Schickselig
Was schickt sich heute noch und spielt das eine Rolle, fragte ich mich beim Blick auf unsere
aufgewühlte Gesellschaft.
Wie sich etwas schickt, klingt erstmal altertümlich und unpassend und doch haben wir zahlreiche Begriffe und Verhaltensweisen, die sich nicht mehr schicken, auch wenn all das früher ganz normal war. Bestimmte Worte zeigen dich als einen Rassisten die früher noch normaler Sprachgebrauch waren. Die richtigen Worte können so kriegsentscheidend sein.
Auch das Verhalten den Damen gegenüber gehorcht einem eigenen, teils ganz neuen Kodex, in dem, was früher vornehm war, heute eher altbacken oder diskriminierend empfunden wird. Wobei gerade zwischen den Geschlechtern viele Grenzen ständig fließen. Natürlich gebe ich einer Dame den Vortritt - nur wo überall auf keinen Fall, was davon gilt noch für wen. In welchen Kreisen wird welches Verhalten als korrekt höflich und welches als tumb, gar verletzend empfunden. Wie entgegengesetzt korrekt ist das Verhalten je nachdem korrekt, ob ich mich in Adelskreisen oder unter Sozialdemokratinnen bewege, um nur ein Beispiel zu nennen.
Das gleiche Tun und die selben Worte können von einer als sexuelle Belästigung schwer verletzend empfunden werden, während es eine andere amüsiert und die dritte sogar reizt, also der Annäherung dient. Eine Belästigung schickt sich sicher nie, amüsant zu sein oder gut zu flirten ist dagegen sehr schön. Die Abgründe dazwischen werden schnell tief, wie das Unverständnis füreinander wächst.
Nie käme ich auf die Idee mir von einer Frau einfach sexuell zu nehmen, was ich will, auch wenn verschiedene schon genau das von mir forderten. Fände es unschicklich, so etwas gegen oder ohne ihren erklärten Willen zu tun. Einige wünschen sich genau das sehnlichst. Gibt es etwas, was sich dabei immer schickt?
Schaue ich auf Diskussionen im Netz und beteiligte Emotionen, könnte die Frage, ob was sich schickt, inzwischen mehr unsere Gefühle und Gedanken bestimmen als alles sonst, so zum reaktionären Motor werden, der lieber ausbremst als beschleunigt, dies allerding mit zunehmend rasendem Tempo dabei für eine Menge. die sich am Durchschnitt orientiert, statt eigenes zu entwickeln.
Was schickt sich für wen und was nicht. Ist diese Zuordnung bindend oder zufällig relativ und nach wessen Moral?
Worauf stellen wir unsere sicheren Urteile und wer gab diese angeblichen Werte als den de facto verbindlichen Kodex?
Verwendung eines bestimmten Vokabulars ordnet dich heute einer Gruppe zu. Jede Minderheit und politische Überzeugung hat ihre Sprache, mit der sie versucht, was sich für sie schickt auszudrücken.
Impfgegner oder Querdenker haben ihr Vokabular, mit dem sie sich von der Mehrheit abgrenzen wollen, wie zugleich ihre Gruppenzugehörigkeit feiern. Gleiches gilt für Linke, die Genderformen verwenden, so berechtigt dieser sprachkulturelle Aufschrei zu seiner Zeit war, empfinden viele es als lästige Provokation, während sich die Mitglieder dieser Gemeinschaft damit als zugehörig und emanzipiert zeigen.
Wie du dich ausdrückst, zeigt, wo du stehst und wo du hingehörst, wie zugleich auch, durch Wortwahl und Klang, deine Herkunft und Bildung. Willst du zu bestimmten Kreisen gehören, wirst du deren Vokabular annehmen oder dich schnell als Außenseiter zeigen, der sogar als Gegner dann bekämpft werden kann.
Es schickt sich in verschiedenen Gruppen völlig unterschiedliches, kann ein Verhalten auch als das Gegenteil des gemeinten ausgelegt werden, wenn es mal dumm läuft, wird eine bloß zufällige Wortwahl zum politischen Beinbruch der Karrieren zerstören kann.
Wäre es besser sich davon freier zu machen, um seinen eigenen Ausdruck zu finden oder sind wir immer Teil von irgendwas, ist die Hoffnung auf echten Individualismus vergebens, überlege ich angesichts dieser Entwicklung, die noch kein Ende nahm. Die Vereinigten Staaten waren in der Bewertung der Sprache noch schneller als wir, aber haben auch mehr, die sich um keinen Konsens mehr kümmern, einer will sogar wieder Präsident werden.
Es schickt sich nicht bestimmte Worte noch zu verwenden sogar Kinderbücher werden auch ohne die verstorbenen Autorinnen zu fragen korrigiert, was manche einen Tabubruch finden der ein Werk verändert, für zufällige politische Meinung, halten andere für den notwendigen Schritt, endlich gegen den normalen Rassismus vorzugehen, den viele noch von ihren Großeltern mitbekamen.
Beschäftigen wir uns in diesen Fragen mit den Werten an sich oder führen wir nur Stellvertreterkriege, die sich um die Entscheidung zur Sache drücken?
Wie wir etwas ausdrücken, zeigt auch, wie es in uns ist, weil es ja unser Ausdruck ist, der ein teils erbärmliches Vokabular oder Denken offenbaren kann. Doch wäre es gefährlich über die Frage, was sich noch schickt, das warum dieser Entwicklung zu vergessen, denn ohne weitere Begründung ist jede Norm nur eine Freiheitsberaubung.
Vielleicht wäre es wichtiger, sich mehr zu fragen, was sich warum schickt oder nicht, als über jene zu urteilen, die sich anders verhalten, die Lagermentalität mit Vernunft zu begrenzen. Es scheint mir eine Schicksalsfrage unserer Zukunft zu sein, wenn wir nicht zu einer moralischen Diktatur auf egal welcher Seite kommen wollen, sollte, was sich noch schickt, strenger geprüft werden als alles andere, bevor wir ein Urteil wagen, was eine Diktatur einer moralischen Mehrheit im Ergebnis bedeutete. Vielleicht holten wir mehr aus ihrer radikalen Opposition ab, wenn wir die Schicksalsfrage, was sich noch schickt, weniger wichtig nehmen, als was, egal wer erreichen möchte. Haben wir den Mut, uns von mehr Normen zu befreien, könnte es das Zusammenleben deutlich erleichtern, auch wenn viele sich ihres jeweiligen Gehorsams in der Gruppe nicht bewusst sind.
jens tuengerthal 14.8.24
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