Samstag, 10. November 2018

Zeitreisen

Lesend reise ich ständig
Bewege mich hin und her
Zwischen den Jahrhunderten
Wie spielend über Kontinente

Dazu muss ich meinen Sessel
Niemals verlassen sondern bloß
Von Seite zu Seite umblättern
Oder einen neuen Band nehmen

Vom China des 11. Jahrhunderts
In das Paris der Existenzialisten
In Frankreich noch bleibend dann
Ins Zeitalter der Aufklärung hinein

Aus dem England des 18. Jahrhunderts
In das zeitgleiche Italien philosophisch
Von da ins Äthiopien Kaiser Haile Selassie's
Zeitgleich in Frankreich auf Spuren Prousts

Natürlicher Notwendigkeit hier folgend
Begleite ich James Joyce nach Irland
Für einige Seiten nur auf dem Klo
Wandere ich mit ihm durch Dublin

Für lustvolle Zeilen ins Rom des Augustus
Dann für einige Verse zurück in die Republik
Aus der Lukrez die Natur philosophisch sieht
Im nächsten beschränkter in die Lutherzeit

Deutsche Sitten aus Sicht eines Prinzen
Aus dem Hause David heute betrachtend
Fahre ich mit Forster und Cook gen Süden
Mensch und Natur neu dort zu entdecken

Vom weiten Meer ins ländliche Frankreich
In dem Montaigne aus seinem Turm auch
Mit Blick über Europa bis Amerika schreibt
Dem freien Geist ortlos auch huldigend

Mit Montherlant’s Erbarmen mit den Frauen
Durch das erotische Frankreich spazieren
Was knapp hundert Jahre früher Huysman
In Gegen den Strich mit dem Rückzug quittiert

Über einen verrückten Engländer lachend
Geht es auch im Zeitalter der Aufklärung
Im nächsten Band mit einem Philosophen
Wieder gen Frankreich in die Wirtschaft

Zur Entspannung dann ein Ausflug
Nach China 2200 Jahre früher wo
Konfuzius mit seinen Schülern über
Die rechte Moral im Staate spricht

Wieder im 20. Jahrhundert mit Mann
Während des Ersten Weltkrieges über
Nation und das Leiden an ihr lesend
Geschrieben im Poschi in München

Immer wieder mit dem Einsiedler
Thoreau über den Ozean in die Wälder
Um Concord auf der Suche nach sich
Mit und in der Natur als großem Wunder

Seitenweise im Freundeskreis Thoreaus
Stöbernd von Emerson bis zu Whitmann
Im Nordwesten der USA längere Zeit
Losgelöst vom Ort weiter nachdenkend

Durch die Zeiten rasend nun zurück
In die frühe Renaissance gen Rotterdam
Mit Erasmus die Torheit lächelnd lobend
Mit Burckhardt zeitgleich gen Italien

Für einige Seiten in die Schweizer Berge
Ins Sanatorium Schatzalp im Zauberberg
Wird der geistige Kosmos Europas wie es
Vor dem ersten großen Kriege war geweckt

Bevor ich mit Nansen für einige Seiten noch
Zum Pol aufbreche um dort einzufrieren mit
Mannschaft und Kameraden in eisiger Kälte
Sehe ich das nur noch Weiß des Nordens

Habe ich genug von Eis und Schnee endlich
Fahre ich mit Chamisso gen Brasilien um dort
Tiere Menschen und Natur zu beobachten
Als Zeit und Naturforscher der Dichtung

So gesehen führe ich ein unruhiges Leben
Heute hier und zugleich dort kaum an einem Ort
Weder in den Zeiten konsequent bleibend
Erwärmen mich schon Seiten in einem Band

Seite für Seite wandere ich aus meinem Sessel
Durch die Welt ohne sie je zu betreten aber doch
Sie besser kennenzulernen als die meisten Besucher
Denen kulturelle Wurzeln oft eher noch fernbleiben

Als Reisender zwischen den Zeiten und Welten
Sehe ich mehr als Besucher der nur Gegenwart
Die in ökonomischen Zwängen dort eher stehen
Welche die geistige Annäherung verhindern

Wandere nur hin und wieder durch mein Dorf
Das sich um die Spree ein wenig verstreut
Doch wie unbedeutend sind die Spaziergänge
Des Flaneurs gegen die lesenden Reisen

Komme aus einer Familie von Reisenden
Die alle stets bemüht waren die ganze Welt
Auf ihre Art zu erkunden dabei meist jedoch
In dem sie hinfuhren und es fotografierten

Bleibe lieber am Ort und bin zugleich überall
Wohin mich meine Bücher verführen in die
Sich mit Leidenschaft zu versenken für mich
Die schönste Form des Reisen immer ist

An nichts dabei gebunden als die nächste Seite
Unter keiner Reisekrankheit unterwegs leidend
Bei gutem Tee im Sessel sitzend bin ich überall
So schon gewesen auf jede denkbare Art gereist

Könnte fragte mich wer stundenlang erzählen
Von meinen Bücherreisen aber zum Glück fragt
Eher kaum einer oder winkt gelangweilt ab
War ja nirgendwo und kann in Ruhe lesen

Frage mich was es sonst braucht in der Welt
Als genügend guten Lesestoff für alle Tage
Reisende sind gestresst und überschätzt
Bin dagegen entspannt und bleibe am Ort

jens tuengerthal 10.11.2018

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