Dienstag, 14. Juli 2020

Erbgut

Was macht das Erbgut aus und woher kommt es?

Bis ins 19. Jahrhundert war Erbgut das materielle Gut, was der Erblasser seinen Erben, also meist der Familie, hinterlässt. Heute denke ich bei Erbgut auch an die Anlagen, die durch Vererbung, also biologisch weitergegeben werden. So hat die Naturwissenschaft eine Begrifflichkeit übernommen und besetzt, die statt mit Tod plötzlich mit Zeugung und Weitergabe dessen, was uns organisch prägt, zusammenhängt.

Die Erkenntnis, wie ein Mensch entsteht, indem das winzige Spermium in die wesentlich größere Eizelle eindringt, ihre Kerne verschmelzen, der halbe Chromosomensatz zu einem ganzen wird, ist erst Mitte des 19. Jahrhunderts gewonnen worden. Bis dahin grassierten viele, teils auch religiöse Vorstellungen zur Zeugung, bei der auch die Philosophie des Aristoteles lange eine Rolle spielte, gemischt mit der christlichen Anschauung, nach der die Frau nur das Behältnis war, die Frucht des Mannes auszutragen. Diese Sicht wurde noch lange vertreten, obwohl Züchter im Tierreich längst ein anderes wussten, aber die menschliche Sonderrolle eben ein Glaubenssatz war.

Die Idee einer Schöpfung und eines Schöpfers, der den ganzen Prozess steuert, der schlicht biologisch unter bestimmten Bedingungen abläuft, hielt sich noch lange in vielen Köpfen, auch wenn den Beteiligten dabei schon klar gewesen sein wird, was sie tun und der Erfolg dabei auch gegen eine völlige Ahnungslosigkeit spricht. In der Antike hatten die Menschen da wohl einen direkteren Zugang zur Natur und haben die Beteiligung höherer Wesen nur dazu gedacht, aus welchen Gründen auch immer, doch hat dieser Erfindergeist, der unsere Existenz nicht mit dem Tod enden lassen will, eine lange Tradition in der menschlichen Geschichte, fraglich nur, ob der Aberglaube in unserer Natur liegt oder immer wieder kulturell erworben wird.

Den Ablauf der Vererbung wie die dabei geltenden Regeln entdeckte der mährisch österreichische Priester Georg Mendel im 19, Jahrhundert, nach ihm wurden sie auch benannt, vermutlich ohne die Absicht, damit die göttliche Beteiligung an der Zeugung und der Entstehung der Arten überflüssig zu machen. Die weitgehenden Konsequenzen dieser Entdeckung wurden erst langsam deutlich, bis heute zweifeln noch manche Gläubige an der Selbständigkeit der Natur und suchen nach neuen Punkten, an denen sie ihren Schöpfergott glaubwürdig platzieren können, nennen sich dann Kreationisten und vertreten manch absurde Ansichten, die bis zum Urknall reichen, vor dem außer Gott nichts gewesen sein soll, auch wenn wir natürlich wissen und beweisen können, dass Energie nie verloren geht, der Urknall also durch andere Energie verursacht worden sein muss, die durch vorhergehende Ereignisse konzentriert werden musste, weil Natur schlicht zyklisch funktioniert.

Spannend ist wie gleich wir nominell das Ende des Lebens, also das, was an Gütern hinterlassen wird, mit dessen Anfang und Entstehung setzen. Die Vererbung bestimmter Merkmale bei der Zeugung neuen Lebens als ein Fortleben betrachten. Viel des Vokabulars der Entdecker von Humboldt bis Darwin und Mendel, ist noch vom vorherigen Geist der patrilinearen Strukturen geprägt, denen die Natur aber zeigte, wie es tatsächlich ablief, als die Menschen lernten hinzuschauen und zu beobachten, auch wenn sie es noch mit dem gewohnten Vokabular benannten, weil sie eben auch Kinder ihrer Zeit waren.

Nicht der große starke Mann ist der Erzeuger, sondern die Verschmelzung des winzigen männlichen Spermiums mit der im Vergleich riesigen Eizelle kann Leben natürlich entstehen lassen und das Erbgut kommt von beiden zu gleichen Teilen, wobei sich verschiedene Merkmale unterschiedlich stark oder ganz neu kombiniert fortsetzen. Dies brachte manche althergebrachte Überzeugungen, die das patrilineare Weltbild trugen, in Wanken. Erstaunlich schnell änderte sich infolge auch das Erbrecht und Frauen wurden formell zumindest teilweise relativ gleichberechtigt, der vorherige Ausschluss war nicht mehr zu rechtfertigen.

Warum Menschen aus den Erkenntnissen Darwins, die sie noch mit der Philosophie Nietzsches nach Belieben munter mischten, eine Rassenlehre ableiteten, lässt sich logisch nicht erklären, sondern vermutlich nur aus dem ideologischen Zusammenhang verstehen, der auch die USA lange verleitete Menschen mit dunkler Hautfarbe als Sachen zu behandeln, die anderen gehören konnten, also Sklaverei für legitim zu halten, auch wenn sie über diese Frage noch einen Bürgerkrieg führten, der allerdings nichts an der realen Diskriminierung nach Hautfarbe bis heute geändert hat, wie gerade wieder deutlich wird.

Die schlimmste Variante dieses Rassismus, der auf Vernichtung zielte, wurde vom Hitler-Regime im Namen Deutschlands aus einer Pervertierung der Erblehre entwickelt. Während die Sklaverei auf Ausbeutung und Nutzung aus ökonomischen Gründen zielte, wollte diese Ideologie einer Gruppe Menschen nach Religion oder Herkunft aussortieren und vernichten, weil sie sich für besser hielten und meinten so ihr Überleben nach der Natur sichern zu müssen. Es gibt für eine solche rassische Unterscheidung nach Glaube oder Herkunft keinen Grund, der sich aus dem Erbgut oder der Abstammung begründen ließe. Durch willkürliche Ausgrenzung sollte der Zusammenhalt der Mehrheit gestärkt und eine völkisch genannte Gruppe geschmiedet werden, wie es einige verwirrte Zeitgenossen heute noch versuchen.

Die Kenntnis vom Erbgut hat so einerseits die Gleichberechtigung der Frauen ein wenig, zumindest beim Erbe vorangebracht, auch wenn es bis zur vollständigen Gleichberechtigung in großen Teilen der Welt noch ein weiter Weg ist, andererseits im missverstandenen Darwin eine Ideologie begründet, die Menschen nach Rassen unterscheiden wollte und aus der bloßen Herkunft oder Religion Unterschieden im Wesen ableiten wollte für die es biologisch keinerlei Begründung gab oder gibt. Im Gegenteil können wir angesichts der genetischen Ähnlichkeit jede Unterscheidung nach Rassen unter Menschen heute für historisch erklären.

Ob, was unser Wesen ausmacht, dabei stärker das Produkt unserer Erziehung oder tatsächlich durch Erbanlagen bedingt ist, kann insoweit dahinstehen. Die Leere vom weißen oder beschriebenen Blatt wäre ein anderes Kapitel, was beim Thema Erbgut wohl auf zu weite Abwege führte. Die Anlage völlig auszuschließen, ist vermutlich so falsch wie anzunehmen der Mensch würde nur durch Prägung geformt. Beide Elemente spielen auf ihre Art eine Rolle und den einen oder anderen zu übersehen, gäbe nur ein unscharfes Bild, machte sozusagen kurzsichtig.

Traue mir dies betreffend kein sicheres Urteil zu und denke aber auch die Spezialisten der jeweiligen Bereiche neigen gern zur horizontalen Beschränkung, indem sie ihren Bereich überbetonen. Der Mensch und was ihn ausmacht, ist zu komplex, um ihn auf eine Theorie oder Richtung reduzieren zu wollen. Es spielen dabei verschiedene Aspekte eine Rolle und dazu gehören vermutlich auch noch einige von denen wir bisher noch nichts oder wenig verstehen. Je tiefer unsere Kenntnis im einen oder anderen Bereich wird, desto mehr halten wir ihn für ausschließlich und übersehen dabei gerne, was noch möglich wäre, weil der konzentrierte Blick aufs Detail auch gern den Überblick verliert.

Zumindest mir geht es so, wenn ich mich mit etwas besonders stark beschäftige und alles darüber wissen will, ist die Gefahr den Überblick für die Zusammenhänge zu verlieren besonders groß. Will damit nicht sagen, dass die Generalisten, die von allem nur ein bisschen wissen, den besseren Überblick hätten, dazu fehlt es meist an Sachkenntnis, wie ich zumindest von mir sagen kann, der ich weder Naturwissenschaftler noch Geisteswissenschaftler oder Erzieher bin, keiner Überzeugung ganz anhänge, sondern eher der Meinung bin, dass viel mehr Einfluss auf mich hat, als ich begreifen kann und auch wenn ich mir viel Mühe gebe, mit meinen naturgegeben eben beschränkten geistigen Mitteln immer nur einen Bruchteil am Rand streifen kann. Würde ich mich mehr mit den Details beschäftigen, um zumindest von etwas eine genaue Ahnung zu haben, würde ich mich vermutlich darin verlieren und den Zusammenhang weniger sehen können, der mir wichtiger scheint.

So habe ich von nichts wirklich Ahnung, denke nur, er spielt alles und noch mehr eine irgendwie Rolle bei dem, was unser Wesen ausmacht. Anmaßend und beschränkt scheinen mir jene, die behaupten eine sichere Wahrheit zu besitzen, die allein selig machend sei, sagen, sie wüssten, wie es sei. Weder wird die genaue Kenntnis unseres genetischen Codes je ausreichen, unser Wesen zu verstehen, noch wird den Menschen ganz verstehen, wer sein Erbgut ignoriert.

Vielleicht ist das Gegeneinander der jeweiligen Theorien auch mehr der Grund für die Probleme beim Verständnis unseres Verhaltens. Versuche ich an einem Beispiel, was ganz natürlich uns scheint, wie etwa der Liebe, herauszufinden, was alles meine Entscheidungen beeinflusst, merke ich schnell, wie komplex die Dinge eigentlich sind.

Was ist bei unserer Wahl genetisch determiniert, wen können wir gut riechen und wer stinkt uns, was zieht uns an und was stößt uns ab, welche Rolle spielen unsere Erfahrungen mit Liebe und Sexualität dabei, was ist unsere Natur, wo passen wir uns nur an Konventionen an, gibt es reines und natürliches Gefühl oder ist das eine Illusion, sind die Triebe stärker als der Wille, wo spielen wir konventionelle Spiele, um zu gefallen, was tun wir unserer Natur gemäß beim Balzen, wo sind wir echt und wo Opfer unserer gesellschaftlichen Rolle, habe ich je genug Abstand, wenn Gefühl im Spiel ist, all diese Fragen vernünftig und objektiv zu betrachten und wie richtig kann eine nur vernünftige Betrachtung der Liebe je sein, sind nur einige Fragen, die sich mir dabei stellen und die mir zeigen, dass mein Horizont sicher zu beschränkt ist, sich alle Gründe für die Liebe, warum sie auftritt oder verschwindet, klar zu machen.

Wenn es aber bei der Liebe schon so komplex und kompliziert ist, die doch ein ganz natürliches Gefühl ist, was wir meist einfach hinnehmen, wenn es auftaucht oder verschwindet, wie sollte ich dann annehmen, eine Theorie oder eine Betrachtungsweise, bezogen auf das Genom oder die Prägung würde genügen, das menschliche Wesen und alles, was ausmacht, zu beschreiben?

Mögen klügere als ich, sich diese Frage für sich beantworten, mir reicht es an dieser Stelle schon, begriffen zu haben, es dürfte beides eine Rolle spielen und es geht weniger darum, wer von beiden recht hat, als vielmehr, wie ich in der ungeheuren Komplexität der Gründe, die einen Menschen zu seinem Handeln bestimmen, einen Weg finde, der zu mir passt und mit dem ich mich wohl fühle, der also meine Lust am Leben mehrt.

Das Wort Erbgut enthält für mich entsprechend auch mehr als die reduzierte Sicht unserer genetischen Anlagen oder das materielle Gut derer, die vor uns waren. Viel spannender finde ich etwa die Frage, inwieweit die Kultur, in der ich aufwuchs, von der Familie bis zum postmodernen aufgeklärt abendländischen Denken mein Wesen prägen, was ich davon erkennen und benennen kann als Teil meines Erbes.

Denke ich etwa an Tischsitten, mit denen ich in der Familie aufgewachsen bin, die mich als Kind manchmal genervt haben, die aber für mich so selbstverständlich wurden, dass ich auch im Schnellimbiß nie auf die Idee käme, die Ellbogen auf den Tisch zu legen, auch wenn das essen eines Hamburgers schwer mit anständigen Manieren und ohne zumindest gelegentlich zu stopfen, zu bewältigen ist, wäre es mir sogar dort wichtig, sich vor dem Essen, falls ich nicht alleine bin, die Hände zu reichen und das ganze mit der möglichen Würde zu handhaben, die diesem Kulturvorgang gebührt.

Dies ist sicherlich anerzogen und Teil der Kultur meiner Familie, die gerade bei großen Essen, wo alle eng gedrängt sitzen, darauf wert legt, dass alle Teilnehmer die Spielregeln beherrschen, um so an einer schön gedeckten Tafel mit der dieser entsprechenden Würde zu essen, zumindest anfänglich, da die Toleranz den Sitten gegenüber mit zunehmendem Alkoholgenuss größer wird. Aber es ist auch Teil einer ererbten Tradition, die schon die Großväter so praktizierten, wie sie es von ihren Eltern und Großeltern lernten, die mit einer feinen Tafel und dem entsprechenden Benehmen dort zeigen, dass sie Kultur haben und die Familie mit dieser zu feiern wissen.

Während in meiner Kindheit noch sich meine Onkel wie mein Vater aus kleinen Übertretungen der Regeln unter dem strengen Blick ihres Vaters einen Spaß machten, wurden sie, zumindest teilweise, spätestens mit dem Verschwinden der vorigen Generation zu Sittenwächtern, die mehr oder weniger streng die Einhaltung der gewohnten Form anmahnen und ich fürchte, sollten wir die Tradition weiterhin pflegen, in die selbe Rolle hineinzuwachsen, wie ich schon bei meiner Tochter bemerke, dass sie zwar spielerisch die Regeln mit ihren jüngeren Cousins oder Cousinen übertreten kann aber doch als älteste auch genau darauf achtet, was nun geboten ist, weil sie die Tradition als Teil ihres Erbes aus verinnerlicht hat.

Zu einem großen mehrgängigen Essen gehören bestimmte Sitten und Regeln, um dieses zu würdigen und schön zu machen. Erst sie machen es auch zu einer Zeremonie, die in Erinnerung bleibt und so weitergetragen werden kann. Damit werden sie Teil unseres Erbes.

Kommt es wirklich auf die Sitten und Manieren an oder sind sie nur der formelle Rahmen, der längst überholt ist und nur einer untergegangenen Kultur entspricht, die wir unzeitgemäß traditionell zelebrieren?

Wie meine Familie ihre Feste zelebriert, hat etwas vom vergangenen Jahrhundert und noch älter. Wir feiern damit unsere Tradition. Etwa beim Tischgebet, das ich radikaler Atheist selbstverständlich und aus voller Überzeugung mitspreche, weil es dazugehört oder beim sich die Hände reichen, bevor mit dem Essen begonnen wird. Vieles an unseren Zeremonien auch an Weihnachten, erinnert mich an die Buddenbrooks, bis zu den Witzen und Dialogen nach dem Essen in lockerer Runde, wie ich es bestimmt schon mehrfach erwähnte aber mit zunehmendem Alter neigen wir Menschen eben auch zur Wiederholung und so ist dies doch ein irgendwie Ausweis meiner Menschlichkeit denke ich, um die eigenen Mängel schön zu reden und die stete Wiederholung zu legitimieren.

Damit an einer großen Tafel mit Großen und Kleinen ein mehrgängiges Menü mit der entsprechenden Würde zelebriert werden kann, bedarf es gewisser Spielregeln, die den Ablauf sichern und auch das Vertrauen darauf, dass jeder diese irgendwann verinnerlicht hat. Wo diese nur als Gehorsam gegenüber autoritärer Strenge befolgt werden, um im System zu funktionieren, haben sie keinen eigenen Wert sondern wären reine Formalie, wie es einem Beobachter scheinen könnte, der nicht mit den bürgerlichen Sitten so vertraut ist, die jede Nahrungsaufnahme zu einer kleinen Zeremonie machen, die auch ihren Stand und ihre Würde feiern wollen.

Wäre dies nun wieder nur eine bloß klassenkämpferische Distanzierung gegenüber den Proleten, die sich nicht zu benehmen wissen, wäre es ein bloß eitles Überbleibsel, was zwar traditionell vom Wesen her wäre aber ansonsten wertlos bliebe außer zur Pflege der eigenen Eitelkeit. Denke aber gerade das Erbe der Tischsitten und ihre höchstens mal nonchalante spielerische Übertretung, ist viel mehr als nur eine gemeinsame Nahrungsaufnahme. Es ist eine Art postreligiöses, trotz Tischgebet, Ritual, welches die Gemeinschaft feiert, in der die Verwandten zusammenkommen.

Rituale fördern den Zusammenhalt und schaffen es durch die Tradition, mit der sie gepflegt werden, ein Erbe wach zu halten, das unsere Kultur durch das Bürgertum geprägt hat, was sich in der Zeremonie selbst feiert. Dies könnte wiederum als eitler Popanz abgetan werden oder als ein kleines Imitat höfischer Sitten, nach denen die Bürger spätestens seit Knigge strebten, um mithalten zu können.

Doch wir feiern uns gerne und freiwillig so, weil wir es schön finden und genießen in der Strenge der Form, die wir gelegentlich belächeln, wie ihrer allmählichen Auflösung gegen Ende hin. Es ist ein Ritual, dem wir uns freiwillig unterwerfen, weil uns ohne etwas fehlte, auch wenn wir uns nur ein bis zweimal im Jahr überhaupt sehen, um je rituell zu feiern. Wir hätten, die Freiheit die Formen wegzulassen, es völlig regellos und nach Laune ablaufen zu lassen. Der strenge Grotepater genannte Großvater ist im nächsten Jahr 30 Jahre tot. Doch wir feiern noch genauso und halten uns an die alten Sitten, die unser Erbe sind und die wir an die folgende Generation weitergeben werden, wie er es schon um die Jahrhundertwende gelernt hat, weil sie eben Erbgut und damit Schatz unserer Familie sind.

Viel mehr als Siegelring, Fahne oder Kunstschätze, Möbel der Vorfahren, das Meißen oder Silber von dem wir essen, sind es die Rituale, die wir pflegen, die viel vom Zusammenhalt der Familie ausmachen, ihr eigentliches Erbe sind. In postideologischen Zeiten, in denen sich nur ein arroganter Reaktionär wie Helmut Kohl über Angela Merkel ihrer fehlenden Tischsitten meinte lustig machen zu müssen, könnten solche Rituale verfehlt oder hohl wirken. Merkel hat es längst gelernt und glänzt durch preußische Zurückhaltung in der Größe, von der manch männlicher Politiker viel lernen könnte, um nicht in peinlicher Erinnerung zu bleiben wie Gasgert oder Kohl selbst, dennoch traf der Kanzler der Einheit einen Punkt, der nicht falsch war.

Der Bruch der DDR mit jeder bürgerlichen Tradition im Arbeiter und Bauern Staat, in dem die Kinder, auch der Berufstätigkeit der Mütter wegen, sehr jung in die Kita kamen, ging bis zum Kern der Rituale, die dafür durch ideologische ersetzt wurden, die nur rot gefärbt, den totalitären des NS-Staates glichen, weil die DDR eben ein totalitärer Staat war - die Menschen wurden ideologisch eingebunden und entsprechend erzogen. Die Trennung zwischen privater bürgerlicher Kultur und öffentlicher staatlicher Kultur war nicht vorgesehen, auch wenn viele dennoch um so mehr eine private Kultur zelebrierten, gehörten Tischsitten nicht zum Kernprogramm der Betreuung in der Kita sondern waren als Bourgeoise verschrien, weil bürgerliche Kultur in diesem Regime ein Schimpfwort war, was es dem Nationalsozialismus nicht unähnlich machte, der auch eine Parteidiktatur war, die den ganzen Menschen erfassen sollte und mit allen Traditionen brach.

Wo die Sitten von außen aufgedrängt und nicht gelebt werden, sind sie bloß hohle Form. Ihren Wert erhalten sie durch die Tradition, die sie tragen. Sie sind gelebtes Erbe und damit ein wichtiges Erbgut der bürgerlichen Kultur, bis heute ein nicht unbedeutendes Unterscheidungsmerkmal, was nicht der Erhebung über weniger kultivierte Menschen dient, als vielmehr dem Zusammenhalt und der Erhaltung einer Tischkultur, die zum Zweck eigener Art wurde, so Gemeinschaft bildet und dieser Würde gibt, sie zu etwas kostbarem für die Beteiligten macht.

Vermutlich ist es schwer das Glück dieser Gemeinschaft, die ihr Erbe auch durch die Form des Essens kultiviert, als Außenstehender zu verstehen. Ob die Pflege von Tischsitten genetisch bedingt sein könnte, scheint mir eine relativ müßige Frage - es haben sich auch immer wieder Außenstehende gut in die Gemeinschaft eingefügt, wenn sie sich überhaupt irgendwo einfügen und wohl fühlen konnten. Familie lebt und wächst auch durch das, was sie in sich aufnehmen und integrieren kann. Damit pflegt sie ihr Erbe. Indem wir die Tradition leben, halten wir das Erbgut kostbar. Unterwerfe mich freiwillig den Regeln der Familie, deren Teil ich bin, mache ihre Tradition zu meiner und fühle mich damit, so heimatlos wie ich durch viele Umzüge logisch bin, geborgen, auch wenn ich mir nicht sicher bin ob es noch jemand in der Familie außer mir so sieht oder auf diese Art über das nachdenkt, was wir Jahr für Jahr veranstalten aber vermutlich hat jeder seine Gründe, sich damit wohl zu fühlen, um es weiter so wie jedes Jahr irgendwie zu machen an der traditionell langen Tafel in meinem Elternhaus, die vom Esszimmer bis ins Kaminzimmer stets reicht.

 Eines der kostbarsten Dinge aus dem Erbe meiner Familie sind für mich also deren immaterielle Traditionen, weil sie der Kitt des Zusammenhalts sind. Ob es ein Gen in unserer Familie gibt, das eine bestimmte Art zu feiern festschreibt, scheint mir eher zweifelhaft. Dass wir nur einfach weitermachen, was wir schon immer so machen, fände ich etwas wenig für einen stark kulturellen Vorgang. 

Es ist unser inneres Erbe, mit dem wir uns identifizieren und das wir zu pflegen gelernt haben, wie es schon die Generationen vor uns taten. Daraus wird ein Teil der Identität geschöpft, sicher nicht ausschließlich und wer wüsste schon, genau zu sagen, was Identität alles ausmacht aber die Familie und ihre Sitten ist sicher ein nicht unwichtiger Teil meiner Identität, der Halt und Perspektive gab in unsicheren Situationen, zumindest hätte geben können, hätte ich ihn mir bewusst gemacht, sage ich mir inzwischen - aber zeitweise Blindheit für entscheidende Werte ist wohl auch ein Teil des Weges zur Identifikation und nur wer wirklich am Rand stand, kann auch, von da aus zurückgekehrt, wirklich schätzen, was ihn ausmacht.

So ist das Erbe der Familie ein wichtiger Teil meines Wesens, darum auch schreibe ich immer wieder darüber, versuche dieser Daseinsform, eine neue literarische Form zu geben auf der Suche nach den eigenen Wurzeln und ihrem größeren Zusammenhang, weil jede Familie auch Teil der Gesellschaft ist, die sie mit prägt und von der sie auch geformt wird. So gesehen ist das Erbgut der Familie ein Teil von mir und macht mich auch zu dem, der ich bin. Ob dies an der Blutsverwandtschaft in der Familie zuerst liegt oder mehr an der Prägung durch regelmäßigen Kontakt, spielt für mich dabei kaum eine Rolle. Wichtiger ist mir, zu ergründen, was es ausmacht, wo es gut tut, in welchen Bereichen es mir eher fern liegt und wie ich dadurch der wurde, der ich bin und dies eben im Bewusstsein des familiären Erbes, wo immer dies seine Gründe findet. 

jens tuengerthal 13.7.20

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