Donnerstag, 9. Juli 2020

Inzüchtig

Welche Rolle spielt Inzucht noch in Familien und wann kam sie auf, fragte ich mich, bei der Lektüre des entsprechenden Kapitels in Christina von Brauns Buch Blutsbande und habe es genutzt, mich auch ein wenig über das allgemein schon bekannte hinaus zu belesen, erinnerte mich an den Skandal, als vor einigen Jahren ein Geschwisterpaar bekannt wurde, das mit gemeinsamen Kindern eine glückliche Familie bildete, was es nach deutschem Recht nicht durfte, wofür, wenn ich mich richtig erinnere, der Mann auch als Straftäter verurteilt wurde, was ich schon damals etwas seltsam fand, auch wenn die Empörung groß war und viele von der früher üblichen Inzucht auf den Dörfern raunten, bei der häufig Idioten rausgekommen wären, unklar blieb dabei nur, ob die raunenden zu den Opfern eher zählten.

Wann und wo hat die Inzucht begonnen und sind die Auswirkungen wirklich so einfach und offensichtlich, war die naheliegende Frage, die sich mir nun stellte und es scheint, dass dabei, wie so oft bei moralischen Verboten, vieles anders und weniger dramatisch ist, als angenommen, manches nur Meinung und Aberglaube ist, der von ganz anderen Interessen geleitet wird, wie so oft, wenn die Kirche ihre Finger im Spiel hat.

Im Hochadel gab es, schon mangels gleichwertiger Auswahl, bereits seit langem Inzucht und besonders das Haus Habsburg mit seiner österreichischen und spanischen Linie tat sich dabei, auch phänotypisch sichtbar, seit dem 16. Jahrhundert besonders hervor, wobei das Problem sich mit dem Erbe Frankreichs und dem für Frankreich siegreichen Erbfolgekrieg ja erledigte. Ansonsten hat der Hochadel über Jahrhunderte immer wieder untereinander geheiratet und ist damit in vielen Fällen relativ eng noch verwandt. Auch dort waren Geschwisterehen, anders als etwa bei den alten Ägyptern verpönt. Überhaupt hatte das Christentum ein relativ rigides Inzuchtverbot über Europa und die christliche Welt gelegt, wodurch diese Praxis, außer im personell beschränkten Hochadel, der die Güter beisammenhalten wollte, nicht sehr verbreitet war, es zumindest für die katholische Welt dafür eines päpstlichen Dispenses bedurft hätte, der für gewöhnlich schwer zu erreichen war.

Die anfänglich noch wenigen regierenden protestantischen oder reformierten Häuser heirateten untereinander, was auch die Auswahl ein wenig einschränkte aber keine größere Nähe brachte, als sie das Haus Österreich seit Karl V. praktiziert hatte, dem Sohn von Isabella der Wahnsinnigen, dahingestellt ob der ihr unterstellte Wahnsinn nach dem Tod ihres Mannes, des schönen Philipp von Austria durch Inzucht also Erbkrankheit, die dominant auftrat, ausgelöst wurde oder Produkt ihrer großen Trauer und damit Zeichen wirklich großer Liebe war, die bei den königlichen Hochzeiten zwar selten blieb aber dennoch nicht notwendig mit Wahnsinn gleichgesetzt werden muss. Die Ehe ihrer Eltern, Isabella von Kastilien und Ferdinand von Aragon hatte Spanien erst begründet und mit der Vertreibung der Mauren und Juden sich auch die heute Spanien genannten Gebiete erobert auf Kosten der Toleranz.

Aber jenseits der damals regierenden Häuser kann das Gerücht dörflicher Inzucht so nicht bestätigt werden. Die Kirche hatte strenge Regeln aufgestellt, die erst viel später aufgeweicht wurden und zwar primär aus finanziellen Interessen im aufstrebenden Bürgertum und das auch erst nachdem die Kirche ihre regierende Macht in Deutschland mit dem Reichsdeputationshauptschluss, der infolge der Niederlage gegen Napoleon zur Säkularisierung der Kirchengüter und der anschließenden Auflösung des alten Reichs führte, also ab 1806.

Die vermögenden Familien hatten ein Interesse, das Geld in der Familie zu halten, warum die sonst verpönten Heiraten zwischen Cousins und Cousinen teilweise auch schon im ersten Grad üblich wurden, also diejenigen, die ein gemeinsames Großelternpaar hatten und deren Eltern noch Geschwister waren. Diese Personen dürfen auch heute noch heiraten, sofern sie keine nachweislichen schweren Erbkrankheiten haben, die bei Kindern dominant auftreten könnten. Allerdings liegt die Wahrscheinlichkeit dafür nur bei etwa 6,25% gegenüber 2-4% bei nicht blutsverwandten Paaren. Dagegen läge die Wahrscheinlichkeit des Auftretens von Erbkrankheiten, deren Anlage wir alle zu bestimmten Teilen in uns tragen, bei Geschwistern oder Eltern-Kinder Fortpflanzung bei 25%, während er bei Vettern 2. Grades nur bei 1,5% läge, also niedriger als unter nicht blutsverwandten Menschen, was den von keiner tieferen Kenntnis getrübten Betrachter dieser wissenschaftlich belegten Statistik doch erstaunte.

Erstaunlicherweise hat sich bei Ehen unter Vettern des 2. bis 3. Grades in Island gezeigt, dass diese Ehen über Jahrhunderte die meisten gesunden Kinder hervorbrachten und überdurchschnittlich stabil waren. Dieser Faktor könnte in den eher aussterbenden europäischen Nationen, die durchschnittlich deutlich unter 2 Kinder haben, zu interessanten Schlussfolgerungen führen, die aber bisher noch nicht diskutiert wurden. Vielleicht werden auch neue Formen künstlicher Fortpflanzung manche Debatte entbehrlich machen, wenn bereits jetzt manche Frauen sich Samen vermeintlich besonders begabter Menschen zur künstlichen Befruchtung ihrer Eizellen erwerben können, was immer diese zufällige Neukombination an potenziellem Genie schaffen kann, was nach allem, was wir wissen, relativ unwahrscheinlich ist, aber manchen einiges wert wäre.

Sofern wir künftig mehr künstlich befruchten, vielleicht auch weil die Impotenz der verbleibenden Männer durch den hohen Anteil von Pillenrückständen im Trinkwasser noch weiter zunimmt, könnten wir auftretende Erbkrankheiten und ähnliche Probleme wohl bald ausschließen, womit der Geschwisterehe gesundheitlich nichts mehr im Wege stehen müsste, dahingestellt, ob das sozial erstrebenswert wäre, bräuchte zumindest die Pönalisierung eine neue Begründung, da die alte nicht mehr haltbar wäre und die moralischen Gebote einer bloßen Glaubensgemeinschaft können in einer aufgeklärten, säkularen Gemeinschaft nicht genügen, einen Straftatbestand zu begründen, der ohnehin fragwürdig ist, wie der bekannt gewordene Fall gezeigt hat, in dem, unter großer Anteilnahme einer sich mit Schaum vor dem Mund empörenden Öffentlichkeit, eine heile und gesunde Familie mit den Mitteln des Strafrechts zerschlagen wurde, nur weil es so üblich ist und die Kirche aus Gründen ihres Machtzuwachses so betimmt hatte.

Das strenge Inzuchtverbot hängt auch mit der Hoffnung der Kirche zusammen, dadurch die Fortpflanzung zumindest teilweise verhindern zu können und so zur legitimen Erbin zu werden, was die Kirche etwa in Frankreich und Italien teilweise zur größten Grundbesitzerin gemacht hatte, die aber, des Zölibats wegen, ihre Güter immer neu verteilen konnte, was sie zu einem enormen auch politischen Machtfaktor machte, um den insbesondere im Mittelalter noch mit deutschen Kaisern viel gestritten wurde, vom immer wieder abgesetzten Barbarossa, dem Staufer Friedrich, bis zu Heinrich IV., dem Salier, der für den päpstlichen Segen barfuss um Canossa ging.

Dies ist alles keine Frage der Inzucht aber zeigt, was passiert, wenn ein mächtiges Vermögen, das ohne Bluterben weitergegeben wird, in Konfrontation mit einer Macht steht, die sich noch um legitime Erben selbst bemühen muss, denen die Kirche wiederum strenge Auflagen für die Partnerwahl und die Legitimität ihrer Kinder machte, die einmal erben dürfen. Die Kirche hatte als designierte Erbin, ein Interesse daran, die legitime Nachfolge zur erschweren, um sich am verbleibenden Vermögen bereichern zu können. Betrachten wir die rigiden Regeln zur Inzucht der katholischen Kirche, die bis zum 6. oder 9. Grad teilweise reichten, liegt es wohl nicht völlig fern, hier eine Interessenkollision anzunehmen, die den moralischen Wert dieser Regelungen sehr infrage stellt. Abgesehen davon, welchen moralischen Wert Regeln überhaupt haben können, die sich statt auf individuelle Haltung auf Anweisung erdachter höherer Wesen beziehen, ist es erstaunlich, wie gut das moralische Diktat der Kirche bis heute funktioniert hat und wie klar die moralische Verurteilung gegenüber der Inzucht immer noch ist.

Sind diejenigen, die dort urteilen, nicht fähig, sich selbst ein kritisches Urteil zu bilden, plappern sie einfach nur nach, was ihnen vorgekaut wird, oder ist es, wie so oft bei moralischen Verurteilungen der Leben anderer Menschen, mehr die Furcht vor dem Fremden, die viele so extrem reagieren lassen?

Vielleicht ginge es besser und friedlicher auch bei der Betrachtung dieser Fälle zu, wenn wir statt alte bigotte Vorurteile zu pflegen, uns lieber an Tatsachen hielten, die etwa besagen, dass die Wahrscheinlichkeit des Auftretens von Erbkrankheiten unter Vettern 2. Grades geringer ist als unter nicht blutsverwandten Personen und wir seit Jahrhunderten in unserem moralischen Urteil einer geschickten Politik der Kirche aufgesessen sind, die eigene pekuniäre Ziele dabei  verfolgte. 

Ist die Inzucht oder die Geschwisterliebe moralisch schlecht oder zu verurteilen?

Sehe dafür keinen Grund, wie ich überhaupt keinen Grund erkennen kann, je über die Liebe zu urteilen, wohin sie eben fällt. Die Liebe ist, was sie ist, freuen wir uns, für diejenigen, die sie finden, statt ihr moralisch falsche Grenzen zu ziehen, die nur der Bereicherung einer Institution des Aberglaubens diente, der moralisch ohnehin längst fragwürdig geworden, eher ein zu überwindender sein sollte, statt noch immer in den Köpfen vieler Menschen der Liebe Schranken zu setzen.

Hatte nie vor meine Schwestern zu heiraten, es war schon der Gedanke an Sexualität ihnen gegenüber für mich ein absolutes Tabu, wie es in unserer Gesellschaft relativ normal ist - aber alle Tabus gelegentlich nach Sinn und Zweck zu hinterfragen, scheint mir wichtiger als einen mutmaßlichen Erbschaden sicher auszuschließen. Die Griechen hatten weniger Probleme mit Inzucht, auch wenn die Geschichte des Ödipus aus ihrer Tradition stammt, waren ihre moralischen Urteile flexibler und vernünftiger als einige alte christliche Zöpfe hier, die zu hinterfragen dem freien Denken gut tun könnte. Was die Freiheit fördert, kann nicht schlecht sein, auch wenn ich sicher kein Fürsprecher der intrafamiliären Fortpflanzung bin, Neukombination des Genpools ist vermutlich gesünder, auch wenn die Statistik etwas anderes vermuten lassen könnte, scheint mir zumindest, die im pekuniären Interesse der Kirche entstandene moralische Verurteilung immer fragwürdiger und fragwürdiges zu hinterfragen, finde ich immer besser.

jens tuengerthal 9.7.20

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