entscheidende Fragen überhaupt Stimmen.

Dies betreffend leben wir eingerahmt von Trump und Putin und mit vielen Erdogan Anhängern im Land derzeit in einer kritischen Situation. Die Verkündung von Ideologie ohne Inhalte gewinnt gegenüber vernünftiger Sachpolitik an Bedeutung. So wurde in Großbritannien mit Lügenpropaganda der Brexit erreicht, den eigentlich keiner wollte und von dem noch keiner absehen kann, wohin er führt. Eine Le Pen kündigt die nächste Abstimmung in Frankreich an und macht ebenfalls mit Angst Politik im Bündnis mit dem AfD in Deutschland und beide finanziert von Putin und jubelnd für Trump, der macht, was sie fordern, auch wenn er damit offensichtlich scheitert.

Als könnten Intoleranz und Fanatismus mit Intoleranz und Fanatismus vertrieben werden, stärkt die radikale Rechte in Europa und ihre Verbreitung von Angst den IS und der IS stärkt mit jedem Attentat weiter die radikalen am rechten Rand. Die offene Gesellschaft darf auf Angriffe nur mit noch mehr Offenheit reagieren, wenn sie nicht möchte, dass sie schon vorher besiegt wird. Wer die Freiheit unter Angriff aufgibt, um Sicherheit zu gewinnen, hat sie schon verloren und nichts mehr zu verteidigen. Dies wissen eigentlich alle Demokraten, manchmal nur sagen sie anderes laut, um den Radikalen Stimmen zu rauben, dem Wahlvolk  zu zeigen, wir sorgen für Sicherheit, die keiner garantieren kann.

Was heißt in dieser Situation Mut machen und vor allem wem?

Will der neue Bundespräsident seinen vorherigen Kollegen Mut machen?

Auf sie wird es auch ankommen, damit nicht ein Bayer ausschert und sich rechts profilieren will gegen die Demokratie. Sie brauchen Mut, zu sagen, es gibt keine Sicherheit, nur den Versuch dazu, der aber gefährdet, was wir eigentlich verteidigen wollen. Das Asylrecht kennt keine Obergrenze, wie die Kanzlerin richtig feststellte, jeder Versuch wäre verfassungswidrig und würde vermutlich in Karlsruhe gestoppt. Dennoch sind die Fähigkeiten zu Aufnahme und Integration begrenzt. Dem trug die bisherige Schengen-Regelung Rechnung. Sie war für eine Zeit nicht mehr in Kraft, weil es menschlich notwendig schien. Die Lasten müssen in Europa gleichmäßig verteilt werden. Keiner in diesem Land kann ein Interesse an einer Schließung von Grenzen haben. Es wäre ökonomisch katastrophal. Wer etwas anderes sagt, lügt und das wissen alle Beteiligten, trotzdem tun manche so, als könnten sie es fordern und darüber entscheiden.

Gleiches gilt für die Rentenlüge, nach der jeder Generation erzählt wird, die Rente sei sicher und wir doch schon lange wissen, sie kann es nicht sein, es braucht ein neues Konzept und den Mut, es der Bevölkerung zu sagen. Es geht nicht darum, wer schuld ist - wir  haben uns nicht genug vermehrt und so konnte ein auf Wachstum angelegtes System nicht ewig funktionieren. Nun braucht es den Mut, diese Dinge anzupacken und zu ändern.

Dennoch fehlt vielen der Mut, die Wahrheit zu sagen und offen die Freiheit zu verteidigen. Die politische Klasse im Land bräuchte einen Mutmacher, weniger die Kanzlerin, die Mut bewies und dafür Kopf und Kragen riskierte, ihr Amt gefährdete, aber viele bräuchten mehr Mut, statt Angst um Stimmen, die sie in den Populismus abdriften ließ.

Zu welcher Meinung soll den Bürgern Mut gemacht werden oder nur zum kritischen Denken gegenüber allem?

Möchte der neue Bundespräsident denen, die Lügenpresse skandieren mehr Mut zum kritischen Denken machen oder möchte er sie lieber auf den Kurs des Grundgesetzes bringen, frage ich mich und weiß noch keine Antwort, schon den Diskurs wieder zu beginnen, wird mühsam, wenn auch nötig, damit Sachsen nicht länger wie Polen und Ungarn ein fremdes Land wird. Das Grundgesetz garantiert Freiheit und Würde eines jeden, daraus folgt logisch das Asylrecht. Die EU garantiert die Menschenrechte in Freiheit.

Eine Gesellschaft die schrumpft, stirbt aus und braucht dringend Zuwanderung und wenn sie es nicht schafft diese von ihren Werten zu überzeugen und zu integrieren, dann ist sie wohl nicht überlebensfähig. Darum kann die Asylkrise, wie sie viele sehen, auch eine Chance sein, mit der es uns künftig besser gehen könnte. Das sagt kaum einer laut, weil Zuwanderung nicht mit Asyl vermischt werden soll, die Menschen nur in einer Notsituation für begrenzte  Dauer Schutz suchen, wieder zurückkehren sollen, wenn der Asylgrund wegfällt. Doch realistisch, kann dies Jahrzehnte dauern, der Ausgang ist ungewiss und wenn wir die Menschen nicht integrieren und ihnen hier keine Chance bieten, bleiben sie ein ständiger Kostenfaktor, werden zum Problem, dass andere schon beschwören.

Es kostet Mut, diesen Tatsachen ins Auge zu sehen und sich nichts vorzumachen. Mut zu Toleranz gegenüber fremden Gewohnheiten und Mut auch die eigenen infrage zu stellen, um miteinander klar zu kommen. Mut die eigene Angst zu überwinden. Noch mehr Mut keine fremde Religion zu fürchten und die Werte der Aufklärung zu verteidigen, die nicht religiös sind sondern laizistisch, wie es Menschenrechten entspricht. Nicht das Abendland des längst untergegangenen Heiligen Römischen Reiches gilt es künftig zu verteidigen, sondern die Werte der Aufklärung, die mit der französischen Revolution und der deutschen Philosophie eine tolerante, offene und demokratische Gesellschaft erst schufen, Basis unseres Erfolges in der Welt sind.

Die offene Gesellschaft, wenn sie von intoleranten oder totalitären Staaten umgeben ist, hat es schwer und Europa wird es schwerer haben, seine Werte zu verteidigen gegen Trump und Putin. Ob es darum nicht klüger wäre, den Konflikt mit Putin beizulegen, Russland lieber mehr in die EU zu integrieren, statt den Oligarchenstaat Ukraine zu verteidigen, als ginge es um das Herz Europas, wird eine der wichtigen Fragen sein auf der politischen Ebene und Merkels Kurs der Konfrontation wird, so menschlich verständlich er ist, nicht erfolgreich sein, sofern Trump auf die gezeigte Art weitermacht.

Will sich Europa als David mit zwei Goliathen an jeder Seite anlegen oder lieber die konstruktive Brücke zwischen beiden sein?

Es kostet viel Mut in Zeiten wie diesen, keine einfachen Antworten zu geben, weil immer mehr darauf ausweichen, Gewalt fordern und genau Bescheid wissen. Doch Gewalt ist nie eine Lösung und fördert nur noch mehr Gewalt, warum auch der Krieg gegen den IS in Syrien keine Lösung für die dortigen Probleme ist, die durch die Besetzung des Irak durch die USA mit ausgelöst wurden aber auch in vielem noch an den Folgen europäischer Kolonialpolitik und der Grenzziehung dann liegen, die wiederum mit dem untergegangenen osmanischen Reich zusammenhängen und vieles mehr.

Die Lage ist komplex, und es wird viel Zeit und noch mehr Fingerspitzengefühl benötigen, dort vernünftige Lösungen zu finden. Das gleiche gilt für die Russen in der Ukraine und im Baltikum, die sich nur so ruhig verhalten, weil es ihnen in der EU so viel besser geht als in der Heimat, denn wie stark die Bindung bei einer schwerwiegenden ökonomischen Krise wäre, ist unklar. Soll auch diesen EU-Bürgern Mut gemacht werden und wozu?

Ein russischer Präsident, der im offenen Konflikt mit der EU steht und es als seine erklärte Pflicht sieht, Russen egal wo auf der Welt zu verteidigen, es zumindest in der Nachbarschaft tut, wäre eine ständige Bedrohung. Dagegen ist ein schwieriger Partner Putin im Kreis der EU sicher bald bemüht, ein Musterschüler wieder zu sein, wenn er nur gleichberechtigt und freundschaftlich aufgenommen würde. Aber kann einer, der Völkerrecht bricht ein Freund sein, wie es die USA schon so lange sind?

Zu was sollen wir da nun Mut haben, zur Freundschaft mit dem undurchsichtigen ehemaligen Geheimdienstmann, den manche für einen lupenreinen Demokraten hielten, der als Antwort auf die Sanktionen der EU einen Propagandakrieg begonnen hat und der nicht nur in Sachsen den AfD stärkte mit seinen falschen Nachrichten dessen Folgen nun in den USA regieren oder dazu fest bei unseren Grundsätzen zu bleiben?

Bedeutet Mut in Zeiten wie diesen, zu den über 200 Jahre alten Ideen der Aufklärung zu stehen oder umgekehrt, sich den veränderten Bedürfnissen anzupassen?

Ist Trump die Antwort der USA auf den Islamismus oder dessen Fortsetzung mit umgekehrten Vorzeichen, weil dessen Politik nur die Radikalen stärkt?

Heißt  Mut, den Menschen zu sagen, es geht nicht um Götter und ein erfundenes Himmelreich, es geht um euer Leben hier und wie ihr es so sehr wie nur möglich genießen könnt?

Sind Wutbürger mutig oder erkennen sie nur nicht, was nötig ist, um Kompromisse zu finden?

Wer Mut machen will, wird sich vielen Fragen stellen müssen, eine der ersten wird sein wozu, daran schließt sich logisch das wie an und am Ende steht was nun, wenn alle mutig sind oder nie werden. Es ist gut und richtig, an die Grundsätze der Aufklärung zu erinnern und Mut zum Thema zu machen. Maßte mir dennoch nicht an, anderen Mut zu machen, finde es mutig vom Bundespräsidenten, dies zu wollen, weiß nicht, ob es gelingen kann, da dies selbständiges kritisches Denken erfordert und das fällt vielen in politischen Fragen schwer, vor allem mit der dabei gebotenen Nüchternheit. Mehr Sachlichkeit und Nüchternheit, für die Merkel und Steinmeier stehen, täte allen gut in aufgeheizter politischer Atmosphäre. Die Politik macht ihren Job, wie jeder auch und der ehemalige Außenminister schwebt nun drüber, mal sehen ob er vielen Mut macht und die Wutbürger nun kritische Mutbürger werden. Sicher braucht es mehr Aufklärung.
jens tuengerthal 14.2.2017

Sonntag, 12. Februar 2017

KMG 009

Die Unterirdischenaufklärung

Es war einmal im Reich der Unterirdischen, während oben unter den Menschen noch dunkles Mittelalter herrschte, dass sich eine Gruppe studierter Männer im Salon ihres Freundes traf, dass erstmals das Wort Aufklärung fiel, um zu beschreiben, was sie wollten.

Sie waren Schriftsteller, Philosophen und Mathematiker und hatten sich vorgenommen, ein Lexikon zu verfassen, damit alle Menschen auf das Wissen zugreifen konnten und dies nicht nur einer kleinen Gruppe wie ein geheimes Ritual vorbehalten bliebe. Damit sollte die Macht der Priester und der Gilden geschwächt werden, damit nicht mehr Aberglaube herrsche sondern Freiheit und Gleichheit irgendwann, was sie aber nur ganz insgeheim auszusprechen wagten, weil es als eine Revolution verstanden werden könnte. Vor allem der Glaube, den sie gern kollektiv Aberglaube nannten, war ihnen ein Dorn im Auge mit  seiner Macht über die erfundenen Seelen und damit die Moral, die nicht vernünftig sondern religiös also eigentlich albern begründet wurde, wie sie fanden, dem Menschen unwürdig.

Die Kultur der Unterirdischen war uralt und früher lernten die Kinder noch in den Schulen, dass die Unterirdischen kleine Kinder raubten, um sie bei sich leben zu lassen, wo sie unter der Erde nicht weiter wachsen würden. Dies war ein Gerücht, um die Kinder zu erziehen und immer falsch. Im Gegenteil war die unterirdische Kultur der sonstigen immer um zwei Epohen voraus und an weniger gebildeten Menschen bestand eher kein Bedarf. Während etwa im oberirdischen Reich die Menschen noch ohne Schrift in der Wildnis lebten, gab es unter der Erde schon riesige Bibliotheken. Auch der Beginn der Renaissance, die sich wieder dem antiken Erbe zuwandte geschah unterirdisch als die Menschen sich unter Karl dem Großen dem christlichen Reich erst zuwandten, das sich mit dem Schwert verbreitete.

Die Menschen brauchten für die Entwicklung ihrer Kulturen immer etwas länger und während sich der Islam noch mit dem Schwert bis nach Spanien verbreitete, wurde unter den Unterirdischen schon der Atheismus wieder diskutiert, wie sie ihn in der Antike kannten. Noch bis heute hängen Menschen dem Aberglauben an und glauben, es gäbe ein Sein über ihnen und ihre erfundene Seele sei unsterblich, während unter der Erde schon lange dies Thema als Teil der Natur betrachtet wurde, neben der es nichts gab. Dies geschah dort parallel mit der Einführung der Demokratie, etwa während oberirdisch die Renaissance begann und Könige nur noch dem Parlament unterstehende Repräsentanten waren. Wo es kein Gottesgnadentum mehr brauchte, konnten sie vernünftigerweise auch allen Aberglauben beerdigen, was den zurückgebliebenen Menschen bis heute nicht gelang, aber manche hoffen ja, dass auf die aktuelle postfaktische Epoche, in der die Dummheit herrscht wieder ein Zeitalter der Vernunft auch dort anbricht, gerade wenn es nicht danach aussieht, sollten wir besonders auf das Gegenteil hoffen.

Kulturen von Unterirdischen gab es auf der ganzen Welt und wo den Menschen Berge oder Hügel als heilig galten, lag dies meist daran, dass dort unterhalb eine unterirdische Kultur lebte, die unter den Menschen, um ungestört zu bleiben, diesen Aberglauben durch vermeintliche Wunder verbreitet hatte. Da die Menschen nichts von der unterirdischen Kultur wussten, die Geschichten dazu nur als Sagen galten, fiel es leicht vermeintliche Wunder zu  inszenieren, um geschützt zu bleiben. Außerdem gelten die Menschen unter Unterirdischen bis heute als unglaublich naiv und leichtgläubig, was zu widerlegen dem Beobachter neuer heiliger Kriege immer schwerer fällt.

Dieses Spiel mit der Unwissenheit der Menschen und ihrem Wunderglauben hatte unterirdisch schon früh ein kritisches Denken gebracht, dass die Macht der Priester schwächte, die es auch hier natürlich gab. So galt die Herrschaft der gewählten Könige unter der Erde als eine von Gottes Gnaden, was den im Salon versammelten Herren als keine Legitimation erschien, was aber noch keiner laut sagen durfte, wollte er nicht Gefahr laufen von den Geheimdiensten als Revolutionär verhaftet zu werden.

Die Unterirdischen lebten unter den Bergen, die sie ausgewählt hatten in riesigen Bauwerken, die mit jeder neuen Generation noch erweitert wurde. Sie erinnerten an den Turmbau zu Babel, bei dem einige Menschen noch ohne genügendes Wissen immer höher bauen wollten, um den geglaubten Himmel zu erreichen. Die Etagen des Turms, die immer weiter nach oben wanderten repräsentierten die Epochen und es zeigte sich, dass die Menschen alle Baustile nachgeahmt hatten, die unterirdisch längst schon wieder von der nächsten Etage überholt wurden.

Einige Etagen unter dem aktuellen Stil, der noch vom Rokoko geprägt war, erkannten Kenner den Stil der Renaissance, der sich auf den gothischen gesetzt hatte, spitz nach oben strebend, die Kirche dort als Mittelpunkt, was im aktuellen Absolutismus längst das überragend große Schloss geworden war, wie es 500 Jahre später in Versailles nachgebaut wurde. Doch mit dem wirtschaftlichen Aufschwung waren auch viele Bürgerhäuser prächtiger geworden, die in den strahlenförmig auf das Schloss zulaufenden Straßen errichtet wurden.

Die Siedlungen begannen am Fuß des Berges mit der Grabung einer Höhle, die ständig erweitert wurde entsprechend dem Wachstum jeder Kolonie der Unterirdischen. Kamen sie an die Bergspitze stagnierte die Bautätigkeit, dann wanderten die kommenden Generationen aus und gründeten neue am Fuß eines anderen Berges. Aus dieser historischen Zeit, in der es zu Umsiedlungen kam, stammte noch die Sage von der Auswanderung der Unterirdischen, wie sie auch in Mecklenburg verbreitet ist, die aber meist in völlig falschem, eben menschlichen Zusammenhang die Sache betrachtet. Große frühe Siedlungen fanden sich unter dem Mont St. Michel in der Normandie, dem Odilienberg im Elsaß oder dem Heiligenberg bei Heidelberg, die aber ihre Orte verließen als die Menschen dort zu bauen begannen.

Die Unterirdischen mochten es nicht, wenn ihnen auf dem Kopf herumgetrampelt wurde und fanden es, auch aus Gründen der Geheimhaltung dann besser, eine neue Kolonie zu bilden. Einige finden sich auch in den Alpen, doch schätzen die Unterirdischen die dortigen massiven Felsen mit viel Granit nicht so sehr, da sie dann immer auch auf die Hilfe der Zwerge angewiesen waren, die bekanntlich gute Bergleute und die besten Sprengmeister sind. Diese ließen sich ihre Arbeit, wenn sie jemand brauchte und sie nicht nur Gold für sich scheffelten, so gut bezahlen, dass dies die Baukosten in ernorme Höhen trieb bei den Erweiterungen, die jede Generation vornehmen durfte.

Auch darum lagen die meisten Siedlungen unter mittleren Bergen oder Hügeln, die erdreich waren und ohne Hilfe der Zwerge abgetragen werden konnten. Zwar hatten die Unterirdischen die Kosten ihrer Bauten als die bekannt besten Architekten sich immer wieder von den geizigen Zwergen wiedergeholt, die sobald sie über eine Etage hinaus ihre Höhlen bauen wollten, die Unterstützung der Statiker aus dem Reich der Unterirdischen brauchten, doch waren sie lieber autark und auch die Nahrungsproduktion fiel im hügeligen Flachland immer leichter.

Überhaupt war unter den Unterirdischen in den letzten Jahren des irdischen 17. Jahrhundert, eine neue Bewegung in Gang gekommen, die sich für eine ökologische Bauweise und mehr Naturnähe aussprach. Darum entstanden immer mehr eher kleine Siedlungen unter abgelegenen Hügeln, die weniger in die Höhe strebten. Auch die Geburtenrate war mit zunehmender Zivilisation zurückgegangen, trotz abnehmender Kindersterblichkeit aufgrund besserer Hygiene und guter medizinischer Versorgung, so dass manchmal schon eine Etage für vier Generationen reichte und wo Eltern nur noch ein Kind hatten, sich die folgenden Familien ein Haus teilten und keinen neuen Baubedarf hatten.

So begann bei den Unterirdischen, was die Menschheit erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts in den ökonomisch erfolgreichen, wohlhabenden Ländern des Westens kennenlernte, eine Schrumpfung der Bevölkerung und es zogen manche der Anhänger dieser Naturbewegung, die der Hippiebewegung der Menschheit in den 70ern und der Romantik in manchem glich, auch wieder in tiefere Regionen, wenn es dort zu Leerstand kam, weil es keine Erben mehr gab. Sie waren sozusagen Hausbesetzer. Zunächst waren die einfachen Bauten der Frühzeit als Lagerräume nur genutzt wurden, weil die meisten lieber in den je modischen Neubauten lebten und aufgrund der Statik im unteren Bereich vielfach auch Verstärkungen nötig waren. Doch heute galt es als schick in diesen teilweise riesigen ehemaligen Lagerräumen ohne Zwischenwände zu leben.

Auch die Philosophenrunde hatte sich in einer solchen ehemaligen Lagerhalle getroffen, in der ihr Gastgeber diesmal zum Salon lud. Dies hatte den Vorteil, dass sie ihre Runde leicht erweitern konnten, weil es Platz genug gab, wichtiger aber war ihnen, es war weit genug vom einige Etagen höher gelegenen Schloss entfernt und die königlichen Beamten kamen nicht so leicht vorbei, da sie in der Nähe des Palastes wohnten, sie wurden also nicht gleich bemerkt. Die Siedlung der Naturfreunde am Grund des Hügels war sechs Etagen unter der aktuellen Ebene auf der die prächtigen Repräsentationsbauten gelegen und so war es auch den meisten Spionen und Polizisten zu mühsam, zum Zwecke der Überwachung hinabzusteigen. Hier fühlten sie sich daher relativ frei, auch weil die hier lebten eine eingeschworene Gemeinschaft waren und jeder Fremde schnell auffiel.

Natürlich hatte der wohlhabende Gastgeber, der von einem Onkel, der ihn adoptiert hatte, seinen Titel erbte auch einen Bau auf der repräsentativen Etage, aber zu ihrem Salon reisten sie lieber ein wenig, um sicher und ungestört planen zu können. Dies geschah aber zu der Zeit während oberirdisch, wie sie es nannten, gerade der Staufer Friedrich II. die Welt in Staunen versetzte mit seiner Offenheit, seiner Kunstfertigkeit, keiner etwas von Amerika wusste und noch Kreuzzüge ins vermeintlich Heilige Land zogen, von denen auch selbiger Friedrich obwohl mit dem Papst zerstritten, noch den erfolgreichsten führte, bei dem er durch Verhandlungen mit den Mauren sein Ziel erreichte. Diese kannte er gut, weil sie auch auf der Insel Sizilien lebten, dem Erbteil seiner normannischen Mutter und er lernte manches von ihnen, was das mittelalterliche Europa staunen ließ und auch unter Unterirdischen hieß es, was das größte Lob wohl war, für einen nur Menschen nicht schlecht.

Diesmal saßen sie in vertrauter Runde um die Tafel und berieten über die geplante Enzyklopädie, als einer von ihnen sagte, es ginge um Aufklärung und aus dieser folge alles weitere, was sie nicht erwähnen bräuchten, um weder die Kirche noch den König zu provozieren.

“Unser Lexikon wird unpolitisch sein, um nicht angreifbar zu sein, dafür wird es viel besser und weiter wirken als jede politische Schrift”, sprach der Gastgeber, der ein wenig dem Mann glich, der über 500 Jahre später als Baron d’Holbach unter den Menschen bekannt wurde.
“Nichts ist unpolitisch, jeder Handlung wirkt sich auf die Gemeinschaft aus, die Absicht ist hehr lieber Freund aber völlig unmöglich, sollen wir zu allen kritischen Themen schweigen?”, entgegnete ihm der unter Unterirdischen bekannte Schriftsteller und Philosoph, der ein Provokateur war, aber auch darum nun ständig am Fuß des Berges lebte, um nicht von den Jesuiten angeschwärzt und vor Gericht gestellt zu werden. Verlegt wurde er nur noch ungestört und verdiente gut daran, weil eine Mätresse des Königs ihre schützende Hand über ihn hielt.
“Ja und nein. Wir sollten ihnen keine Möglichkeit zum Angriff bieten, damit wir das Projekt nicht gefährden. Alle kritischen und provokativen Fragen werden wir in Nebengebieten abhandeln, etwa bei der Beschreibung des Lebens der Ameisen ein Bild der idealen Demokratie entwerfen - die manchmal absurden Verweise werden zum geheimen Schlüssel für Kenner, der ihnen das Herz der Freiheit offenbart”, entgegnete ihm der Gastgeber.

“Wer die Fackel der Wahrheit trägt, darf sich nie verstecken, dann kommt alle hierher, wir planen und verlegen das Projekt von hier aus, dann droht keine Gefahr”, entgegnete der Schriftsteller, der lieber den Konflikt als einen machbaren Kompromiss suchte.
“Du hast von hier unten leicht reden, wir müssen mit der Kontrolle leben und wenn wir wollen, dass sich unsere Schrift dort verbreitet, wo sie am nötigsten ist, müssen wir Kompromisse schließen”, stimmte der Redakteur seinem Freund dem Gastgeber zu. Er, der in der Rolle des Denise Diderots später zu sehen war, hatte Frau und Kinder, er musste von seiner Arbeit leben, als abgebrochener Theologe, der sich für die Schriftstellerei und Philosophie entschieden hatte, lebte er immer am Rande des Abgrunds.

“Kann meinem Freund nur zustimmen, wer aufklären will, sollte nicht lügen oder zensieren - wenn einer meine Worte hier zensiert, steige ich sofort aus diesem unmöglichen Projekt aus”, meldete sich der Mathematiker zu Wort, der Mitglied der königlichen Akademie und hochbegabt war. Er hatte von seiner hohen Abstammung und seiner Position her den größten Einfluss von ihnen bei Hof. Wissenschaftlich war er einer der Größten seiner Zeit, darum leistete er sich auch in seinen mathematischen oder naturwissenschaftlichen Artikeln immer wieder Seitenhiebe, die sich keiner sonst erlauben konnte. Unter den Menschen viel später spielte der nominelle Mitredakteur der Enzyklopädie d’Alembert seine Rolle nach. Dieser stieg dann auch tatsächlich aus dem Projekt irgendwann aus, weil es seinen Ruhm nicht mehr zu mehren schien und er sich nicht beschränken wollte.

“Keiner soll lügen. Die Enzyklopädie ist der Wahrheit verpflichtet. Nur müssen wir dazu nicht bewusst die geltenden Gesetze brechen, sondern sollten sie lieber, um das Projekt und uns nicht zu gefährden, genau einhalten und zwischen den Zeilen umgehen - Opposition kann zwischen den Zeilen und in der Schlagzeile geübt werden, die Schlagzeile fällt ins Auge und wird vergessen, was zwischen den Zeilen steht, gärt langsam und wirkt länger”, versuchte der Gastgeber die Freunde zusammenzuhalten.

“Du hast doch nur Angst eingesperrt zu werden, lebtet ihr auch hier, am Grund des Berges, könntet ihr wie ich schreiben, wie ihr wollt”, ließ der große Dichter nicht davon ab, seinen Freund den Redakteur erneut zu provozieren.
“Dann zirkulierte unser Lexikon am Grund des Berges, es würde keinen interessieren und kein Buchhändler oder Verleger würde es oben vertreiben wollen, wo es am nötigsten ist”, wandte auch kaufmännisch vernünftig der reiche Gastgeber ein.
“Du hast auch noch nie im Kerker gesessen, ich war drei Monate ohne ein Urteil oder die Aussicht je wieder frei zu kommen dort eingesperrt, solange ich Redakteur bin, werden wir vorsichtig sein. Es wird weiter wirken, wenn wir keinen Streit suchen sondern aufklären.”
“Meine liebe Freundin die Marquise wird uns auch dann unterstützen und dann zirkuliert das Buch eben erst als verbotener Druck, was die Nachfrage nur erhöhen wird”, wollte der reiche Dichter seine Freunde überzeugen, das Lexikon doch politisch zu schreiben und in der Kommune am Grund verlegen zu lassen, woran er noch besser verdienen würde als jetzt, wo er nur Autor einiger Artikel war, die er auch viel zu unbedeutend fand und die sie doch bewusst ihm gegeben hatten, damit seine Neigung zur Provokation nicht zu gefährlich wurde und sie sich nicht lange über nötige Streichungen streiten mussten. Im Reich der Unterirdischen herrschte zu dieser Zeit noch Zensur und die Aufklärung wurde erst langsam zu einer großen Bewegung, die ihren Namen noch suchte.

“Aufklärung ist ein gutes Stichwort, haben wir es schon definiert, ist der Beitrag schon vergeben, sonst würde ich gerne darüber schreiben”, stieg einer der Philosophen in die Diskussion ein. Er galt als einer der größten unter ihnen lebenden Philosophen und schaffte es in seinen Schriften immer wieder den Staat und die Herrschaft vollkommen infrage zu stellen, ohne es direkt zu tun. Offiziell war er eher ein Moralphilosoph und schrieb lange Abhandlungen über kategorisches Denken und die Freiheit des Entschlusses zum moralischen Handeln. Seine Rolle übernahm viel später unter den Menschen der Königsberger Immanuel Kant.
“Das wäre uns eine große Ehre, wenn du diesen Begriff definieren könntest”, begrüßte der Redakteur den Vorschlag des Philosophen und war dankbar, dass er ein wenig vor dem gefährlichen Thema ablenkte, das schon so oft im Streit geendet hatte, “schwebt dir schon was vor?”
“Habe nur ein wenig nachgedacht, was unsere Treffen und unsere Arbeit im Kern ausmachen und auch wenn wir es selten so direkt sagen, geht es doch immer um die Freiheit des Individuums. Es ist noch nicht ausformuliert, nur so ein erster Gedanke, der vielleicht beiden Seiten dieser ewigen Auseinandersetzung genügen könnte”, dabei lächelte er den Dichter und den Redakteur so gewinnend an, dass es schien, als hätte es nie Streit geben können. Dabei hatte es schon einige male heftigste Konflikte gegeben - so war einmal der Dichter aufgesprungen, wollte nicht mehr mitarbeiten, wenn er nicht endlich politische Themen bekäme, woraufhin der Redakteur nur ganz kühl geantwortet hatte, wenn du für mich ins Gefängnis gehst, gerne. Der Dichter war dann beleidigt weggegangen und es dauerte Wochen bis der Gastgeber die Runde mit vielen langen Briefen wieder zusammenbrachte.

“Wir sind gespannt”, versuchte der Gastgeber schnell das gefährliche Thema wieder zu verlassen, auch wenn er zu seiner Freude bemerken musste, dass der sonst sehr schnelle Dichter nachdenklich und in sich gekehrt schwieg.
“Ich dachte es mir in etwa so, ist jetzt noch nicht druckreif, aber es zeigt die Richtung: Aufklärung ist die Befreiung des Menschen aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündig ist, wer sich seines Verstandes nicht ohne Hilfe anderer bedienen kann. Selbstverschuldet ist diese, wenn sie nicht aus dem Mangel des Verstandes resultiert sondern aus der Unfähigkeit ihn zu benutzen, es am Mut zu denken mangelt, Der Wahlspruch der Aufklärung könnte also lauten, habe Mut, dich deines Verstandes zu bedienen”, trug der Philosoph seinen längst im Kopf druckreifen Gedanken rasend schnell vor und seine Freunde hatten Mühe ihm zu folgen.

“Genial, es ist revolutionär und klingt doch völlig harmlos, dafür wirst du in die Geschichte eingehen, das drucken wir genau so - der Mut des einzelnen, hilft ihm seine Unfreiheit zu erkennen, aus der er sich dringend befreien will, wir sagen nichts und geben die Anleitung zu allem”, fand als erstes der Redakteur die Sprache wieder. Auch er war von rasend schnellem Verstand und begriff sofort welch Zündpulver in dieser Definition lag, die alles bisherige infrage stellte, weil sie auf den Einzelnen und seine Befreiung abstellte. Nun hatten es auch die anderen verstanden und klopften begeistert auf den Tisch.
“Naja, nun übertreibt mal nicht, klingt sehr wissenschaftlich und versteht doch kaum einer da draußen, ist halt diese Professorensprache, die kein Mensch mit Leidenschaft liest und die jeden Dichter schmerzt”, nörgelte der Dichter, dem es nicht gefiel, wenn die Formulierungen eines anderen gelobt wurden und seine dagegen immer wieder korrigiert wurden.
“Ach spiel nicht den eitlen Dichter, es ist ganz klar und deutlich, passt zum Ton des Lexikon, bleibt völlig unverfänglich und legt doch das Feuer an die Zündschnur der Revolution, die uns zur Freiheit führt”, wies ihn, allerdings freundlich lächelnd, sein Freund der Gastgeber zurecht, der versuchte die Waage zu halten und Streit zu vermeiden.
“Deine revolutionären Gedanken wurden ja auch nur unter Pseudonym veröffentlicht, das unterscheidet uns eben, ich stehe zu dem, was ich denke und lebe es”, schoss der Dichter sehr scharf zurück.

“Du lebst im Exil in der relativen Freiheit und bist reich, du hast gut reden. Bin Bibliothekar bei einem Schwager unseres Königs in der Zwischenetage geworden, weil ich frei schreiben wollte und doch muss ich mit jedem Wort vorsichtig sein”, fiel nun ein anderer Dichter, der auch zu den Autoren der Enzyklopädie gehören sollte ein. Seine Theaterstücke waren bekannt, gerade sein Stück über die Glaubensfreiheit, dass er in die Zeit der Kreuzzüge verlegt hatte, wie sie die Menschen oberirdisch gerade erlebten, hatte viele aufgerüttelt. Dort ließ er einen alten eine Parabel erzählen lassen, die besagte, dass alle Religionen gleich seien, es nicht darauf ankäme, welche die Wahre wäre, sondern wie sie gelebt würde, sich also nicht am Dogma und der Lehre die Wahrheit offenbare, welcher Gott der rechte sei, sondern dies sich eben am guten Umgang im Alltag zeige. Unter den Menschen übernahm später der Dichter Lessing mit seinem Stück Nathan der Weise diese Rolle und kaum einer weiß, dass die Unterirdischen schon 500 Jahre früher über diese Weisheit debattierten und daraus bald schlossen, dass Glaube unfrei mache und darum zu überwinden sei.

“Solange ihr kuscht, haben die Intoleranz und der Aberglaube noch Macht, wenn ihr euch befreit, werden wir frei sein. Habe Mut soll der Wahlspruch der Aufklärung sein, damit bin ich einverstanden, dann zeigt mir doch, ob ihr Mut habt oder kuscht vor der Kirche und den Zensoren”, rief der andere Dichter wieder zum Aufstand, wo es ihn doch so nach Aufmerksamkeit sehnte, eitel wie er war.
“Mein lieber Freund und Kollege, wir sind beide Dichter und wissen, wie schnell die Gunst des Publikums schwankt, manches Stück von uns, dass wir für unser bestes hielte, ein Reinfall wurde. Der Erfolg eines Stückes geht nicht immer parallel zu seinem geistigen Anspruch, oft im Gegenteil. Wer Erfolg haben will, schreibt auch mal, was das Publikum gerade hören will. Wir haben uns entschieden unsere Enzyklopädie offiziell zu verlegen und keine geheime verbotene Schrift daraus zu machen. Darum haben wir einen Pfaffen mit den Glaubensfragen beauftragt und er ist unser Freund, auch wenn das keiner ahnt, er schreibt so langweilig und kompliziert, dabei fast mathematisch korrekt, dass kein Mensch je einen seiner Artikel zu Ende lesen wird…”, redete der andere Dichter auf seinen Kollegen ein, bis er unterbrochen wurde.
“Einspruch, ich muss sie alle lesen, ansonsten hast du Recht, es ist grauenvoll und ich kämpfe immer gegen den Schlaf”, unterbrach ihn der Redakteur, der auch ein begabter Dichter war nur nach seinen Erfahrungen in der Haft sehr vorsichtig geworden war.

Das Lachen war groß und die Spannung war verschwunden, hier zeigte sich der wache, rasend schnelle Geist des Redakteurs, der unter anderen Bedingungen ein großer Dichter und Philosoph wohl geworden wäre, doch kam er nicht aus so begüterten Verhältnissen und musste auch an das Überleben seiner Familie denken, die nur dank seiner reichen Freunde die Zeit in der Haft überstanden hatte.

“Unterstütze euch ja, weil ich die Idee mittrage, aber ich leide schrecklich daran, wieviel wir lügen müssen. Diesen Unsinn von Gott und seiner Gnade in einem Lexikon, das der Vernunft dient - alles Aberglaube und sollte auch so genannt werden”, gab sich der philosophische Dichter, der unter den Menschen viel später Voltaire hieß, versöhnlich nicht ohne noch mal seine Meinung laut kund zu tun, ein wenig zu provozieren.
“Würde ich dich diese Artikel schreiben lassen und schriebst du sie so, wie du es hier sagst, was zu befürchten ich guten Grund habe, können wir beide unser Todesurteil unterschreiben”, versuchte der Redakteur dem Dichter klar zu machen, wie gefährlich solche Worte einige Etagen höher noch waren.
“Leben wir noch im finsteren Mittelalter?”, empörte sich der Dichter so übertrieben, dass seine Freunde merkten, dass er nur noch scherzte.
“Ein genialer Kontrast mein lieber Freund, dazu haben wir unsere großen Dichter, es mit einem Wort auf den Punkt zu bringen. Die Aufklärung bringt Licht in die Finsternis - dazu können wir uns ganz offiziell auf das Evangelium des Johannes berufen und keiner kann uns angreifen für unsere Ideen, die unser Freund der Philosoph in seiner so wunderbar korrekten Art auf den Punkt brachte”, lobte der Gastgeber den Dichter ein wenig übertrieben, denn dieser hatte ja nur den Kontrapunkt gegeben, auf den er seine Philosophie kongenial setzte, aber seine Spezialität war es eben auch, Menschen zu verbinden, statt nur zu polarisieren, darum kamen sie alle zu ihm, sogar der Philosoph, der sehr ungern reiste, ein sehr geordnetes Leben als Beamter der königlichen Universität sonst führte.

“Wir sind uns doch alle einig über die Albernheit allen Aberglaubens, egal wie sich die Kirche nun nennt, ich wäre ihr schärfster Kritiker, wollte ich nicht etwas noch in diesem Turm in Bewegung setzen und das kann ich nur, wenn ich in der Gesellschaft wirke und sie nicht nur von außen mit Zündpulver beschicke, damit die Kirche wieder all meine Schrifte verbrennen kann und wir vor ein Gericht der Inquisition gestellt werden”, versuchte auch der Redakteur zu befrieden, doch lag schon wieder viel gefährliche persönliche Kritik am Dichter in diesen Worten, der ihm durch seinen Leichtsinn schon manche Hausdurchsuchung beschert hatte und wäre der Chef der Geheimpolizei nicht auch ein Freund dieser Runde, der immer wieder mal zu Gast kam, das Projekt wäre längst beerdigt und die Kirche hätte die aufkeimende Vernunft wieder einmal ausgebremst, wie es ihr, dank der Reformation, dem freien Geist der Renaissance zum Trotz noch gelungen war.

“Schön, wenn wir zumindest im wesentlichen einer Meinung sind”, gab sich endlich auch der Dichter versöhnlich, “auch wenn wir über den Weg dahin unterschiedlicher Meinung sind - ihr alle immer hier leben solltet, wie ich es tue - doch ich füge mich der Mehrheit und werde brav die mir zugewiesene ungefährlich langweilige Arbeit tun”,  gab sich der Dichter versöhnlich und konnte doch nicht ohne Spitze schließen.

“Die Kunst ist es in den Randgebieten für alle, die Mut haben sich ihres Verstandes zu bedienen, wie es mein lieber Freund so treffend sagte, das revolutionäre Wissen zu verstecken. Wir legen keine sichtbaren Bomben an den Staat, wir nehmen die Aufklärung als einen Akt der  Befreiung, den jeder für sich gehen muss - ich kann es nicht besser wissen als mein Nachbar, der noch gläubig ist, was weiß ich schon? Kann ich als Gläubiger noch Teil dieser illustren Runde sein oder bin ich es nur, weil meine Religion schon lange so diskriminiert wird wie euer Atheismus? Es gibt eine alte Geschichte vom weisen König Salomon, die dazu passt. Als er in den Tempel kam, wunderte sich der Rebbe und ging zum König und fragte ihn, was machste hier, ich denk du glaubst gar nicht an Gott? Nu, erwiderte der weise König da, weiß ich ob ich Recht hab?”, sprach zum ersten mal der Freund des Dichters, der Bibliothekar geworden war, der in seiner Gemeinschaft und überhaupt zu den ganz großen Aufklärern gehörte aber von vielen nicht wahrgenommen wurde, weil er einer gern unterdrückten Minderheit angehörte, auch wenn er einer der größten Köpfe ihrer Zunft war. Er wurde unter den Menschen als Moses Mendelsohn bekannt und war ein vergleichbar kritischer Geist unter den Unterirdischen. Alle lachten über seinen hintergründigen und klugen Humor und die Runde war wieder versöhnt. Sie würden nun noch eines der feinen großen Essen ihres Gastgebers genießen, mit viel gutem Wein und nebenbei noch über die nächsten Artikel diskutieren und ein wenig von ihren Geliebten schwärmen, bis auf den Gastgeber, der schon die wunderbarste aller Frauen zur Gattin hatte, die auch gelegentlich die Runde bereicherte.

Nur der große Philosoph mit der klugen logischen Definition wirkte noch etwas nachdenklich und selbstkritisch. Er hielt den Kopf in die Hand gestützt, hielt sich seinem gekrümmten Rücken entsprechend schief und wirkte etwas unglücklich.

“Was hast du mein Freund, ist dir nicht gut?”, bemerkte es der an den 500 Jahre später lebenden Baron d’Holbach erinnernde Gastgeber zuerst.
“Vielleicht war ich etwas zu vorschnell, hätte ich daran gedacht, dass unser lieber Freund hier ist”, bei diesen Worten nickte er seinem Philosophenkollegen zu, “hätte ich diese Definition nie an mich gezogen und lieber geschwiegen, ist er doch mit viel mehr Humor und wohl verständlicherer Sprache gesegnet”.
“Macht euch keine Sorgen, es gibt noch genug zu tun auf dem Weg zur Aufklärung und wir wollen noch manchen Band füllen, keiner nimmt wem etwas weg, alle kommen mit ihrer Sicht zu Wort und ich bin dankbar für jeden Beitrag und wenn du”, hierbei nickte der Redakteur dem anderen Philosophen zu, “über deinen Glauben schreibst und es so gut machst, wie dich unser Freund der Dichter in seinem Stück als weisen Alten in Parabeln sprechen ließ, wird dies Lexikon nicht nur eine Revolution sondern auch ein Kunstwerk”.

So panten die Freunde ihr Lexikon, dass eine Revolution werden sollte, ohne dass es einer von denen merken durfte, die es in frage stellte, um die Aufklärung als Weg zum Licht auch unterirdisch mit der Aufforderung zu beginnen, alle mögen den Mut haben, selbst zu denken und wenn sie nicht gestorben sind, planen sie immer noch den Umsturz von Innen, den das Lexikon im Geist der Unterirdischen wie 500 Jahre später auch der Menschen nur fünfzig Jahre danach schon auslöste, weil die Freiheit keine Grenze kennt.
jens tuengerthal 11.2.2017

Samstag, 11. Februar 2017

KMG 008

Zwergenordnung

Es war einmal eine Zwergenfamilie, die im Wald unter der großen Eiche, nahe der Schonung ihre Höhle gebaut hatte. Sie lebten dort noch nicht lange, vielleicht zweihundert oder dreihundert Jahre und erst in der dritten Generation, was ja für Zwergenfamilien, die sehr sesshaft sind, wenn sie sich irgendwo wohl fühlen, nichts ist.

In der geräumigen Höhle lebten Großeltern, Eltern und Kinder gemeinsam. Der älteste Sohn des alten Zwerg war in der Höhle geblieben, während seine Geschwister sich neue Höhlen suchten oder bauten, als sie heirateten, weil der alte Dachsbau, den der Urgroßvater ausgebaut hatte, nicht groß genug war, dass alle sechs Kinder mit ihren Partnern und Kindern dort leben konnten. Wenn sie etwas zusammengerückt wären, hätte es vielleicht noch irgendwie gepasst und zu den großen Festen, kamen sie ja auch alle wieder, doch dann schliefen immer die Zwergenkinder alle zusammen in der großen Vorratskammer, die dazu extra leer geräumt wurde. Das war nicht so schwer, weil viele Sachen ohnehin in der Küche waren für das Festmahl.

Die Eltern verteilten sich, wenn das Feuer im Kamin erlosch, auf die Kinderzimmer, die Bibliothek, die Werkstatt, die Vater Zwerg zu diesem Zweck immer besonders ordentlich fegte, aber das machte nichts, weil er immer gerne putzte und seine Werkstatt sortierte. Er liebte es, wenn jedes Werkzeug an seinem Platz hing, alle Schrauben fein sortiert waren und keiner mehr die Spuren seiner Arbeit sehen konnte und er lange Geschichten über die Bedeutung der Ordnung erzählen konnte. Im Bergwerk war er auch der Leiter der Werkstatt und hatte eine ganz neue Ordnung eingeführt, nachdem er die Stelle von seinem Vater geerbt hatte.

Ihr Schlafzimmer überließen sie an den Festen immer abwechselnd einem der Geschwisterpaare und nur die Großeltern schliefen wie immer in ihrer Höhle nahe dem Ausgang, damit sie es nicht so weit hatten, wenn sie in der Nacht mal mussten, was ja bei älteren Zwergen durchaus vorkommt. So lag Vater-Zwerg mit seiner Frau vor dem Kamin auf dem warmen Fell, sie schauten in die Flammen und lauschten in die Nacht - von unten aus der Vorratskammer, wo die Zwergenkinder lagen, kam manchmal noch Getuschel, aber ansonsten, war es nun ruhig geworden und sie waren für sich.

“Was war das wieder für ein prächtiges Fest”, sagte Heinrich, der Zwergenvater zu seiner Frau und legte ihr die Hand zärtlich auf ihren große Busen.
“Ja, sie haben tüchtig gegessen und wunderbar gesungen, es wollte gar nicht enden.”
“Ach ja, die alten Zwergenlieder, wie lieb ich sie doch und deine Küche meisterhaft, bin sehr stolz auf dich meine Liebe, wie du es wieder geschafft hast.”
“Gemeinsam haben wir es geschafft, du hast alles so fein dekoriert, die Tafeln perfekt gedeckt und alles war immer sauber und an seinen Platz.”
“Es ist wichtig, dass immer alles seinen Platz hat, damit du es sofort findest, wenn du es brauchst und der Ablauf nicht gestört wird.”
“Ach, wenn etwas gerade nicht da ist, kann ich dich ja fragen mein Schatz, du wirst schon wissen, wo es ist.”
“Habe die Küche wie die Werkstatt nach dem gleichen Prinzip sortiert wie im Bergwerk. Wenn du eine Ordnung hast die funktioniert, kannst du damit alles machen.”
“Deine Ordnung, genau, solange du alles weißt, funktioniert es doch wunderbar mein liebster Zwergenschatz”, bei diesen Worten dreht sich die Zwergenmutter Elfriede mit ihrem im Nachthemd wogenden Busen zu ihrem Heinrich und küsste ihn.

“Aber es ist doch die beste aller möglichen Ordnungen, wie lange habe ich daran gefeilt, nicht wahr mein Schatz?”, unterbrach Heinrich den stürmischen Kuss seiner Frau, er fragte sich gerade, ob sie es ernst meinte und seine Prinzipien auch ganz verstanden hatte oder es nur so sagte, um des lieben Friedens willen.
“Natürlich, ich kenne keine bessere, aber ich habe auch nie mit einem anderen Zwerg zusammengelebt als dir und so ist es meine Welt und ich bin glücklich darin - was braucht es mehr?”
“Habe gehört wie mein Bruder Friedrich sich heute mit Vater unterhielt und ihm seine neue Ordnung erklärte und so begeistert wie Vater war, vermute ich er hat wieder viel von Vater übernommen, um sich Liebkind zu machen.”
“Ach weißt du, soll er doch, sie sehen sich ja nur bei den Festen und sonst hat Vater ja deine Ordnung ganz akzeptiert.”
“So scheint es euch, er gibt sich immer so gelassen und weise, aber heimlich macht er glaube ich Witze mit Mutter und denkt immer noch seine Ordnung wäre viel besser gewesen. Neulich hat er zwei Schraubendreher und vier Muttern nach seiner Ordnung weggeräumt - zum Glück habe ich es noch schnell bemerkt. Nicht auszudenken, wenn das Überhand nimmt und hier jeder nach seiner Ordnung sortiert, da findet doch keiner mehr was und am Ende herrscht völliges Chaos.”
“Ach, er ist schon alt, war bestimmt keine böse Absicht, er wird es nur vergessen haben, lass uns schlafen mein Liebster und nimm mich in den Arm.”

Die beiden kuschelten sich wie Löffel in der Besteckschublade aneinander, wie sie es jede Nacht taten, einmal hatte sie als ihr Bauch mit den Zwillingen so schwer war, auf dem Rücken liegen wollen, was er auch verstanden hatte, er war ja ein sehr fürsorglicher Gatte, aber am nächsten Tag war er völlig unruhig und sie hätten sich beinahe gestritten. Zum Glück war sie dann auf die Idee gekommen, er könne doch die Bibliothek nach seiner Ordnung neu sortieren und das hatte ihn wieder völlig beruhigt und danach schliefen sie nur noch so, wie sie es gewohnt waren und es war gut so. Doch heute Nacht war Heinrich unruhig, die neue Ordnung seines Bruders, glich der des Vaters und war, soweit er es hören konnte, er wollte ja nicht lauschen, sehr effektiv. Friedrich behauptete sie hätte ihn im Bergwerk und in seiner Werkstatt schon so viele Stunden gespart, dass er jeden Abend vor dem Kamin sitzen könnte mit seiner Pfeife und lesen könnte.

“Bestimmt kümmert sich Friedrich nicht groß um seine Ordnung, er war da ja früher schon sehr locker.”
“Aber es war doch alles sehr ordentlich bei ihnen, als wir neulich da waren.”
“Meinst du seine Kinder hätten die Ordnung verstanden?”
“Es schien alles ganz einfach, ja, sie halfen einfach mit, da muss ich bei unseren schon manchmal mehr aufpassen, damit sie in der richtigen Ordnung bleiben.”
“Du meinst seine Ordnung ist einfacher?”
“Genau, sie ist einfacher und deine geniale Ordnung ist eben sehr komplex. Da brauchen die Kinder halt etwas länger.”
“Willst du damit sagen, seine sei effektiver?”
“Aber nein, du hast doch bestimmt die beste aller möglichen erdacht, nur für Kinder ist seine vielleicht einfacher.”
“Was einfach ist und funktioniert, ist gut. Wenn er wirklich zwei Pfeifen raucht und ein Buch am Abend lesen kann, hat er vielmehr Zeit als ich.”
“Er hat ja auch noch weniger Kinder als du und nicht so eine verantwortungsvolle Aufgabe in seinem Bergwerk.”
“Zwar ist seines etwas kleiner als meines, seine Werkstatt nicht so groß und reich ausgestattet, aber er muss doch die gleiche Arbeit verrichten und für Ordnung bei allem Werkzeug sorgen.”
“Vielleicht arbeiten sie bei ihm nicht so hart und er muss nicht so viele Werkzeuge reparieren wie du mein Schatz, lass es gut sein und lass uns schlafen, morgen wird ein langer Tag und wenn alle abgereist sind, müssen wir ja auch wieder aufräumen.”
“Ob ich auch mehr Zeit zum Lesen hätte, wenn ich seiner Ordnung folgte?”
“Aber du hast doch deine und alles ist gut. Wir werden doch jetzt mitten in der Nacht nichts ändern, sonst schläfst du wieder so unruhig.”
“Grüble nur, ob ich wirklich die bestmögliche Ordnung habe, wenn seine soviel effektiver ist und er mehr Zeit zum Lesen hat.”
“Ach mein Schatz, grüble nicht so viel, deine ist für dich am besten und seine für ihn und dann seit ihr beide mit eurer je Ordnung glücklich.”

Da richtete sich Heinrich der Zwerg auf, stemmte die Hände in die Seiten und war empört.

“Aber eine gute Ordnung ist doch keine reine Geschmacksfrage sondern immer etwas objektives. Wie gut eine Ordnung ist, bemisst sich am Grad ihrer Effektivität. Unsere Kinder müssen immer wieder erinnert und ermahnt werden, weil sie die Ordnung nicht verinnerlicht haben. Wenn seine besser ist, muss ich alles ändern.”
“Aber doch nicht jetzt, weit nach Mitternacht, lass uns Schlafen, Wir brauchen Ruhe und Erholung und wir können doch auch Morgen nochmal darüber reden, wenn du möchtest, ich finde alles ganz wunderbar so und bin glücklich mit dir”, redete Elfriede auf ihn ein, streichelte ihn zärtlich und hoffte, er beruhigte sich wieder.
“Wenn es um die Ordnung geht, ist jede Zeit recht und das ist etwas ganz grundlegendes. Eine Ordnung muss so effektiv wie vernünftig sein.”
“Eine Ordnung muss zu dem Zwerg passen, der sie entwirft, deine Ordnung passt zu dir, sie ist perfekt für uns, alle sind glücklich und gerne hier. Nun sind wir beide müde und sollten schlafen.”

Der Zwerg sprang auf und war empört. Wenn seine Ordnung nicht so effektiv war, wie die seines Bruders und dieser mehr Zeit hatte, seine Pfeifen zu rauchen und Bücher zu lesen und dennoch alles in Ordnung bei ihm war, dann machte er etwas falsch, musste das System überdenken und einen neuen Plan entwerfen. Alles hing an der richtigen Ordnung für das Leben einer Zwergenfamilie, wie sollte er seine Kinder noch erziehen, wie ein Vorbild sein, wenn sein kleiner Bruder die effektivere Ordnung hatte und sogar noch Zeit übrig hatte

“Sollte seine Ordnung wirklich objektiv besser sein, muss ich morgen das ganze Haus umstellen und auch für die Werkstatt im Bergwerk neu planen.”
“Du musst überhaupt nichts, wenn alle glücklich sind, ist doch gut. Nur schlafen musst du jetzt, damit du genug Kraft tankst für deine harte Woche.”
“Doch, muss ich, wenn sich ein System als überholt erweist, wie das meines Vaters, muss es geändert werden, damit die Abläufe effektiver werden und es wieder perfekt funktioniert und offensichtlich ist seine Ordnung besser als meine.”
“Du kannst ja morgen mal mit ihm reden oder mit Vater, dann kannst du weitersehen, ob es dich überzeugt oder du einen Fehler darin entdeckst, der deine Ordnung doch besser, effektiver und auf Dauer sicherer macht.

Es gefiel ihm nicht, aber scheinbar war nichts zu ändern - er konnte weder in seine Werkstatt, noch an den Schreibtisch, weil überall Geschwister schliefen und so ließ er es auf sich beruhen, kuschelte sich an seine Elfriede und schlief irgendwann ein, aber es wurde eine sehr unruhige Nacht und der Zwergin schwante schlimmstes nach dem Erwachen. Heinrich tigerte durch die Bibliothek und suchte Bände, die nicht dort standen, wo er es erwartete, was ihn noch nervöser machte.

“Was ist denn los mein Schatz? Du bist ja schon wieder ganz unruhig.”
“Die neue Ordnung, ich habe die ganze Nacht darüber nachgedacht.”
“Bist du auf etwas gekommen?”
“Nein, darum suche ich nun den passenden Band zu den Systemen aber er steht nicht da, wo er hingehört.”
“Du hast doch gerade die Bibliothek umsortiert”, erinnerte sie ihn und hoffte, er hätte es einfach vergessen.
“Natürlich, weiß ich doch, darum wundere ich mich ja.”
“Vermutlich haben die Kinder oder deine Brüder was nachgelesen und deine Ordnung noch nicht verstanden.”
“Aber die ist doch selbst erklärend - es hängen doch auch überall Schilder dazu.”
“Die du nächtelang gemalt hast, während dein Bruder lieber las und Pfeife schmauchte.”

Er war fleißiger, schon immer und sein System war genial, er hatte alles bedacht und wusste auf jede Frage eine Antwort. Wer es einmal verinnerlicht hatte, würde es nie vergessen und nie mehr in die Gefahr der Unordnung geraten. Sie schien ihm die vernünftigste und beste aller Ordnungen.

“Wenn die Ordnung gut wäre, würde sie jeder verstehen und nichts verschwinden.”
“Vielleicht hat es sich einer über Nacht ausgeliehen, um etwas nachzulesen. Es wird sich schon finden. Oder die Kinder haben damit irgendwas gemacht.”
“Hoffentlich hast du Recht, ich zweifle langsam an jeder Ordnung hier -  die Kinder verstehen es nicht von allein, ich bin nächtelang beschäftigt, es für jeden verständlich als beste aller Ordnungen zu erklären und dann verschwinden bei mir Bücher und ich weiß nicht wohin - es müsste dort ein Reiter für das Buch stehen, auf dem derjenige, der es entlieh, schrieb wofür und bis wann, damit jeder weiß, welches Buch sich gerade wo befindet.”
“Das spricht doch sehr für die Kinder, sie können doch noch nicht alle lesen.”
“Was brauchen sie dann einen dicken Band zur Ordnungsphilosophie und Logistik?”
“Nicht zum Lesen vermutlich, sie werden damit gespielt haben.”

Hoffentlich war es so, dachte er und der Band tauchte wieder auf - nicht auszudenken, wenn ein so wichtiges Buch während eines Familienfestes einfach verschwand. Nervös tigerte er noch ein wenig durch die Bibliothek, während seine Frau, die sich angezogen hatte, ihm den Rücken streichelte, um ihn zu beruhigen. Da plötzlich klopfte es an der Tür.

“Herein und guten Morgen”, rief Heinrich, denn Höflichkeit am Morgen ist erstes Gebot der fleißigen und ordentlichen Zwerge. Jeder Gast musste sich so wohl fühlen, dass er am liebsten noch bliebe.
“Guten Morgen mein Junge”, begrüßte ihn sein Vater, “wollte den Band zurückbringen, den ich gestern Nacht entlieh und dachte, ich mach es lieber sofort, bevor du noch unruhig wirst.”
“Du warst das”, platzte es ein wenig empört und zugleich auch erleichtert aus ihm heraus, weil nun alles wieder in Ordnung schien, “warum hast du keinen Reiter ausgefüllt, du kannst das Buch gerne so lange lesen, wie du möchtest, weiß nur immer gerne, wo die Dinge sind.”
“Weil ich keinen Stift bei mir hatte und die Kinder sich den Stift für irgendein Spiel geliehen hatten. Danke, ich brauche es nicht mehr, habe schon alles gelesen, was ich wissen wollte.”
“Du beschäftigst dich mit der Systematik der Ordnungen?”
“Denke manchmal noch gerne über die Welt und ihre Ordnung nach, auch wenn ich nichts mehr ordnen muss, weil ja hier nun deine Ordnung gilt.”

Der Vater spürte die Unruhe seines Sohnes und war ihm darum weit entgegen gekommen, damit keine unnötige Spannung entstand. Er hatte gesehen wie sein Sohn das Gespräch von Friedrich und ihm beobachtet hatte über dessen neue Ordnung.

“Hast du was spezielles gesucht?”
“Habe über Friedrichs Ordnung nachgedacht, die er mir begeistert geschildert hat, die angeblich so effektiv ist.”
“Ist sie es denn?”
“Wollte systematische Fehler prüfen, du weißt ja dein Bruder ist manchmal sehr leichtfertig.”
“Oh ja”, stimmte Heinrich ganz erleichtert zu, “kam mir auch schon komisch vor.”
“Ach, hast du uns zugehört?”
“Natürlich nicht”, versicherte Heinrich leicht errötend, “konnte nur einige Brocken nicht überhören, er erzählt ja schon lange davon - naja, typisch Friedrich, viel erzählen und dann bleibt am Ende nur heiße Luft.”
“Hab ich auch gedacht, darum wollte ich es überprüfen.”
“Und, alles wie immer?”, grinste Heinrich seinen Vater an, vermutlich hatte sein Bruder nur  aufgeschnitten, er hatte sich umsonst Sorgen gemacht.

“Hab noch keinen Fehler entdeckt. Er ging von meinem System aus, hat es überholt und auf eine neue Art angepasst. Er nennt es intuitive Ordnung nach der Natur.”
“Und was sagen unsere Philosophen dazu?”
“Nichts leider, es scheint neu zu sein. Wenn es wirklich funktioniert, wäre es eine Revolution.”
“War ich doch nicht umsonst so unruhig heute Nacht”, sagte sehr leise ein blasser werdender Heinrich.
“Ach mein Schatz, mach dich doch nicht darum verrückt - wenn es gut ist, wird es sich durchsetzen und sonst bleibt hier immer deine Ordnung die beste der Welt wie ich deine Frau bin”, streichelte ihm Elfriede beruhigend den Rücken.
“Aber intuitiv kann nicht vernünftig sein, dass wäre gegen jede Ordnung.”
“Dachte ich auch, aber noch habe ich keinen Fehler gefunden, außer dass es eben nicht sonderlich vernünftig klingt, nur effektiv und perfekt funktioniert, jeder es sofort begreift und er sich um immer weniger kümmern muss.”
“Ach ihr Zwergenmänner und eure geliebte Ordnung, als wäre sie das ganze Glück im Leben - lasst uns erstmal ein tüchtiges Frühstück zubereiten, damit sich die ganze Verwandtschaft gestärkt auf die Wanderung nach Hause machen kann, dann schaffen wir hier wieder deine Ordnung und alles ist gut - mach doch bitte die Eier Heinrich, da bist du perfekt, niemand macht so gute Eier wie du.”
“Du siehst Vater, vorbei die schöne Zeit des philosophierens, die Arbeit ruft und heute müssen auch die Männer an den Herd”, lachte Heinrich seinen Vater an, der ihm auf die Schulter klopfte und im Weggehen seiner Schwiegertochter zu zwinkerte - sehr gut, wie sie ihren Mann einband und ablenkte, nicht auszudenken, wenn er keine Ordnung gefunden hätte.

Am Abend, als die Kinder wieder in ihrem Betten waren und die ganze Zwergenhöhle perfekt aufgeräumt war, saßen Heinrich und Elfriede noch mit den Eltern vorm Kamin in der Bibliothek. Sie tranken einen feinen Beerenwein, rauchten ihre Pfeifen und freuten sich, was für ein schönes und harmonisches Familienfest es wieder gewesen war.

“Wunderbar Heinrich, du bist ein großartiger Gastgeber mein Sohn, alle haben sich so wohl gefühlt und schon im Frühling zur Tag und Nachtgleiche wollen wir uns wieder sehen”, begann der Vater, der die Unruhe des Sohnes spürte, so versöhnlich wie möglich.
“Aber ohne seine Elfriede, wäre das alles nicht so köstlich, du übertriffst alles, was ich je in der Welt der Zwergenküche kosten durfte”, schloss sich die Schwiegermutter dankbar an und streichelte ihr die roten Wangen.
“Es ist deine wunderbare Höhle, die der ganzen Familie Platz bietet und in der sich alle so wohl fühlen, als seien sie hier zuhause”, lobte nun Elfriede ihren Schwiegervater voller Dankbarkeit einerseits und ein wenig besorgt doch um Heinrichs Stimmung.
“Ohne euch wäre all dies unmöglich und das wisst ihr, ich bin euch unendlich dankbar - gerade jetzt, wo wir zur guten Ordnung zurückkehrten”, dankte Heinrich der noch versammelten Familie, wie es die Form gebietet, doch der halbe Nachsatz zeigte an, was wirklich in ihm kochte.
“Nach so einem großen Fest ist doch immer eine Menge zu tun”, merkte die Mutter an und sah mitleidig auf ihre etwas erschöpfte Schwiegertochter.
“Aber das machen wir doch so gerne und genießen es - bald helfen auch die Kinder noch mehr”, antwortete die immer fröhliche Elfriede, die bei solchen Festen richtig aufblühte.

“Heinrich, was ist mir dir? Deine Eltern haben keinen Beerenwein mehr, schenk doch bitte nach”, weckte seine Gattin den grübelnden Zwerg aus seinen Gedanken.
“Entschuldigt meine Lieben, wie nachlässig von mir”, er sprang auf und versorgte alle Anwesenden, einschließlich seiner Frau und sich selbst mit reichlich des guten Beerenweins. Elfriede bekam noch einen galanten Kuss und die Welt schien in bester Ordnung, so lange Heinrich nicht zum Nachdenken kam und den Geboten der Gastfreundschaft und Höflichkeit unter Zwergen genügte. Kaum eines der Völker, die unter der Erde lebten, war so höflich wie die Zwerge, wenn auch ihr pedantischer Ordnungssinn manchmal Außenstehende erstaunte und verwirrte. Doch in der Gastfreundschaft glich ihnen keiner im großen Wald. In Elfriedes Küche hing ein altes Leinentuch, in das die Inschrift gestickt war, 5 sind geladen 10 sind gekommen, gieß Wasser zur Suppe. heiß alle willkommen und danach lebte sie als die Frau dieser Höhle.

“Was grübelst du mein bester Sohn, es ist doch alles in Ordnung, sogar dein unordentlicher Vater hat alle Bücher wieder zurück gebracht.”
“Ach darum doch nicht, meine Bibliothek ist deine Bibliothek. Es war ein wunderschönes Fest, ich danke euch sehr.”
“Mit dir war es so schön und weil du so ein liebevoller Gastgeber bist”, unterstützte Elfriede den Vater und wollte schnell wieder von dem problematischen Thema ablenken.
“Nur durch die wunderbare Frau an meiner Seite, kann ich das sein mein Schatz”, strahlte Heinrich seine Frau an und küsste ihre kleinen dicken Hände.
“Was haben wir für ein Glück miteinander”, nahm Elfriede den Faden gerne auf.
“Dann ist doch alles in bester Ordnung”, unterstützte sie die Schwiegermutter, die sich auch Sorgen um ihren Sohn machte.

“In Ordnung ist alles wieder hier, ja, es glänzt und jedes Ding ist an seinem Platz. Alles nach Plan und vernünftig und das ist auch gut so”, begann Heinrich versöhnlich und doch hörte, wer ihn kannte auch seinen Trotz heraus.
“Ja, wie immer, nach deiner besten Ordnung, mach dir keine Gedanken um deinen Bruder, ich verstehe auch nicht, wie er das macht, auch wenn es gut klang”, traf der Vater genau den Punkt der Heinrich umtrieb.
“Ach was interessiert uns Friedrich, der war ja schon immer sehr eigen, sein wir froh, dass er es trotzdem zu was gebracht hat”, wollte die Mutter abwimmeln und Elfriede schaute sie dankbar an.
“Er hat mehr Zeit als ich, seine Kinder verstehen sein System und auch im Bergwerk funktioniert es fließend, dabei kann er nicht mal vernünftig erklären wieso”, ließ sich Heinrich nicht von dem Gedanken abbringen, der ihn umtrieb.
“Er verlässt sich auf die Intuition, als wäre es unsere Natur, er hat es schon durchdacht, nur hat er keinen Plan für jede Situation”, entgegnet vorsichtig der Zwergenvater.
“Es ist nicht vernünftig und gefährlich, so planlos vorzugehen. Im nu ist alles in Unordnung und dann?”, erregte sich Heinrich immer mehr.
“Wird er seinen Bruder mit der besten Ordnung der Welt um Hilfe bitten und alles ist wieder so, wie es sein soll”, versuchte Elfriede ganz liebevoll die Situation zu retten.
“Natürlich helfe ich ihm dann gerne”, nahm Heinrich die Einladung seiner Frau an, “ aber ich verstehe nicht, warum es überhaupt funktioniert und er so etwas unvernünftiges riskiert.”
“Nicht alles, was funktioniert ist auch vernünftig mein Sohn”, ergänzte besorgt die Mutter.
“Ach und was soll nicht nach der Natur vernünftig sein?”, fragte empört Heinrich, der sich nicht einfach ablenken lassen wollte.
“Na schau dir die Liebe zu deiner Frau an, ist die vernünftig?”, fragte lächelnd die Mutter.
“Ja, sehr vernünftig, sie ist meine Frau, wunderschön und kugelrund, die beste Köchin im ganzen Wald und die Mutter unserer Kinder - es ist sehr vernünftig, dass ich sie geheiratet habe und bei ihr bleibe.”
“Natürlich ist das vernünftig. Aber die Liebe bleibt trotzdem nur ein Gefühl, die wird nicht vernünftig, auch wenn die Umstände die allerbesten sind”, widersprach ihm die Mutter.

“Verstehe, was er meint, ihn stört es, sich auf die Intuition zu verlassen. Sie kann nicht geplant werden und scheint darum voller Risiken”, lenkte der Vater wieder zurück aufs Thema, was den Damen gar nicht gefiel, die ihn streng ansahen.
“Genau, es geht um das unkalkulierbare Risiko. Eine Ordnung ohne vernünftigen Plan für jede denkbare Situation ist gefährlich, kann funktionieren aber genauso gut auch schief gehen - zum Glück geht es uns dank einer wohl durchdachten Ordnung so gut und wir können dem Chaoten Friedrich dann helfen, wenn er mal wieder in Not ist. Kein Zwerg kann auf Dauer jeden Abend drei Pfeifen vor dem Kamin rauchen, ein Buch lesen und dennoch alles in Ordnung halten.”
“Im Augenblick schafft er es und wenn sich seine Idee durchsetzt, könnte sie manch gutes bewegen”, widersprach der Vater vorsichtig, “warum sollten wir nicht weniger arbeiten dürfen, wenn der Plan so gut ist, es zu ermöglichen?”
“Weil alles in der Natur seine vernünftige Ordnung hat und einen klaren Plan braucht”, widersprach ihm der Sohn.

Da stand Elfriede auf, die das Gefühl hatte, sie müsste jetzt dringend etwas tun, um die gute Stimmung zu retten, ging zu ihrem Mann, umarmte ihn und küsste ihn auf den Mund, damit er sich nicht wieder in seine Unruhe hineinsteigerte und sie zumindest diesmal eine gute Nacht hätten.

“Also ich liebe dich völlig unvernünftig und freue mich bald mit dir wieder in unserem weichen Bett zu kuscheln”, sagte sie, während sie ihn zärtlich streichelte.
“Darauf freue ich mich auch und finde das sehr vernünftig, es ist ja auch ganz natürlich bei so einer wunderschönen kugelrunden Zwergenfrau”, lachte Friedrich sie an.
“Dann wollen wir auch nicht länger stören und lassen euch zwei mal die Nacht genießen”, unterstützte die Mutter ihre Schwiegertochter in der Hoffnung so das anstrengende Thema hinter sich zu lassen, bei dem so viel Unfrieden drohte. Friedrich war schon immer etwas chaotisch gewesen, hatte mal geniale Ideen, wie ein Künstler aber schaffte ungern fleißig nach Plan, wie es in der Natur der Zwerge doch sonst lag. Manchmal hatte sie sich schon gefragt, ob der so ganz echt wäre. Fast benahm er sich wie ein Troll dann und wann, freute sich am Chaos, dass er stiftete.

“Wenn ich nur das noch zum Abschluss sagen darf”, fing der Vater schon wieder an und ignorierte die Blicke der Frauen, die ihn anblitzten, “Friedrich war früher chaotisch, aber er hat sich geändert, sein Plan zielt auf beste Zwergenordnung. Er nutzt nur die intuitive Kraft der Natur, statt eine Ordnung gegen sie aufzustellen.”
“Jede Ordnung muss gegen die Natur erkämpft werden”, wiederholte Heinrich das alte Zwergengesetz.
“Ja, so haben wir es gelernt zu allen Zeiten. Aber glaubst du nicht auch, dass die Natur eine Ordnung hat?”
“In sich vielleicht aber schau dir die Unordnung im Wald an, wenn es hier so aussähe, wäre ich aber ein schlechter Zwerg.”
“Aber auch bei Heinrich war doch alles sehr ordentlich letztes mal und er hat alles sehr ordentlich hier hinterlassen”, versuchte Elfriede zu beruhigen und erreichte genau das Gegenteil damit.
“Ob das nicht eher seine Frau war, lassen wir mal offen. Aber wenn es sein System ist, verstehe ich es noch weniger, wie kann einer ohne Plan Ordnung halten?”, fragte Heinrich und schaute ratlos in die Runde.

“Er hat doch einen Plan, nur leider ist dieser eben ganz anders als deiner, er ist einfach genial, er nutzt die Ordnung in der Natur und die in uns, um es sich selbst zur Ordnung finden zu lassen”, begann der Vater, der dem etwas chaotischen Friedrich nicht ganz traute, ihn aber auch bewunderte und das System scheinbar verstanden hatte.
“Das ist doch kein Plan sondern das Gegenteil davon, er nimmt das Chaos und nennt es Ordnung und fertig ist der Spuk. Kann nur solange gut gehen, wie nichts Unvorhergesehenes eintritt”, erregte sich Heinrich immer mehr und fuhr sich fahrig durch den Bart.
“Nach alter Zwergenlehre ist das kein Plan, da hast du schon Recht mein Sohn. Aber es funktioniert und nutzt die Kräfte in der Natur, statt gegen sie zu kämpfen, mir scheint das nicht unvernünftig. Vielleicht müssen wir neu über Pläne nachdenken”, konterte der Vater und provozierte seinen Sohn, der all seine Pläne über den Haufen geworfen hatte, als er sein Erbe antrat, wenn er sie auch durch neue, sehr durchdachte und der Zwergenordnung entsprechende ersetzte und so war das eben mit der jüngeren Generation und hatte er einst genauso gemacht.

“Kann ein Plan vernünftig sein, der nicht durchdacht ist und nur nutzt, was da ist, statt eine Ordnung zu schaffen, die über den Dingen liegt, wie es uns Zwergen nach alter Sitte entspricht?”, fragte Heinrich schon sehr altväterlich in die Runde.
“Der Plan ist sehr wohl durchdacht. Sicher entspricht es seiner Faulheit, dem Plan die Natur zugrunde zu legen, um möglichst wenig tun zu müssen. Aber es scheint zu funktionieren, es ist sehr effektiv, sein Bergwerk ist sehr zufrieden, er soll befördert werden und der Direktor will ihn mit zum großen Zwergentag nehmen, damit der neue Plan der Öffentlichkeit vorgestellt wird”, widersprach der Vater dem Sohn gerade mit Freude lächelnd.
“Dann kriegt er wohl noch den großen Verdienstorden dafür, dass er mal wieder Chaos stiftet und sein großer Bruder ihn retten darf.”
“Dafür vermutlich nicht. Aber sollte sich seine Idee von Ordnung als tragfähig erweisen, könnt sie unsere Gesellschaft ändern”, provozierte der Vater noch ein wenig.
“Du meinst wir freuen uns künftig am Chaos, werden faul statt immer fleißig und ordentlich, wie es  Zwergenehre seit Generationen gebietet und sind noch stolz darauf?”, empörte sich der Sohn erwartungsgemäß.
“Nein, dein Bruder lebt in guter Ordnung, er nutzt nur Kräfte der Natur, gegen die wir früher kämpften - ist das wirklich unvernünftig?”, reizte er seinen Sohn weiter und wollte ihn zugleich auch nachdenklich machen.

“Wie auch immer, er lebt nach seiner Ordnung, wir nach unserer, die sich mein Mann so genial erdacht hat und alle sind glücklich und feiern schöne Feste, ist doch alles in bester Ordnung in der schönsten aller Welten. Schatz, wollen wir nicht endlich ins Bett gehen? Sonst schlafe ich noch auf deinem Schoss ein”, wollte Elfriede die Diskussion mit ihrer Liebe und ihrer körperlichen Präsenz ganz vernünftig beenden.
“Gerne mein Schatz, aber eins noch, wenn es um die Ordnung im Zwergenreich geht, ist damit nicht zu spaßen und nur weil mein genialer kleiner Bruder mal wieder eine seiner Ideen hat, werden wir nicht unsere gute und vernünftige Ordnung über den Haufen werfen”, wollte Heinrich einen Schlusspunkt setzen.
“Jede neue bessere Ordnung beseitigt die alte Ordnung, als du die Höhle und die Herrschaft übernahmst, hast du meine Ordnung über den Haufen geworfen und deinen Plan dagegen gesetzt. Er ist sehr gut, funktioniert und es geht uns allen gut damit. Auch ich habe mich ohne Widerworte gefügt, wie es Zwergensitte ist, wenn nun dein Bruder eine neue bessere Ordnung hat, wird sie das alt Denken erledigen.”
“Du glaubst doch nicht, dass ich mich je ins Chaos stürze, um drei Pfeifen am Abend zu rauchen und in Ruhe zu lesen?”
“Bestimmt nicht, fleißig wie du schon immer warst, wirst du neue Reichtümer in der gewonnenen Zeit anhäufen, deine Schatzkammer füllen und noch größere Feste feiern und deine ganze Familie wird dich dafür lieben”, gab sich der Vater versöhnlich.
“Das ist doch ein schönes Schlusswort, was auch passiert, mein Sohn wird immer der fleißigste Zwerg sein, großzügige Feste feiern und so wollen wir nach diesem Fest friedlich zur Ruhe gehen”, sprach die Mutter sehr entschieden, wenn auch liebevoll das Schlusswort und die Beteiligten fügten sich, was Heinrich umso leichter fiel, da Elfriede bereits mit ihrer Hand zwischen seine Beine gewandert war, um ihn abzulenken.
“Gute Nacht liebe Eltern, lass uns weiter darüber reden Vater, damit wir einen guten Plan haben, wie es auch kommt.”
“Das werden wir mein Sohn und ich vertraue auf deinen Fleiß.”

Und wenn sie nicht gestorben sind, dann planen sie noch heute.
jens tuengerthal 10.2.2017

Freitag, 10. Februar 2017

KMG 007

Gewissensmärchen

Es war einmal eine sehr alte Frau, die in dem Königreich, in dem sie lebte, als Gewissen der Nation behandelt wurde. Sie hatte die schlimmen Kriege überlebt und noch Verfolgte in dieser Zeit bei sich versteckt, das wenige, was ihr blieb, mit diesen geteilt und wo immer sie konnte, sich für Freiheit und Gerechtigkeit eingesetzt.

Manchmal hatte sie sich dafür auch mit dem König und seinen Beamten gestritten, weil sie nicht hinnehmen wollte, wenn diese Entscheidungen durchsetzten, die gegen ihr Bild von Freiheit und Menschenrechten verstießen. So hatte sie in ihrem langen Leben gegen fast alle Gruppen und Parteien irgendwann einmal gekämpft und sich den Unwillen vieler zugezogen. Dennoch war sie auch alleine mit wechselnden Verbündeten in ihren Überzeugungen immer standhaft geblieben.

Als die Forscher im Reich irgendwann entdeckten, dass von ihnen genetisch verändertes Getreide keinen Dünger und keine Pflanzenschutzmittel mehr brauchte, war die Begeisterung bei allen groß. Sie hatten endlich ein Mittel gegen den Hunger und das viele Gift gefunden, das  auch ein großer Exportschlager werden könnte. Auch die Ökologen, die sonst immer gegen die Gentechnik waren, fanden die Neuzüchtung eine große Bereicherung, weil sie ja die Umwelt schonte. Nur die alte Frau mit ganz wenigen Verbündeten protestierte noch gegen die Aussaat der veränderten Sorte.

Die alte Dame, die schon bestimmt hundert Jahre war, so genau wusste es keiner, sie war jedenfalls nie nicht da gewesen, soweit sich einer erinnern konnte, tauchte schon in den ganz frühen Berichten der Jahrhundertwende auf, als sie gegen den Krieg war, in den doch alle mit wehenden Fahnen und voller Begeisterung zogen. Schon der Großvater  des jetzigen Königs hatte sich mit ihr gestritten. Nun war sie auf das Feld gezogen, auf dem der neue Weizen aus dem Labor ausgesät werden sollte und wollte durch einen Sitzstreik verhindern, dass dort gearbeitet würde.

“Nur über meine Leiche”, hatte sie gesagt und sich auf dem Feld eingerichtet. Sie hatte das so geschickt angestellt, dass die Polizei, wenn sie versuchen würde, sie wegzutragen, ihr Leben gefährdete, was keiner wagen konnte. Auch ihr Platz war so klug ausgewählt, dass an keiner Stelle mit der Arbeit begonnen werden konnte, ohne zu riskieren die Alte zu töten. Die Anlage, an der sie nun hing, war so gebaut, dass wer das Feld betrat, ihren Tod verursachen könnte. Sie ließ das über das Netz verbreiten.

Sie hatten zunächst versucht, mit ihr zu verhandeln, aber die alte Dame blieb in ihrem Zelt, zu dem die Kabel führten und ließ sich nicht davon überzeugen, dass doch diesmal alle Parteien und Gruppen dafür wären, diese große Chance zu nutzen. Sie folge ihrem Gewissen und könne in Verantwortung für die folgenden Generationen dies nie zulassen.

Die Beamten hatten ihr gesagt, auch die ganz große Mehrheit des Volkes sei dafür und sie stelle sich damit gegen die Demokratie und deren Freiheit zu entscheiden, was gut für sie sei, auch wenn es natürlich ein königlicher Beschluss wäre, sei dieser doch klar von einer Mehrheit getragen, die sie nun mit ihrer Meinung vor den Kopf stoße. Doch die Alte blieb unnachgiebig und da jeder Tag Verzögerung viel Geld kostete, die Zeit der Aussaat bald vorbei wäre, musste nun gehandelt werden.

Der König war verärgert, weil er ihren Protest nach der langen Vorarbeit und der Beteiligung auch der Umweltgruppen, die es gut hießen, nicht verstehen konnte.

“Lasst das Feld räumen”, wies er seinen Innenminister an, “ es gibt dazu ein Gerichtsurteil, dem muss auch diese Dame folgen.”
“Würden wir ja, aber wenn wir es tun, töten wir sie damit vermutlich.”
“Das kann doch nicht sein.”
“Doch, sie hat ein fast unsichtbares Netz auslegen lassen und jeder, der sich ihr nähert, läuft Gefahr, einen der Drähte zu berühren und damit einen Stromschlag auszulösen, der sie tötet.”
“Habt ihr an einen Hubschrauber gedacht.”
“Natürlich, aber das Risiko, dass seine Rotoren den Kontakt auslösen durch die starke Luftbewegung ist zu hoch.”
“Können wir ihr nicht einfach den Strom abstellen?”
“Es gibt keine Stromleitung. Sie scheint autark zu sein. Der Geheimdienst beobachtet es genau, aber es hat noch keiner eine Lösung gefunden.”
“Wenn alle meine Ingenieure nicht weiter wissen, muss ich nicht lange grübeln - ist mit ihr zu reden?”
“Sie kann schreiben und Nachrichten empfangen und vielleicht auch telefonieren - wir konnten sie noch nicht richtig orten und wissen nicht, wie sie es macht.”
“Eine über hundertjährige Alte trickst den modernsten Geheimdienst aus. Unglaublich - sagt ihr, ich möchte mit ihr reden, wie es schon mein Vater und mein Großvater taten. Ziehe den Befehl zur Räumung zurück. Wir dürfen da nichts riskieren, sie ist das Gewissen der Nation, es würde uns und dem Experiment ewig anhängen und ich will ihr ja auch nicht schaden.”
“Wir werden ihr diese Nachricht zukommen lassen.”
“Sagen sie ihr, wenn sie bereit ist, zu mir zu kommen, garantiere ich ihre Freiheit und lasse sie, wenn wir uns nicht einigen, wieder zurück. Damit sie es glaubt, kann dies auch als Dekret veröffentlicht werden.”
“Wir werden es umgehend so machen, schicke ihnen den Entwurf zur Unterzeichnung und dann geht er an sie und alle Medien.”

Auf das öffentliche Versprechen hin, erklärte sich die Dame zum Gespräch mit dem König bereit. Sie verließ ihr Zelt inmitten des Feldes, das von Polizei, Neugierigen und Kameras umstellt war und ging ganz langsam, ihrem hohen Alter geschuldet zum Rand des Ackers, wo ein königlicher Beamter mit einem Rollstuhl auf sie wartete, der sie zum Wagen ihrer Majestät rollte und in den königlichen Palast fuhr.

Der Innenminister hatte nochmal gefragt, ob sie die Zeit ihrer Abwesenheit nicht nutzen sollten zumindest die Anlage zu erforschen, um ihren späteren Tod zu verhindern, es sei  dann ja nur eine kleine Lüge zur Rettung eines Menschenlebens. Doch der König verbat all diese Ideen, wenn er ihr sein Wort gab, dann hielt er es auch, so gerne er das Problem einfach gelöst hätte, was den Staat und die Forschung so viel Geld kostete. Die Menschen müssen dem königlichen Ehrenwort vertrauen können.

“Entweder ich überzeuge sie im Gespräch oder wir müssen weiter verhandeln”, wies er den Minister an, bevor die alte Dame erschien.

“Ehrwürdige königliche Hoheit”, begann die Alte und verbeugte sich so tief, dass der König Sorge hatte, sie würde nie wieder nach oben finden.
“Bitte, sparen wir uns alle Formalitäten, mein Vater brachte mir bei, ältere Menschen zu ehren und so wäre es wenn an mir, mich vor ihnen als Gewissen der Nation zu verbeugen.”
“Ja, ja, ihr Vater, erinnere mich noch an ihn als jungen Mann.”
“Sie kannten ja angeblich noch Großvater auf dem Thron.”
“Und dessen Vater, ja, ja, habe mich mit allen gestritten, wenn nötig.”
“Sie haben immer die Freiheit und ihre Überzeugung verteidigt, darum werden sie ja auch heute so verehrt. Doch diesmal scheint es sehr einsam, um sie geworden zu sein.”
“Bin nicht allein, aber wir sind sehr wenige, ist wohl so, was nichts an unserer Überzeugung mindert, im Gegenteil”, sagte die alte Dame fest und kämpferisch.

“Kann es richtig sein, wenn eine der Mehrheit ihren Willen aufzwingt?”
“Unbedingt, wenn die Mehrheit blind ist und das Risiko nicht sieht. Vor dem ersten großen Krieg hat mich ihr Urgroßvater auch ins Gefängnis werfen wollen und die meisten verspotteten mich.”
“Hat es aber nicht getan, so respektiere ich sie auch, warum aber können sie keine andere Sicht akzeptieren?”
“Es war keine Gnade oder Toleranz bei ihrem Urgroßvater sondern eher Herablassung, er machte sich über mich lustig, meinte so eine Politische nähme keiner ernst. Lachte mit der Mehrheit über mich und so machte er mich zum Gespött - arme Irre musste er nicht einsperren. Er gab sich lieber mitleidig.”
“Andere Zeiten - ich habe ihnen mein Wort gegeben, darauf können sie sich verlassen…”
“Ich weiß, sonst wäre ich nicht hier, auch wenn es ein leichtes wäre, mich stolpern zu lassen oder einen Unfall zu haben.”
“Bringen sie mich nicht auf Ideen…”, lachte der König, um die zu angespannte Atmosphäre, etwas zu lockern und auch die ernste Dame musste grinsen.

“Wer sein Gewissen zu Fall bringt, fällt meist mit”, war sie gleich wieder ganz ernst.
“Eben darum wissen sie ja auch, dass ich mein Wort halte und sie mit dem größten Respekt behandle, auch wenn es mir gar nicht gefällt, eine Dame in diesen noch sehr kühlen Nächten allein auf ein Feld zu schicken.”
“Machen sie  sich keine Sorgen, allein bin ich ja nun wirklich nicht und von Einsamkeit kann ich eher nur träumen, so viele junge Männer hatte ich lange nicht mehr um mich”, lachte nun die Alte, eher über sich und die Situation an dem belagerten Feld.
“So hat jede Situation auch ihre Vorteile”, lachte der König mit, froh, dass es nun nicht mehr so verkrampft war.

“Kommende Generationen werden mir noch dankbar sein”, wechselte sie wieder zum ernsten Tonfall der Überzeugungstäterin.
“Der jungen Männer wegen?”, witzelte der König weiter, weil sie so moralisch begann und er es lieber nüchtern klären wollte.
“Auch das, denn wer weiß, worauf sich dieses Zeug alles auswirken wird.”
“Nach allem was wir wissen und jahrelangen Tests im Labor, wirkt es sich auf nichts aus.”
“Wir wissen viel zu wenig, um das beurteilen zu können.”
“Nun, wir kennen den genetischen Code und so wie ich es verstanden habe, bin ja kein Biologe…”
“Nein, hauptberuflich König soweit ich weiß”, machte sie sich etwas lustig über ihn, aber dem König gefiel dieser lockere Ton viel besser als die moralische Anklage.
“Ja, meist.”
“Nicht immer?”
“Es gibt so einiges, was ich ganz privat erledige”, lachte der König sie an.
“Sparen wir uns weitere Details…”

Die Atmosphäre schien ihm gut, war sie noch als moralische Kämpferin zu einem großen Auftritt gekommen, riss sie nun schon Witze und zeigte ihren wachen Geist, der auch mit über hundert nichts an Schärfe eingebüßt hatte.

“Wovor fürchten sie sich, dass sie sich so gegen die Wissenschaft wehren? Es wird doch kein Aberglaube sein?”
“Ach was, Glaube liegt mir nicht so, auch der an die Wissenschaft nicht.”
“Sie meinen, das Getreide könnte lebensgefährliche, hochdramatische Wirkung haben?”, übertrieb er ein wenig, um den Humor nicht zu verlieren.
“Ja, im schlimmsten Fall das und mehr.”
“Was kann ein Weizenfeld der Menschheit antun?”
“Sie kennen den Zauberlehrling?”
“Meinen sie das Gedicht von Goethe? Hat der alte Meister sich doch einmal fortbegeben und nun sollen seine Geister auch nach meinem Willen leben … Und dann verließen sie ihn.”
“Genau das.”
“Wollen sie sagen, wir täten etwas, wovon wir nichts verstehen, nach Jahren der Forschung?”
“Wir wissen nicht, wie sich genetisch veränderte Pflanzen im Kontakt mit der Umwelt verhalten.”
“Aber es ist doch die gleiche Pflanze wie zuvor. Sie ist nur gegen Schädlinge resistent, wächst besser und ist damit fruchtbarer.”
“Darum ist es nicht die gleiche, wir wissen nicht, wie sich die veränderten Pflanzen in der Natur verhalten - wir kennen sie nur ein wenig unter Laborbedingungen.”
“Aber das ist doch bei jedem Medikament so.”
“Die gehen nicht an den genetischen Code sondern an die Symptome von Krankheiten.”

Der König wurde nachdenklich, es stimmte, wir griffen in etwas ein, dass wir bisher nur teilweise kannten. Aber wenn die Gentechnik gefährlich war, warum entdeckten wir dann keinerlei Risiko - was sollte in der Natur anders sein als im Labor, fragte er sich - lag daran nicht ein Zweifel an aller Wissenschaft?

“Wer nicht forscht und probiert, gewinnt keine neuen Erkenntnisse. Den Kampf gegen den Krebs werden wir nur im Wege der Gentechnik gewinnen können.”
“Oder endgültig verlieren, weil unsere Züchtungen so wuchern, dass wir uns nicht mehr zu helfen wissen.”
“Als die Eisenbahn eingeführt wurde, sollten auch Schwangere nie damit fahren und es wurde von vielen Ärzten vor den Gefahren des rasenden Verkehrs gewarnt und ich glaube, sie fuhren damals mit 15km/h.”
“So unrecht hatten sie ja nicht in allem. Aber ich bin nicht fortschrittsfeindlich, ich sehe nur hier ein Risiko, dass wir nicht mehr beherrschen können - wären die Leute in der Bahn gestorben, verrückt geworden oder hätten ihre Kinder verloren, dann hätten wir das Unternehmen wieder gestoppt und alles wäre gut. Ist das genetisch veränderte Erbgut einmal in der Natur, wissen wir nicht, was geschieht.”
“Es geht um ein Feld und danach wissen wir mehr.”
“Ein Feld ist oben und unten belebt, es kommen Bienen und Käfer, Mäuse, Maulwürfe und vieles mehr, was die Natur im Zusammenspiel belebt. Sie würden alle kontaminiert.”
“Ist das nicht ein etwas starkes Wort?”
“Kontamination heißt es, wenn unerwünschte Stoffanteile in die Natur eindringen,  egal was sie bewirken.”
“Unerwünscht ist es ja derzeit nur für sie.”
“Unnatürlich ist es für alle, die Folgen kann keiner absehen und wir mutmaßen nur, was alles passieren kann.”
“Wir wissen schon ziemlich viel und alles, was passieren könnte, wurde vorher getestet ohne Folgen, sonst hätte es ja nie eine Genehmigung gegeben. Die Forscher und Befürworter wie ich leben doch auch in diesem Land und müssen mit den Folgen leben - glauben sie, ich möchte mein Land vergiften?”
“Glaube nicht, dass sie es wollen, aber sie tun es dennoch, weil sie die Folgen nicht absehen können und riskieren zu früh zu viel.”
“Würden sie die Gentechnik generell verbieten?”
“Nur ihren Einsatz in der Natur bevor wir uns über alle Folgen im klaren sind.”
“Die Forschung sagt und es scheint mir glaubwürdig, dass sie alle Gefahren getestet hat und es kein erkennbares Risiko mehr gibt.”
“Das Wort ‘erkennbar’ scheint mir der Schlüssel zum Zauberlehrling, der tat auch alles so, wie er es erkannte und konnte.”

Gab es etwas, was sie nicht erkennen konnten, fragte sich der König und wie hoch war das Risiko dabei - war sie nur überängstlich oder alle anderen leichtsinnig. Es konnte so oder so betrachtet werden und es gab für beide Seiten Argumente. Die Heilung von Krankheiten, die Verhinderung von Hungersnöten, bei gleichzeitiger Schonung der Natur, alles sprach für diese Technik, doch blieb ein kleines dunkles Moment, wo sie nicht wussten, warum sie es ausprobieren mussten und dann natürlich nicht wussten, ob es infolge zur Katastrophe durch Mutanten kam, die weltweite Hungersnöte erst auslösten. Doch hatten sie alles getan, um dies zu verhindern und wenn der Mensch etwas wusste und erkannte, würde er forschen und wenn sie es nicht taten, täten es andere und würden daran verdienen. Die Diskussion zur Sache führte hier wohl erstmal nicht weiter, er hielt das Risiko, dass es bei allem neuen gab, nach Rücksprache mit Experten aus aller Welt für vertretbar, sie aus ihrem Gefühl heraus nicht. Wer durfte für eine Gesellschaft bestimmen, welchen Weg sie ging und warum meinte eine, wenn auch sehr verdiente, Dame, dies allein bestimmen zu dürfen?

“Warum meinen sie das Risiko besser einschätzen zu können als alle Experten?”
“Meine ich gar nicht, bin keine Biologin, so wenig wie sie, sondern Juristin.”
“Aber sie stellen ihren Willen über den der Mehrheit, die es so  will.”
“Kennen sie das als König nicht auch?”
“Berate mich immer mit Experten, um mir eine Meinung zu bilden und lasse auch das Volk  befragen.”
“Aber wenn sie von etwas überzeugt sind, würden sie es auch tun, wenn das Volk dagegen ist, weil es das Risiko nicht sieht?”
“Manchmal muss ich das, aber ich vermeide es nach Möglichkeit. Es ist mir wichtig, alle Meinungen zu hören und einen Konsens zu finden.”
“Könnten sie etwa alle Ausländer töten, wenn die ganz große Mehrheit dies wünschte?”
“Die Todesstrafe ist abgeschafft.  Daran werde ich nichts ändern und zum Glück ist solch eine Mehrheit nicht in Sicht.”
“Das meinte ich nicht, könnten sie etwas gegen ihr Gewissen tun, auch wenn die ganz große Mehrheit es so sieht? Anderes Beispiel -  die ganz große Mehrheit will dieses Projekt auf dem Feld und ist von der störrischen Alten genervt, bestenfalls noch amüsiert. Ließen sie mich in ein Heim bringen und unter Medikamente setzen, weil  ein Psychiater attestierte, ich hätte eine Psychose, weil ich mein Leben für einen Acker riskierte?”
“Sie haben doch mein Ehrenwort.”
“Was bindet sie daran?”
“Mein Gewissen und seit ich es veröffentlicht habe auch die öffentliche Meinung.”
“Und mich zwingt mein Gewissen dazu, alles mir mögliche zu tun, diesen Ackerbau zu verhindern, dessen Folgen wir nicht absehen können.”
“Ihre Meinung gegen die Mehrheit im Staat - auch wenn wir eine Monarchie sind, demokratisch ist das nicht und ich dachte ihnen wäre die Freiheit so wichtig.”
“Die Freiheit wie wir leben ist mir wichtig aber erst nach der zu leben und wenn das gefährdet ist, setze ich Prioritäten und stelle meine Verantwortung über die gerade Meinung der Mehrheit. Habe ich schon immer so gemacht. Vor dem ersten großen Krieg, als mich alle verspotteten oder sogar bespuckten und als Vaterlandsverräterin öffentlich nieder machten. Im nächsten großen Krieg als ich Freunde versteckte, obwohl sie als Feinde und Schädlinge galten in der Diktatur. Gegen die Aufrüstung durch ihren Vater, gegen die Atomkraft, für den Schutz des ungeborenen Lebens …”
“Stimmt, spätestens da hatten sie ihre früheren Verbündeten auch unter den Frauen gegen sich, weil sie streng logisch argumentierten.”
“Diese ‘mein Bauch gehört mir’ Kampagne gehört mir, hat mich sehr aufgeregt, weil sie völlig blind für die biologische Realität war. Entweder ich erlaube jede Euthanasie oder ich behandle Abtreibung wie Mord”, erhob die alte Dame die Stimme und der König erinnerte sich, wie es noch unter der Regierung seines Vaters darüber zum großen Streit kam - er hatte sich auf die Seiten der Frauen gestellt und diese hatten ihn dafür geliebt. War eine freie schöne Zeit damals und sein Vater beriet sich mit den alten Herren und den Pfaffen, die es verhindern wollten, aus Glaubensgründen, aber darum ging es ihr glaubte er damals nicht.

“”Ja, ich erinner mich, da habe ich mich auf die Seite der Frauen und deren Freiheit gestellt, was meinen Vater schließlich dazu brachte, einen Kompromiß zu beschließen, mit dem alle bis jetzt ganz gut leben konnten. Sollten wir nicht auch jetzt einen solchen suchen?”
“Darf es beim Lebensrecht Kompromisse geben - können wir eine halbe Todesstrafe einführen - nach dem Motto, wir hängen aber nur für drei Monate?”
“Aber das ist doch ein unsinniger Vergleich, wer tot ist, ist tot und bleibt es immer.”
“So argumentierte ich damals auch aus Gewissensgründen. Ein abgetriebenes Kind ist tot und wird nicht wieder lebendig, darüber dürfen wir nicht verfügen, es wäre eine Todesstrafe nach dem willkürlichen Urteil der Mütter oder später des Staates mit Beratung und Schein.”
“Der Papst argumentierte wie sie.”
“Hab mit dem nichts zu tun
“Darum haben sich damals auch alle so darüber gewundert, dass sie einer Meinung waren.”
“Waren wir nie, der Papst und Rom lehnen Abtreibung ab, weil sie die Schöpfung schützen wollen an die ich nicht glaube. Behandle nur ungeborenes Leben wie jedes andere auch, weil es Leben ist und die Unterscheidung willkürlich ist.”

Sie kreisten immer mehr um den moralischen Aspekt und er hoffte sie hier für seine Sache zu gewinnen, unabhängig von der je Meinung oder Sorge, weil es doch um die Rettung von Leben ging, was doch über allem stehen sollte.

“Hielten sie dann auch den Selbstmord für strafbar?”
“Im Gegenteil, der Freitod ist Ausdruck unserer Freiheit im Sein. Bin keine gläubige Lebensschützerin, bin auch nicht gegen Sterbehilfe, wenn die Betroffenen frei entscheiden konnten.”
“Sie passen in kein Schema und suchen sich überall Gegner…”
“Suche keine Gegner, nie, ich folge nur konsequent meinem Gewissen. Wollen sie etwa den Suizid bestrafen lassen?”
“Liegt mir fern, wie die Bestrafung der Abtreibung. Als kantianischer Epikuräer, wenn es so was gibt, ist mir die Freiheit dazu wichtig. Solange Kind und Mutter eine Einheit bilden, soll diejenige ihre Freiheit verteidigen dürfen, die zuerst da war, entspricht auch meiner Sicht auf die Natur und das Recht. Nach uns kommt nichts, denke ich und dahin zu gehen, steht uns frei, ist kein Grund zur Trauer sondern zu gelassener Normalität. So ist eben die Natur, warum sollte ich mich darüber aufregen, Leben ist endlich.”

Sie dachte über seine Wort nach und er sah förmlich das Feuerwerk ihrer Gedanken, sich in seinen Augen spiegeln. Sein Argument mit der primären Freiheit dessen, der zuerst da war, gefiel ihr, musste sie zugeben, so fern ihr sonst die Erlaubnis zum Mord immer lag.

“Aber darf die Freiheit der Frau einen Mord genehmigen? Nur damit eine Seite sein kann, wie sie will, darf die andere nicht mehr sein?”
“Konsequent betrachtet, ist ihnen da schwer zu widersprechen. Wann das Sein anfängt eines zu sein und ab wann wir nicht mehr eingreifen dürfen, macht es schwierig. Nur wohin führt solche Konsequenz letztlich?”
“Zu einem Lebensschutz von der Zeugung bis zum Tod. Mord wird mit lebenslänglichem Gefängnis bestraft. Abtreibung ist grausam und damit sicher ein Mord noch dazu gegen jemand, der arglos und damit wehrlos.”
“Was bedeuten würde die betroffenen Frauen müssten sich alleine helfen, es gäbe wieder Engelmacherinnen und viele Todesfälle auch der Mütter - kann das gewollt sein?”
“Aber darf bloßer Pragmatismus über den Lebenswert entscheiden?”
“Nein, sicher nicht, aber jede Entscheidung muss auch pragmatisch funktionieren, sonst hat sie keine Wirkung. An der Konsequenz werden am meisten die Frauen leiden.”
“Am Pragmatismus die ungeborenen Kinder.”

Er wollte nicht zu lange bei dem Thema verweilen, auch wenn es zur Gewissensfrage passte und der Diskurs spannend war. Eigentlich ging es ihm um das Gewissen.

“Haben sie Kinder?”
“Tut das in dieser Frage etwas zur Sache?”
“Es kann das eigene Urteil beeinflussen.”
“Betrachte ich ihre Sicht damals, sollten sie als Mann dazu ohnehin besser schweigen, oder nicht?”
“Doch, genau das will ich auch lieber und es den Frauen überlassen, die sich genug dabei mit ihrem Gewissen quälen, wenn sie es tun.”
“Manche mehr, manche weniger.”
“Ist wohl eine Gewissensfrage und darum so schwer regelbar.”
“Das Gewissen scheint ihnen wichtig zu sein, so oft wie sie es betonen.”

Endlich, nun konnte er zum Thema kommen, was ihn mehr interessierte als die alte Abtreibungsdebatte, die er den Frauen lieber für sich überlassen hätte. Musste sich aus seiner Sicht der Staat nicht einmischen, war für die Betroffenen schwer genug, aber ganz so durfte er das auch nicht öffentlich sagen, weil er ahnte, was dann die Kirche täte, die andererseits doch auch seine Herrschaft als von Gottes Gnaden segnete.

Auf was sonst kommt es bei moralischen Entscheidungen an?”, schaute er sie herausfordernd an.
“Es ist wohl die Grundlage.”
“Aber was ist es und wo sitzt es?”
“Fragen sie einen Neurologen - würde sagen, es ist ein Teil des Bewusstseins, bestimmt, wie wir urteilen sollen. Drängt uns aus mal ethischen, dann moralischen oder meist vermutlich bloß intuitiven Gründen zu einem bestimmten Verhalten.”
“Was motiviert ihr Gewissen, sich gegen die Gentechnik zu stellen?”
“Tue ich nicht.”
“Dann gegen deren Anbau im Freien…”
“Schwer zu sagen, es ist eine Mischung aus einer Verantwortungsethik im Bewusstsein des unbekannten Risikos, folgt dem Gefühl, es sei unmoralisch, etwas anzufangen, dessen Folgen ich nicht absehen kann und einer tiefen Intuition, die mir sagt, lasst die Finger davon, ihr habt keine Ahnung und es ist viel zu gefährlich.”
“Wenn die Intuition sich gegen die Mehrheit und die vernünftig belegte Meinung der Wissenschaft richtet, die auf die Rettung von Millionen Menschen aus ist, darf sie dann ein Maßstab sein - Gefühl gegen die Vernunft eines humanistischen Ziels? Was ist nach dem Gewissen mehr wert?”
“Das hab ich befürchtet, dass sie genau das irgendwann fragen werden. Die Wissenschaft hat Beweise für das, was sie tut und will, soweit es ihr möglich ist und ich habe nur vernünftige Zweifel am Wissen und sonst ein ungutes Gefühl.”

Der König lächelte, er würde nun abwarten, musste sie kommen lassen, damit sie alleine auf das dünne Eis ginge und er ihr die rettende Hand entgegenstrecken konnte, wenn es nötig war. Einen Moment herrschte Schweigen und er genoss dies, weil er wusste, wie die Spannung in ihr stieg, wenn er dazu nichts sagte, sich nicht auf ihre offene Flanke stürzte, sondern ihr die Freiheit ließ, selbst weiter aus der Deckung zu kommen.

“Wollen sie gar nichts dazu sagen?”, fragte sie sichtlich nervös von der Stille, in der sie sich scheinbar zum Abschuß frei für ihn geboten hatte und er nichts tat, als zu lächeln und er sagte nichts sondern schüttelte nur den Kopf und lächelte.
“Es ist eine Intuition, stimmt schon, ein tiefes Gefühl, aber es gibt doch gute Gründe an der Wissenschaft zu zweifeln. Was hat sie nicht schon alles angerichtet. Denken sie an die Atomkraft -”, sie pausierte und hoffte seinen dialektischen Instinkt zu wecken, aber er schwieg und lächelte, würde weiter lächeln, sie ahnte es, bis sie sich beim alleinigen reden und der Beantwortung seiner Frage in solche Widersprüche verwickelte, dass sie seine Hand zur Rettung annehmen musste. Der Gedanke gefiel ihr überhaupt nicht und sie wollte kämpfen, für ihre Intuition und mit all ihrer Vernunft und ihren Worten für die gute Sache.

“Wenn die Intuition eine Gefahr sieht, die viel größer ist als jede Chance, darf sie dann schweigen, nur weil die Mehrheit den Mördern zujubelt und die Gefahr nicht erkennt?”, versuchte sie es, sah ihn an, lächelte und er lächelte weiter und schwieg. Einen Moment schwiegen sie sich beide an und die alte Dame dachte kurz, na wollen wir doch mal sehen, ob ich mit meinen über hundert Jahren da nicht mehr Geduld aufbringe.

Sie schwiegen einen Moment beide, dann fiel ihr ein, dass sie seine Frage nicht beantwortet hatte und es also vielleicht unhöflich war ihrerseits zu schweigen und sie wusste schon, wo sie gerade war, wem sie gegenüberstand und was geboten war. Er war ja auch ein guter König, nur dass mit der Gentechnik, da war er halt zu modern und wissenschaftsgläubig.

“Weiß nicht, was mehr wert ist, da ich die Mehrheit gegen mich gerade habe, wird sicher nach herrschender Ethik die Wissenschaft und die breite Meinung mehr wert sein als meine Intuition. Aber die Rettung von Millionen ist doch auch nur spekulativ”, sie sah ihn an und er lächelte weiter, hörte aufmerksam zu. Was wäre, wenn er irgendwann, danke sagte und sie gehen durfte, zurück auf diesen kalten zugigen Acker, um ihrer Intuition zu folgen, die Menschheit zu retten, die überhaupt nicht gerettet werden wollte. Wenn sie nun weiter schwiegen, würde nichts passieren und sie konnte ihn auch nicht überzeugen.

“Aber könnten wir nicht noch warten, bis die Forschung weiter ist, alle Risiken kennt und ausschließen kann, dass etwas passiert?”, sie lächelte ihn hoffnungsvoll an und er lächelte noch freundlicher zurück, vielleicht nickte er ein wenige, aber er sagte nichts, ließ sie weiter zappeln.

“Es ist natürlich nur ein Gefühl”, schmälerte sie schon ihren eigenen Anpruch, als wollte sie den verlorenen Posten nicht länger verteidigen, “doch hat mich dies in den letzten 100 Jahren nie getäuscht und ich traue meinem Gewissen. Was sonst sollte ich denn tun, wenn ich die Gefahr erkenne und uns als Zauberlehrlinge auf den Weg in den Abgrund sehe?”, unterbrach sie hoffnungsvoll, schaute zu ihm auf, der nur in einer Nuance vielleicht die Schultern zuckte, kein Wort sagte und sie weiter anlächelte.

“Natürlich darf nicht eine verrückte Alte der Mehrheit ihren Willen aufzwingen, aber ich habe doch auch meine Erfahrungen, bin ja nicht nur verrückt, sondern folge einer tiefen Überzeugung. Will mich doch nicht hier nur so stark machen, ich möchte warnen und überzeugen, weil ich eine Gefahr sehe.”

Bei diesen Worten legte der König seinen Kopf ein wenig schräg, sonst nichts, sah sie aber weiter schweigend und lächelnd an.

“Sie meinen, ich täusche mich? Sehe etwas, was nur ich sehe, als wäre ich eine Seherin und ein bisschen verrückt eben - habe da schon vernünftig nachgedacht, gut, es ist nicht wissenschaftlich, aber sehr kritisch doch. Woher wollen sie das wissen mit der Rettung von Millionen? - nichts - naja, wissen sie auch nicht, so spekulativ wie mein Ansatz letztlich.”

Sie schaut ihn triumphierend an und er schweigt und lächelt weiter, zog nur in einer Andeutung die Brauen hoch, was sie nicht gleich zu interpretieren wusste, sie dann aber unruhig machte, weil es mehr an Bewegung war als die ganze Zeit - ob er meinte, dass sie es übertrieb, wollte der König sie auf einen Fauxpas dezent aufmerksam machen - da merkte sie es langsam. Sie ging von der Spekulation aus, die ihr ein ungutes Gefühl gab, dass sie später irgendwie wissenschaftlich begründen konnte. Er ging von wissenschaftlichen Annahmen aus, die vernünftig begründet waren - die Zahlen beruhten zwar auf Schätzungen und waren also auch Spekulation wie alle Statistik aber doch zumindest wissenschaftlich korrekt und nicht nur ein Gefühl und sie merkte, wie dünn das Eis war, auf dem sie stand, wie sie sich aus ihrer uralten Intuition nur gegen alle Vernunft, Ökonomie und Menschlichkeit wehrte und plötzlich bekam sie Angst, einzubrechen.

“Ja, ich geb es zu, ihre Sicht ist wissenschaftlich fundiert, meine nicht. Für ihre Sicht sprechen viele Daten, für meine nur ein Gefühl und keine große Kenntnis in der Sache - hab mich schon damit beschäftigt. Es ist natürlich auch die Angst. Was ist, wenn was passiert und es schief geht?”, sie schaute, ob etwas von ihm kam, aber er schwieg weiter und lächelte.

“Was soll ich noch sagen, sie haben demokratisch recht - die Mehrheit ist auf ihrer Seite und sie haben auch sonst die vernünftigeren Argumente, ich geb es ja zu, trotzdem”, es bäumte sich in ihr wieder ein wenig auf, noch wollte sie seine Hand nicht, “es ist ja nicht abwegig, was ich da fühle - es könnte doch passieren, oder ist das ausgeschlossen?”

Er würde ihr am liebsten zu Hilfe eilen, ihr den Arm geben und sie retten - aber wenn sie frei sein wollte, musste er sie lassen, bis sie ihn rief und dann nähme er sie in allen Ehren auf und sie würden gemeinsam überlegen, wie sie diese Angelegenheit nach bestem Wissen und Gewissen zu Ende bringen könnten.

“Ja, ich weiß, nicht wahrscheinlicher als ihre Rettung von Millionen, alle Vernunft spricht für sie, die Mehrheit auch und ich habe nur mein komisches Gefühl, dass mich noch nie getäuscht hat. Vielleicht sollte ich diesmal nicht kämpfen sondern lieber beobachten - nur wie komme ich da noch raus?”

War es schon so weit, fragte sich der König, lächelte sie an, zog die Augenbrauen weit hoch, hätte ihr gern die Hand gereicht und wusste doch, es war nun seine Rolle, einfach zu warten.

“Haben sie eine Idee? Bitte, helfen sie mir, ich merke, ich habe mich da vielleicht verrannt in ein Gefühl, kann ja täuschen, wie wir es von der Liebe kennen. Wie komme ich da wieder raus?”

“Schön, dass sie heute zu mir gekommen sind und ich wollte mit ihnen doch gerne die Feierlichkeiten für ihren großen Verdienstorden und die Erhebung in den erblichen Adel besprechen. Dachte an das königliche Sommerfest und vielleicht können wir bei dieser Gelegenheit auch ihr letztes Engagement für die Freiheit und aus tiefer Überzeugung besonders würdigen - dass wir nun wieder alle an einem Strang ziehen, ist doch wunderbar. Das Gewissen der Nation und der König in einem Boot scheint mir besser als alles zuvor und der Rest wird dagegen unwichtig.”

Sie nahm seine Hand, lächelte ihn an und wusste, er hatte sie gerettet. Sie würden nicht darüber reden. Es gäbe eine Pressekonferenz zu ihrer Erhebung und der Verleihung und wenn dabei ein Reporter dumm fragte, würde es lächelnd übergangen, es schien alles wunderbar.

“Eines müssen sie mir noch verraten, wie funktionierte diese Anlage auf dem Feld - unser Geheimdienst hat alles überwacht und es nicht verstanden - was steckte dahinter?”
“Es war nur ein Märchen, aber alle haben es geglaubt.”
“Dem Gewissen der Nation wird so geglaubt wie des Königs Ehrenwort. Wie gut, dass ich am Ende nur noch meinem Gefühl gefolgt bin und sie nicht Jan Hus waren.”

Und der König und die alte Dame, die nun Dame des Königreichs wurde, sprachen noch oft miteinander und wenn sie nicht gestorben sind, dann reden sie noch heute.
jens tuengerthal 9.2.2017