Mittwoch, 17. September 2014

Sex in Berlin I

Berlin hat viele Sehenswürdigkeiten aber kaum eine scheint so anziehend wie die Anziehung zueinander in der Stadt, die vieles hat, sich aber gern arm aber sexy nennt. Vermutlich haben die hier auch nicht mehr Sex als in anderen Metropolen der Welt und treiben es auch nicht öffentlicher als anderswo, auch wenn just verbreitete Videos aufgenommen von jungen Schülern auf dem Rückweg von einer nächtlichen Ruderregatta anderes suggerieren könnten.

Natürlich spricht die Stadt darüber und jeder kennt eine Geschichte dazu, die das Außergewöhnliche relativiert. Sich an einem Stammtisch für Künstler, der auch mal Freunde der hiesigen SM Szene zusammenbrachte, aber so verfließen hier die Grenzen zwischen Leidenschaft und Berufung gelegentlich, mit einer Lehrerin unterhalten, deren schockierte Schülerin just dies miterlebte und deren Freund jenes via YouTube verbreitete Filmchen, eines Paares, das es an einer U-Bahn Station trieb, drehte, gibt der ganzen Geschichte noch eine typisch Berliner Note.

Das arme Mädchen wäre ganz durcheinander gewesen, wurde berichtet, womit das hier gern als normal verbreitete doch wieder etwas Besonderes gewesen sein soll und wogegen wiederum das kühl strategische Handeln ihres Freundes spricht, wenn die Geschichte denn stimmt. Zweifel an der Echtheit sind in Berlin immer angebracht, wenn jeder noch eine tollere Geschichte hat, sich aus der Masse abheben will. Gerade beim Thema Sex scheint es in Berlin wichtig einmal dies, ja, klar, kenn ich, selbst schon erlebt, zu beherrschen, andererseits mit möglichst großer Gelassenheit auf eine solche Geschichte zu reagieren, weil cool sein in dieser Stadt noch wichtiger ist, als andernorts vielleicht schön.

Sex ist überall in dieser Stadt irgendwie immer präsent und wird gerne thematisiert. Von der sexuellen Neigung des Regierenden, zu den außergewöhnlichen Neigungen von diesen oder jenen Bekannten. Wer kennt sie nicht die Stöhner im Hof in der Stadt voller enger Mietshäuser aus dem 19. Jahrhundert, in denen wir miteinander leben und manchmal mehr mitbekommen, als uns angeht. Wer in Berlin also ohne den allgegenwärtige Sex leben will, muss nicht nur blind sondern auch taub sein, aber auch in diesem Fall wäre nicht gewährt, dass sich ein solchermaßen doppelt von seiner Umwelt abgeschnittener, nicht beim nächtlichen Spaziergang über ein Paar auf einer Bank stolpert und so ungeahnt Teilnehmer der omnipräsenten Sexualität wird.

Darüber können sich vielleicht manche empören, die Lehrerin erzählte es mit viel Verständnis für das Mädchen, was unglaubwürdig wirkte, insofern es vermutlich kein 16jähriges Mädchen mit Freund in Berlin gibt, was nicht aufgeklärt ist oder weiß, um was es geht, was aber auch glaubwürdig wirkt, weil die Berliner die Neigung haben, was ihnen passiert, als außergewöhnlich zu schildern und das auch zur Not, wenn es gerade passt, unter Aufgabe der eigenen Coolness, denn auch wenn die fraglos unter Gleichen das wichtigste ist, kann sie gegenüber etwa einer Lehrerin auch durch Mitleid erregende Betroffenheit ersetzt werden, die wiederum besonders macht und also gut ist.

Sie wird also gespielt haben, was immer an der Geschichte nun dran war, sie machte auch die Lehrerin, die sie erzählte wichtig und den beobachteten Sex am öffentlichen Ort zu etwas Besonderen, unsere Stadt außergewönlich und ein wenig pervers. Dann schütteln die Beteiligten ein wenig den Kopf, heben leicht die Brauen und erzählen entweder eine noch übertrumpfende Geschichte oder wechseln das Thema.

Hier wurde das Thema gewechselt und es ging um eine Messe für Sex-Kunst in einem Club, der wohl SM und Swinger vereinte und in der Szene einen Namen hat. Der Teilnehmer und Zuhörer muss gestehen in dieser Szene nicht so bewandert zu sein, auch wenn er natürlich viele kennt, die zu den Größen dort gehören, insofern also schon typischer Berliner ist, der irgendwen kennt, der ganz wichtig dabei ist. So ahnungslos lauschend, was es wohl mit dieser Kunst auf sich hatte, musste er erfahren, da die Messe den Preis von 12,- auf 20,- Euro für den Eintritt erhöht hätten, ohne ein Freigetränk zu bieten, hätten sie dann darauf verzichtet. Nicht dass sie es sich nicht leisten könnten, sie verdienen ja gut, aber da ging es ja um das Prinzip, wir sind eben in Berlin und da gibt es, auch wenn es um Sex geht, Prinzipien, an die sich gehalten wird.

Da auch keiner der anderen Teilnehmer diese Ausstellung oder Vernissage oder was immer es war, besuchte, wurde das Thema nicht weiter vertieft und lieber Anekdoten aus dem Innenleben dieses in Charlottenburg befindlichen Etablissements erzählt. Von den Herren in Rippenhemden, was eine abschätzige Formulierung für nicht zur Szene gehörige war, die versuchten eine Frau anzugraben und doch dort nichts verloren hätten, nur so taten, um mal da zu sein und das doch die Türsteher da bitte strenger sein sollten, denn auch bei der sexuellen Orientierung muss alles seine Ordnung haben, der Berliner ist gern unter sich auch bei der öffentlich zelebrierten sexuellen Neigung.

Die gewisse Nieschenspießigkeit bei der die Abgrenzung wichtig ist und wie die je Kleingärten des Außergewöhnlichen gepflegt werden, ist wohl der Gegenpol zur vermeintlichen Freizügigkeit. Es halten sich die Teilnehmer dabei für sehr tolerant und offen, solange es nicht ihre Gewohnheiten betrifft, damit ihre Bahnen nicht durch unerfahrene Neuankömmlinge gestört werden. Abgrenzung wird scheinbar zur Lust an sich, bei der sich sonst sehr offene Menschen doch deutlich von den anderen abgrenzen, die ihrer und der Umstände nicht würdig wären.

So in diesem einschlägigen Club, in dem die Szene eben verkehrt, wo es auch skurrile Gestalten gibt, wie den mit der Maske, der immer wieder versuche in die oberen Räumlichkeiten zu gelangen, in die sich die Paare, wenn unten aufgeheizt genug, zurückziehen, um sich ihrer Variante von Lust hinzugeben. Ob nun mit Fesseln, Ketten oder Peitschen, Kerzen oder Klammern - der Wege sich zu quälen gibt es viele. Der mit der Maske nun, so erzählte empört die Lehrerin, eine gebildete, liebenswerte Frau, schleppe immer wieder irgendwelche Frauen mit sich hoch, um nach oben zu dürfen, denn alleine ist der Zugang dort wohl nicht gestattet, was noch kein Grund zur Aufregung wäre, aber meist kämmen bei diesen noch im Schlepptau deren Freunde mit, was nun gar nicht ginge und warum er doch dort nichts zu suchen hätte.

Zu diesem Thema wurde aber keine Einigkeit aller Beteiligten erreicht, der Erfahrenste am Tisch überging es eher, auch wenn er sonst wohl zu einer gewissen Strenge bei der Auslese derer neigt, die jene heiligen Hallen betreten dürfen, in denen der Lust mit Rang gefrönt wird. Die Aufregung war dann auch nicht besonders groß, so dass die Geschichte in gewöhnlicher Coolness wieder verschwinden konnte und sich das Thema irgendwie erledigte. Wie sie es selbst dort handhaben und was mit dem mit der Maske künftig geschieht, konnte nicht in Erfahrung gebracht werden, zu ahnungslose Nachfragen ersparte sich der Beobachter dann lieber, um der eigenen Coolness wegen, wozu sie auch immer dienen mag und um die Beteiligten nicht zu verwirren.

So wechselten sie wieder zu Bildern und Darstellungen zurück, dem eigentlichen Thema jener Vernissage, die sie auf diesen Club gebracht hatte, in dem sie wohl alle, weiß nicht ob und wie gemeinsam, ihrer je Lust frönten. Es wurde gemutmaßt, was die Bilder wohl zeigten und wie weit sie gingen - sie hatten da ganz genaue Vorstellungen, was sie sehen wollten und was nicht, warum die betreffenden Foren im Netz, auf denen sie wohl auch gemeinsam verkehren, bestimmte Filter je nach Neigung vorsehen. Soweit es um Exkremente geht, waren sie sich wohl einig, zu filtern, dass wäre ja nicht mehr schön, aber dennoch hatte jeder noch eine Geschichte dazu wie er dann doch dies oder jenes, jeweils den Vorredner übertrumpfend, gesehen hätte und was für seltsame Neigungen doch manche Menschen hätten, was sie ja nun gar nicht verstehen könnten.

Staunend lauschend, dachte der Zuhörer darüber nach, wie er wohl ihre Gewohnheiten fände und ob ihm nicht, was diese ganz normal praktizierten nicht schon seltsam vorkäme. Wie es doch wohl selbstverständlich wäre die Leidenschaft so auszuüben, das im Dienst keine Spuren sichtbar würden, weil auffallen, dürften sie ja nicht. So zwischen Anpassung und Neigung, die sich ganz normal findet und es nicht ohne Spießigkeit praktiziert, ob es ein Verein von Freunden des Modellbaus, der Nacktkultur oder der Kakteenzucht ist, unterscheidet sich wenig, kam das Gespräch irgendwann auf das Thema Prostitution bei dem sich die Beteiligten alle einig waren, dass die Betroffenen zu schützen sein, aber die Freiheit und Legalität doch bitte zu erhalten sei, da Verbote nur zu Zwangsprostitution führten.

An der Prostitution und dem Umgang mit ihr wurde sich dann noch ein wenig entlang gehangelt, aber nun war die Runde vom Sex zur Politik gelangt und verfing sich immer mehr in einer politischen Debatte, bei der die Teilnehmer alle einander gern die Welt erklärten wollten und sich dabei mehr oder weniger zuhörten und ausreden ließen. Jeder war nun bemüht gerade seinen wichtigen Gedanken noch zu Ende zu führen, was immer etwas dauerte. Fragen wurden wiederholt, bis eine Antwort versucht wurde, die dann als bekannt nach einem Wort schon unterbrechend bewertet wurde. Ein typisches Stammtischgespräch also und von Sex war keine Rede mehr.

Wenn es etwas gibt, wofür der Berliner sogar das Thema Sex fallenläßt, ist es die Politik und seine Überzeugung dabei, die er den anderen gern weit ausholend erzählt. Ob es dabei nur um die Sache geht, wie stets betont wird, oder doch mehr um die je Selbstdarstellung, vermag der Teilnehmer nicht ganz scharf zu trennen - zumindest gäbe letzteres wieder einen Bezug zum hier immer Thema Sex. Der Versuch das Thema und die Versuche der Welterklärung im politisch Konkreten auf eine abstraktere Ebene zu heben, scheiterte mehrfach, da die dem Berliner wohl natürliche Neigung sich übertrumpfen zu wollen, jedem abstrakten Diskurs enge Grenzen zieht. Genossener Alkohol und fortgeschrittene Uhrzeit taten das ihre, bis die letzten beiden Diskutanten schließlich vom Kellner, der an der Freundlichkeit gemessen, ein Berliner Original wohl war, mit den Worten, ich muss jetzt zu machen, gebeten wurden zu gehen. Ein wenig wurde noch auf der Straße über Staatstheorie, ihre philosophische Umsetzung im Sinne Kants und Stirners sowie die Notwendigkeit zum Umbau der Demokratie debattiert, bis der Erzähler, um noch darüber zu schreiben, dem Abend ein Ende setzte.
jt 17.9.14

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen