Dienstag, 7. Juli 2020

Wahlverwandtschaften

Wählen wir uns Verwandtschaft oder werden wir unrettbar in sie hineingeboren?


Bedarf es da wirklich einer Etnscheidung, frage ich mich eher, gilt nicht vielmehr sowohl als auch, bei Begründung der Familie durch die Partnerwahl einerseits und das in sie hineingeboren sein andererseits. Beim einen spielen Wahl und heute auch Gefühl eine große Rolle, beim anderen hat es etwas natürlich unausweichliches, was wir nicht wählen sondern dessen Produkt wir einfach sind. Am wertvollsten scheint mir, was von Gefühl getragen ist, am nächsten lasse ich, was ich dazu erwählte. Fraglich könnte aber sein, wieviel Wahl uns das Gefühl noch lässt, wenn es wirklich groß ist, ob wir wählen oder uns bestimmt füreinander fühlen.


Im besten Fall ist die Familie von Gefühl und Zuneigung getragen, auch wenn dies immer von vielem anderen überschattet wird. Durch das Inzestverbot ist die Partnerwahl in der Familie ein wenig eingeschränkt, auch wenn heute ab dem ersten Grad unter Vettern und Basen geheiratet werden darf, sofern es keine nachweisbaren Erbkrankheiten gibt, wie weit unser Wissen da auch immer reicht, ist die Ehe unter Geschwistern wie eine dort körperliche Anziehung nicht ein Tabu sondern eine Straftat, was auch biologisch vernünftige Gründe haben kann, sich aber auch nicht negativ auswirken muss. Warum eine absolute Strafe einer relativen Gefahr gegenübersteht, die Freiheit einschränkt und auch darum natürlich fragwürdig sein müsste, wagten wir über Tabus zu reden. Ob das gut so ist, sei, jenseits aller moralischen Wertung, die meist andere Ursachen hat, einmal dahingestellt, es ist eine Straftat und so darf keiner die nächste Verwandtschaft als auch körperliche Liebe wählen, unter Geschwistern Sex haben, wobei es nicht um Gefühl sondern um formelle Normen geht, egal was die Beteiligten dabei empfinden, was immer wieder auch zu tragischen Entwicklungen führte.


Thomas Mann schrieb darüber in Wälsungenblut und persiflierte dabei typisch ironisch noch die wagnersche Walküre in der inzestuösen Liebe von Siegmund und Sieglinde als jüdischem Geschwisterpaar, kannte diese gefühlte Nähe, wenn nicht auch selbst, da ist nichts näheres bekannt, das Verhältnis zu Heinrich war nicht immer  einfach, so doch zumindest von seinen Kindern Erika und Klaus, die sich lange mehr als nahe waren und damit auch spielten.


In Goethes Wahlverwandtschaften dagegen geht es um den Konflikt zwischen Leidenschaft und Vernunft, als spiegelte er den zwischen Romantik und Aufklärung. Das zurückgezogen glücklich auf den, ein unbesorgtes Lebens ermöglichenden, Gütern lebende Paar, Charlotte und Eduard, das sich nach dem Tod ihrer ersten Ehepartner endlich finden kann, nachdem sie zuvor ihre schon Jugendliebe nicht leben durften. Sie beschäftigen sich mit der Ausgestaltung ihres Guts als idealem Landschaftspark und ihr Miteinander ist eher von tiefer Vertrautheit als von erotischer Anziehung oder Leidenschaft geprägt. Gegen Charlottes anfänglichen Widerstand, werden zwei Personen als Gäste auf das Gut aufgenommen, Otto und Ottilie, womit das Schicksal seinen Lauf nimmt. Eduard verliebt sich leidenschaftlich in die spirituell romantische Ottilie und die vernünftige Charlotte kommt dem tatkräftig diesseitigen Otto näher, als fänden beide ihr ideales Gegenstück und die romantische Zweisamkeit, die sehr vernünftig eigentlich war, im Park endet.


Der Vollzug dieser Liebe geschieht vorerst nur im Traum, was aber für beide genügt, davon überzeugt zu sein, sich ihren Partner gewählt und damit gesündigt zu haben. Ein daraus geborenes Kind von Eduard und Charlotte trägt Ottos Züge und so wird die Wahlverwandtschaft, die als Begriff aus der Chemie kommt, auch nach außen sichtbar. Wahlverwandtschaft in der Chemie meint eine Form der Abstoßung und Anziehung, bei der die stärkere die schwächere Säure aus ihren Salzen verdrängt. Goethe überträgt diese wissenschaftliche Begrifflichkeit auf die Beziehungen der Paare und vermischt in diesem, zu seinen Spätwerken zählenden Roman, Elemente der Aufklärung mit denen der Romantik. Dies auch in der Tragik der Entsagung, die Ottilie wählt, die magersüchtig wird und sich zu Tode hungert oder Eduards, der seiner jungen Geliebten schließlich in den Tod folgt. So gilt der Roman als Goethes bester und zugleich rätselhaftester.


Die Wahlverwandtschaft geht nicht gut und Eduard, der noch für die zeitlich begrenzte Liebe und neue Partnerwahl plädierte, stirbt am Tod seiner großen Liebe, die er nie leben durfte, folgt ihr, weil er ohne sie nicht mehr sein kann und will, der sich Ottilie durch das tragisch romantische Element der Entsagung entzog, was das Verhalten ganzer Generationen von Frauen infolge beschrieb, die sich für die Liebe oder auf der Suche nach ihr zu Tode hungerten, gleiches immer noch tun. Ottilie gab sich die Schuld am Tod des Kindes, das sie tragisch ins Wasser fallen ließ, Charlotte sucht die Schuld eher bei sich, lässt nachdem sie Eduards Drängen auf eine Scheidung nachgegeben hat, Otto mit unbestimmter Antwort zurück. Die beiden bleiben nach dem Tod von Eduard und der sich wortlos zu Tode hungernden Ottilie übrig, aber es gibt kein glückliches Ende und keinen einfachen Sieg der Vernunft gegen das tragisch tödliche Gefühl der Romantik, was auch zu nichts glücklichem führte. Immerhin haben die vernünftig, aufgeklärt handelnden Personen überlebt, während die großen Romantiker mit aller Tragik starben.


Lehrt uns dieses große Stück Weltliteratur etwas über die romantische Liebe und ihr notwendig tragisches Ende, weist es auf die Grenzen auch der vernünftigen Wahl hin, die gegen die Übermacht des Gefühls wehrlos ist, was wäre der richtige Lebensstil, um bis ans Ende seiner Tage im nahezu paradiesischen Garten, glücklich zu leben?


Eine Jugendliebe, die ohne zu große Leidenschaft, glücklich endlich miteinander lebt, alles nötige hat, glücklich damit ungestört leben könnte, zurückgezogen von der Welt, scheitert im selbst geschaffenen Paradies am Dazukommen Dritter, mit denen das Element großer Gefühle hinzutritt, was seinen eigenen Gang geht, der scheinbar nicht mehr vernünftig kontrollierbar ist, bis in die Träume hineinwirkt, die plötzlich das ganze Leben verändern und zu bestimmen scheinen.


Im Geist der Aufklärung betrachtet, für den Schiller lauter plädierte als Goethe, der zumindest das romantische auch zuließ und nicht nur in Kur noch manch romantischen Flirt als älterer Mann begann, ist die romantische Liebe gescheitert und endete tödlich, wie es auch konsequent Goethes Werther erlitt, von dem sich der Geheimrat distanzierte, weil ihm die vielen romantischen Nachfolger zumindest darin so suspekt waren, wie der Tod überhaupt. Die aufgeklärte Lehre wäre ein glückliches Leben von Otto und Charlotte nach den Grundsätzen der Vernunft im wunderbaren Garten gewesen. Dazu kommt es im Roman aber nicht.


Dem Geist der Romantik entspricht das tragisch, tödliche Ende der Liebe und wie die größere romantische Kraft ein wunderbar geordnetes Leben verwüsten konnte, weil die Liebe stärker als alles ist und so auch alle Pläne umwirft, jede Ordnung beseitigen kann, sie urwüchsige Kraft unserer Natur ist. Wie sehr gescheiterte Liebe ein Leben verwüsten kann, bis die Beteiligten es völlig aufgeben, kennt, wer je wirklich und tragisch geliebt hat, was nie vernünftig und ruhig enden kann, weil Gefühle eben selten gelassen bleiben, sondern ihrem Wesen nach eben impulsiv sind, dahingestellt, ob das gut so ist.


Nehme ich den Landschaftsgarten von Charlotte und Eduard als Garten des Epikur, indem sich freie Geister, beider Geschlechter trafen, um zu philosophieren und dies frei zu genießen, entsprach, was die beiden hatten nach Epikur schon einem Idealzustand. Ein Brot, ein Wein, ein Käse und Freunde im Garten, war, was Epikur als Traum vom Leben beschrieb. Ist ein plötzliches Gefühl, was uns daran hindert, diesen Zustand auf Dauer und friedlich zu genießen, je etwas Gutes oder immer der Anfang allen Unglücks, quasi die Büchse der Pandorra, weil es uns auch die Freiheit raubt?


Folge ich Epikur und betrachte das Ganze mit Kant kritisch vernünftig, würde ich es klar so sehen. Hätte ich eine Frau, mit der ich dieses Glück teilen könnte, wobei mir die Bibliothek wichtiger als der Garten wäre, die Cicero noch für gleichgewichtig für das menschliche Glück und die Erfüllung aller Bedürfnisse hielt, wüsste ich nicht, was mich davon abhalten sollte, dies so lange nur irgend möglich zu genießen. Warum sollte ich mich auf eine Leidenschaft einlassen, die dies friedliche Glück im relativen Wohlstand gefährdete, denke ich, der eigentlich weiß, wie beschränkt die Dauer allen Glücks ist.


Dennoch habe ich mich immer wieder und teilweise, vernünftig betrachtet, völlig unsinnig, der romantischen Liebe ganz hingegeben, hätte mein Leben dafür gegeben, weil mir die so gewählte Verwandtschaft und Nähe, größer als alles im Leben schien, auch wenn diese Sicht keiner vernünftigen Überprüfung standhielte, ich es auch aus schlechter Erfahrung eigentlich besser wissen könnte und, folgte ich konsequent den Grundsätzen der Aufklärung, nie auf eine solche Idee käme. Verhalte ich mich also meiner Natur gemäß wie Eduard und muss mit dieser immer wieder Tragik so lange leben, wie es eben geht oder warte ich nur noch auf die genauso vernünftige Charlotte, den paradiesischen Garten, respektive die weit mehr umfassende Bibliothek zu teilen?


Hoffe letzteres, weil es dann zumindest ein Ziel und einen Ausweg gäbe, ich den Garten zu würdigen wüsste, habe aber wenig praxistaugliche Belege für diese Auffassung bisher bringen können, sicher auch weil die Umstände meist waren, wie sie waren, eine Beziehung immer zwei Menschen mit je eigener Tragödie bilden und die Hoffnung zuletzt sterben sollte, vielleicht sogar mich überleben könnte, wobei es dann für mich auch völlig egal wäre.


So hoffe ich auf die auch naturwissenschaftlich ideale Konstellation, in der beide glücklich, ohne Missgunst oder sonstige psychische Auffälligkeiten, die häufiger vorkommen, als sich ein eher durchschnittlich verrückter Typ wie ich, vorstellen konnte, Leben Lust und Liebe teilen, um sich damit zu bereichern und das Leben in ihrem Garten und sei er auch gerne eine Bibliothek anstatt, genießen können, weil alles gut so ist, wir uns die beste aller Welten im Sinne das Candide immer selbst einrichten und bin überzeugt, dann vollkommen glücklich und unanfechtbar zu sein, nicht wie dieser Eduard, der einen Traum von Leben für eine hysterische Magersüchtige aufgibt, mit der es nie Erfüllung geben konnte, nur weil Träume und Triebe gelegentlich verwirrten und ich ermahne mich dabei nicht an die einer oder andere Verflossene zu denken.


Doch schrieb ich, ich hoffe es und will mich mit aller Kraft meines Verstandes darum bemühen, wüsste auch nichts, was mich daran hindern könnte, aber ob ich dessen gewiss sein kann, weiß ich natürlich nicht, weil es die Natur der Liebe eben auch ist, uns gelegentlich gegen alle Vernunft, bessere Erfahrung und Einsicht zu packen und durchzuschütteln, bis im so verwirrten Hirn sich kein vernünftiger Gedanke mehr zum anderen findet. Daran zu arbeiten, Glück zu halten und es zu stabilisieren, wäre ein erster Schritt, gedanklich eher Charlotte und Otto zu gleichen, ein weiteres Mittel, den romantischen Unsinn als solchen zu betrachten, zumindest eine zusätzliche Sicherung vor dem Absturz aber letzte Sicherheit gibt es auf dem Drahtseil der Liebe wohl nie und wer nicht, wie die Nibelungen einst, um des Goldes wegen, der Liebe ganz abschwört, wird, wo es um echte und geteilte Gefühle geht, auch balancieren müssen, um nicht ins Nichts zu fallen.


Die Verwandtschaft, in die wir hineingeboren wurden, weil zwei vor uns sich wählten, führt zwar auch gelegentlich zu mehr oder weniger großer Aufregung aber mit ihr können wir uns noch eher auch vernünftig arrangieren, weil die Umstände es erfordern, zumindest ist die Vernunft sicherer greifbar als im Falle der Wahlverwandtschaft, die alle folgende begründen soll. So steht aber auch die Blutsverwandtschaft immer auf emotional unsicherer Basis, die wir nur durch Institutionalisierung und stete Pflege stabilisieren können, warum das eigentlich unsinnige Institut der Ehe, die eine Liebe formalisieren will, also etwas an sich paradoxes tut, auch seinen guten Zweck hat, weil es schnelle Flucht verhindert und damit anderen Kräften entgegenwirken kann, die unsere Natur, ob im Traum oder wach, gelegentlich verwirren können.


So ist die Wahlverwandtschaft, die heute meist auf bloßem Gefühl basieren soll, eine stets unsichere Kandidatin aus eben diesen Gründen und zugleich die natürliche Basis jeder Familie und ihres Fortbestands, also Bestandteil des größten Kontinuums der Geschichte, ihre Anziehung entscheidet über Bestand und Entwicklung der folgenden Generationen mit. Was klug wäre, wissen wohl alle längst, zumindest wenn wir im Garten bleiben wollen, auch wenn das Wissen es nicht notwendig leichter macht, ob ich es irgendwann werde, möge die Nachwelt entscheiden - zumindest will ich mich darum bemühen, auch wenn der Garten gerne eine geteilte Bibliothek sein darf.


jens tuengerthal 7.7.20


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