Sonntag, 2. April 2017

Berlinleben 037

Kiezgeschichten

Am Kolle

War lange nicht mehr da, denke ich und frage mich, welchen Grund ich hätte, dort hin zu gehen, was mich anzöge und das ist immer schon ein schlechter Anfang, wenn ich überlegen muss, was mich da noch hin zöge.

Als ich hin zog, zog mich die Liebe, war es für mich noch der schönste Platz in Prenzlauer Berg und ich konnte mir nicht vorstellen irgendwo besser und eleganter zu wohnen als dort. Kannte zwar die anderen nicht wirklich, schloss mich aber der Meinung dort gern an. Kam aus dem benachbarten  Winskiez, in dem ich nie ankam und dessen Reize ich erst viel später entdeckte, als ich nicht mal mehr direkt benachbart wohnte und über die ich ja schon schrieb.

Der Kollwitzplatz war die erste Adresse für alle, die neu auf den Berg kamen. Hier gab es Cafés und Kneipen, der Platz hatte den Flair von Paris nur irgendwie schöner und ruhiger. Hier wohnte der damals Bundestagspräsident Wolfgang Thierse und ging Gerd Schröder mit Bill Clinton beim Elsässer anner Ecke essen, den auch der Bundespräsident Rau mit Staatsgästen noch häufiger besuchte, auch wenn die Frage nahe liegt, ob dies eine Form des preußischen Masochismus war, in Erinnerung der verlorenen Provinzen, stellte sie sich bei dem Wuppertaler Bundespräsidenten so wenig wie bei dem Hannoveraner Kanzler, der auch nicht für sein besonderes historisches Bewusstsein bekannt war. Von der eher preußischen Kanzlerin wird nicht berichtet, dass sie die Vorlieben ihrer Vorgänger teilt. Immerhin waren die Straßen, bevor sie in der DDR nach Kollwitz genannt wurden schon namentlich in Beziehung zur ehemaligen Reichsprovinz Elsass-Lothringen.

Hier lag der Grieche, bei dem ich meine große und längste Liebe kennenlernte und hier lebten die Freunde, die ich von dort kannte. Eigentlich hatte ich mich dort, gleich zuhause gefühlt und die mehr als schicke Wohnung von A mit einer Traumküche im Berliner Zimmer und dem Schlafzimmer zum jüdischen Friedhof tat ein übriges, mich für den Kiez zu begeistern. Helle hohe Räume in der Wörther Straße gelegen in einem Haus mit teilweise relativ nobler, zumindest meist spannender Nachbarschaft lebte es sich gut, der zwar schwäbisch anmutende Aufzug tat ein übriges auch den vierten Stock locker erträglich zu finden. Es war dies die Wohnung, in der wir unsere Tochter zeugten, in eben jenem Schlafzimmer zum jüdischen Friedhof und so lebt die Erinnerung an diese Zeit weiter und wächst sogar noch immer mehr in meiner Tochter.

Der Kollwitzkiez ist das Viertel um den zentral gelegenen Kollwitzplatz, der nach der Malerin und Bildhauerin Käthe Kollwitz 1947 benannt wurde. Sie hat dort mit ihrem Mann, dem Arzt Karl Kollwitz zusammen gelebt. Ihr Wohnhaus steht nicht mehr, wurde ein Opfer des Krieges, aber ein dekoratives Schild und eine künstlerische Lichtanlage davor erinnern an das außergewöhnliche Ehepaar, das sich so vielfältig um Berlin verdient machte. Wobei die Lichtanlage meine ich irgendwie nach Charlottenburg ins Kollwitzmuseum gewandert ist. Bis dahin hieß der noch von natürlich Hobrecht angelegte Platz Wörtherplatz und erinnerte damit an die Gemeinde Woerth im damaligen Elsass-Lothringen, wovon zumindest die Straße blieb. Die heutige Kollwitzstraße, die bei Immobilien höchste Preise erzielt, hieß damals noch Weißenburger Straße hieß und meinte damit das heutige Wissembourg im auch Elsass. Das Viertel war 1875 also wenige Jahre nach dem von Moltke siegreich geführten deutsch-französischen Krieg errichtet wurden und so war die Benennung Ausdruck des neuen Patriotismus, jener seltsamen Pflanze, die so oft tödliche Blüten hervorbringt, wie sie viele zu begeistern beginnt.

Der Platz um den das Kollwitzviertel entstand, das weiter reicht als der Platz, sich im Osten bis zur Prenzlauer Allee erstreckt, an den Winskiez dort grenzend und im Norden erst an der Danziger Straße endet, auf der die Straßenbahnen heute vom Hauptbahnhof bis tief in den Friedrichshain quer durch die östliche Stadt fahren, ist rund 6000m² groß, baumbestanden mit Wiesen und Sandkisten zeitgemäß versehen und einem Denkmal der berühmten namensgebenden Anwohnerin Käthe Kollwitz von Gustav Seitz in seiner Mitte. Das Denkmal erfreut sich auch bei den zahlreichen Kindern der vielfältig berühmten Mütter vom Kollwitzplatz zunehmender Beliebtheit und wird ständig beklettert und begrapscht, warum es viele goldig glänzende Stellen aufweist. Es wurde vom Künstler nach einem Selbstportrait von Käthe Kollwitz geschaffen und die daraus entstandene Bronzeplastik wurde schließlich 1961 in der Mitte des Platzes aufgestellt, wo sie immer noch steht nur ohne sozialistischen Lametta.

Im Krieg blieb das Viertel bis auf drei Eckgrundstücke, auf denen viel später zeitgemäß hässliche Neubauten entstanden, weitestgehend von Schäden verschont und weist so eine immerhin noch relativ geschlossene schöne Architektur der Gründerzeit auf, zwar weniger als der größere und geschlossener erhaltene Helmholtzplatz, der aber ja gerade nicht Thema ist und also schon netter als andernorts. Dadurch wurde in dem Viertel wenig saniert oder im DDR-Stil neu gebaut, es blieb alles so ähnlich, wie es auch schon vor dem Krieg war - vom Außen- oder Etagenklo bis zur Ofenheizung. Erst zur 750 Jahr-Feier-Berlins wurden einige der anliegenden Straßen, besonders etwa die Husemannstraße, historisch nachempfunden und rekonstruiert.

Am 3. Oktober 1990 wurde am Kollwitzplatz für diese eine Nacht die Autonome Republik Utopia ausgerufen, die als Mikronation galt. Bis heute wurde der schon länger auch mehr in schwäbischer Hand befindliche Kollwitzkiez, der früher schlicht Kolle hieß, zur teuersten Wohngegend des Prenzlauer Berg, weil sich Geld scheinbar gern gesellt und weniger weil es dort noch interessanter oder schöner als andernorts wäre. Dass eine Schwäbische Fraktion einmal das Käthe Denkmal mit einem Spätzle Anschlag verunstaltete war zum Glück so folgenlos wie die gute Käthe dort ungerührt immer sitzt.

 Käthe Kollwitz selbst lebte dort von 1891 bis 1943. Auch ihr Mann hatte bis zu seinem Tod seine Praxis dort, in der er viele gerade arme Menschen aus dem Arbeiterviertel auch kostenlos behandelte. So ist das Gedenken an zwei vom humanistischen Geist geprägte Anwohner dieses Platzes ein doppeltes, auch wenn die Bildhauerin heute die berühmtere fraglos ist, wird im Viertel auch noch vom Arzt gesprochen, zumindest von historisch halb gebildeten Menschen und immerhin weist das Schild an der Stelle ihres Hauses noch deutlich auf beide hin.

Der Kollwitzplatz selbst liegt in dem Dreieck, in dem sich die drei Straßen Wörther, Kollwitz und Knaack schneiden und bildet so eine kleine grüne Spitze inmitten. Interessant ist, dass dieses Dreieck von oben betrachtet aussieht, als sei es die Spitze des durch die Knaackstraße abgeflachten größeren grünen Dreiecks, das der jüdische Friedhof in Prenzlauer Berg ist, an dessen Seite sich wiederum der vor einigen Jahren sanierte Judengang befindet, durch den die jüdische Gemeinde von ihrer Synagoge in der Ryckestraße aus zum Eingang des Friedhofs in der Schönhauser Allee ging.

Diese Synagoge, die während der Nazizeit unter anderem deshalb nicht zerstört oder angesteckt wurde, weil sie zwischen den Häusern lag, steht zwischen Kollwitz- und Rykestraße, in der sich der Eingang befindet und ist mit den 2000 Plätzen die größte des Landes. Das in den Hinterhöfen gelegene Gebäude wurde 1903/04 im neo-romanischen Stil errichtet. Im Vorderhaus zur Straßenseite wurde schon im Jahr der Einweihung eine Religionsschule für bis zu 500 Schüler eingerichtet. Heute sitzt dort die Lauder Foundation, des bekannten Kosmetikunternehmens, die orthodoxe Rabbiner für Osteuropa ausbildet, was zur gelegentlichen Begegnung mit orthodoxen Juden, ihren Frauen und Kindern führt, was im Gegensatz zu Amsterdam oder Berlin in Deutschland doch eher selten wurde.

Bis zum nationalsozialistischen Terrorregime galt Prenzlauer Berg als Zentrum des jüdischen Lebens. In der Pogromnacht wurde die Synagoge zum Schutz der Nachbarhäuser zwar verschont, aber ihr Rabbiner und zahlreiche Gemeindemitglieder wurden ins KZ Sachsenhausen deportiert. Der letzte Gottesdienst fand dort 1940 statt. Danach wurde die Synagoge von der Heeresstandortverwaltung konfisziert und als Pferdestall und Depot missbraucht. Nach dem Krieg wurde sie von den Alliierten der Gemeinde zurückgegeben und bereits im Juli 1945 konnte Rabbiner Riesenburger dort die erste jüdische Trauung vollziehen. Sie wurde damals vielfach von Juden aus Osteuropa genutzt, die als displaced persons kamen. Die Synagoge wurde vor einigen Jahren auch mit Bundesmitteln aufwendig saniert und ist wieder ein wieder ein wichtiges Zentrum des jüdischen Lebens in Berlin geworden, was sicher auch dem Engagement des, ich meine zumindest, langjährigen Vorstehers der Gemeinde Dr. Hermann Simon zu verdanken ist, dem früheren Leiter des Centrum Judaicum in der Neuen Synagoge in der Oranienburger Straße.

Durch Simon, den ich über eine Kranzniederlegung für die gefallenen jüdischen Soldaten des 1. Weltkrieges kennenlernte, hatte ich auch das Glück an der privaten Feier einer wohlhabenden New Yorker Familie teilzunehmen, welche die Bar Mizwa ihrer Tochter in der alten Heimat feiern wollte und dafür die ganze Familie eingeflogen hatte. So hatte ich das Glück diese auch sakralen Räume nicht nur wie vorher als Besucher der jüdischen Kulturtage kennenzulernen, sondern auch ihren religiösen Zweck beobachten zu können, zu dem ich aber, wie üblich bei diesem mir eher fernen Thema lieber wenig sage. In vielem erinnerte die Bar Mizwa mich auch an eine Jugendweihe oder Konfirmation - eben ein Fest, bei dem Jugendliche neu in die Gemeinschaft aufgenommen werden und sich dabei mit eigenen Worten vor der Gemeinschaft bewähren müssen, wofür sie dann zur Begrüßung reich beschenkt werden. Eine Art Gipfelfest für einen Lebensabschnitt, wenn ich es richtig verstanden habe.

Von der Synagoge in der Rykestraße führt, wie schon, erwähnt der Judengang zum Eingang des Jüdischen Friedhofs in der Schönhauser Allee, der auch der vielen berühmter Berliner wegen, die hier ihre letzte Ruhe fanden, einen Besuch wert ist, wäre dieser teils uralte  Friedhof mit seinem wunderbaren Baumbestand als Insel der Ruhe nicht schon bezaubernd genug. Einige Gerüchte sagen, der Gang musste angelegt werden, weil König Friedrich Wilhelm III. auf seinen Fahrten zum Lustschloss Schönhausen in Niederschönhausen, was heute auch zu Pankow alles gehört, keine Leichenzüge sehen wollte. Andere leiten die Existenzs des Gangs aus der Halacha her, den religiösen Richtlinien des Judentums, von denen ich noch weniger Ahnung habe als von den Sonderwünschen preußischer Könige, die aber nicht stimmig für den Witwer der Königin Luise wäre, der im Gegenteil die Emanzipation der Juden auch durch die in seiner Zeit wirkenden preußischen Reformer weit voranbrachte. Im Jahre 2003 wurde dieser Weg als Gartendenkmal wieder errichtet und steht den unmittelbaren Anwohnern als halbprivater Grünraum zur Verfügung, was sich gruselig beamtisch anhört, jenen aber, der den Blick auf dies Stück Weg von der Knaackstraße aus riskiert, schnell begeistert.

Der jüdische Friedhof liegt in der Schönhauser Allee 23-25, nördlich des Senefelderplatzes und wurde hauptsächlich zwischen 1827 und 1880 als solcher genutzt. Das Grundstück lag bei der Errichtung des Friedhofs an der Straße zum Dorf Pankow, noch vor der die Innenstadt umgebenden Akzisenmauer, die auf Höhe des Schönhauser Tores begann, was etwa dort stand, wo heute die Torstraße auf die Schönhauser Allee trifft und wo der Aufstieg zum Prenzlauer Berg ganz klassisch beginnt. Die jüdische Gemeinde hatte das 5 Hektar große Grundstück 1824 vom Meierei Besitzer Büttner erworben. Bis 1880 wurden dann auf diesem Friedhof alle in Berlin verstorbenen Juden beigesetzt. Der Friedhof hat 22.800 Einzelgräber und 750 Erbbegräbnisse und bis in die 70er Jahren fanden dort noch Beisetzungen auf lange reservierten Flächen statt. Als 1880 klar wurde, dass der Friedhof langfristig nicht ausreichen würde, wurde der Friedhof in Weißensee angelegt, der heute noch in Betrieb ist. Abweichend von orthodoxen Dogmen waren auf diesem Friedhof auch Feuerbestattungen möglich.

Auf dem Friedhof wird die zunehmende Integration und Emanzipation der Juden sichtbar, die sich immer mehr den Gewohnheiten ihrer Umgebung ästhetisch anpassten, keine Sonderrolle mehr spielen wollten. So wurden deutsche Inschriften neben den hebräischen Lettern normal, ersetzten sie sogar ganz. Bald war nur noch der Davidstern ein Hinweis auf die Religion der Verstorbenen. Einige berühmtere Gräber sind etwa das von Gerson von Bleichröder, dem Hofbankier und preußischen Regierungs- und Finanzberaters Bismarcks, Salomon Haberland und seine Frau wurden als Erbauer des bayerischen Viertels bekannt, Max Liebermann wurde im freistehenden Familienbegräbnis der großbürgerlichen Familie Liebermann beigesetzt, der Fabrikant Ludwig Loewe hat für seine jung verstorbene Frau auch ein besonderes Grabmal schaffen lasse, dass mit aller jüdischer Tradition brach, Hermann Markower war als Anwalt der Hohenzollern noch bekannter denn als Autor, das Eheppar Moritz Mannheimer, das weit sozial wirkte, hat sich auch ein besonderes Grab geschaffen, der Komponist und Generalmusikdirektor der königlichen Oper zu Berlin, Giacomo Meyerbeer, liegt im Erbbegräbnis der Familie Beer, wie er ursprünglich auch hieß, James Simon, der erfolgreiche Kaufmann und kenntnisreiche Kunstsammler, vermachte seiner Heimatstadt nicht nur viele soziale Stiftungen sondern auch die berühmte Büste der Nofretete, die heute im Neuen Museum steht, liegt dort neben seiner Frau.

Im Krieg wurde die ursprüngliche Eingangshalle zerstört und heute durch ein gläsernes Lapidarium ersetzt, in dem nicht mehr zuzuordnende Steine stehen. Nach 1988 kam es mehrfach zu Vandalismus auf dem Friedhof, bei dem einige Gräber zerstört oder umgeworfen wurden. Nach Angaben der Polizei gäbe es keine Hinweise auf eine antisemitische Tat, dass gebe ich mal einfach so weiter, möge sich jeder kritisch seinen Teil dabei denken.

Folge ich aber nun von der Knaackstraße aus, nicht dem Judengang sondern der Straße weiter, komme ich nach Überquerung der Wörther Straße und der Sredzkistraße zum Gelände der Kulturbrauerei, das ich auch von der anderen Seite erreiche, wenn ich aus dem Friedhof tretend der Schönhauser Allee folge, bis von dieser die Sredzkistraße abgeht. Folge ich der Allee, sehe ich, wenn ich zur Kulturbrauerei abbiege noch in der Mitte der Straße die U-Bahn aus dem Untergrund auftauchen und zur O-Bahn werden. Das große von Franz Schwechten geschaffene Gebäudeensemble der Brauerei gehörte ehemals zur Schultheiß Brauerei. Überhaupt sind die zahlreichen Brauereien und ihre Überbleibsel ein typisches Merkmal des Prenzlauer Berges. Auch das direkt am Volkspark Friedrichshain gelegene Bötzow Viertel setzt diese Tradition fort, in dem es den Namen einer großen Brauerfamilie wach hält.

Die heutige Kulturbrauerei steht auf einem Gelände von 25.000m² und gehört zu den wenigen gut erhaltenen Industriedenkmälern Berlins aus der Zeit des 19. Jahrhunderts. Die Treuhand Liegenschaft TLG betrieb die Kulturbrauerei lange kommerziell als Kulturzentrum im Kollwitzkiez. Seit dem Verkauf der TLG an den US-Investor Lone 2012 gehört diesem auch die Kulturbrauerei. Dort gibt es neben Kinos, Theater, Konzertsäle Discos, Läden, Supermärkte und sogar Verlage oder die Lyrikwerkstatt.

Das ganze Ensemble wurde dem Geschmack der Zeit entsprechend von dem Architekten Franz Schwechten im Stil einer mittelalterlichen Burganlage gestaltet. Zumindest für die jährlichen Weihnachstmärkte gibt dies die romantischst mögliche Atmosphäre, übersehen wir den immer Kitschfaktor. In der Zeit des Nationalsozialismus wurde die durch mehrere Fusionen inzwischen größte Brauerei Deutschlands Schultheiß zum nationalsozialistischen Musterbetrieb erklärt. Dies führte zu einer privilegierten Produktion auch in Kriegszeiten. In den alten Kellern produzierten währenddessen ukrainische Zwangsarbeiterinnen kriegswichtige Nachrichtengeräte für die Wehrmacht im Auftrag der Telefunken. Während der Schlacht um Berlin verschanzte sich ein Stab der Festung Berlin in einem der Tiefkeller, was dazu führte, dass zahlreiche Anwohner,  welche die weiße Fahne hissten und auch Deserteure,  von dort aussofort erschossen wurden. Dennoch überstanden die Gebäude den Krieg relativ unbeschadet und am 30.10.1945 eröffneten sie schon wieder als VEB Schultheiss-Brauerei Schönhauser Allee.

Unter Mitwirkung des Bundestagspräsidenten und Anwohners Wolfgang Thierse wurden die Verträge zur Sanierung des Geländes als Kulturstandort geschlossen. Bei der Sanierung ab 1998 wurde darauf geachtet den ursprünglichen Charakter des Geländes zu erhalten und überall erkennbar zu machen, was auch ziemlich gut gelungen ist. Die Kulturbrauerei ist heute ein wichtiger Kulturstandort - hier finden Konzerte so sehr wie Märkte und sonstige Happenings statt. Der Ort wird das ganze Jahr mit verschiedenen Angeboten bespielt, in dem sich einerseits in den Nachtstunden jüngeres Publikum um die Discos und Clubs schart, einmal sogar ein Türsteher im Rockerstreit wohl erschossen wurde, andererseits auch Hochkultur und Theater neben großem Kino steht und immer wieder Sonntags nun die Streetfood Märkte stattfinden. Die Kulturbrauerei liegt eben im Zentrum der Weltstadt Berlin und nicht irgendwo im Vorort Pankow.

Märkte spielen eine große Rolle im Kollwitzkiez und haben den Ruf des Viertels in der Stadt mitbegründet. Der größte und wichtigste ist mittlerweile der Samstagsmarkt, der im Stil eines Wochenmarktes mit auch Feinkost und Nippes Ständen Touristen und Besuche aus der ganzen Stadt anzieht und die Bewohner zeitweise bis zum abwinken nervte, so dass diese alles versuchten, den Markt wieder vor ihrer Tür los zu werden. Was in der Wörther Straße begann, verlagerte sich teilweise in die Knaak Straße und hat nun seine vernünftigste Heimat in der Kollwitzstraße in der er problemlos noch nach vorne und hinten wachsen könnte, aber auch das wird vermutlich wieder viele Kämpfe und großes Engagement bedeuten. Jedenfalls ist der Markt sehr beliebt. Zu Zeiten von Rot-Grün traf ich dort eigentlich jeden Samstag Außenminister Fischer wichtig telefonierend über den Markt eilen oder verliebt später wieder mit junger Begleitung und Bodyguards schlendernd und Umweltminister Trittin, der sich gerne am Kaffeestand inmitten aufhielt, weniger wichtig tun musste. Es war ein Ort, um da zu sein und gesehen zu werden, es war schick dort zu sein und ich fand es nett da zu wohnen, bis die Austern- und Krabbenbräter  ihre Ausdünstungen zeitweise zu sehr in unsere Richtung schickten und ich den Widerstand mancher Anwohner plötzlich verstand.

An Donnerstagen findet noch der Öko-Markt am Kollwitzplatz statt, auf einem Stück der Wörther Straße zwischen Knaak Straße und Kollwitz Straße, auf dem einige Bauern, Antiquare, Käseläden, Metzger, Crépe, Waffel und Weinverkäufer ihre Waren an die Mütter vom Kollwitzplatz und ander ökologisch bewusste Anwohner verkaufen. Auch dieser Markt ist ein beliebter Treffpunkt der typischen Kollwitz-Schickeria zwischen Schwanger, Kinderwagen und Eigentumswohnung geworden, die viele der Ureinwohner schon vergraulte, weil das “Platz da, ich bin Mutter” in Anbetracht der Menge und Häufigkeit langsam lästig wurde. Ansonsten ist es eben ein Platz im Wandel, der sich den Anforderungen und Bedingungen der neuen Zeit anpasst und der vom ursprünglichen Kiez zu einer Gegend für Wohlhabende wurde, die ihre Kinder zum schicken Zahnarzt mit der top designten Praxis direkt am Platz schicken.

An der Ecke Kollwitzstraße Wörther Straße wurde vor einige Jahren noch die auch von Touristen hoch frequentierte längste Bank der Stadt, am Rande des dort freien Eckgründstückes eingerichtet, das auch als kleine Parkanlage eingerichtet wurde und auf der sich am Wochenende gern auch die erschöpften Marktbesucher erholen, ihre Einkäufe bestaunen und sich mit Leckereien von nebenan abfüllen. Eine auch soziale Ecke, in der sich manch überraschende Gespräche mit den dort immer wieder anwesenden Promis finden, wenn sie gerade mal wieder Aufmerksamkeit benötigen.

In der Knaak Straße befindet sich auf der rechten Seite hinter der Wörther Straße noch eine große Kita-Anlage mit Spielflächen zur Wörther Straße und dahinter Richtung Kulturbrauerei noch eine Grundschule. DDR Platten nach dem Standard Modell, wie sie überall im Osten zu finden sind eine zumindest stete Erinnerung, wir sind hier im alten Osten, so schick er sich auch wieder macht.

Folge ich auf Höhe der Kulturbrauerei der Sredzkistraße, warten wiederum zahllose Bars auf mich, die allerdings mehr von Touristen und den Bewohnern anderer Vororte Berlins frequentiert werden. Gehe ich dann aber in der schon zu DDR Zeiten sanierten Husemannstraße nach rechts wieder in Richtung Kollwitzplatz, dort wo an der Ecke das schon traditionelle Café Oktober steht,  komme ich auf der anderen Straßenseite bei Flo vorbei, dem französischen Feinkostladen mit sehr feinen Weinen und besten Pasteten vor allem früher den besten Baguette im Kiez, der einst mit einem Stand am Samstagsmarkt sein Dasein als Geheimtipp für Feinschmecker begann und den ich auch noch aus der Zeit kenne und so ist zumindest einiges weniges noch vertraut in diesem Kiez. Gleiches gilt auch für den dahinter gelegenen Eisladen von Maria, der zierlichen Italienerin, die das beste Eis im ganzen Kiez verkauft und wer nicht bis zum besten Eisladen Berlins im Helmholtzkiez laufen will, findet auch dort gute Qualität.

Gehe ich statt rechts in die Husemannstraße einzubiegen geradeaus die Sredzkistraße weiter, komme ich noch an einige immer nobleren Boutiquen vorbei, um an der Ecke auf das sehr beliebte Café Anna Blume zu stoßen, das die Ecke Kollwitzstraße auch für viele Touristen bewirtschaftet, gutes Essen und vor allem gute Backwaren bietet, die auf der gegenüberliegenden Straßenseite im älteren Sowohl als Auch mit seiner angeschlossenen Bäckerei schon lange produziert werden. Beide sind gut besucht, die Anwohner treffen sich eher im älteren Sowohl als Auch, die Gäste auf der schöneren Seite gegenüber im literarisch benannten Anna Blume, die allerdings nur an Kurt Schwitters und nicht an Erich Fried erinnern, der den Dada-Dichter noch genial fortsetzte.

Biege ich dann von der Sredzkistraße in die Rykestraße ein, führt mich der Weg wieder vorbei an zahlreichen schicken Boutiquen voller Schnickschnack und einigen gastronomischen Betrieben zu denen ich nicht wirklich eine glaubwürdige Aussage machen kann. Nach der Kollwitzstraße findet sich in einem Hinterhof eine der schönsten Saunen in Prenzlauer Berg, in der die Mütter und Väter vom Kollwitzplatz auch mal ohne alles betrachtet werden können, was nur gelegentlich noch lohnt, dafür ist der erholsame Sauna Besuch um so erquicklicher.

Die Rykestraße führt direkt auf den Wasserturm an ihrem Ende zu, den erreicht, wer auch noch das fast traditionelle russische Café und Restaurant Pasternak an der Ecke Knaackstraße hinter sich ließ, was schon länger nach meinen wenigen kulinarischen Informationen besser so ist.

Der Namensgeber der Straße  Bernhard Ryke war übrigens von 1447-1448 Bürgermeister von Berlin und maßgeblich am Berliner Unwillen beteiligt, der auch den benachbarten Thomas Wins sein Amt kostete. Die Familie Ryke oder Reiche war eine weitverzweigte märkische Patrizierfamilie, die im 14. und 15. Jahrhundert mehrfach kommunale Ämter in Berlin und Cölln innehatte. Der Berliner Unwille ist die Auseinandersetzung der Berliner und Cöllner Stadtbürger mit dem Landesherren Friedrich II. Kurfürst aus dem Hause Hohenzollern, um den Bau einer Burg auf der Spreeinsel, dem späteren Schloss der Hohenzollern und der dafür nötigen Verpflichtung zur Abgabe von Land. Es ging dabei um die Autonomie der Stadtbürger gegenüber ihrem Landesherren und um diese zu erkämpfen wurde unter anderem die Baustelle der Burg zwischenzeitlich unter Wasser gesetzt. Der 1448 gefundene Kompromiss bedeutete de facto einen Verlust der städtischen Freiheiten. Gegen Friedrich lehnten sich neben Ryke auch von Blankenfelde und Wins auf.

In de Rykestraße gibt es auch noch zwei Gedenktafeln für antifaschistische Widerstandskämpfer, die in der DDR besonders geehrt wurden. Es sind der Kommunist Franz Huth und der Widerstandskämpfer Johannes Wolf. Der Ton der Tafeln erinnert an die Wurzeln der Verehrung des antifaschistischen Widerstandes und mahnt den Wessi, daran zu denken, wo er sich hier befindet.

Am südlichen Ende der Rykestraße aber befindet sich die Grünanlage um den seit den 70er Jahren nicht mehr genutzten Wasserturm Prenzlauer Berg. Das von 1853 bis 1877 errichtete Gebäude hieß bei den Berlinern Dicker Hermann und war das Wasserreservoir für die neuen Wohngegenden im Berliner Nordosten. Im Turm existieren heute Wohnungen in sechs Stockwerken, die früher als Werkswohnungen der Wasserarbeiter dienten und heute sehr beliebt sind. Unter dem erhöhten Gelände hinter dem Wasserturm befindet sich ein unterirdischer Tiefspeicher, der heute teilweise für kulturelle Happenings genutzt wird. Die Wasserturmanlage steht heute natürlich unter Denkmalschutz und der Turm war Teil des Wappen von Prenzlauer Berg, bis dieses mit Pankow zusammengelegt wurde und zwangsweise sich nach der östlichen Provinz benannte.

Die SA hat bereits im Frühjahr 1933 im Maschinenhaus I das KZ Wasserturm errichtet. Angeblich wurde in den unterirdischen Kellern gefoltert und es spricht angesichts der sonstigen Grausamkeit des Regimes wenig dagegen, dass dem so war. Habe dafür allerdings noch keine historisch glaubwürdigen Belege gefunden.

Wenden wir uns vom wunderschönen Wasserturm, zu dessen Fuß sich zwei schöne Spielplätze mit wunderbar Schatten gebenden großen Bäumen befinden, was Eltern aus Erfahrung zu schätzen wissen, nach rechts und überqueren die dort Kolmarer Straße kommen wir auf dem Gelände mit der Adresse Prenzlauer Allee 227/228 zum Kultur und Bildungszentrum Sebastian Haffner. Diese ehemalige Schule, deren Direktor der Vater des Autors und Journalisten Sebastian Haffner war, ist auch durch auch das verdienstvolle Engagement des Kulturforums Nordos und meines Freundes M geworden, was sie ist und beherbergt das 1992 entstandene Prenzlauer Berg Museum.

Sebastian Haffner, der eigentlich Raimund Pretzel hieß, war Publizist, Journalist, Historiker, Schriftsteller, Korrespondent und Kolumnist. Er wurde 1907 in Berlin geboren und verstarb 1999 auch dort, hatte aber dazwischen einiges erlebt und verfasst. Der Jurist war nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten zu dem Schluss gekommen, dass der Rechtsstaat dort verloren hatte und entschied sich 1938 ins englische Exil zu gehen, von wo er 1954 als Korrespondent des Observer nach Berlin zurückkehrte. Haffner ist keinem politischen Lager klar zuzuordnen, vertrat in der 68er Zeit auch linke Positionen oder verteidigte die Freiheit des Journalismus in der Spiegel-Affäre. Bekannt wurde er besonders durch seine Anmerkungen zu Hitler. Seine besondere Fähigkeit war, komplexe historische Zusammenhänge für ein breites Publikum verständlich einfach darzustellen.

Das Prenzlauer Berg Museum heißt natürlich in seinem Museumsverbund im Bezirk heute Museum Pankow, erzählt dennoch für alle interessierten sehr gut die Geschichte des Berges und in der gegenüber im alten Schulgebäude gelegenen Bibliothek am Wasserturm können Neugierige manchmal noch mehr Informationen finden und den dortigen Räumen der Volkshochschule wird zumindest wieder irgendwas gelernt, auch wenn das Museum Pankow heißt so mitten in Prenzlauer Berg und unter seinem alten Wahrzeichen.

Folge ich nun wieder der Knaackstraße vorm Wasserturm komme ich wieder zum Kollwitzplatz, an der Ecke zur Kollwitzstraße befindet sich der Gugelhof, ein immer noch guter Elsässer, wobei ich nicht weiß, ob der neue Bundespräsident dort wieder verkehren wird. Der Kollwitzkiez hat nicht nur dem Namen nach viel Geschichte, er ist auch der berühmteste Kiez bisher, was mit an der Kolumne über die Mütter vom Kollwitzplatz aus dem Tagesspiegel liegt, die zum Kultstatus beitrug. Es ist schön da, zum anschauen aber für meinen Geschmack inzwischen viel zu viele Touristen und zu wenig echtes Caféhausleben, wofür sich der Platz eigentlich wunderbar anböte, stattdessen zocken Asiaten die Touristen mit Sonderangeboten ab, schließt nun auch das traditionelle Restaurant 1900 an der Ecke Husemannstraße zur Wörther Straße und der Rest ist kaum mehr der Rede wert, aber scheinbar für viele sehr anziehend und gut besucht.

Erzählen könnte ich noch vom Bücherbaum in der Sredzkistraße kurz vor der Kollwitzstraße, in dem Bücher getauscht oder mitgenommen werden können und in dem sich manchmal überraschend schöne Sachen finden, vom Badeladen, mit den netten Damen, der mit dem schicken Küchenladen in der Wörther Straße zusammen zum neuen Stil der Gegend passt. Der sehr schön ohne Frage ist und doch für manche ein touristischer Fremdkörper blieb, der für die Veränderung des Viertels steht, bei dem noch unklar ist, was aus ihm wird. Schön ist auch der Abenteuerspielplatz am Anfang der Kollwitzstraße mit Gelegenheiten zum Hüttenbau oder Schweißen, der nunmehr im Schatten eines sehr gelben Neubaus steht, statt hinter einer freien Wiese auf der, als ich her zog noch ein Bauwagen als freie Bar stand und der inzwischen, wie wunderbar passend mit der LPG über zwei Etagen Europas angeblich größten Bio-Markt beheimatet, der boomt und vor dem sich die Muttis in ihren Geländewagen um die wenigen Parkplätze streiten, ob auf schwäbisch oder sonst zugezogen. Das Viertel hat viele liebenswerte Ecken aber ich weiß nicht mehr, was es ist und was in ihm lebt. Nun werde ich bald meinen Freund J, den ich vom Griechen am Platz noch kenne hier am Helmholtzplatz treffen, obwohl er ja direkt am Kollwitzplatz lebt, weil auch ihn scheinbar nur noch wenig dort hält. Es ist schön da, lohnt sich anzuschauen, wer in Immobilien investiert, schafft vermutlich eine gute Wertanlage, ansonsten naja.

Der Kolle ist wohl nicht mehr, was er mal war, aber was bleibt schon, wie es ist und so ist in Berlin vieles in Veränderung und wer weiß wohin es geht.
jens tuengerthal 2.4.2017

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