Von der sich durch mitgebrachte Eingeborene und Pflanzen verändernden Pfaueninsel Thomas Hettches geht es heute quer durch den europäischen Geist in Der europäische Traum von Aleida Assmann, die feinfühlig erklärt, warum Erinnerung so wichtig ist und was den Trennungsstrich vom Schlußstrich unterscheidet, wie Erinnerung in die Zukunft führt und Geschichte weiter trägt.
Während Marie sich des Monsterwortes der so gern heilig gehaltenen Königin Louise erinnert, das sie in Kindertagen so diskriminierte und seitdem als schockierende Erinnerung ihre Geschichte durchzieht, denkt sie über ihre Mißbildung und ihre Sonderrolle nach, wie sie sich als Zwergin fühlt, die auf der Insel quasi ausgestellt wird und ob sie die Liebe Gustavs glücklich werden lässt.
Die Chondrodystrophy, wie der Minderwuchs heute nicht mehr als Zwerge diskriminierend genannt wird, ist eine seltene genetische Veränderung, die auch von normalwüchsigen weitergegeben werden kann. Es besteht bei eigenem Nachwuchs die Chance von 50%, dass auch dieser kleinwüchsig bleibt. Während Gustav und Marie dem endlos singenden Maitey lauschen, der von einer Südseeinsel auf die Pfaueninsel als weiteres Ausstellungsstück zur Belustigung der königlichen Familie und der Besucher gekommen war, die den Inselbewohner, wenn sie ihn hörten, eher für irre hielten, während Marie seine endlosen Gesänge mochte, es eine Sympathie der Andersartigen gab, versucht Marie mit Gustav über ihre Beziehung zu sprechen. Dabei weicht dieser aus und bringt abstruse Beispiele aus dem Tierreich, was bei der Paarung verschiedener Rassen entstände, wodurch sich seine Geliebte verletzt fühlt und ihn ermahnt endlich still zu sein. Gustav kannte das Wort Hybrid noch nicht, was in der Biologie das aus zwei Arten zusammengesetzte ist. Am Ende des heutigen Abschnitts teilt sie ihm, erwartungsgemäß für den Leser, wenn auch vermutlich überraschend für Gustav, mit, dass sie schwanger ist.
Wie es nun weitergeht, weiß ich noch nicht, auch wenn die vielen Andeutungen es schon ahnen lassen, die besondere Rolle des Anderen oft genug betont wurde, die eine Bindung unmöglich mache. Zart und dezent sind die Andeutungen in diesem Roman nicht unbedingt. Die noch selbstverständliche Diskriminierung anderer Menschen, die wie Tiere ausgestellt wurden, ist kaum hundert Jahre her, als Bewohner der Kolonien in Berlin ausgestellt wurden und auf Jahrmärkten Andersartiges in vielerlei Gestalt bewundert werden konnte. Was uns heute absurd erscheint, war damals noch normal und die USA führten noch nach dem Zeitpunkt der Handlung einen Bürgerkrieg, in dem es um die Haltung von Menschen als Sklaven ging, die der Süden für sich in Anspruch nahm, weil er es gewohnt war.
Auch wenn damals die Gegner der Sklaverei, zu denen sich auch Thoreau zählte, siegten, stellt sich die Frage, ob die Vereinigten Staaten dem schon so fern sind heute, wo Schwarze immer noch und wieder von der Polizei diskriminiert werden, der größte Teil der inzwischen über 100.000 Corona-Toten dunkelhäutig und arm ist, während ein Präsident regiert, der alles tut, den Ausnahmezustand so schnell wie möglich wieder zu beenden, weil unter den Opfern wenige seiner Wähler sind, die hoffentlich einige Menschen vor den Wahlen zum Nachdenken bringt.
Spannend ist, dass Menschen wie Michel de Montaigne, um den es gestern ging, schon vor fast 500 Jahren selbstverständlich von der Gleichheit aller Menschen ausgingen und sich über die Behandlung der Eingeborenen, die aus den Kolonien gebracht wurden, aufregte, was wir uns anmaßen, zu meinen, unsere Kultur sei fortgeschrittener und diese seien Wilde, wie Montaigne es schrieb. Es gab diese gerechten Denker schon immer, genau wie es leider auch immer wieder jene gab, die gerne unterschieden und ihre Gruppe für besser oder die anderen für eine Bedrohung ihrer Kultur hielten, was die unsägliche AfD stark machte, die mit der Angst vor Fremden aggressiv spielt.
Wohin diese Trennung vom anderen uns führte, gibt unsere Geschichte genug Beispiele und bis heute sind viele sogenannte Völkerkundemuseen, die früher Kolonial-Museen auch hießen, voll mit Raubgut, was sich illegitim angeeignet wurde, damit wir es bestaunen können. Darüber wird zum Glück heute viel diskutiert und das Humboldt-Forum in Berlin steckt immer wieder mitten in dieser Diskussion. Es mag manches Ausstellungsstück legitim erworben sein und zum Glück müssen Museen nun immer mehr sich auch um die Herkunft ihrer Ausstellungsstücke kümmern, denn warum Kulturgüter anderer Völker in Berlin, Paris oder London im Museum stehen sollen, ist zumindest diskussionswürdig.
Die Frage wäre dann, ob die Alternative, die Dinge vor Ort zu lassen, diesen besser getan hätte und die Menschen, wenn sie eine Kultur betrachten wollen, in die entsprechenden Gegenden reisen sollen, es vor Ort zu erleben, was ich persönlich angesichts der ökologischen Folgen der vielen Weltenbummelei für noch fragwürdiger halte als den möglichen, besseren und gerechteren Umgang mit diesen Dingen in unserer Kultur.
Dies könnte in der Zahlung einer angemessenen Miete oder anderweitiger Anerkennung bestehen, falls sich vertraglich auf eine weitere Leihe geeinigt wird. Lösungen dafür werden schwierig und es gibt sicher keine einfache Antwort für alle sich dabei stellenden Fragen, es wird längere Verhandlungen geben, weil Verständigung zu komplexen Themen eben schwierig ist, doch zu lernen, sich auch beim Raubgut in unseren Museen der historischen Verantwortung zu stellen, könnte ein Anfang sein, die Welt gerechter zu machen. Es kann seine Berechtigung haben, bestimmte Dinge auszustellen, auch damit nicht jeder in fremde Länder reisen muss, was dank Corona ja auch etwas erschwert war, aber wir sollten uns dabei unserer historischen Verantwortung stellen.
Dieser Gedanke leitet über zur anderen Lektüre, Aleida Assmanns Der europäische Traum über die vier Lehren aus der Geschichte. Diese sind Friedenssicherung, wie aus Erzfeinden, kooperierende Nachbarn und sogar Freunde werden, wie im deutsch-französischen Verhältnis mittlerweile, Herstellung von Rechtsstaatlichkeit oder der Umbau von Diktaturen in Demokratien, historische Wahrheit und der Aufbau einer Erinnerungskultur in Deutschland, sowie die Wiederentdeckung der Menschenrechte.
Las heute über die Rückkehr der Erinnerung und den Aufbau einer Erinnerungskultur, die langsam heranwächst und selbstverständlich wird, was es nach dem Krieg nicht war, als Adenauer noch auf Vergessen setzte und Wiedererlangung der Normalität, die es so noch lange nicht geben konnte und hoffentlich im Bewusstsein der historischen Verantwortung nie geben wird.
Dieses Bewusstsein war, bis auf dunkle Ränder in der Bundesrepublik auch durch das Verdienst der 68er, die sich genau gegen dieses Schweigen der Wirtschaftswundergeneration wehrten, relativ normal und verbreitet geworden. Diese Normalität hat sich mit der Wiedervereinigung aber verändert und wird von Teilen nicht mehr so gesehen. Insbesondere im Gebiet der ehemaligen DDR, in ehemals Neufünfland, ist dies Selbstverständnis nicht gewachsen, gab es nicht die Auseinandersetzung wie zu Zeiten der 68er und später noch in der Ära Kohl, der noch 1985 das Vergessen durch den Besuch des Friedhofs von Bitburg, auf dem auch SS-Soldaten gedacht wurde, mit Ronald Reagan propagierte, wogegen nur drei Tage später der damalige Bundespräsident von Weizsäcker seine berühmte Rede zum 40. Jahrestag des Kriegsendes hielt, in der er ganz deutlich die Niederlage eine Befreiung nannte, was ein Umdenken auch in konservativen Kreisen in Gang brachte, die Verantwortung als Chance zu sehen.
Damit kommen wir vom Schlussstrich zum Trennungsstrich, der sich von der eigenen Geschichte im Bewußtsein der historischen Verantwortung abgrenzt. Es begann eine neue Erinnerungskultur, die sich bewusst mit den schweren Verbrechen in der eigenen Vergangenheit auseinandersetzt, statt historische Lügen wie die von der sauberen Wehrmacht oder der Unwissenheit der meisten Deutschen weiter aufrecht zu halten. Diese historische Verantwortung endet nicht mit dem Dritten Reich sondern muss auch Fragen der Kolonialpolitik thematisieren. Erstaunlicherweise ist das Bewusstsein dieser Verantwortung besonders gering bei denen ausgebildet, die noch an den Fortbestand des Deutschen Reiches oder andere Wahngebilde glauben. Auch hier wird weiter Aufklärung und kritische Auseinandersetzung nötig sein.
Wie wachsen Bürger in eine demokratische Verantwortung für die gemeinsame Geschichte hinein, die über Jahrzehnte hinter dem antifaschistischen Schutzwall eingesperrt waren und welche Perspektive können wir ihnen geben?
Diese Frage wird für die Stabilität der Demokratie auch künftig von großer Bedeutung sein, damit nicht wieder leicht Populisten mit historischen Lügen oder dem falschen Schlußstrich auf Stimmenfang gehen können. Sie ist nicht einfach zu beantworten und bedarf langfristiger Arbeit an der Basis, die von Populisten aus dem linken und rechten Lager bedroht wird. Dazu braucht es eine neue positiv besetzte Erinnerungskultur, die nach Aleida Assmann durch fünf Punkten gekennzeichnet ist:
Sie hat mit schwerwiegenden Verbrechen der eigenen Geschichte zu tun,
Die neue Erinnerungskultur ist selbstkritisch und legt sich damit Rechenschaft über die eigene Vergangenheit ab.,
Diese Erinnerungskultur braucht eine historische Forschung, die sich um Quellen kümmert und Belege sucht.
Es braucht dafür der Zeugen der Erinnerung, weil ihr Zeugnis erst einen wirklichen Eindruck geben kann.
Die neue Erinnerungskultur ist dialogisch, sie sucht also das Gespräch mit den anderen, da jeder dazu neigt, seine nationale Geschichte monologisch zu betrachten.
So können wir langfristig - und es wird noch Jahrzehnte dauern ein solches Selbstverständnis zu etablieren - zu einer positiv besetzten Erinnerungskultur in Verantwortung kommen, weil Totschweigen nichts ändert, sondern nur verdeckt, was war. Damit wir in Verantwortung für die Geschichte, deren Teil wir sind, auch die Zukunft neu gestalten, statt von der verdrängten Geschichte beherrscht zu werden, trennen wir uns von dem, was war in verantwortlicher Weise und verdrängen nicht nur, warum Aleida Assmann den Trennungsstrich dem Schlußstrich vorzieht.
Dem kann ich nur zustimmen und frage mich dabei, warum es vielen so schwer fällt, die aktive Erinnerung als Chance und nicht als Schande zu sehen. Keiner der nach dem Krieg geborenen trägt Verantwortung für die dort begangenen Verbrechen. Aber jeder, der sich als Teil einer historischen Nation sieht, hat die Verantwortung für die Zukunft zu verhindern, dass so etwas wieder passiert und so wird aus dem Malus der eigenen Geschichte eine größere Chance für die Zukunft aus Erfahrung, die zeigt, dass wir lernfähig sind. Was geschehen ist, ist geschehen, dafür historisch Verantwortung zu übernehmen befreit und gibt den folgenden Generationen die Chance zur Gestaltung der Zukunft im Licht der Erfahrung, um das Grauen dauerhaft zu vermeiden.
Historische Verantwortung belastet nicht sondern befreit, sie gibt die Möglichkeit zum offenen Umgang mit der Geschichte, um würdigen zu können, was gut war und damit eine Integration zu ermöglichen, egal ob wir von Tätern oder Opfern abstammen, gemeinsam im Lichte der Erinnerungskultur die Zukunft zu gestalten, statt verdrängtes als Last mitzuschleppen, sich die Geschichte schön zu lügen, aufrichtig zu sein, was der beste Anfang der Verständigung ist.
So schließt sich am Ende der Kreis beider Lektüren - der Umgang mit Diskriminierung und die kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Verantwortung dabei macht sensibler für das Miteinander in der Zukunft. In meiner Kindheit sprachen wir noch von Negern und Zigeunern, was heute im Bewusstsein zum Glück weitgehend verdrängt wurde. Ob es Insulaner aus der Südsee sind, kleinwüchsige Menschen aus Berlin oder türkische oder jüdische Nachbarn sind, ist für uns bei der Betrachtung als Menschen egal, die anderen so sein zu lassen, wie sie sind und nicht ihr Anderssein zu betrachten, sondern die Gemeinsamkeiten zu sehen, bringt uns Menschen dauerhaft friedlich zusammen. Eine Chance, die wir nutzen sollten, denke ich und bin gespannt auf die weitere Lektüre.
jens tuengerthal 28.5.20
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen